attempto! - Universität Tübingen
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Topthema II<br />
Welchen Preis hat<br />
Internationalisierung?<br />
Von Christian Arndt<br />
Internationalität in Forschung und Lehre bringt der Volkswirtschaft viele Vorteile,<br />
könnte sie aber auch eine Stange Geld kosten – vor allem, wenn die hoch<br />
qualifizierte Elite nach dem Studium in Deutschland ins Ausland abwandert.<br />
Eine Studie des Instituts für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW)<br />
<strong>Tübingen</strong> soll Licht ins Dunkel des Braindrain bringen.<br />
Hochqualifizierte Menschen sind eine wesentliche Grundlage<br />
für Innovation, Wachstum und das Entwicklungspotenzial<br />
von Staaten und Regionen. Ein dauerhafter Verlust an gut<br />
ausgebildeten Personen (Braindrain) kann somit die Entwicklungsperspektiven<br />
von Regionen gefährden. Daher stellt sich<br />
die Frage, wie hoch das künftige Migrationspotenzial und die<br />
möglichen Verluste (oder Gewinne?) aus dem Wanderungsverhalten<br />
sind.<br />
Der Anteil der Bevölkerung zwischen 25 und 64 Jahren mit Hochschulabschluss<br />
liegt in Baden-Württemberg mit etwa 26 Prozent<br />
im Vergleich zu Bayern (24 Prozent), Nordrhein-Westfalen<br />
(20 Prozent) oder Deutschland insgesamt (24 Prozent) recht<br />
hoch. Im Vergleich mit den USA (39,5 Prozent) fällt die Akademikerquote<br />
in Baden-Württemberg dagegen eher gering aus.<br />
Wie viele der Hochqualifizierten jedoch ab- und zuwandern,<br />
ist völlig unbekannt. Die augenblickliche Datenlage zum<br />
Brain-drain ist trotz dessen Bedeutung als Standortfaktor<br />
(noch wohlwollend ausgedrückt) als schwierig zu bezeich-<br />
8 <strong>attempto</strong>! 27/2009<br />
Kaum das Zeugnis in der Hand, schon zur Abfahrt bereit: Die volkswirtschaftlichen<br />
Verluste, die durch die Abwanderung hochqualifizierter Absolventen ins<br />
Ausland entstehen, sind nur schwer zu beziffern.<br />
nen. Als mögliche Datenquelle kommt zunächst die Wanderungsstatistik<br />
des Statistischen Bundesamtes in Betracht.<br />
Diese erfasst grenzüberschreitende Fort- und Zuzüge. Leider<br />
wird dabei jedoch weder die (beabsichtigte) Dauer des Aufenthalts<br />
im Ausland noch die Qualifikation der Fort- und Zuziehenden<br />
erhoben. Somit gibt es von Seiten der amtlichen<br />
Statistik bisher keine zuverlässigen Informationen darüber,<br />
ob jemand nur vorübergehend zum Auslandsstudium Deutschland<br />
verlässt oder dauerhaft im Ausland bleibt. Diese Zusatzinformationen<br />
sind jedoch für eine Bewertung der regelmäßig<br />
publizierten und ansteigenden Abwanderungszahlen und der<br />
Einschätzung möglicher gesellschaftlicher Kosten des Braindrain<br />
dringend notwendig.<br />
Ziel einer vom Landeswirtschaftsministerium in Stuttgart in<br />
Auftrag gegebenen IAW-Studie ist es deshalb, etwas Licht in<br />
dieses Dunkel zu bringen. Um unter anderem das Potenzial<br />
der zukünftigen Abwanderung abschätzen zu können, wurden<br />
gegen Ende des Wintersemesters 2008/09 und am Anfang des<br />
Foto: Albrecht<br />
Foto: Albrecht<br />
Christian Arndt<br />
ist Professor für Volkswirtschaftslehre und Empirische Wirtschaftsforschung<br />
an der Hochschule für Wirtschaft und Umwelt Nürtingen und Research Fellow<br />
am Institut für Angewandte Wirtschaftsforschung (IAW) in <strong>Tübingen</strong>. Dort war<br />
er auch von Mai 2002 bis August 2009 als wissenschaftlicher Mitarbeiter und<br />
Projektleiter tätig. Die IAW-Studie wird unter www.iaw.edu publiziert.<br />
Sommersemesters 2009 insgesamt über 1 200 zukünftige<br />
Absolventen baden-württembergischer Hochschulen repräsentativ<br />
befragt. Unter den Befragten waren auch etwa 300<br />
Studierende der <strong>Universität</strong><strong>Tübingen</strong>.<br />
Die Hochrechnungen ergeben, dass es in Baden-Württemberg<br />
rund 71 Prozent der Studierenden in den höheren Semestern<br />
für möglich oder wahrscheinlich halten, für eine gewisse Zeit<br />
oder sogar für immer ins Ausland auszuwandern. Ganz sicher<br />
sind sich allerdings nur 3,8 Prozent. Bemerkenswert ist, dass<br />
hochgerechnet etwa 32 Prozent aller künftigen Absolventen<br />
nach einer möglichen temporären Abwanderung auf jeden<br />
Fall wieder nach Deutschland zurückkehren wollen. Rund 24<br />
Prozent aller Studierenden halten es dagegen aber auch<br />
durchaus für möglich, für immer im Ausland zu bleiben.<br />
Schwierig zu beziffern<br />
In der Stichprobe waren sowohl Hochschulen als auch <strong>Universität</strong>en<br />
sowie mit Ausnahme der Theologie alle Studienbereiche<br />
vertreten. Bei der schriftlichen Befragung der Studierenden<br />
vor Ort in den Hörsälen konnte mit einer Rücklaufquote von<br />
mehr als 95 Prozent eine hohe Qualität der Daten erreicht werden.<br />
Während bereits das aktuelle Ausmaß des Braindrain und<br />
dessen künftiges Potenzial nur mit großer Unsicherheit zu beziffern<br />
sind, erscheint es kaum möglich, die gesamtwirtschaftlichen<br />
Kosten und den Nutzen der Migration zu benennen.<br />
Auf der Kostenseite zeigt sich, dass die Ausgaben für Hochschulen<br />
je Studierendem in Deutschland im Rechnungsjahr<br />
2005 rund 11 900 Euro betrugen. Baden-Württemberg gab<br />
nach Angaben des Statistischen Bundesamts überdurchschnittliche<br />
13 700 Euro aus. Im Vergleich zwischen den Fächergruppen<br />
unterscheiden sich die Kosten teilweise erheblich.<br />
Die laufenden Grundmittel für Lehre und Forschung betragen<br />
an einer <strong>Universität</strong> in Baden-Württemberg für einen Bachelor<br />
der Sprach- und Kulturwissenschaften durchschnittlich 9 600<br />
Euro, in den Rechts-, Wirtschafts- und Sozialwissenschaften<br />
7 600 Euro, in der Humanmedizin beziehungsweise den Gesundheitswissenschaften<br />
dagegen 77 600 Euro.<br />
Der gesamtwirtschaftliche »Nutzen« (von dem Ökonomen<br />
gerne sprechen), der einer Volkswirtschaft entgeht, wenn ein<br />
Hochqualifizierter abwandert, ist noch schwieriger zu beziffern.<br />
Insbesondere ist zu bedenken, dass wesentliche Teile<br />
dieses Nutzens aus indirekten Effekten bestehen. Das durchschnittliche<br />
Bildungsniveau kann sich nicht nur auf die Versorgungs-<br />
und Lebensqualität des Einzelnen, sondern über<br />
die gesamtwirtschaftliche Produktivität am Ende auch auf<br />
den individuellen erwarteten Lohn auswirken.<br />
Schließlich könnte man auch Steueraufkommenseffekte<br />
betrachten. Als »fiskalische Externalität« eines Hochqualifizierten<br />
wäre dann der Überschuss an Steuern und Sozialabgaben<br />
über die in Anspruch genommenen öffentlichen<br />
Leistungen und Sozialleistungen zu verstehen.<br />
> Fetisch Internationalisierung? II Topthema<br />
Einfachen Beispielrechnungen des Münchner ifo Instituts liegt<br />
der exemplarische Lebenslauf einer Ärztin zu Grunde (keine<br />
Kinder, Abschluss des Studiums mit 26 Jahren, kein BaföG,<br />
mit 48 Jahren Oberärztin sowie auch weitere Annahmen). In<br />
diesem Fall summiert sich die Externalität auf 639 200 Euro.<br />
Der fiskalische Verlust im Fall einer Abwanderung im Anschluss<br />
an die in Deutschland absolvierte Ausbildung – hier<br />
fallen die Kosten für die Ausbildung an, der fiskalische Ertrag<br />
kommt jedoch nicht zum Tragen – beläuft sich auf etwas über<br />
eine Million Euro. Im Fall eines ebenfalls betrachteten Facharbeiters<br />
sind es immerhin noch etwa 280 000 Euro.<br />
Jedoch verdeutlichen solche Beispielrechnungen eher die<br />
Spannweite möglicher fiskalischer Effekte, als ihr wahres<br />
Ausmaß zu konkretisieren. Dafür wären präzisere Simulationsmodelle<br />
unter Beachtung der Netto-Fortwanderung, also<br />
dem Saldo aus Fort- und Zuwanderung, sozio-demografischer<br />
Bevölkerungsgruppen notwendig.<br />
Die künftigen baden-württembergischen Absolventen jedenfalls,<br />
von denen ohnehin ein beträchtlicher Teil auf jeden Fall<br />
wieder nach Deutschland zurückkehren möchte, gaben als<br />
wichtigsten Grund für die mögliche oder geplante Abwanderung<br />
in rund 19 Prozent der Fälle und somit am häufigsten<br />
die »Neugier auf kulturellen oder beruflichen Austausch« an.<br />
Erst an vierter Stelle folgt das eher mit einem permanenten<br />
Aufenthalt im Ausland verbundene Motiv des erwarteten<br />
Einkommens und der Karrierechancen (etwa 16 Prozent).<br />
Gesamtgesellschaftlicher Nutzen<br />
Die Auswertung nach Studienfachgruppen ergibt, dass die<br />
größten Anteile an sicheren Auswanderungsvorhaben in den<br />
sprach- und kulturwissenschaftlichen Studiengängen (13 Prozent),<br />
in den Wirtschaftswissenschaften (acht Prozent), in den<br />
Sozial-, Politik- und Verwaltungswissenschaften (sieben Pro -<br />
zent) sowie in den Ingenieurwissenschaften und der Informatik<br />
(sechs Prozent) zu finden sind. Beispiele für besonders<br />
wichtige Faktoren bei der Entscheidung zu emigrieren sind<br />
soziale Kontakte, Freunde und Partner.<br />
Insgesamt zeigen die Auswertungen also, dass durchaus Abwanderungspotenzial<br />
vorhanden ist. Der gleichzeitig hohe<br />
Anteil der potenziellen Rückkehrer, die wichtigsten Motive<br />
hinter den beabsichtigten Auslandsaufenthalten sowie die<br />
Konzentration auf bestimmte Fächergruppen deuten jedoch<br />
darauf hin, dass die gesamtgesellschaftlichen Kosten der Emigration<br />
zu relativieren sind. Mit dem Ziel vor Augen, später<br />
einmal ins Ausland zu gehen, mag mancher Student effizienter<br />
studieren. Bleibt er dann doch in Deutschland, sollte<br />
die Nutzendifferenz positiv ausfallen. Insbesondere ist der<br />
gesamtgesellschaftliche Nutzen eines Hochqualifizierten nach<br />
der Rückkehr von einem temporären Auslandsaufenthalt<br />
typischerweise höher, als er ohne diese »Humankapitalspritze«<br />
gewesen wäre.<br />
27/2009 <strong>attempto</strong>! 9