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wintertarn Kopie 5 24 Kopie - BookRix

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10.10 SAMSTAG<br />

WINTERTARN<br />

„ Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, dass ich euch nicht<br />

zu früh aus den Betten geworfen habe, aber es ging leider<br />

nicht anders. Gestern Abend oder heute Morgen, ganz<br />

wie ihr wollt, sind in der Grenzallee zwei Leichen von einer<br />

Streife gefunden worden; weibliches Geschlecht, Alter<br />

zwischen zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. An einer<br />

Leiche fehlt der Kopf, an der anderen ist das Gesicht so<br />

stark deformiert, dass eine Identifikation bis jetzt nicht erfolgen<br />

konnte. Die beiden Mädchenkörper, es handelt sich<br />

bei ihnen möglicherweise um Prostituierte, der Kleidung<br />

nach zu schließen, weisen außerdem Unterleibsverletzungen<br />

auf, ziemlich gravierende sogar. Ein Sexualdelikt ist<br />

also wahrscheinlich. Die Haut- und Haarfarbe ist dunkel,<br />

die Opfer sind also möglicherweise Ausländerinnen. Türkinnen<br />

oder Ähnliches. Die Untersuchungen in der Gerichtsmedizin<br />

haben gerade erst begonnen. Weil die Mädchen<br />

wahrscheinlich Ausländerinnen oder nicht deutschstämmig<br />

sind, oder besser gesagt waren, ist der Fall natürlich<br />

besonders brisant. Das hat uns noch gefehlt, nach<br />

den Scherereien, die wir hier heuer im August gehabt haben.<br />

Das könnte der Tropfen sein, der das Fass endgültig


zum Überlaufen bringt. Die islamistischen Untergrundorganisationen<br />

werden sich wie Wölfe auf den Fall stürzen<br />

und bis zum Gehtnichtmehr ausschlachten. Es ist also<br />

größte Vorsicht angebracht bei den Ermittlungen. Ein verkehrter<br />

Schritt und es kommt zur Explosion.<br />

Deshalb habe ich Sie, meine Herren, aus dem Wochenende<br />

geholt und hier antanzen lassen. Am Samstag, um<br />

acht Uhr dreißig. Wegen zweier Huren, werden sich einige<br />

von Ihnen denken, aber es hilft nichts. Je schneller wir<br />

vorankommen und den Fall zum Abschluss bringen, desto<br />

eher können wir wieder auf Normalbetrieb umschalten.<br />

Wir haben auch so weiß Gott genug um die Ohren. Kimrod<br />

und Remke, Sie übernehmen bitte die Ermittlungen<br />

vor Ort. Straßenstrich, Bumslokale, Nachtbars, et cetera,<br />

et cetera. Euch kann ich da am besten hinschicken. Ihr<br />

kennt eure Pappenheimer noch vom letzten Mal. Ihr wisst<br />

schon, die Zuhälterkriege, Teil dreizehn.<br />

Herder und Maikovsky, ihr schleust euch in Kreuzberg ein<br />

und versucht dort ausfindig zu machen, ob jemand die<br />

Mädchen vermisst oder sie kurz vor ihrem Ableben noch<br />

gesehen hat. Aber Vorsicht! Die Ruhe bewahren und mit<br />

Fingerspitzengefühl vorgehen.“<br />

Kriminalkommissar Maikovsky richtete sich auf.<br />

„ Aber Herr Kriminalrat, wir sind doch keine Anfänger. Ich<br />

hab heute schon zwei Kebab verdrückt. Außerdem kenne<br />

ich in Kreuzberg viele Leute. Ich hätte beinahe mal eine<br />

Türkin geheiratet und...“


„ Es reicht, Maikovsky. Das wird kein Frühstücksausflug.<br />

Die Geschichte wird sich bestimmt schon herumgesprochen<br />

haben. Wir lassen noch heute Zettel mit den Kleidungsstücken<br />

der Toten in den einschlägigen Vierteln verteilen.<br />

Der Innensenator ist bereits informiert und will täglich<br />

auf dem neuesten Stand der Ermittlungen gehalten<br />

werden. Sie sehen also, dass ich Sie nicht umsonst hierher<br />

zitiert habe. Die große Politik schaltet sich wieder zu.<br />

Da heißt es auf Zack sein und mit Volldampf voraus....äh,<br />

wo bin ich stehengeblieben...richtig, die Einteilung. Kimrod,<br />

Remke nach da, Herder, Maikovsky nach dort und<br />

Härtlein, Bullrich, Sie beide befragen die Anwohner. Was<br />

haben die gestern Nacht gehört und gesehen. Wer ist<br />

aufgefallen, was hat sich da abgespielt, so ähnlich. Gehen<br />

Sie in die Geschäfte und Kneipen, läuten Sie die Leute<br />

raus, die unmittelbar am Fundort der Leichen leben. Befragen<br />

Sie Taxifahrer und Schichtarbeiter. Einfach alles,<br />

was uns irgendwie weiterhelfen könnte. Ich bleibe hier<br />

und werte die neuesten Nachrichten aus der Gerichtsmedizin<br />

und dem Labor aus. Ich wäre sehr froh, wenn wir bis<br />

heute Abend wenigstens so weit kommen, dass eine Identifizierung<br />

der Leichen zweifelsfrei vorgenommen werden<br />

kann. Vielen Dank, meine Herren.“<br />

Kriminalrat Zefhahn verließ das Büro, seine Polizisten<br />

hielten Kriegsrat. Kriminaloberkommissar Remke, der kurz<br />

vor seiner Pensionierung stand, war nicht sehr erbaut von<br />

dem neuen Fall.


„ Ausgerechnet zwei Kanakerbräute, noch dazu Nutten.<br />

Das bedeutet noch ein Magengeschwür, so kurz vor dem<br />

Ziel. Pfui Deibel, in was wir da wieder herumstochern<br />

werden müssen. Ich hasse diesen ganzen Bumsbetrieb<br />

wie die Pest und ausgerechnet uns schickt dieser Komiker<br />

dort hin. Will keiner mit uns tauschen? Ich geb auch ein<br />

Bier aus?“<br />

Maximilian Kimrod, verheiratet, zwei Kinder und dreiundvierzig<br />

Jahre alt, betrachtete nachdenklich die Tatortaufnahmen,<br />

die Zefhahn auf einem der Schreibtische zurückgelassen<br />

hatte. Die Miniröcke der Leichen waren zerfetzt<br />

und die Schenkel bis hinunter zu den Knie mit Blut<br />

beschmiert. Die Körperhaltung war bei beiden Mädchen<br />

arg verdreht und sichtlich unter roher Gewalteinwirkung<br />

entstanden. Das sah für Kimrod nicht nach Zuhälter aus.<br />

„ Tut mir leid, Otto, aber ich glaube das wird nichts mit<br />

deinem Bumsbetrieb. Meiner Meinung nach müssen wir<br />

den Täter eher im Zoo suchen. Vielleicht im Primatenhaus.“<br />

„ Du immer mit deinem Fremdwörterkauderwelsch. Der<br />

Boss hat gesagt im Milieu und damit basta. Du kannst<br />

doch nicht leugnen, dass die Mädels wie Nutten aussehen?<br />

Wer läuft denn zu dieser Jahreszeit noch mitten in<br />

der Nacht mit einem Minirock durch die Gegend, am<br />

zehnten Oktober? Ne, ne, wo der Alte recht hat, hat er<br />

recht. Vielleicht wollte da jemand auch nur ein Sexualdelikt<br />

vortäuschen und hat es deshalb wie aus dem Horrorfilm<br />

arrangiert. Könnte doch sein, oder Maikovsky?“


„ Hätte, könnte, vielleicht, das ist nicht meine Kragenweite.<br />

Ich halte mich an Fakten und sonst nichts. Außerdem<br />

habt ihr keinen Grund, euch zu beschweren. Erstens<br />

könnt ihr frühestens gegen vierzehn Uhr mit eurer Tour<br />

anfangen und zweitens werdet ihr nicht so wie wir gegen<br />

eine Wand laufen. Wenn es sich bei den Mädels um Töchter<br />

von Onkel Osman handelt, sind wir bestimmt die Letzten,<br />

die erfahren wie es passiert ist und wer mit drin<br />

steckt. Ich kenn die Brüder genau. Die halten dicht wie ein<br />

frischgeteerter Sautrog. Da dringt nichts nach draußen.<br />

Vielleicht muss ich mir einen Bart wachsen lassen und die<br />

Haare schwarz färben. Da hat doch schon mal einer, so!n<br />

Journalistenfuzzi - mir fällt der Name nicht ums Verrecken<br />

ein .. . Palgraf oder so ähnlich.“<br />

Herder bewarf seinen Kollegen mit einem Radiergummi<br />

und drängte zum Aufbruch.<br />

„ Komm Harry, das bringt doch nichts mehr. Wir rücken<br />

ab. Palgraf oder so ähnlich...manchmal weiß ich wirklich<br />

nicht, mit wem ich da seit zehn Jahren zusammenarbeite.<br />

Der Mann heißt....“<br />

Herder warf die Tür hinter sich zu und fuhr fort, seinen<br />

Busenfreund Maikovsky zu belehren, dessen Gelächter<br />

noch bis ins zweite Stockwerk hinunter zu hören war.<br />

Härtlein verteilte Zigaretten an die Männer. Kimrod wollte<br />

zuerst ablehnen, griff dann aber doch zu.<br />

„ Hat keinen Zweck. Mit der Scheiße, die jetzt auf uns zukommt,<br />

fang ich sowieso wieder an. Wenigstens sind wir<br />

jetzt die beiden Witzbolde los. Manchmal geht mir der gu-


te Harry schon arg auf den Senkel. Ob der überhaupt was<br />

ernst nimmt?“<br />

„ Das sind halt junge Burschen. Meiner Meinung nach zu<br />

schnell befördert worden. Da drückt dann manch einer zu<br />

fest aufs Pedal. Mir soll!s recht sein. So lange mir keiner<br />

in die Quere kommt“, sagte Kriminaloberkommissar Bullrich<br />

und machte eine wegwerfende Handbewegung.<br />

Remke nickte zustimmend.<br />

„ Was soll!s, mir kann sowieso alles an der rechten Backe<br />

vorbeigehen. Noch sechs Monate und dann ab nach Ibiza<br />

oder wie das heißt. Max, das wird dein Fall. Das habe ich<br />

im Urin. Fangen wir von mir aus im Zoologischen Garten<br />

an. Bei deinen Primaten oder wie die Dinger auch immer<br />

heißen mögen. Ich alter Dackel mag!s halt nicht mehr so<br />

exotisch. Auf alle Fälle lass uns von hier verschwinden.<br />

Ich habe tierischen Kohldampf. Ich kenn da so einen<br />

Schuppen in der Oranienstraße. Die machen schon um<br />

acht Uhr auf. Lass uns da hinfahren und anständig frühstücken.<br />

Ich lade dich auch ein.“<br />

„ Dann sofort. Ich bin auch ohne zu essen in die Klamotten<br />

gesprungen und hierher gedüst. Richtiger Kaffee, frische<br />

Hörnchen. Du musst mich nicht zweimal fragen.“<br />

„ Fein. Servus, die Kollegen“, sagte Remke.<br />

„ Guten Appetit“, erwiderte Bullrich kurz.<br />

„ Und meldet euch sofort, wenn sich was ergibt“, ermahnte<br />

Härtlein pflichteifrig die Männer, die ohne die Zigaretten<br />

auszudrücken im Fahrstuhl verschwanden. Das war nicht<br />

ungefährlich. Der Polizeipräsident war ein militanter Nicht-


aucher. Wer sich nicht peinlich genau an die penibel ausgetüftelten<br />

Verbotszonen hielt, riskierte eine Disziplinarstrafe.<br />

Remke gab sich jedoch gerne lässig in Kimrods<br />

Gegenwart, um den Jüngeren zu beeindrucken und von<br />

seiner großzügigen Dienstauffassung zu überzeugen.<br />

Die Zeit der sturen Paragraphenreiter war zweifellos vorbei,<br />

besonders im Kriminaldienst. Als Polizist musste man<br />

selbst zum kleinen Verbrecher werden, um bestehen zu<br />

können. Im Brennpunkt der sozialen Konflikte standen Millionen<br />

von Arbeitslosen, die auch nur die Hoffnung auf einen<br />

Job als Aushilfskellner schon längst aufgegeben hatten,<br />

radikalisierte Minderheiten mit Migrationshintergrund,<br />

eine immer stärker von der Verarmung bedrohte Mittelklasse<br />

und die explodierende Verrohung und Gewaltbereitschaft<br />

der Kinder und Jugendlichen. In jeder Gruppierung<br />

stieg die Bereitschaft, Gesetze zu brechen und gegen<br />

den Staat tätig zu werden.<br />

Nach den jüngsten Kürzungen im Sozial- und Arbeitslosenhilfebereich<br />

war die Rate der Sachbeschädigungen<br />

und mutwilligen Zerstörungen öffentlicher Einrichtungen<br />

besonders in den reicheren Vierteln stark nach oben geschnellt.<br />

Man wollte den Geldsäcken zeigen, dass man<br />

sich nicht unterkriegen ließ. Macht kaputt, was euch kaputt<br />

macht. Diese Parole längst vergangener Tage gewann<br />

eine neue, bedrohliche Bedeutung. Der Staat war<br />

verhasst wie nie zuvor. Zumindest bei den zwei Dritteln<br />

der Bevölkerung, die sich mit den weniger größeren Kuchenstücken<br />

zufriedengeben mussten. Die Blütezeit der


großen Koalition war vorbei, der Vertrauensvorschuss<br />

verbraucht und die Hoffnung auf eine Verbesserung der<br />

wirtschaftlichen Lage begraben. Die immer wieder beschworene<br />

Solidargemeinschaft war nur noch eine Phrase<br />

in abgedroschenen Politikerreden, um den Plebs zu besänftigen.<br />

Die Fassade bröckelte, der einst so witterungsbeständige<br />

bundesrepublikanische Außenputz und das<br />

Fundament begannen Risse zu zeigen.<br />

Die immer aggressiver agierenden Gewerkschaften machten<br />

längst nicht mehr vor dem ehemals geheiligten Beamtenstatus<br />

halt. Polizei, Post, Feuerwehr, alles konnte systematisch<br />

und über Nacht lahmgelegt werden, um die von<br />

einer Minusrunde in die andere eilenden öffentlichen Arbeitgeber<br />

und Ministerien zu höheren Abschlüssen zu nötigen.<br />

Doch Geld war keins mehr da. Das Steueraufkommen<br />

der Großindustrie sank von Jahr zu Jahr, und bei den<br />

kleinen Fischen war Vorsicht geboten. Neue Abgaben bedeuteten<br />

oftmals das Aus für mittelständische Betriebe<br />

und viele der Arbeitnehmer und Angestellten mussten bereits<br />

mehr als die Hälfte der Nettolöhne für die überteuerten<br />

Kredittilgungsleistungen aufwenden.<br />

Kimrod stammte aus kleinen Verhältnissen: der Vater<br />

BMW-Fließbandarbeiter, die Mutter Teilzeitsekretärin. Da<br />

wurde es eng, wenn man drei Kinder vernünftig großziehen<br />

und ausbilden wollte. Kimrod hatte sein Abitur auch<br />

nur gemacht, um nicht gleich als Sechzehnjähriger arbeitslos<br />

oder auf ein berufliches Abstellgleis geschoben zu<br />

werden. Zur Polizei ging er deshalb, weil sein Vater ihm


die Vorteile des Beamtendaseins ans Herz legte. Aber sogar<br />

dort stand die Unkündbarkeit neuerdings zur Debatte.<br />

Der Staat agierte da nach der Devise Auge um Auge,<br />

Zahn um Zahn. Nach der Fachhochschule für Verwaltung<br />

und Rechtspflege, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, folgten<br />

ein paar Lehrjahre im Einbruchsdezernat. Seitdem<br />

konnte er alle Türen und Schlösser mit dem kleinen Finger<br />

öffnen. Danach zur Mordkommission, unter Remkes Fittiche.<br />

Es gab schlechtere Einkommensklassen, aber reich<br />

wurde im gehobenen Dienst auch niemand mehr. Man<br />

kam gerade so durch. Vor drei Jahren der neue Wagen.<br />

Einmal im Jahr zwei Wochen Griechenland, Essen, Kleidung,<br />

Versicherungen. Eine größere Wohnung war da einfach<br />

nicht drin. Kimrod stotterte immer noch die Zinsen für<br />

den Opel ab. Emma, seine Frau, hatte auf dem gehobenen<br />

Modell bestanden. Wenn nicht jetzt, wann denn<br />

sonst?<br />

Klar, sie hatte recht, das letzte Hemd hat keine Taschen,<br />

aber zu sehr über die eigenen Verhältnisse leben, konnte<br />

gefährlich werden. Der BF stieg, wobei BF für Bestechlichkeitsfaktor<br />

stand. Und das in einem Beruf, der einen<br />

mit allen Tricks und Kniffen in Berührung brachte. Jeder<br />

hat bekanntlich seinen Preis. Man sollte also nicht zu<br />

ausgiebig im Fahrwasser der Zinshaie baden. Remke BF<br />

drei, Kimrod BF fünf, Maikovsky BF sieben. Das war eines<br />

von Zefhahns Lieblingsspielchen. Für die Betroffenen war<br />

es freilich weniger lustig. Wer sich überschuldete oder ein<br />

unregelmäßiges Privatleben führte wie Maikovsky, der mit


Vorliebe unbefriedigte Ehefrauen bestückte, lief Gefahr,<br />

sich einer langwierigen Sicherheitsüberprüfung unterziehen<br />

zu müssen. Wer durchfiel, landete wieder bei der<br />

Schupo, zukünftige Beförderung ausgeschlossen.<br />

Ein weiteres fragwürdiges Beurteilungskriterium aus dem<br />

Köcher des Kriminalrats war der PF, der Pressefaktor.<br />

Kimrod acht, das lag hart an der Schmerzgrenze. Zefhahn<br />

wurde rasend, wenn einer seiner Beamten auf eigene<br />

Faust Öffentlichkeitsarbeit leistete. Der Platz an der Mediensonne<br />

war ausschließlich ihm, dem Dienststellenleiter,<br />

vorbehalten. Wer sich vordrängelte, müsste fürchterlichste<br />

Repressalien in Kauf nehmen, die Suspendierung vom<br />

Dienst eingeschlossen. Kimrod liebte jedoch die direkte<br />

Zusammenarbeit mit den Zeitungen und trug durch seine<br />

unvoreingenommene Art viel zur Hebung des Ansehens<br />

der Polizei bei. Von den vielen Tips und Hilfestellungen<br />

der Journalisten, die dabei abfielen, ganz zu schweigen.<br />

Einem Reporter standen einfach ganz andere Informa-<br />

tionskanäle offen.<br />

Zefhahn wachte freilich wie ein Zerberus über sein Monopol.<br />

Bereits mehrmalig hatte er Kimrod mit dem Entzug<br />

eines Falls gedroht, was aber jedes Mal durch Kimrods<br />

Beliebtheit in der Presse verhindert wurde. Für die breite<br />

Masse war man als Polizist entweder korrupt oder, was<br />

noch schlimmer war, ein sadistischer Staatsscherge, der<br />

aus purem Spaß an der Freude für die oberen Zehntausend<br />

den Bluthund spielte. Kimrod hatte sich daran gewöhnt,<br />

für alle Vergehen der Politiker büßen zu müssen,


die einerseits vom Otto Normalverbraucher immer drückendere<br />

Abgaben einforderten und andererseits nicht<br />

davor zurückschreckten, ihre Privatvermögen durch fragwürdige<br />

Steuerschiebereien zu mehren oder den Großkonzernen<br />

Erlasse in Milliardenhöhe zu gewähren.<br />

Durch die immer größer werdende Verarmung verschoben<br />

sich auch die Moralvorstellungen. Kleindelikte wie das Zurückdrehen<br />

des Stromzählers oder privater Hanfanbau<br />

wurden verstärkt gebräuchliche Mittel, um sich über Wasser<br />

zu halten und das Einkommen aufzubessern. Die Delikttoleranz<br />

nahm rapide zu, wie sich Zefhahn auszudrücken<br />

pflegte. Kimrod hatte gelernt, auch beide Augen zu<br />

zudrücken. Wer einen großen Fisch fangen will, muss<br />

zehn kleine erwischen und sie wieder laufen lassen,<br />

nachdem sie gesungen haben. Ein in der Praxis nicht immer<br />

leichtes Unterfangen, da sich die großen Hechte<br />

meistens stark im Hintergrund versteckt hielten und die<br />

kleinen Angst hatten und sich lieber einsperren ließen. Die<br />

Polizeiarbeit ähnelte daher immer mehr einer Gratwanderung.<br />

Links und rechts im Abgrund drohten Bestechlichkeit,<br />

Begünstigung, Beihilfe, Amtsmissbrauch, Strafvereitelung,<br />

Erpressung, Hehlerei und andere Rechtswidrigkeiten.<br />

Wer erfolgreich arbeiten wollte, war gezwungen, sich<br />

das ein oder andere Mal nach unten zu bewegen. Der Typ<br />

Remke, der auf der Fahrt zum Einsatzort drei Strafmandate<br />

wegen Gefährdung des Straßenverkehrs ausstellt, war<br />

zum Untergang verurteilt und konnte nur noch an der Seite<br />

eines Beamten von Kimrods Zuschnitt überleben, der


mit mehr Ganoven per Du war als mit Kollegen, die seine<br />

ironische Art leicht als Arroganz missdeuteten.<br />

Seit Kimrods Frau für das Abgeordnetenhaus kandidierte,<br />

fielen scheele Blicke auf ihn. Dabei war doch eine Partei<br />

so gut wie die andere und ohne die Sozis wäre die Lage<br />

noch viel beschissener. Kimrod machte sich aber in Wirklichkeit<br />

schon seit geraumer Zeit nichts mehr aus Parteiengezänk.<br />

Nur um im ehelichen und sonstigen Alltag etwas<br />

parat zu haben, übernahm er einige von Emmas Parolen<br />

und intonierte sie bei Bedarf.<br />

Remke war schwarz wie die Nacht finster und konnte aus<br />

dem Stegreif Grundsatzerklärungen des Kanzlers rezitieren.<br />

Sie hatten sich deshalb darauf geeinigt, das Thema<br />

Politik auszuklammern, was Remke nicht immer leicht fiel.<br />

Er glaubte immer, seinen vom reformierten Sozialismus<br />

indoktrinierten Kameraden bekehren zu müssen.<br />

„ Hallo, aufwachen, wir sind da. Pennst du oder stellst du<br />

schon wieder deine Reflexionen an? Nach dem Motto: Ich<br />

und die Welt. Die Stellung des sozial verantwortungsbewusst<br />

handelnden Kriminalbeamten im Wirkgefüge der<br />

postrevolutionären Realdemokratie insbesondere. Nur<br />

gut, dass ich keine solche Politwally zu Hause habe. Das<br />

täte mir gerade noch abgehen. Es gibt nichts Schlimmeres<br />

als intelligente Weiber. Du bist wirklich nicht zu beneiden.“<br />

„ Außer intelligente Kollegen. Da kannst du gleich nachvollziehen<br />

wie mir manchmal zumute ist. Ich bekomm!s zu


Hause und in der Arbeit reingedrückt. Außerdem bist du<br />

bloß neidisch. Wenn Emma den Sprung in das Abgeordnetenhaus<br />

schafft, kann ich meinen Beruf an den Nagel<br />

hängen. Dann reicht!s nämlich für zwei. Im Übrigen bist du<br />

der Sozialfatzke. Oder hab ich letzte Woche die drei Sudanesen<br />

laufen lassen, die am Ku'damm Dutzende von<br />

Börsen gezogen haben? Wahrscheinlich hast du sie wegen<br />

ihrer Hautfarbe nicht verhaftet. Unter Parteifreunden<br />

sozusagen“, sagte Kimrod bissig.<br />

„ Ich habe die Kollegen informiert. Sie haben sie wenig<br />

später gestellt. Wir sind nun mal bei der Mordkommission.<br />

Man muss das alles schön getrennt halten. Und nun<br />

komm. Tiefer runter geht's nicht.“<br />

Die Männer verließen den Fahrstuhl und gingen zu ihrem<br />

Dienstfahrzeug, das sich in der letzten Ecke der Tiefgarage<br />

unter dem Präsidiumsgebäude befand. Ein Teil der<br />

mehrstöckigen Parkplatzanlage diente gleichzeitig als<br />

Werkstatt. Hier wurden die Wägen frisiert und nach den<br />

oft materialmordenden Einsatzfahrten wieder hergerichtet.<br />

Die Zeiten des Überflusses waren auch hier längst vorbei.<br />

Nur was beim besten Willen nicht mehr zum Rollen zu<br />

bringen war, wurde ausgemustert. Der betagte Ford, den<br />

die beiden Polizisten bestiegen, lief ständig Gefahr, von<br />

einer der zahlreichen Verwertungsgesellschaften aus dem<br />

Verkehr gezogen zu werden. Man durfte ihn deshalb nie<br />

länger als achtundvierzig Stunden an einem Platz stehen<br />

lassen. Die Recyclinggeier wurden sonst aufmerksam und<br />

schlugen erbarmungslos zu.


Das Vehikel hatte unter der Haube noch gute zweihundert<br />

PS stecken. Man tat freilich gut daran, sie nur selten zu<br />

wecken. Bei höheren Geschwindigkeiten begann die Fuhre<br />

so bedenklich zu schwimmen und schaukeln, dass einem<br />

Angst und Bange wurde. Sogar Kimrod, der sonst<br />

kein Risiko scheute, drückte das Gaspedal nur zum Überholen<br />

durch und auch da erinnerte ihn Remke noch ständig<br />

an seine Rente, die er doch tunlichst nicht im Rollstuhl<br />

genießen wollte. Aber es war nichts zu machen. So lange<br />

der Wagen lief, gab es keinen Ersatz und die Mechaniker<br />

hatten es inzwischen zu einer wahren Meisterschaft im<br />

Präparieren und Instandsetzen von Rostlauben gebracht.<br />

Zefhahn verwies seine Untergebenen bei Klagen einfach<br />

an die Autobahnpolizei. Wer rasen wolle, müsse eben dort<br />

sein Glück versuchen. Seine Beamten seien Spürhunde<br />

und keine Rennfahrer, basta.<br />

„ Musik?“ fragte Kimrod, der die röhrende Limousine gekonnt<br />

ans Tageslicht steuerte. Remke nickte stumm. Die<br />

grauen Betonwände waren übersät von bunten Graffitos.<br />

Die Kids waren auch direkt unter den Augen der Polizei<br />

bienenfleißig. Remke hatte sich mehrfach nachts auf die<br />

Lauer gelegt, war aber nie fündig geworden. Die Künstler<br />

fertigten ihr Werke wohl während der Mittagspausen an.<br />

Einige Kunstjournalisten sollten sogar schon Fotos gemacht<br />

haben. Unter Zefhahns verschärftem Protest, der<br />

wahrscheinlich den Titel einer zukünftigen Ausstellung


fürchtete: Subwaystimmung unterm Präsidium oder so<br />

ähnlich.<br />

„ Was is? Ist dir nicht gut?“ erkundigte sich Kimrod weiter.<br />

Remke winkte ab.<br />

„ Lass mal. Mir ist schlecht vor Hunger. Und jetzt noch<br />

quer durch die ganze Stadt mit dieser Gurke. Fahr bloß<br />

langsam. Wir haben alle Zeit der Welt.“<br />

„ Gut, gut, ich bin auch nicht lebensmüde. Kannst ja beim<br />

nächsten Mal mit der U-bahn fahren.“<br />

,,Bin ich bescheuert oder was? Ich kenn ne Menge Typen,<br />

die bloß darauf warten, dass sie mir im Gedränge einen<br />

Schraubenzieher zwischen die Rippen stecken können.<br />

Alles schon mitgemacht.“<br />

„ Ach ja, das musst du mir genauer erzählen. Ich dachte,<br />

die Leute, die sich mit dir angelegt haben, schwimmen alle<br />

schon kieloben im Landwehrkanal.“<br />

„ Mach nur deine Witzchen. Zu meiner Zeit gab!s noch eine<br />

klare Frontenverteilung. Da war nichts mit Schmiere<br />

zum Anfassen oder Gestörtenregelung. Unter fünf Jahren<br />

ist bei mir keiner davongekommen. Da verschafft man<br />

sich Feinde.“<br />

Remke spielte auf ein neues Regierungsprogramm an,<br />

dass jedem Täter einen ursprünglichen Unschuldszustand<br />

zubilligte. Zum Verbrecher wurde man nur durch eine Verkettung<br />

unglücklicher Umstände im sozialen Umfeld. Die<br />

krankmachende, sprich den kriminellen Trieb verursachende<br />

Umwelt musste, wenn möglich, verändert werden


und der Täter in einem speziellen, der Haft- beziehungsweise<br />

Bewährungsstrafe sich anschließendem Programm<br />

lernen, mit dieser Umwelt anders, in einer keine kriminellen<br />

Verhaltensweisen produzierenden Art, umzugehen.<br />

Die Erfolge waren durchwachsen. Viele Mehrfachtäter hatten<br />

den Dreh bald heraus, sich mit dem richtigen Vokabular<br />

auch aus dem fünften und zehnten Einbruch herauszuwinden.<br />

Sie schützten vor, dass sie mit den hohen Anforderungen<br />

der unerbittlichen Leistungsgesellschaft nicht<br />

mehr zurechtkämen und man sie im letzten Täterschutzprogramm<br />

einfach unzureichend auf den rauen Alltag vorbereitet<br />

hätte.<br />

Bei Gewaltverbrechern griffen die Programme manchmal<br />

besser. Wer zum Beispiel seine Ehefrau krankenhausreif<br />

geschlagen hatte, konnte seine Strafe alternativ zum Gefängnis<br />

in einem Ausbildungslager für Einzelkämpfer abbüßen,<br />

in dem die vierschrötigen Feldwebel berechtigt<br />

waren, jegliche Regung individuellen Widerstands mit<br />

massiver körperlicher Gewalt zu brechen. Wer sich wiederholt<br />

von einem physisch weit überlegenen Gegner<br />

Prügel für eine verdreckte Uniform eingefangen hatte,<br />

merkte alsbald, dass diese Form von zwischenmenschlicher<br />

Kommunikation für den Unterlegenen ziemlich frustrierend<br />

war. Die Raufbolde lernten so ihre Lektion viel<br />

eindringlicher und kamen oft völlig bekehrt wieder nach<br />

Hause, insgeheim stolz, eine harte Schule durchlaufen zu<br />

haben. Das Projekt war erst am Anlaufen und man musste<br />

die richtigen Therapieformen für alle Täterprofile erst noch


ausfindig machen, so dass es zu früh war, eine Bewertung<br />

anzustellen. Fest stand nur, dass die Grenzen des herkömmlichen<br />

Strafvollzuges erreicht und teilweise auch<br />

schon überschritten waren.<br />

Die Strafen wurden immer höher und der Platz in den Justizvollzugsanstalten<br />

immer weniger. Wer seine fünfhundert<br />

Euro Bußgeld für zu schnelles Fahren nicht zahlen wollte,<br />

ließ die gesetzte Frist verstreichen und erklärte sich bereit,<br />

die ersatzweise verhängte Haft anzutreten, mit der<br />

Gewissheit, niemals gesiebte Luft atmen zu müssen. Um<br />

Drogenabhängige zu kurieren, die um ihre Sucht zu befriedigen,<br />

straffällig geworden waren, dachten manche<br />

schon laut darüber nach, malaiische Verhältnisse einzuführen.<br />

Dort steckte man die Süchtigen in militärisch geführte<br />

Umerziehungslager, in denen mit viel frischer Luft<br />

und Zwangsarbeit versucht wurde, den Junkies ihr Laster<br />

auszutreiben. Dealer hängte man nach wie vor kurzerhand<br />

auf.<br />

Es war also Bewegung ins Justizsystem gekommen. Mit<br />

welchem Erfolg und zu welchen Ufern, stand noch in den<br />

Sternen. Kimrod zog seinen Kollegen weiter auf.<br />

„ Die, die du einsperren wolltest, lachen sich heute noch<br />

krumm und bucklig. Erzähl mir lieber, was du jetzt mit deiner<br />

vielen Freizeit anfangen willst. Vielleicht noch ein Kind<br />

machen oder was?“<br />

Remke griff seinem Chauffeur scherzweise ins Steuer und<br />

betätigte dabei die Hupe. Ein Fahrer, der neben ihnen<br />

zum Überholen ansetzte, trat kurz auf die Bremse und


ewegte dann seine Hand mit gespreizten Fingern mehrfach<br />

vor dem Gesicht hin und her.<br />

„ Der hat dich gemeint. Fährst auch wie eine gesenkte<br />

Sau“, sagte Remke belustigt.<br />

Kimrod ging vom Gas und ließ den Mann vorbeiziehen.<br />

„ Also, was steht an? Klappt!s noch oder muss ich dich<br />

heute Nachmittag in der Safaribar auf Vordermann bringen?<br />

Kostet mich nur ein Lächeln“, meinte Kimrod gut gelaunt.<br />

Remke seufzte. Seine Frau war zwanzig Jahre jünger wie<br />

er und Kimrod machte immer wieder seine Anspielungen.<br />

Schlimmer wie ein pubertierender Sechzehnjähriger. Seine<br />

Inge bekam, was sie brauchte. In der Beziehung konnte<br />

ihm niemand etwas vorwerfen.<br />

„ Mich auf Vordermann bringen. Dass ich nicht lache. Solchen<br />

Nachtwächtern wie dir mache ich noch mit achtzig<br />

was vor. Kannst mir ja mal deine Alte ausleihen, wenn du<br />

es nicht glaubst. Aber beschwer dich nachher nicht, wenn<br />

sie dich von dem Tag an von der Bettkante stößt.“<br />

,,Das Risiko nehme ich locker in Kauf. Mach jedoch vorher<br />

dein Testament. Meine Frau ist einiges gewohnt und<br />

legt bestimmt ein scharfes Tempo vor. Du könntest dich<br />

überanstrengen. Wäre vielleicht kein schlechter Tod. Aber<br />

im Ernst. Mit was willst du deine alten Tage verbringen?<br />

Meinst du, dass du Theo behalten kannst, als Privatmensch?<br />

Rottweiler sollen doch verboten werden.“<br />

„ Papperlapapp. Außerdem ist Theo ein Mischling. Er hat<br />

viel Bernhadinerblut in den Adern, das macht ihn ruhiger.


Pass lieber auf, wo du hinfährst. Ständig von links nach<br />

rechts, da wird man richtig seekrank.“<br />

Kimrod schlängelte sich geschickt durch den zähflüssiger<br />

werdenden Verkehr. Häufige Spurwechsel waren unvermeidbar,<br />

wenn man schnell vorankommen wollte. Der<br />

Nieselregen wurde dichter, die Häuserzeilen am Straßenrand<br />

noch düsterer. Die Stadt sah von Jahr zu Jahr heruntergewirtschafteter<br />

aus. Alte Gebäude wurden nicht mehr<br />

saniert, die neuen Regierungspaläste wirkten morbide und<br />

deplatziert. Versicherungs- und Bankentower versuchten<br />

vergeblich, den tristen Gesamteindruck durch geschäftige<br />

Dynamik zu übertünchen. Lieblos hochgezogene Wohnblöcke,<br />

schwärzliche Siedlungen aus dem vorigen Jahrhundert.<br />

Man zog mit anderen europäischen Metropolen<br />

wie Paris und Rom gleich, freilich ohne deren kosmopolitische<br />

Leichtigkeit zu erreichen. Gewissermaßen nur im<br />

negativen Sinne.<br />

Kimrod suchte einen neuen Sender. Das System klinkte<br />

sich in eine ansprechende Hardrockstation ein. Kimrod<br />

erhöhte die Lautstärke. Die erwartete Reaktion seines<br />

Kollegen kam prompt.<br />

„ Dein Gedudel kannst du dir gefälligst zu Hause anhören.<br />

Wir sind im Dienst, da gibt!s für einen guten Polizisten nur<br />

eine Welle. Wenn!s denn unbedingt sein muss, dann bitte<br />

etwas leiser. Ich will mir jetzt auch nicht noch die Lauscher<br />

verderben.“


„ Apropos Lauscher. Nächste Woche soll die neue Walter<br />

PZ 40 eintrudeln. Hülsenlose Munition, Mündungskompensator<br />

und fünfundzwanzig Schuss im Magazin; Einzel<br />

- und Dauerfeuer. Mit der Flak kannst du in den Krieg ziehen.<br />

Die mäht alles um.“<br />

„ Na da wünsch ich euch viel Spaß. Je mehr Technik, desto<br />

schneller kaputto. Wie lang haben wir gebraucht, um<br />

die neue SIG von allen Kinderkrankheiten zu kurieren?<br />

Die Kaliber werden immer stärker, die Geschosse rasanter<br />

und die Rahmen kleiner. Das dauert lange bis das alles<br />

wieder zusammenpasst. Werde sie mir natürlich mal<br />

genauer ansehen. Ich will schließlich wissen, mit was ihr<br />

jungen Spunde durch die Gegend ballert.“<br />

„ Genau. Man will natürlich auch hören, was der Fachmann<br />

spricht. Wir werden das Gerät nächste Woche ordentlich<br />

durchchecken und dann sehen wir weiter. Ich bin<br />

aber echt saumäßig froh, dass wir endlich nachrüsten.<br />

Jeder Hinterhofgangster ist inzwischen besser bestückt<br />

wie wir. Da käme so ein kleiner Raketenwerfer gerade<br />

recht.“<br />

„ Vielleicht haben wir dann auch wieder gegen die Spiderwesten<br />

eine Chance. Es ist einfach ein Unding, bis auf<br />

fünf Meter herankommen zu müssen, um die Burschen<br />

umnieten zu können. Und dann auch nur noch mit überschweren<br />

Kalibern. Wir sind tatsächlich nicht mehr auf<br />

dem neuesten Stand der Technik.“<br />

„ Ich denke schon, dass sich in der Richtung was tun wird.<br />

Die Durchschlagskraft soll enorm sein. Diese Scheißelas-


toseide, an der wir uns bisher die Zähne ausgebissen haben,<br />

wird wird den neuen Turbogeschossen nicht viel entgegenzusetzen<br />

haben. Da werden einige eine saftige<br />

Überraschung erleben. Ich kann mir die Szene gut vorstellen.<br />

Da marschiert einer in seinem leichten Ganzkörperanzug<br />

in die Bank und verlangt ganz ruhig und gelassen<br />

die gesamte Kohle. Wir werden heimlich alarmiert, aber<br />

der Knabe hat nichts zu befürchten. Wenn er uns auf Distanz<br />

halten kann, riskiert er höchstens ein paar blaue Flecken.<br />

Plötzlich macht!s Wumm und dem Typen fliegen die<br />

Eingeweide auf die Fliesen. Die neue Walter hat zugeschlagen:<br />

fern, schnell, gut.“<br />

„ Du sagst es, und ich bin nicht mehr mit dabei. Eigentlich<br />

schade, vielleicht sollte ich noch einmal zehn Jahre draufpacken.<br />

Bin sowieso zu jung für die Rente.“<br />

„ Nein. Ich denke, du hast deine Zeit gehabt. Man muss<br />

immer dann aufhören, wenn es am schönsten ist. Du hast<br />

doch vorhin gesagt, dass dir vor dem neuen Fall graut.<br />

Ein untrügliches Zeichen, du solltest sofort Schluss machen.<br />

Früher mussten wir dich mit Gewalt ins Wochenende<br />

prügeln. Kein Tag unter zehn, zwölf Stunden, kein Fall<br />

zu groß. Da bleibt mit der Zeit der Verschleiß nicht aus...“<br />

„ Mensch, hast du den gesehen, der hat mindestens<br />

achtzig Sachen drauf. Stell den Kojak raus und setz nach.<br />

Der hat es bestimmt nicht umsonst so eilig. Ich will einen<br />

Besen gefressen haben, wenn der sauber ist.“<br />

„ Sachte Otto. Wir machen in Sachen Mord und sind von<br />

unserem Chef, der beauftragt wurde, eine Sonderkom-


mission zu bilden, angewiesen worden, in einem Fall Ermittlungen<br />

anzustellen, der keinen Aufschub duldet. Du<br />

hast gehört, was Zefhahn gesagt hat. Identifizierung bis<br />

heute Abend. Nicht umsonst, schätze ich. Da hat der<br />

Präsident persönlich aufs Gaspedal gedrückt. Bis ich diesen<br />

Fuzzi erwische, der wahrscheinlich bloß seine neue<br />

Mühle ausprobieren will, sind wir in Mahrzahn. Wir könnten<br />

wahrscheinlich eine schöne Stange Mäuse einkassieren,<br />

aber momentan werden wir für etwas anderes bezahlt.<br />

Außerdem ist der Sprit bald alle. Bevor ich die Mühle<br />

richtig auf Touren gebracht habe, sitzen wir auf dem<br />

Trockenen.“<br />

„ Gut, du hast gewonnen. Du willst nicht und hast den höheren<br />

Rang, aus welchen Gründen auch immer. Wahrscheinlich<br />

war das einer von deinen Spezis, der seiner<br />

Tussi imponieren wollte. Mir kannst du erzählen, was du<br />

willst. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Ich befürchte<br />

bloß, wenn du keinen mehr hast, der auf dich aufpasst,<br />

wirst du mit deinen Gangstern endgültig gemeinsame Sache<br />

machen.“<br />

„ Fang bloß nicht wieder damit an. Das sind nicht meine<br />

Freunde, alte Bekannte allenfalls und einige von denen<br />

sind auch nicht schlimmer wie der Minister da vorne in<br />

seiner Regierungskiste.“<br />

„ Kommunist. Außerdem ist das kein Minister, sondern ein<br />

Botschafter. Das ist ein Diplomatenkennzeichen. Na ja,<br />

mach doch was du willst. Was ich nicht weiß, macht mich<br />

nicht heiß. Eins ist auf jeden Fall sicher. Ich bleibe bis zum


letzten Tag im Dienst und werde bis zu diesem Tag dafür<br />

sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Mit dir<br />

oder ohne dich. Ist mir schnurzegal.“<br />

„ Na dann ist ja gut. Mir nämlich auch.“<br />

Sie erreichten um viertel nach neun die Oranienstraße<br />

und parkten den Wagen in einer Tiefgarage. Das Cafe,<br />

das Remke ausgesucht hatte, war noch ziemlich leer, die<br />

Beleuchtung gedämpft. Sie bestellten zweimal französisches<br />

Frühstück und musterten dezent die Gäste. Remke<br />

kannte den Besitzer persönlich und wusste, dass sie hier<br />

geduldet wurden. Die Kundschaft entstammte normalerweise<br />

nicht dem kriminellen Milieu.<br />

Die noch etwas schläfrig wirkende Bedienung brachte das<br />

Essen nach wenigen Minuten. Es gab Hörnchen, Rührei<br />

mit Speck, drei verschiedene Sorten Marmelade, eine<br />

Kanne Milchkaffee, Orangensaft, appetitlich aufbereitete<br />

Butterstückchen und diverse Käsesorten. Kimrod ließ sich<br />

außerdem Zigaretten bringen. Remke vergewisserte sich<br />

bei der Bedienung, ob alles im Preis inbegriffen sei und<br />

langte dann herzhaft zu.<br />

„ Na, hab ich zu viel versprochen? Wo kriegt man hier<br />

noch für sieben Euro so viel zu fressen wie man will. Und<br />

schmecken tut es obendrein.“<br />

Kimrod, der gerade sein zweites Butterstückchen in Bearbeitung<br />

hatte, nickte zustimmend. Er schluckte den letzten<br />

Bissen mit einem großen Schluck Kaffee hinunter und un-


terbrach seine Beschäftigung, um sich eine Zigarette anzuzünden.<br />

„ Ja, nicht schlecht. Ich find nur, der Kaffee ist ein bisschen<br />

dünn. Zu Hause bin ich ihn stärker gewöhnt.“<br />

„ Ach Quatsch. Das ist Café au lait, französisches Nationalgetränk,<br />

zumindest vor zwölf Uhr. Ich gehe normalerweise<br />

nicht gerne mit meinen Fremdsprachenkenntnissen<br />

hausieren, aber die Betonung liegt auf Milch, viel Milch<br />

und dann kommt erst der Kaffee. Die Franzosen müssen<br />

morgens noch ihren Magen schonen, weil sie später wieder<br />

so viel Zeugs in sich reinschütten. Das sind keine Türken,<br />

die den Satz mitfressen. Nein, sanft und schonend.<br />

Wusste übrigens gar nicht, dass deine Frau Kaffee kocht.<br />

Ich dachte immer am Herd regierst du. Sie macht doch<br />

nur auf Hausfrau, wenn ein Reporter in der Nähe ist. Ansonsten<br />

feilt sie an ihren Reden und entwirft neue Strategien<br />

für ihre roten Brüder. Wenn sie nicht aufpasst, landet<br />

sie bald in der Grundwertekommission. Wenn sie nicht<br />

schon dabei ist...“<br />

„ Auf alle Fälle bin ich mir im Gegensatz zu dir nicht zu<br />

fein für die Hausarbeit. Meine Emma kocht sehr guten<br />

Kaffee und das hier ist Muckefuck. Ob mit lait oder ohne<br />

lait. Ich hab nämlich selber in der Schule Französisch gelernt.“<br />

„ Ach ja, das musst du mir genauer erzählen. Wie alt war<br />

denn die Lehrerin, einunddreißig?“<br />

„ Siebenundzwanzig, und sie hat wegen mir ihren Beruf<br />

an den Nagel gehängt. Es stimmt also doch. Manche


Männer werden ab einem gewissen Alter wieder kindisch.<br />

Wenn sie überhaupt jemals erwachsen geworden sind.<br />

Apropos Kaffeesatz fressende Türken. Diesen Ton kannst<br />

du dir postwendend abschminken. Wenn nicht, fliegst du<br />

raus.“<br />

„ Wär mir sehr recht. Wie oft muss ich satzfressende Türken<br />

wiederholen? Mir steht diese ganze Scheiße nämlich<br />

bis zum Hals. Jeder Fall ist neuerdings politisch und muss<br />

mit Fingerspitzengefühl gelöst werden. Nur wegen den<br />

paar eingeschlagenen Köpfen im August.“<br />

„ Es gab immerhin fast tausend Verletzte, hundert auf unserer<br />

Seite. Die Türken und der schwarze Block, in der Tat<br />

eine brisante Mischung. Aber wir dürfen die nicht zusätzlich<br />

provozieren, sonst gibt!s sofort wieder einen Affentanz.<br />

Damals sind zwei Türkinnen vergewaltigt worden.<br />

Heute haben wir zwei übel zugerichtete Leichen. Vielleicht<br />

ergibt sich da ein Zusammenhang.“<br />

„ Sag ich doch. Damals hat sich doch auch plötzlich herausgestellt,<br />

dass sie von einer Handvoll Landsleuten beklettert<br />

worden sind. Genauso wird!s jetzt auch wieder<br />

sein. Vielleicht war!s der erzürnte Bräutigam oder gar Bruder,<br />

der es nicht mehr verwinden konnte, dass das Mädchen<br />

anschaffte.“<br />

„ Das wäre einfach. Wir müssen auf alle Fälle aufpassen.<br />

Die Sache steht schon morgen in allen Sonntagszeitungen<br />

und ab Montag geht der Tanz richtig los. Aber mit reden<br />

allein kommen wir nicht weiter. Wir müssen einen<br />

Plan ausarbeiten. Wo gehen wir als Nächstes hin, wo


können wir was in Erfahrung bringen ohne gleich zu viel<br />

Staub aufzuwirbeln? Schieß los!“<br />

„ Langsam. Schau mal auf die Uhr. Wir sind zu früh dran.<br />

Bumslokale sonnabends ab fünfzehn Uhr. Eher nicht. Vielleicht<br />

noch in die ein oder andere Kneipe.“<br />

„ Das macht Härtlein. Dem will ich nicht begegnen“, gab<br />

Kimrod zu bedenken.<br />

„ Aber wie viele Kneipen gibt!s in Kreuzberg und Umgebung?<br />

Mir fällt schon eine ein. Nur die Ruhe.“<br />

„ Das bezweifle ich nicht. Wenn!s nur was bringt. Wir halten<br />

schon zu lange Maulaffen feil. Jetzt sind Taten gefragt.“<br />

„ Gerade sagst du, wir müssen mit Überlegung vorgehen<br />

und dann muss plötzlich alles Hals über Kopf gehen.<br />

Wenn wir wenigstens ein Foto hätten. Ich meine, ein richtiges<br />

Foto. Das könnte man den Leuten zeigen und die<br />

würden sich erinnern, wo sie die beiden Mädchen gestern<br />

Nacht gesehen haben und vor allem mit wem. Totaler<br />

Quatsch, uns nur mit diesen Metzgeraufnahmen loszuschicken.<br />

Die kann man doch niemanden zeigen. Den<br />

Leuten wird doch nur schlecht. Typisch Zefhahn. Hauptsache,<br />

er hat die Verantwortung abgeschoben!“ schnaubte<br />

Remke.<br />

„ Was soll er denn machen, sich Portraitaufnahmen aus<br />

dem Hut zaubern? Wir sollen doch rausfinden, wer die<br />

waren und mit wem sie verkehrten.“<br />

„ Aber wie, du Schlaumeier? Weisst du, wie viele Leute<br />

hier wohnen? Willst du die alle persönlich befragen? Ent-


schuldigen Sie bitte, kennen Sie zufällig zwei Nutten mit<br />

zermanschtem Gesicht? Willst du das?“<br />

„ Komm, komm, nicht auf die Tour. Ich hab uns die Suppe<br />

nicht eingebrockt. Du hättest halt Taxifahrer werden sollen.<br />

Da wären dir solche unappetitlichen Geschichten erspart<br />

geblieben. Zumindest hättest du dich nicht näher<br />

damit befassen müssen. Schätze, dass wird sowieso dein<br />

letzter Fall. Hab irgendwie so ein Gefühl, dass das eine<br />

längere Angelegenheit wird. Besonders der abgeschnittene<br />

Kopf macht mir zu schaffen. Das hat so was Perverses<br />

an sich. Und unten mit einem Mixer reingefahren. Also, ich<br />

weiß nicht, da steckt etwas anderes dahinter. Ich sehe nur<br />

noch nicht was.“<br />

Die Bedienung, die am Nachbartisch ein Kreuzworträtsel<br />

löste, wurde immer blasser. Die wenigen Gesprächsfetzen,<br />

die sie verstand, schienen ihr auf den Magen zu<br />

schlagen. Sie tippelte zornig hinter die Theke und genehmigte<br />

sich einen Underberg. Remke beobachtete sie<br />

amüsiert und orderte ebenfalls ein Verdauungsregulans,<br />

das die Angeschlagene mit spitzen Fingern servierte.<br />

„ Vielen Dank, schöne Frau. Du trinkst ja nicht vor Sonnenuntergang.<br />

Ist auch besser so, da bleibt mir mehr.“<br />

Remke kippte den Kräuterschnaps gekonnt mit einer eleganten<br />

Kieferbewegung ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen<br />

und grunzte danach befriedigt.<br />

„ So, jetzt sehe ich gleich wieder viel klarer. Wir dürfen<br />

nicht so laut reden. Die Bedienung wäre beinah umgekippt.<br />

Ich sehe das so. Heutzutage ist alles möglich und


was heißt schon pervers. Da hat jemand unsauber gearbeitet<br />

oder für ein paar Augenblicke die Beherrschung verloren,<br />

mehr nicht. Außerdem wissen wir noch viel zu wenig,<br />

um großartig Schlüsse ziehen zu können. Lass uns<br />

gemütlich zu Ende essen und nachher gehen wir ein paar<br />

Häuser weiter ins Madonna. Vielleicht trifft sich da auch<br />

schon vormittags Gelichter unseren Zuschnitts. Ich meine,<br />

wie!s wir benötigen, um mit unserem Fall weiterzukommen.<br />

Lass uns bis dahin über etwas Netteres reden. Wie<br />

geht!s zu Hause, was machen die Kinder? Noch alles gesund<br />

und munter?“<br />

Kimrod holte tief Luft und zündete sich eine neue Zigarette<br />

an. Das war ein Reizthema. Besonders in Bezug auf<br />

die Kinder, Wolf und Ingrid.<br />

„ Ja, alles gesund. Ich bin noch verheiratet, die Kinder leben<br />

noch. Zufrieden?“<br />

„ Nein, nein, mein Lieber. So leicht lass ich mich nicht abspeisen.<br />

Ich kenne euch doch schon so lange. Die Kinder<br />

von klein auf, da kann ich doch ein bisschen mehr verlangen.<br />

Was treibt Wolf so? Mit der Schule ist er doch fertig?“<br />

„ Ja, Gott sei Dank. Ich weiß auch nicht genau, was der<br />

vorhat. Er treibt sich immer noch viel mit diesen Camos<br />

herum. Nichts Vernünftiges jedenfalls.“<br />

„ Totsch. Der Mann wird immer schlechter gemacht wie er<br />

in Wirklichkeit ist. Der holt die Kids von der Straße und<br />

gibt ihnen die Möglichkeit, so was wie Gemeinschaftsgefühl<br />

zu entwickeln. Wart nur ab, der Junge macht seinen<br />

Weg. Vielleicht schneller wie du denkst!“


Erich Totsch war der Anführer der Camos, einer paramilitärischen<br />

Organisation, die schon mehrere Tausend Mitglieder<br />

zählte. Nicht nur in der Hauptstadt, sondern in der<br />

ganzen Republik wurden Monat für Monat neue Filialen<br />

gegründet, die streng nach dem Vorbild der Mutterorganisation<br />

in Berlin aufgebaut waren. Die Unterführer wurden<br />

in speziellen Kursen auf ihre Aufgabe vorbereitet und auf<br />

Totsch persönlich eingeschworen, so dass die Durchsetzung<br />

seiner Prinzipien bis in die kleinste Zelle hinein reibungslos<br />

funktionierte.<br />

Mit der Kombination von modernster Kommunikations-<br />

und Computertechnologie war die ständige Kontrolle und<br />

Verbindung aller Kameraden, wie sich die Mitglieder untereinander<br />

anredeten, somit jederzeit gewährleistet. An<br />

den Wochenenden wurden Übungen abgehalten, die stark<br />

militärischen Manövern ähnelten. Es wurde dabei viel<br />

Wert auf Nahkampfausbildung gelegt. Man schlief im<br />

Freien oder in kärglichen Armeezelten. Alkohol war zwar<br />

nicht verboten, er wurde jedoch nur im geringen Ausmaß<br />

konsumiert. Die Kameradschaft entwickelte sich am Lagerfeuer<br />

auch ohne Drogen. Das bevorzugte Kleidungsstück<br />

der Camos war die Tarnjacke. Im Winter schwarzweiß<br />

gesprenkelt, in den anderen Jahreszeiten grünbraun.<br />

Auch Mädchen und junge Frauen verstärkten immer mehr<br />

die Reihen von Totschs Einheit, die auch Sicherungsaufgaben<br />

übernahm. Die soldatisch vorgebildeten Camos<br />

waren vorzüglich geeignet, um Banken- und Versiche-


ungskomplexe, U-Bahnanlagen und Einkaufszentren zu<br />

überwachen und vor Beschädigungen zu bewahren. Das<br />

wurde immer notwendiger, weil alles, was nach Geld roch,<br />

in den ärmeren Teilen der Bevölkerung immer verhasster<br />

wurde und die Polizei oft streikte oder wegschaute.<br />

Und Totschs Dienste waren nicht teuer. Viele Camos wurden<br />

noch im Schulalter angeworben und konnten noch mit<br />

einem Taschengeld abgespeist werden. Materialismus war<br />

unter ihnen streng verpönt. Auch die Regierung hatte<br />

Totsch bereits für kleinere Aufgaben engagiert. Bei Wahlveranstaltungen<br />

etwa zur Absicherung der Barrikaden und<br />

zur genauen Überwachung des Publikums. Die Politiker<br />

vertrauten ihren Leibwächtern nicht mehr bedingungslos.<br />

Man hatte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.<br />

Viele Augen sehen mehr wie wenige und allein die Präsenz<br />

so vieler Uniformierter wirkte abschreckend. Die Motivation<br />

stimmte hundertprozentig, denn die Camos arbeiteten<br />

auch bei solchen Einsätzen ausschließlich für<br />

Totsch, der seine Schäflein durch eine geschickte Vorgehensweise<br />

eng an sich band. Wer nicht parierte, wurde<br />

von ihm persönlich degradiert, und seine Offiziere, meistens<br />

die über Zwanzigjährigen, wurden instruiert, alle Entgleisungen,<br />

aber auch besondere Leistungen der Kameraden,<br />

in ein streng abgeschirmtes Computernetz einzuspeisen,<br />

so dass beim so genannten Monatsrapport jedem<br />

Mitglied einzeln fundierte Noten erteilt werden konnten.<br />

Durch die kurzen Haarschnitte und die getarnten Jacken<br />

kamen die Camos rasch in Verdacht, rechtsradika-


lem und nationalsozialistischem Gedankengut verhaftet zu<br />

sein.<br />

Doch Totsch war apolitisch und ideologiefrei, zumindest<br />

gab er sich so. Man konnte natürlich sein Gebaren auch<br />

anders interpretieren. Die einzigen Schlagworte, die er<br />

seinen Anhängern predigte, waren Kameradschaft, Pflicht<br />

und Treue. Aber, wie gesagt, keine Politik. Das war in den<br />

Augen vieler freilich Politik genug. Man verglich ihn mit einer<br />

Größe des Dritten Reiches und bezeichnete ihn als<br />

üble Aaskrähe, die eine vorübergehende Schwäche der<br />

Nation schamlos ausnutzte und rücksichtslos, mit allen<br />

zur Verfügung stehenden Mitteln des demokratischen<br />

Rechtsstaates, bekämpft werden müsse.<br />

Nächstes Jahr im Frühjahr wurde gewählt und Remke hatte<br />

gehört, dass Totsch bei mehreren Wahlkampfhöhepunkten<br />

der CDU für den Personenschutz zuständig sein<br />

sollte. Wolf, Kimrods Sohn, war vor drei Monaten zum<br />

Leutnant befördert worden und würde deshalb bestimmt<br />

mit von der Partie sein. Für seinen Vater bedeutete dieses<br />

Engagement eine Katastrophe. Er hatte ihn beschworen<br />

zu studieren. Egal was, aber nach dem Ablehnungsbescheid<br />

von der Musterungskommission war das völlige<br />

Überwechseln Wolfs zu den Camos keine Frage mehr.<br />

Hier konnte er beweisen, was in ihm steckte.<br />

Totsch verlangte viel, doch er gab alles zurück, mit Zinsen.<br />

Bei ihm wusste man immer, dass man dem Vaterland<br />

diente und sein Leben nicht sinnlos verschleuderte. Wo


sonst wurde einem das heute noch geboten? Sogar in der<br />

Armee wurde man zusehends nur noch für fragwürdige<br />

Aktionen der UNO oder NATO missbraucht.<br />

Wolf bereute seine Entscheidung nicht im Geringsten.<br />

Wurde er doch von Totsch schon nach kurzer Dienstzeit<br />

mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Und Geld gab<br />

es obendrein. Wer gut war und viel arbeitete, machte immer<br />

seinen Schnitt. Das galt freilich nur für die höheren<br />

Dienstränge. Nur denen wurden die einträglichen Wertkurierfahrten<br />

anvertraut. Man musste sich eben hochdienen.<br />

Aber, wie gesagt, Totsch gab jedem eine Chance. Wer willig<br />

war und die richtige Einstellung mitbrachte, konnte etwas<br />

werden. Und vielleicht reichte es bis ganz nach oben,<br />

in den engsten Vertrautenkreis um Totsch, der seine auserwählten<br />

Paladine gerne als Generäle titulierte und mit<br />

ihnen als Erster unter Gleichen die Geschicke der Truppe<br />

leitete.<br />

„ Ich kann diesen Kerl einfach nicht leiden. Die anderen<br />

geben wenigstens zu, woher bei ihnen der Wind weht,<br />

aber der tut immer so, als ob er für den Friedensnobelpreis<br />

in Frage käme. Möchte nicht wissen, was der so hinter<br />

verschlossenen Türen vom Stapel lässt. Da war Adolf<br />

noch ein Biedermann dagegen. Kommt Jahr und Tag nicht<br />

aus seiner Karnevalsuniform heraus. So was ist einfach<br />

abartig. Tut so, wie wenn wir schon seit zwanzig Jahren<br />

Krieg hätten. Und immer nur in Rudeln auftreten. Das hab<br />

ich am meisten gefressen. Allein den Schwanz einziehen


und dann zu zehnt den starken Mann markieren. Diese<br />

Idioten müssten wirklich mal ein halbes Jahr an der Front<br />

verbringen, aber dazu reicht es bei keinem“, sagte Kimrod<br />

verbittert und inhalierte tief.<br />

Wenn es um Totsch oder die Camos ging, musste er seine<br />

ganze Energie aufwenden, um sich zu beherrschen. Nicht<br />

nur weil ihm der Unsympathling seinen Sohn abspenstig<br />

gemacht hatte. Da war ein Geschwür am Wachsen, das<br />

den ganzen Organismus bedrohte.<br />

„ Du sprichst von deinem Sohn. Du wirst ihn doch nicht<br />

als Feigling bezeichnen, der sich nur gegen Schwächere<br />

traut. Außerdem ist das ganz normal in seinem Alter. Da<br />

sucht man sich andere Ideale. Wolf hat seins gefunden.<br />

Nicht das schlechteste, wenn du mich fragst.“<br />

„Tu ich aber nicht. Wenn du einen fahren lässt, müssen<br />

die Bauern drei Tage lang Ruß kutschieren, so schwarz<br />

bist du. Wenn dann noch einer sagt Deutschland ist prima,<br />

kann er deinetwegen auch seine Oma zu Chappi verarbeitet<br />

haben. Mir macht der nix vor. Das ist ein ganz übler<br />

Geselle, der unter dem Mäntelchen der Jugendarbeit antistaatliche<br />

Ziele verfolgt. Der wartet doch nur darauf, dass<br />

hier die Ordnung zusammenbricht und er den starken<br />

Mann spielen kann. Dieses Gesocks müsste man meiner<br />

Meinung nach alles rausschmeißen! Hinter den Ural oder<br />

so! Da können sie sich dann ausspinnen und ihr Viertes<br />

Reich gründen.“<br />

„ Jetzt verwechselst du aber ein paar Dinge, mein Lieber.<br />

Totsch ist für einen starken Staat und ist bereit, für diesen


etwas zu riskieren. So einer wie der hat seinen Krieg tagtäglich.<br />

Da brauchst du dich nicht drum zu kümmern. Ihr<br />

Linksmichel hockt doch in jeder Redaktion und in jedem<br />

Sendeturm an den Schalthebeln. Die Leute werden in<br />

Deutschland immer noch nur aus einer Richtung aufgehetzt.<br />

Wer Heimat und Vaterland sagt, ist schon ein Hakenkreuzler.<br />

Nein, mein Bester. Totsch springt da in eine<br />

Bresche, wo deine Gewerkschaft zugeschlagen hat. Immer<br />

kürzere Arbeitszeiten, immer mehr Feiertage, Streiks,<br />

keine Überstunden mehr. Immer mehr Verständnis für die<br />

Kriminellen. Wen wundert es da noch, wenn alle das Vertrauen<br />

in uns verlieren. Die Bullen kümmern sich eh um<br />

nix mehr. Los, lass uns einen Bruch machen...kam gestern<br />

Abend in so einer Fortsetzungsserie. Gespräch zweier<br />

Zwölfjähriger, am Puls der Zeit.“<br />

Ein gehetzt wirkender junger Mann betrat das Café und<br />

marschierte ohne sich umzusehen oder eine Bestellung<br />

aufzugeben in die Herrentoilette. Kimrod kannte ihn. Pillenfred.<br />

„Wenn das kein Dusel ist. Der versorgt auch Nutten mit<br />

seiner Medizin. Ich werde ihn mir mal ein bisschen vornehmen.<br />

Du hältst die Stellung.“<br />

Kimrod schlich sich vorsichtig in den Kloraum und konnte<br />

durch den Spiegel beobachten, wie sich der Dealer aus<br />

dem engen Lüftungsfenster beugte. Kimrod stellte sich<br />

breitbeinig in die Schwungtür und sagte:<br />

„ Komm Kleiner, bleib doch hier. Ich bin!s, der gute Onkel<br />

von der Schmiere. Na los, zeig mal, was du hast.“


Fred machte einen verzweifelten Satz nach oben und versuchte,<br />

sich durch den Rahmen zu zwängen. Kimrod zog<br />

ihn am Gürtel nach unten und begann, seine Taschen zu<br />

duchwühlen.<br />

„ Ah ja, da haben wir das Döschen für alle Fälle. Nicht<br />

schlecht für Sonnabend Vormittag.“<br />

Der Kommissar öffnete die gelbe Plastikdose, in der sich<br />

gut hundert dicke, rote Pillen befanden.<br />

„ Baldrianperlen. Oder Verdauungspillen, bestimmt nichts<br />

Verbotenes. Etwas anderes würde ich von dir gar nicht<br />

erwarten. Da ich weder unter nervösen Zuckungen leide<br />

und meine Gedärme zur Zeit vorzüglich arbeiten, will ich<br />

keine der Bomben verschwenden. Was ist das, Diabolos?“<br />

Der Chemotripmarkt boomte wie nie zuvor. Jahr für Jahr<br />

wurden in den Labors neue, noch stärker wirkende Drogen<br />

kreiert, die althergebrachte Substanzen wie Kokain<br />

und Heroin schon weitgehend verdrängt hatten. Man<br />

konnte alles vor Ort in kleinen mobilen Küchen produzieren<br />

und war nicht länger auf gefährdete Auslandstransporte<br />

angewiesen. Die Gewinnspannen waren auch hier<br />

enorm, da die Rohstoffe billig im Pharmaziegroßhandel<br />

bezogen werden konnten. Diabolos wurden aus einer<br />

LSD-Amphetaminverbindung hergestellt und waren seit<br />

Jahren der etablierte Renner fürs Wochenende. In den<br />

Diskotheken ging nichts mehr ohne. Wer keine einwarf,<br />

versuchte die enthemmten Dauertänzer zu imitieren, in<br />

deren Ohren meistens eine stark veränderte Musik dröhnte.<br />

Der Stoff war nicht immer clean. Pfuscher verwechsel-


ten die Reaktionsschritte oder wogen falsche Mengen ab,<br />

aber Abgänge blieben eher selten und waren zu verschmerzen.<br />

Kein Reiz ohne Gefahr, und da man mit dreißig<br />

eh schon alles hinter sich haben würde, schreckte die<br />

von den Ärzten prognostizierte vorzeitige Umnachtung<br />

auch niemand mehr.<br />

Die Justiz und ihre Vollstreckungsorgane waren machtloser<br />

denn je. Man kam nicht mehr mit, die Verbotsliste im<br />

Betäubungsmittelgesetz zu erweitern und den aktuellen<br />

Geschehnissen anzupassen. Von einem Grunddesign<br />

existierten hundert verschiedene Varianten, denen alle<br />

strafrechtlich nicht beizukommen war. Freds Karten standen<br />

gar nicht so schlecht.<br />

„ Nimm deine dreckigen Griffel von meiner Hose. Ich<br />

weiss zwar, dass ihr Idioten von der Kripo alle schwul<br />

seid, aber bespring bitte deinen fetten Freund. Vielleicht<br />

bläst er dir auch einen. Mich lass auf alle Fälle los“, keckerte<br />

Fred frech.<br />

Kimrod schubste den Dealer ziemlich kräftig gegen die<br />

Wand und steckte die Pillendose zurück in Fred!s Jackett.<br />

„ Will ich dir auch geraten haben. Das geht dich einen<br />

Dreck an. Ihr könnt mir nichts am Zeug flicken. Die Drops<br />

kannst du in jeder Höchstfiliale kaufen. Alles ganz legal.<br />

Mein Anwalt freut sich auf so ein Arschloch wie dich. Bedrohung,<br />

Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Jetzt<br />

vergehen dir deine dummen Sprüche, was!“<br />

Der Kommissar drückte das Fliegengewicht mit aller Gewalt<br />

gegen die Kacheln.


„ So, du Klugscheißer. Von so einer kleinen Ratte wie dir<br />

lass ich mich nicht beleidigen. Noch ein Wort und ich breche<br />

dir sämtliche Rippen.“<br />

Fred wurde blass und nickte stumm. Kimrod ging wieder<br />

einen Schritt zurück.<br />

„ Gefällt mir schon besser. Ich weiß, dass ich dich für das<br />

Zeug festnageln kann. Das ist illegaler Drogenbesitz.<br />

Wärst sonst nicht erst hier reinmarschiert, um dir einen<br />

Fluchtweg zu sichern. Oder ist die Konkurrenz hinter dir<br />

her?“<br />

Fred schüttelte den Kopf. Er war noch schwer am Schlucken.<br />

„ Ist mir auch egal. Euch Giftmischer kann ich zwar am<br />

wenigsten leiden, aber du bist noch einer der angenehmsten,<br />

momentan wenigstens noch. Wenn du weiter im Geschäft<br />

bleiben willst, dann hör gut zu. Du hast heute deinen<br />

Glückstag. Ich lass dich wieder laufen, aber du musst<br />

was dafür tun. Heute Morgen wurden zwei Mädchen massakriert.<br />

Wahrscheinlich beide vom horizontalen Gewerbe.<br />

Und es sind Ausländerinnen, eventuell türkisch. Wir wissen,<br />

dass du auch Prostituierte belieferst. Also horch dich<br />

um, wir sind für jeden Hinweis dankbar. Und ich rate dir,<br />

bald was aufzuschnappen, sonst kannst du zwei Jahre in<br />

Moabit dealen. Ich hab dich sofort wieder, also lass dir<br />

schleunigst was einfallen.“<br />

Fred war sichtlich erleichtert. Der Kommissar hatte seine<br />

Pillen nicht beschlagnahmt und wollte nur eine belanglose<br />

Auskunft. Der Monat war gerettet.


„ Kannst dich auf mich verlassen, Kimrod. Fred weiß alles,<br />

Fred sieht alles, Fred hört alles. Wie heissen die beiden<br />

Ärmsten denn? Ich hab sie bestimmt gekannt. Wer was<br />

auf sich hält, deckt sich bei mir ein.“<br />

„Ja, ja, die Namen haben wir leider noch nicht. Ich kann<br />

dir nur ein paar schlechte Fotos von den Leichen anbieten.“<br />

Kimrod zog die Aufnahmen aus seiner Jackentasche und<br />

gab sie dem Dealer, der sie mit gespieltem Interesse studierte.<br />

„Tja, für die ist wohl der Zug endgültig abgefahren. Schade<br />

eigentlich, zwei so junge Dinger. Schlecht zu sagen,<br />

wenn nicht so viel Blut dran wäre, könnte man mehr erkennen.<br />

Und bei der anderen... nein, ohne Kopf, tut mir<br />

leid, da bin ich überfragt. Aber ich werde sehen, was sich<br />

machen lässt. Bin Ihnen auf alle Fälle schwer verbunden.<br />

Ich habe eben manchmal eine große Klappe, aber die<br />

braucht man eben in meiner Sparte. Ich weiß, wo ich Sie<br />

finden kann. War mir ein Vergnügen.“<br />

Fred schob sich sein Jackett zurecht und verließ eilig das<br />

Café. Kimrod erleichterte sich und überbrachte seinem<br />

Kollegen die freudige Nachricht.<br />

„ Hat einen ganz verschüchterten Eindruck gemacht, das<br />

kleine Schwein, aber erst nachdem ich ihm eine vor den<br />

Latz geknallt habe. Diese Typen werden immer unverschämter.<br />

Die glauben, weil sie fünfmal so viel verdienen<br />

wie unsereins, können sie sich aufführen wie die Wildsäue.<br />

Er hat eine ganze Büchse von seinem Dreck dabei-


gehabt und faselt dann noch was von Anwalt und Freiheitsberaubung.<br />

Ich hätte ihm ordentlich die Fresse polieren<br />

sollen. Jedenfalls haben wir schon einen Versuchsballon<br />

gestartet. Mal sehen, was er bringt.“<br />

„ Der ist hier raus wie eine Rakete und hat dabei von einem<br />

Ohr zum anderen gegrinst. Ich glaub, den können wir<br />

abschreiben. Hast du wenigstens die Drops behalten?<br />

Sonst sehen wir den nie wieder?“<br />

„ Nein, natürlich nicht. Sonst ist er sauer und macht<br />

nichts. Ist auch nicht gesagt, ob er wegen uns so nervös<br />

war. Vielleicht hat ihm sein Labor wieder was Neues zusammengeschneidert,<br />

das durch das Paragraphensieb<br />

rieselt. Ich hätte es höchstens beschlagnahmen<br />

können....bis dann die Untersuchung wieder fertig<br />

ist....nein, man muss eben auch was riskieren. Wenn er<br />

sich nicht meldet, ist auch nichts verloren. Höchstens für<br />

die Drogenfahndung, aber das ist nicht unser Problem.“<br />

„ Das ist eine Dienstauffassung, aber du hast wahrscheinlich<br />

recht. Anders werden wir in der Geschichte nicht vorankommen.<br />

In dem Milieu muss man immer erst investieren,<br />

bevor man einen Ertrag abschöpfen kann. Ich möchte<br />

nur wissen, wo sich die anderen rumtreiben. Es wäre<br />

ganz hilfreich zu wissen, was die bisher schon rausgebracht<br />

haben.“<br />

„ Bestimmt nicht mehr wie wir. Wollen wir wetten?“ schlug<br />

Kimrod vor.


„ Gut. Ich setze fünf Euro auf Maikovsky, dass er die Namen<br />

hat. Wir rufen im Präsidium an, nachdem wir uns im<br />

Madonna umgehört haben.“<br />

„ Meinetwegen. Das ist sicheres Geld. Maikovsky könnte<br />

in der Zwischenzeit genauso gut Miss America gevögelt<br />

haben. Das wäre ebenso wahrscheinlich. Die Türken sagen<br />

einem Deutschen gegenüber nichts. Besonders nicht<br />

in einem Mordfall.“<br />

„ Wir werden sehen. Der Junge ist auf jeden Fall immer<br />

für eine Überraschung gut. Wenn er die richtige Geschichte<br />

auftischt, hat er schon halb gewonnen. Die schwatzen<br />

doch für ihr Leben gern, diese Orientalen. Und Maikovsky<br />

auch. Da gibt sich eine Hand die andere.“<br />

„ Gut. Ich lade dich noch schnell auf einen Espresso ein<br />

und dann lass uns von hier verschwinden. Ich werde das<br />

Gefühl nicht los, dass wir irgendwas verschlafen. Die Typen,<br />

die die Mädchen umgelegt haben, wollten damit doch<br />

irgendwas bezwecken. Das war nicht die letzte Aktion in<br />

dieser Richtung. Wir müssen auf der Hut sein. Präsenz ist<br />

gefordert. Bedienung!“<br />

Die Kellnerin räumte die Reste der Frühstückstafel ab und<br />

verschwand kurz in einem Hinterzimmer. Anschließend<br />

kümmerte sie sich um die Espressomaschine, die bald<br />

fauchend und gurgelnd den Betrieb aufnahm. Die Frau<br />

stellte zwei Tassen bereit und füllte etwas Wasser nach.<br />

Sie beendete ihre Arbeit in erstaunlich kurzer Zeit. Der fül-


lige Besitzer des Lokals erschien hinter dem Tresen, servierte<br />

persönlich die Getränke und sagte:<br />

„ Hallo Otto! Was verschlägt dich hierher?“<br />

Dabei musterte er Kimrod eindringlich. Remke machte die<br />

beiden Männer miteinander bekannt.<br />

„ Dachte ich mir schon. Ihr seht alle gleich aus. Dieser<br />

prüfende Blick...na ja, kann eben niemand aus seiner<br />

Haut raus. Gab!s Ärger? Sind Sie belästigt worden, Herr<br />

Kommissar?“ forschte der Wirt weiter.<br />

Kimrod schüttelte den Kopf.<br />

„ Nein, nein, nur alte Kundschaft. Nichts von Belang. Ich<br />

konnte es nicht vermeiden. Der Kerl wurde pampig, aber<br />

der kommt so schnell nicht wieder.“<br />

„ Na da bin ich ja beruhigt. Ich mag solche Geschichten<br />

nicht hier drin. Wenn man das einmal einreißen lässt,<br />

kriegt man die Bullen nicht mehr vom Hals. Entschuldigung,<br />

seid ihr mir jetzt böse? Die zwei Kaffee gehen auf<br />

jeden Fall auf mich. Nicht nur deswegen, ihr erfüllt schon<br />

euren Zweck. Ich möchte nicht wissen, was hier los wäre<br />

ohne euch.“<br />

„ Vielen Dank, aber mit Bulle kann man leben. Wir werden<br />

Ihr Lokal nicht so schnell wieder beehren. Das, nach<br />

dem wir suchen, trifft sich eine Etage tiefer“, antwortete<br />

Kimrod und zeigte dem Kneipier die Tatfotos.<br />

„ Um Gottes Willen! Nein, ist ja scheußlich. Gott sei Dank<br />

habe ich damit nichts zu tun. Ich glaub, mir wird schlecht.<br />

Macht!s gut, tschüss.“


Der Gastronom verschwand hinter der Theke. Kimrod<br />

grinste schief.<br />

„ Du, unterschätz den nicht, der hat es faustdick hinter<br />

den Ohren. Gut, dass du ihm die Bilder gezeigt hast. Was<br />

meinst du wie der jetzt die Lauscher spitzt. Sozusagen der<br />

zweite Versuchsballon. Und kein schlechter dazu. In so<br />

einer Pinte kommt doch alles zusammen. Ein bisschen<br />

was wird auch für uns dabei sein. Hoffe ich wenigstens“,<br />

erklärte Remke befriedigt.<br />

„ Ist der eigentlich schwul?“ fragte Kimrod mit gedämpfter<br />

Stimme.<br />

Die Bedienung drehte ab und zu verräterisch den Kopf.<br />

„ Glaube ich nicht. Er war verheiratet und hat sogar Kinder.<br />

Vielleicht verkehren bei ihm so viel Warme. Das soll<br />

abfärben“, antwortete Remke.<br />

„ Tja, war wohl eine blöde Idee, aber er ist gar so affektiert<br />

erschrocken.“<br />

„ Der hat schon schlimmere Sachen erlebt. Der tut nur<br />

immer so. Fritz wollte sich nur davonschleichen. Draußen<br />

macht er jetzt bestimmt Brotzeit.“<br />

„ Prost Mahlzeit. Los, an die Tassen! Kalt wird das Zeug<br />

ungenießbar. Bedienung!“<br />

Kimrod leerte seine Tasse und winkte mit einem Zwanz-<br />

igeuroschein. Die Kellnerin brachte die Rechnung. Jeder<br />

zahlte einzeln. Kimrod verlangte eine zweite Ausfertigung<br />

der Kostenaufstellung.<br />

„Für unsere Buchführung. Die wollen es immer ganz genau<br />

wissen. Handschriftlich reicht auch.“


„ Das hätten sie gleich sagen müssen. Ich bin keine Hellseherin.<br />

Bei euch Beamten kennt sich keiner mehr aus.<br />

Können Sie nicht zu Hause frühstücken?“ fragte die Bedienung<br />

unwirsch.<br />

„ Hilde! Jetzt reicht! s. Das geht dich nichts an. Also gib<br />

ihnen ihre Zettel und wir reden nicht mehr davon.“<br />

Die Stimme des Wirtes war für einen kurzen Moment bedrohlich<br />

geworden. Wenn er wollte, konnte er bestimmt<br />

sehr unangenehm werden. Die Kellnerin warf die zweite<br />

Rechnung verachtungsvoll vor Kimrod auf den Tisch und<br />

tippelte zurück hinter die Theke, um die Spülmaschine fertig<br />

einzuräumen. Remke fing plötzlich an zu lachen.<br />

„ Mein Gott, jetzt war die ganze Aufregung umsonst. Eigentlich<br />

wollte ich dich einladen. Hab!s in der Aufregung<br />

ganz vergessen.“<br />

Fritz, der Wirt, war schon wieder verschwunden.<br />

„ Ist doch egal. Ich geb!s sowieso als Spesen an. Hab diesen<br />

Monat noch so gut wie nichts. Und wenn sie Schwierigkeiten<br />

machen, komm ich auf dich zurück“, bemerkte<br />

Kimrod gelassen.<br />

Die Polizisten bezahlten und marschierten los. Der Regen<br />

war feiner geworden, hatte jedoch an Intensität kaum<br />

nachgelassen, so dass Kimrod und Remke etwas durchnässt<br />

um halb elf im Madonna ankamen. Sie bereuten es<br />

fast, nicht den Wagen benutzt zu haben. Nur das leidige<br />

Parkplatzproblem hatte sie davon abgehalten. Das Madonna<br />

war etwas heruntergekommen. Das einstige Sze-


nelokal wurde vermehrt von halbseidenem Publikum frequentiert,<br />

das den Stadtteil immer stärker dominierte.<br />

Der Virus, der apokalyptische Schrecken des letzten<br />

Jahrhunderts, war besiegt und man begann wieder sich<br />

zu amüsieren. Die wenigen Siechenden, die die tödliche<br />

Krankheit noch in sich trugen, wurden von den Medien als<br />

Ikonen des Untergangs konserviert und den dankbaren<br />

Konsumenten als High-Tech-Pestweiblein einer fernen,<br />

maroden Epoche präsentiert. Zwischen und innerhalb der<br />

Geschlechter war wieder alles erlaubt. Die lächerliche Allianz<br />

von staatlichen Safer-Sex Programmen und<br />

Keuschheitsgeboten bigotter Moraltheologen war von der<br />

Tatkraft aufgeklärter Wissenschaft im Staub zertreten<br />

worden.<br />

Die gesetzlichen Zügel hingen lockerer denn je. Die<br />

Prostitution war nach wie vor erlaubt und blieb als<br />

boomender Wirtschaftszweig von kleinlichen Restriktionen<br />

verschont. Kneipen mutierten zu Bars, Eigentumswohnungen<br />

zu florierenden Privatbordellen, die häufig von<br />

einsamen Regierungsbeamten aufgesucht wurden. Studentinnen<br />

und Hausfrauen gründeten Einmannbetriebe,<br />

teilweise unter Mithilfe ihrer Lebensgefährten und Ehemänner,<br />

und schlugen der längst zur Depression gediehenen<br />

Wirtschaftsmisere ein Schnippchen. Menschenmaterial<br />

stand in Form mit Kurzzeitvisa ausgestatteten Polinnen<br />

und weiterer Bewohnerinnen der slawisch-asiatischen<br />

Siedlungsgebiete praktisch unbegrenzt zur Verfügung.


Wer mehr Exotik wollte, blieb ebenfalls nicht unbefriedigt.<br />

Großzügige Einreisebestimmungen für heiratswillige Mädchen<br />

aus der dritten und vierten Welt trugen dazu bei,<br />

auch diesen Markt abzudecken. Die unzähligen Banden,<br />

die um jede Straße und jedes Lokal kämpften, in dem sie<br />

die Kundschaft abzocken konnten, folgten dem Strich wie<br />

ein Schwanz dem Hund. Doch die moderne Hure wollte<br />

sich nicht mehr ohne weiteres von einem rudimentären<br />

Organ vereinnahmen lassen. Wer sich nicht selbst gegen<br />

Übergriffe arbeitsloser oder expansionsfreudiger Zuhälter<br />

wehren konnte, engagierte schlagkräftiges, vornehmlich<br />

ausländisches Personal, das sich gegen ein immer niedrigeres<br />

Entgelt immer blutiger, sprich wirksamer, in Szene<br />

setzte.<br />

Remke graute nicht zu unrecht vor diesem Fall. Wer in<br />

Verdacht geriet, mit der Polizei zu kooperieren, hatte sein<br />

Leben schnell verwirkt. Man regelte Streitigkeiten intern.<br />

Ein Übereinkommen, dass auch von den Behörden abgesegnet<br />

war, freilich nur inoffiziell. Wenn eine Leiche zu viel<br />

Wirbel machte und die Zeitungen Blut leckten, musste<br />

rasch und kompetent gehandelt werden. Bevorzugt wurde<br />

der Mörder, der sich nach der Tat selbst richtete, bevor<br />

das Vögelchen zwitschern konnte.<br />

Im Madonna waren drei Tische besetzt. Einer nur mit<br />

Frauen, einer von vier Männern und einer mit zwei Pärchen.<br />

Fast alle tranken Bier. Man war trotz des miesen<br />

Wetters bester Stimmung. Der Männertisch lachte bers-


tend als die Kommissare wie begossene Pudel ins Lokal<br />

trotteten und sich fröstelnd ihrer nassen Jacken entledigten.<br />

„ Ist doch weiter als man denkt“, sagte Remke trocken.<br />

„ Und der verdammte Regen. Erst glaubt man, dass nur<br />

ein bisschen Nebel herunterfällt und wenn man dann richtig<br />

draußen ist, schifft!s einem die Hucke voll. Aber das<br />

kenne ich von mir. Fast jedes Mal, wenn ich mich entschließe,<br />

ohne Schirm loszugehen, das gleiche Spiel. Auf<br />

halber Strecke werden die Schleusen geöffnet und man<br />

ärgert sich schwarz, weil man keine Vorkehrungen getroffen<br />

hat“, schimpfte Kimrod und hob grüßend die Hand in<br />

Richtung des Männertisches. Er nahm neben Remke<br />

Platz, der bereits die Speisekarte studierte.<br />

„ Kennst du diese Kanarienvögel etwa?“ fragte Remke.<br />

Kimrod legte den Zeigefinger auf den Mund.<br />

„ Leise, das ist einheimische Mafia. Da sind wir genau an<br />

der richtigen Adresse. Wir wollen uns doch nichts verscherzen.<br />

Und wie ich sehe, können wir in der illustren<br />

Damenrunde auch ein bisschen auf den Busch klopfen.<br />

Du hast den richtigen Riecher gehabt. Die Wasserstoffblonde<br />

hat früher selber angeschafft. Jetzt lässt sie anschaffen.<br />

Wir haben wirklich Glück heute.“<br />

„ Ach weißt du, hier in Kreuzberg ist nichts mehr so wie<br />

früher. Dieses ganze Gesocks findet man bald schon zu<br />

jeder Tages- und Nachtzeit an allen möglichen und unmöglichen<br />

Plätzen vor. Da gehört nicht mehr viel Spürsinn<br />

mit dazu, um hier fündig zu werden. Das ist so wie wenn


du mit einem Netz durch den Karpfenteich gehst. Da verfängt<br />

sich rein zwangsläufig was.“<br />

„ Aber auch Fischen will gelernt sein.“<br />

Die Bedienung brachte unaufgefordert zwei große Helle.<br />

„ Wer ist der edle Spender, wenn man fragen darf?“ erkundigte<br />

sich Kimrod.<br />

Die robust gebaute Kellnerin deutete auf den Männertisch.<br />

„ Einer von den Herren da war so frei. Zum Wohl.“<br />

Kimrod und Remke prosteten sich zu und nahmen tiefe<br />

Schlücke von dem etwas abgestanden aussehenden Bier.<br />

Ein grau melierter Herr im abgetragenen Lederanzug erhob<br />

sich von dem Nachbartisch, den Kimrod mit dem Prädikat<br />

organisiertes Verbrechen ausgezeichnet hatte, und<br />

bat die Polizisten höflich, an ihrem Tisch Platz nehmen zu<br />

dürfen. Kimrod rückte zuvorkommend einen Stuhl zurecht.<br />

„ Bitte, bitte. Wer uns ein Bier ausgibt, ist immer willkommen.<br />

Sie kennen doch die mickrigen Beamtengehälter. Da<br />

muss man heutzutage in so manchen sauren Apfel beißen.“<br />

Der Mann, der nach Kimrods Informationen hauptsächlich<br />

im Schutzgeldbereich tätig war, zuckte ein wenig mit der<br />

rechten Augenbraue, bot aber Kimrod trotzdem aus einem<br />

protzig wirkenden Etui eine Zigarette an.<br />

„ Der Kollege raucht ja nicht. Die Herren vom Mord müssen<br />

ihre Gesundheit schonen, das Leben ist hart genug.<br />

Was führt die Herren Kriminaler denn am Wochenende ins<br />

Revier? Doch nichts Dienstliches?“


Kimrod ließ sich auch noch Feuer geben und zog die Aufnahmen<br />

aus seiner Jacke, die er hinter sich auf die Stuhllehne<br />

gehängt hatte. Remke beobachtete interessiert das<br />

Minenspiel des Ganoven, das jedoch so ausdruckslos<br />

blieb, als ob er das Gesangsbuch in der Sonntagsmesse<br />

studieren würde.<br />

„ Mein Name ist übrigens Kroll, Jürgen Kroll. Meine<br />

Freunde dürfen mich Johnny nennen, aber das möchte<br />

ich Ihnen aus verständlichen Gründen nicht zumuten. Die<br />

Polizei hat nicht nur Freunde und man könnte versuchen,<br />

Ihnen daraus einen Strick zu drehen. Soll das hier in<br />

Kreuzberg passiert sein?“<br />

Remke, dem etwas Deftiges auf der Zunge lag, wurde von<br />

Kimrod mit einer beruhigenden Handbewegung an der<br />

Ausführung gehindert.<br />

„ In der Grenzallee. Gestern Nacht, so gegen zwei Uhr.<br />

Wir kennen bis jetzt noch nicht einmal die Namen. Vielleicht<br />

können Sie uns behilflich sein. Sie scheinen was für<br />

die Polizei übrig zu haben“, sagte Kimrod ironisch.<br />

„ Immer, es besteht doch ein allgemeines Interesse an der<br />

Aufklärung solcher Geschichten. Ich traue mich kaum<br />

mehr aus dem Haus, wenn solche Bestien frei herumlaufen.“<br />

„ Waren es denn mehrere?“ fragte Remke scharf.<br />

„ Bitte, woher soll ich das wissen? Aber die Frauen können<br />

doch alle Kampfsport. Da kann man schon auf mehrere<br />

Täter schließen. Wie geht es übrigens Polizeipräsident<br />

Wulke? Ist er immer noch so auf Draht?“


Remke zog die Hörner wieder ein. Der Typ schien jeden<br />

Berliner Polizisten mit Vornamen zu kennen. Kimrod blies<br />

Kroll etwas Rauch ins Gesicht.<br />

„ Wulke wird sich freuen, wenn ich Grüße bestelle. Er wird<br />

sich bestimmt an Sie erinnern können.“<br />

„ Gut. An Ihrer Stelle würde ich mich zu dem Damenkränzchen<br />

gesellen. Da gibt!s bestimmt mehr zu holen.<br />

Ich empfehle mich.“<br />

Kroll setzte sich wieder neben seine Kompagnons, die<br />

nach wenigen Minuten wieder in schallendes Gelächter<br />

ausbrachen. Krolls Bericht schien der guten Laune keinen<br />

Abbruch zu tun. Remke bat Kimrod um eine Zigarette.<br />

„ Jetzt weiß ich, was du gemeint hast, mit da wird sogar<br />

ein Klosterschüler zum Suchtbolzen. Sag mal, sind die<br />

wirklich so unangreifbar oder tun die nur so? Der hat doch<br />

seine Finger in jedem schmutzigen Geschäft, das hier<br />

über die Bühne geht. Ich würde einen Teil meiner Rente<br />

dafür geben, wenn man so eine Sau zur Strecke bringen<br />

könnte.“<br />

„ Lass nur. Die erfüllen irgendwie auch ihre Aufgabe. Damals<br />

im Dritten Reich wurden ebenfalls Kriminelle in den<br />

Konzentrationslagern mit der Aufrechterhaltung der Ordnung<br />

betraut und zur Disziplinierung der Mitgefangenen<br />

eingesetzt. Nur das Ergebnis zählt. Das alte Lied, der<br />

Zweck heiligt die Mittel. Je weniger die Polizei hier herumschnüffelt,<br />

desto lieber ist denen das. Deswegen haben<br />

sie ein Interesse daran, den Fall schnell aufzuklären.“


„ Aber Kreuzberg ist kein Konzentrationslager. Und was<br />

die unter Ordnung verstehen, ist doch nur ein möglichst<br />

reibungsloses Abwickeln ihrer kriminellen Geschäfte.<br />

Wenn man so denkt, kann man gleich die Gesetze abschaffen<br />

und alle Polizisten zu Parkplatzwächtern umschulen.<br />

Der Dschungel reguliert sich selber.“<br />

„ Sag ich doch. Manchmal jedenfalls, man muss da flexibel<br />

sein. Ich gehe jetzt zu Conny und ihren Schützlingen<br />

rüber. Vielleicht haben die schon was gehört. Du bleibst<br />

auf jeden Fall hier. Nicht dass du mir wieder die Pferde<br />

scheu machst.“<br />

„ Nur allzu gern. Zeig ihnen bloß nicht die Bilder. Das<br />

schreckt nur ab.“<br />

Kimrod begab sich an den Tisch, der mit drei reichlich geschminkten<br />

Frauen besetzt war und fragte, ob er sich für<br />

ein paar Minütchen dazusetzen dürfe. Conny, die Blondine,<br />

bejahte und machte ihn mit ihren beiden Begleiterinnen<br />

bekannt. Conny hatte vor Jahren ihrem Zuhälter eine<br />

Kugel in den Unterleib verpasst, weil er mit ihren Autonomiebestrebungen<br />

nicht einverstanden war und sie mehrmals<br />

grün und blau geschlagen hatte. Sie war von dem<br />

Luden angezeigt worden und konnte die Anklage wegen<br />

versuchten Mordes gerade noch abbiegen. Sie kam mit<br />

einer Bewährungsstrafe davon und blieb seitdem von allen<br />

weiteren Belästigungen verschont. Der Fall war von<br />

etlichen Illustrierten durchgehechelt worden, die immer zu<br />

ihren Gunsten berichteten. Der Lude kam weniger gut da-


von. Hämisch amüsierte sich die Öffentlichkeit über seine<br />

vorübergehend außer Funktion gesetzte Männlichkeit.<br />

Connys Tat war kein Einzelfall. Die Frauen setzten sich<br />

mit massiven Mitteln zur Wehr und wurden darin durch<br />

das sich wandelnde Rechtsempfinden bestärkt.<br />

„ Also, ich will nicht lange stören. Gestern Nacht ist eine<br />

scheußliche Geschichte passiert. In der Grenzallee hat<br />

man zwei schrecklich verstümmelte Frauenleichen aufgefunden.<br />

Sie müssten in eurer Branche tätig gewesen sein,<br />

der Kleidung und dem Fundort nach zu schließen. Habt<br />

ihr schon was gehört davon?“<br />

Kimrod kannte Conny so gut, dass er wusste, wie weit er<br />

gehen durfte. Sie würde ihm seine direkte Art nicht übel<br />

nehmen.<br />

„ In eurer Branche...wofür hält der uns denn. Wir sind<br />

doch nicht im Puff hier, oder Mädels?“<br />

Alle lachten und Kimrod spürte, dass das Eis gebrochen<br />

war. Er konnte auf weiteres Entgegenkommen hoffen.<br />

Conny wurde wieder ernst.<br />

„ 0.k., ist geschenkt, aber nur weil du es bist. Du hast mir<br />

in meinen Kampfjahren auch ab und zu geholfen. Aber<br />

Berlin ist groß und kein Dorf. Möchte nicht wissen, was da<br />

jede Nacht alles abläuft...Grenzallee, das ist Straßenstrich.<br />

Viel Ausländer, ficko facko fünf Marko. Da hab ich<br />

nicht so !nen Kontakt dazu. Wir sind gerade erst aufgestanden.<br />

Und in der Zeitung habe ich nichts gelesen. Also<br />

ich muss passen, keine Ahnung.“


„ Klar, es ist noch ein bisschen früh, aber wir stehen<br />

mächtig unter Zeitdruck und ich dachte mir, die Conny<br />

kennt hier alles und jeden. Vielleicht kann dir die weiterhelfen.<br />

Gut. Ja, Moment, das wollte ich dir noch sagen. Es<br />

waren zwei Ausländerinnen. Vielleicht hat man sie auch<br />

von woanders hergeschafft. Es ist alles möglich. Macht!s<br />

gut, Kinder. Ich will euch nicht länger stören.“<br />

„ Schöne Grüße an deine Frau. Sie soll gut auf dich aufpassen.<br />

Und Petri Heil oder wie man da sagt. Arrivederci!“<br />

Conny wollte ihn noch zu sich herabziehen und einen Abschiedskuss<br />

auf die Wange drücken, aber Kimrod entzog<br />

sich entschlossen ihren Bemühungen und ging zu Remke<br />

zurück.<br />

„ Bei der hast sogar du Chancen. Vielleicht kann man das<br />

auch über die Spesen absetzen. Wenn!s was bringt, warum<br />

nicht. Der Zweck heiligt die Mittel, wie du immer sagst.<br />

Emma würde das bestimmt verstehen...“, stichelte Remke<br />

hämisch grinsend.<br />

Kimrod nahm einen Schluck und sagte:<br />

„ Alte Männer, die vor Geilheit sabbern, sind einfach widerlich.<br />

Du müsstest dich mal im Spiegel sehen.“<br />

„ Ja, ja, schon gut. Ich halt schon die Fresse, sonst kehrst<br />

du wieder deinen Hauptkommissar raus. Was steht an?“<br />

„ Fehlanzeige, keine Ahnung. Du bist wieder dran.“<br />

„ Oder Maikovsky. Wir wollten doch im Präsidium anrufen,<br />

wenn wir hier fertig sind. Soll ich?“<br />

„ Ja, mach. Du kannst dich doch nicht beherrschen.<br />

Schließlich stehen fünf Euro auf dem Spiel.“


Remke ließ sich den Apparat zeigen und kam nach fünf<br />

Minuten wieder zurück. Er rückte an Kimrod heran und erstattete<br />

Bericht.<br />

„ Der Kopf ist gefunden worden. Der Kopf von der zweiten<br />

Tusnelda! Dreimal darfst du raten wo...“<br />

„ Sag schon, ich weiß es nicht.“<br />

„ In einer Plastiktüte, am Türknauf der Wohnung einer<br />

Tazredakteurin. Die Schreibliese hat einen Schock erlitten<br />

und ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie dachte<br />

wahrscheinlich, dass ihr jemand netterweise ein paar<br />

Brötchen vermacht hat. Das Gesicht hätte ich sehen mögen!“<br />

„ Und wo ist das? Wir fahren sofort hin. Bezahlt ist alles.“<br />

„ In Müggelheim. Der nächste Weg, ich weiß, aber da lassen<br />

sich gut verdienende Redakteure nun mal nieder. Hoffentlich<br />

schifft!s nicht noch immer.“<br />

Sie zogen ihre Jacken an, verabschiedeten sich und<br />

machten sich auf den Weg. Die Polizisten hatten Glück,<br />

es fiel nur noch leichter Sprühregen. Sie beschleunigten<br />

ihre Schritte trotzdem. Kimrod wollte keine Zeit mehr verlieren.<br />

Er löste ein Ticket, als sie die Tiefgarage erreicht<br />

hatten und hielt seinen Kollegen zu größerer Eile an, der<br />

sich an einem detailgetreuen weiblichen Akt erfreute, den<br />

ein unbekannter Künstler per Spraydose angefertigt hatte.<br />

„ Nun komm schon. Da draußen ist bestimmt noch mehr<br />

zu holen.“


„ Das sieht aber wirklich gut aus. Bald braucht man keine<br />

Museen mehr, weil jeder freie Quadratmeter zugepinselt<br />

ist. Und die Burschen werden immer besser.“<br />

Sie fuhren los und kamen gut voran. Der Verkehr war<br />

noch flüssig. Die Straßenerweiterungsmaßnahmen machten<br />

sich bezahlt. Es schien auch so, dass die vielen Tempolimits<br />

sich nicht nachteilig auf die Durchschnittsgeschwindigkeit<br />

auswirkten. Die Politik zu bauen, was das<br />

Zeug hält, hatte sich als richtig erwiesen. Nun, da kein<br />

Geld mehr vorhanden war und teure Verkehrsplanungen<br />

schon auf dem Reißbrett dem Rotstift zu Opfer fielen,<br />

wurde die in vergangenen Tagen kritisierte Asphaltierungsstrategie<br />

allgemein gelobt und als vorausschauend<br />

gepriesen.<br />

Die aggressive Benzinversteuerung der Regierung trug<br />

ebenfalls dazu bei, den Verkehrsfluss zu regulieren. Nur<br />

wer wirklich unbedingt selber fahren musste, machte nicht<br />

von den öffentlichen Verkehrsmitteln Gebrauch. Die Energiekonzerne,<br />

die das Rohöl zu Vorzugspreisen aus den<br />

Staaten der Panarabischen Liga importierten, begannen<br />

bereits unter empfindlichen Umsatzeinbußen zu leiden,<br />

obwohl das schwarze Gold reichlicher denn je floss. Der<br />

Staat unterstützte die radikalen Vertreter der arabischen<br />

Welt unverhohlen auch mit umfangreichen Waffenlieferungen.<br />

Einerseits um die einheimische Rüstungsindustrie<br />

zu fördern und um sich andererseits eine geostrategische<br />

Position im wichtigen Nahen Osten zu sichern, die dem<br />

wiedererlangten Großmachtstatus des Landes genügend


Rechnung trug. Verbilligte Rohstoffe gab es dafür obendrein.<br />

Remke kannte die Gegend um den Müggelsee von seinen<br />

Wochenendausflügen mit dem Paddelboot her recht gut<br />

und dirigierte Kimrod zielsicher an die angegebene Adresse<br />

in der Fischerheide. Die Wohnung befand sich in einem<br />

schmucken Mehrfamilienhaus, von dem aus man bis zur<br />

Großen Krampe, einem Nebenarm des Langen Sees, blicken<br />

konnte. Kimrod parkte den Wagen zur Hälfte auf<br />

dem Gehsteig und erntete dafür tadelnde Blicke seines<br />

Kollegen, der den Standpunkt vertrat, dass man sich besonders<br />

als Polizeibeamter peinlich genau an die Gesetze<br />

und Verordnungen halten musste.<br />

„ Wehret den Anfängen! Wer heute sein Auto falsch parkt,<br />

hinterzieht morgen die Steuer...“<br />

„ Und überfällt übermorgen die Deutsche Bank. Das wolltest<br />

du doch sagen. Wir sind im Einsatz, du Nussknacker.<br />

Soll ich dir die diesbezüglichen Dienstvorschriften runterbeten?<br />

Ich kann sie alle auswendig, auch rückwärts. Da<br />

bleibt dir die Spucke weg, Senior.“<br />

Remke unterbrach seinen Versuch, die Tür schlüssellos<br />

durch Herunterdrücken des Verriegelungsknopfes abzusperren.<br />

„ Sag das noch mal. Jetzt sind wir nicht mehr in deiner<br />

Scheißstadt, wo an jeder Ecke ein Schutzmann steht.<br />

Pass also auf, sonst schmeiß ich dich ins Wasser, du<br />

Grünschnabel.“


Remke beendete sein Vorhaben erfolgreich und schnellte<br />

mit einem mächtigen Satz über den rechten Kotflügel und<br />

die Hälfte der Kühlerhaube auf den Hauptkommissar zu,<br />

der in gespielter Angst in einen der winzigen Vorgärten<br />

flüchtete, die mit einem circa fünfzig Zentimeter hohen<br />

Maschendrahtzaun von dem Bürgersteig und den Nachbargrundstücken<br />

abgetrennt wurden. Remke hatte sich<br />

während der Fahrt Notizen gemacht und blätterte nach<br />

Abschluss seiner Turnübung in einem kleinen Block. Er<br />

fand, was er suchte und informierte seinen Kollegen.<br />

„ An der Krampe 12b. Frau Zollner, Ilona. Bei mir ist vierzehn.“<br />

Kimrod wechselte in den nächsten Vorgarten und entdeckte<br />

die Nummer.<br />

„ Hier, 12b. Hoffentlich ist jemand zu Hause.“<br />

Er drückte auf die Klingel und wartete. In einem durch einen<br />

weißen Vorhang geschützten Fenster wurde kurz der<br />

Kopf einer blassen, jungen Frau sichtbar. Kimrod hielt der<br />

ersten Inspektion offenbar stand. Wenige Augenblicke<br />

später wurde der Haustürschlüssel herumgedreht. Die<br />

Journalistin machte einen Spalt weit auf.<br />

„ Sie sind von der Polizei. Ich rieche das. Aber zeigen Sie<br />

mir bitte trotzdem Ihre Dienstmarke. Eine Überraschung<br />

am Tag ist genug.“<br />

Kimrod gab ihr seinen Ausweis und bat die Redakteurin,<br />

eintreten zu dürfen. Remke untersuchte den Türknauf mit<br />

einer Lupe und folgte anschließend Kimrod und der Redakteurin<br />

in die Wohnung. Frau Zollner entschuldigte sich


für ihr Misstrauen und bot den Beamten Kaffee an. Die<br />

Wohnung war mit vielen Pflanzen und schwarzen Ledermöbeln<br />

eingerichtet. Die Decken zierten edle Hölzer. Kimrod<br />

und Remke machten es sich im Esszimmer bequem,<br />

von dem aus man einen guten Blick zum Wasser hinunter<br />

hatte. Frau Zollner brachte ihnen einen Aschenbecher<br />

und zwei kleine Klare.<br />

„ Der hat mir heute Morgen sehr gut geholfen. Ich bin<br />

gleich so weit.“<br />

Sie verschwand wieder in der Küche. Die Männer zündeten<br />

sich Zigaretten an und bestaunten die Unmengen von<br />

Taschenbüchern, die in einfachen Metallregalen aufbewahrt<br />

wurden.<br />

„ Siehst du, Otto, das ist wahre Kultur. Es gibt sie doch<br />

noch, aber wir mussten dazu bis hier raus fahren. In der<br />

Stadt geht so was unter. Wenn du in der Rente bist, legst<br />

du dir auch eine Bibliothek an. Vielleicht ist noch was zu<br />

retten“, spottete Kimrod.<br />

Remke leerte sein Glas und antwortete geheimnisvoll:<br />

„ Du kennst mich zwar schon ziemlich lange, aber offensichtlich<br />

nicht gut genug. Auch ich habe mal davon geträumt<br />

zu studieren und all den Kram. Aber mir wurden<br />

Steine in den Weg gelegt und ich musste mich arrangieren.<br />

Aber vielleicht liegt in meinem Kopf trotzdem mehr<br />

begraben als in diesen zwanzig Meter Regal.“<br />

Frau Zollner brachte den Kaffee und schenkte den Beamten<br />

ein.


„ So, jetzt kann ich mich zu Ihnen setzen. Haben Sie den<br />

Täter schon?“<br />

„ Welchen? Den, der die Mädchen umgebracht hat oder<br />

den, der den Kopf an Ihre Tür hängte?“ fragte Kimrod.<br />

Die Journalistin wusste anscheinend noch nicht, dass es<br />

zwei Leichen gab.<br />

„ Tut mir leid, aber ich dachte...ein Kopf, eine Leiche?“<br />

Frau Zollner wurde wieder etwas blasser. Remke klärte<br />

sie auf.<br />

„ Heute Nacht sind in der Grenzallee zwei Leichen gefunden<br />

worden. Eine ohne Kopf. Jetzt sind wir wieder komplett.<br />

Ihr Kopf passt zu unserem. Haben Ihnen die Beamten,<br />

die den Fall hier untersucht haben, nichts davon gesagt?“<br />

„ Nein. Mir wurde gleich nachdem ich die Polizei verständigt<br />

hatte, schwindelig und schwarz vor den Augen. Dann<br />

hat man mich ins Krankenhaus gebracht. Aber es ging<br />

dann gleich wieder viel besser und ich bin mit einem Taxi<br />

nach Hause gefahren. Das ist alles.“<br />

„ Nun gut, wir wollten gerne noch ein paar Dinge wissen.<br />

Wenn es Ihnen zu viel wird, können wir die Sache natürlich<br />

auch verschieben. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie<br />

uns sofort...“<br />

Kimrod setzte auf ihren beruflichen Jagdtrieb, der die<br />

Schwäche ihrer Konstitution aufwiegen sollte.<br />

„ Nein, nein, Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Es war<br />

nur etwas zu viel auf einmal. Wer ist auch auf so was ge-


fasst, auf nüchternen Magen? Wo drückt der Schuh?“<br />

fragte die Journalistin im Geschäftston<br />

„ Haben Sie irgendwelche Feinde, die Ihnen einen Denkzettel<br />

verpassen wollen? Vielleicht haben Sie sich diese<br />

Feinde durch eine Reportage im Rotlichtmilieu verschafft.<br />

Wäre so etwas möglich?“ fragte Kimrod.<br />

„ Eigentlich nicht. Ich mache Tagespolitik. Rund ums Rathaus<br />

und den Reichstag, von Rotlicht keine Spur.<br />

Entstammen die Opfer etwa diesen Kreisen?“<br />

Frau Zollner begann, sich Notizen zu machen. Kimrod registrierte<br />

es mit einem lachenden und einem weinenden<br />

Auge.<br />

„ Ihre Zeitung ist der Polizei nicht gerade wohlgesonnen<br />

und hält mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, besonders<br />

wenn es uns um unsere angebliche Frauen- und Ausländerfeindlichkeit<br />

geht. Es handelt sich bei den Mädchen<br />

wahrscheinlich um Prostituierte, jedenfalls sprechen alle<br />

Anhaltspunkte dafür. Ihre Hautfarbe ist dunkler als beim<br />

mitteleuropäischen Normaltypus. Das bereitet uns die<br />

größten Sorgen. Sie kennen die hier ansässigen radikalen<br />

Gruppierungen sicherlich besser wie wir. Die Lage ist derzeit<br />

so angespannt, dass wir uns es absolut nicht leisten<br />

können, durch nachlässige Ermittlungsarbeit den Anschein<br />

von Desinteresse oder gar Ausländerfeindlichkeit<br />

zu erwecken. Ich bin jedoch auch dafür bekannt, zwar<br />

wahrscheinlich nur in polizeiinternen Kreisen, die Presse<br />

mit in die Fahndung einzubeziehen. Schon öfters hat eine<br />

Täterbeschreibung oder ein Foto maßgeblich zu der Er-


greifung von Verbrechern beigetragen. Ich weiß Ihre Tätigkeit<br />

also zu schätzen, doch mehr wissen wir im Augenblick<br />

selber nicht. Wenn sich weitere Tatsachen ergeben,<br />

die der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden<br />

sollten, werde ich mich wieder an Sie wenden. Das verspreche<br />

ich Ihnen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.<br />

Ich will mir eine positivere Berichterstattung nicht erkaufen,<br />

wobei aber ein neuerliches Scharfmachen von Seiten<br />

der Medien eine Katastrophe heraufbeschwören könnte.“<br />

Die Journalistin wollte Kimrod mehrmals unterbrechen,<br />

schluckte ihre Einwände aber hinunter und äußerte ihre<br />

Meinung erst, nachdem der Kommissar fertig war.<br />

„ Eine Katastrophe, die von den Behörden bewusst in<br />

Kauf genommen wird. Eine Radikalisierung liegt doch<br />

heute im Interesse höchster Regierungskreise. Wenn die<br />

Tragödie da ist, wird der große Knüppel aus dem Sack<br />

geholt und dreingeschlagen. Unter dem Eindruck abscheulicher<br />

Bluttaten ist auch der liberalste Abgeordnete<br />

dazu bereit, die notwendigen Gesetze passieren zu lassen.<br />

Erzählen Sie mir nur nichts vom braven Bürger in<br />

Uniform! Ich könnte Dutzende von Beispielen anführen,<br />

welche die Minoritätendiskriminierung durch Staatsbeamte<br />

anschaulichst dokumentieren.“<br />

„ Schwarze Schafe gibt!s überall und wir können Kriminelle<br />

nicht deswegen laufen lassen, weil sie keinen deutschen<br />

Pass haben oder in ihrer Heimat politisch verfolgt


werden. Viele verwechseln die freie Marktwirtschaft mit<br />

absoluter Narrenfreiheit“, erwiderte Kimrod.<br />

Remke nickte beifällig.<br />

„ Großer Gott, jetzt bin ich schon wieder am Diskutieren.<br />

So als wenn nichts gewesen wäre. Man glaubt gar nicht,<br />

was der Mensch alles wegstecken kann. Ich danke Ihnen<br />

auf jeden Fall dafür, dass Sie vorbeigeschaut haben. Als<br />

alleinstehende Frau ist man doch in gewissen Momenten<br />

froh, wenn der starke Arm des Gesetzes präsent ist. Ich<br />

verspreche Ihnen, falls wir etwas Brisantes erfahren, werden<br />

Sie nicht erst in der Zeitung darüber stolpern“, erklärte<br />

die Journalistin abschließend.<br />

Die Polizisten verabschiedeten sich und verließen die<br />

Wohnung. Es war heller geworden und die Sonne begann,<br />

sich einen Weg durch die sich auflösenden Wolken zu<br />

bahnen. Remke schlug vor, am Müggelsee Mittag zu essen.<br />

Kimrod war einverstanden und sie fuhren los. Wetterbedingt<br />

herrschte kein zu großer Betrieb. Die Polizisten<br />

bekamen ohne Schwierigkeiten einen Platz auf der Terrasse<br />

eines grossen Restaurants, in dem während der<br />

Sommermonate täglich Hunderte von Gästen bewirtet<br />

wurden. Kimrod war noch satt vom Frühstück und begnügte<br />

sich mit einem Eisbecher, Remke bestellte Currywurst.<br />

Trotz der Flaute versuchten etliche Surfer, ihr Brett<br />

in Bewegung zu setzen. Nicht alle mit Erfolg, doch der<br />

See war noch warm. Es regnete erst seit Donnerstag.<br />

Remke musste sich Luft machen.


„ So eine blöde Ziege. Hockt hier draußen in einer Luxussuite<br />

und will uns erzählen, wie wir mit unseren Kunden<br />

umgehen sollen. Na Gott sei Dank hat sie jetzt mal wenigstens<br />

ein bisschen Ahnung von dem, was wir alles<br />

mitmachen. Minoritätendiskriminierung, dass ich nicht lache.<br />

Kinderschänder sind auch in der Minderheit und<br />

müssen deshalb besonders liebevoll behandelt werden.<br />

So weit kommt!s noch. Bloß gut, dass wir gleich wieder<br />

abgehauen sind. Ich kann diese besserwisserischen Moralapostel<br />

von eigenen Gnaden absolut nicht verputzen.“<br />

„ Ich auch nicht, aber diese Leute geben nun mal den Ton<br />

an. Vielleicht deswegen...<br />

Da will jemand, dass die Sache möglichst schnell die<br />

Runde macht. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um<br />

keinen normalen Mord handelt. Der abartige Triebtäter will<br />

sich mit seiner Tat zwar auch artikulieren, aber nicht so<br />

unmittelbar und zielstrebig. Das macht keinen Sinn<br />

irgendwie...erst ein Schlachtfest veranstalten und dann<br />

den Kopf an die Klinke einer linken Redakteurin. Da will<br />

jemand einen möglichst großen Schaden anrichten. Vielleicht<br />

ist die Tat auch gefilmt worden und die Aufnahmen<br />

liegen schon beim Fernsehen.“<br />

„ Oder bei einem Pornoproduzenten. Wär nicht das erste<br />

Mal, dass solche Schweine damit auch noch Geld machen<br />

wollen.“<br />

„ Die hätten die Leichen aber nicht so offen liegen gelassen<br />

und auch nicht das mit dem Kopf riskiert. Leute die-


ses Schlages wollen tunlichst nicht erwischt werden. Verdammt,<br />

verdammt, da ist nichts Gutes zu erwarten.“<br />

„ Wie immer wenn!s politisch wird. Jetzt müssen wir halt<br />

warten. Vielleicht kommt aus dem Labor noch etwas. Wie<br />

geht!s eigentlich Ingrid?“ erkundigte sich Remke.<br />

Ingrid war Kimrods einundzwanzigjährige Tochter. Sie hatte<br />

sich einer Sekte, dem Feldzug Gottes, angeschlossen<br />

und studierte Pädagogik. Kimrod zündete sich eine Zigarette<br />

an und lehnte sich zurück. Beide Kinder, Wolf und<br />

Ingrid, beschritten Wege, die er absolut nicht für sie vorgesehen<br />

hatte. Er war zwar auch religiös, doch die Penetranz,<br />

mit der Reverend Stähler, der charismatische Führer<br />

der Sekte, das Evangelium predigte, fand er entwürdigend.<br />

Seine Anhänger verehrten ihn abgöttisch. Seine zwielichtige<br />

Vergangenheit in den Vereinigten Staaten, die ihn<br />

ausgewiesen hatten, nachdem seine Frau, eine gebürtige<br />

Texanerin, spurlos verschwunden war, wirkte sich nicht<br />

schädigend auf seine Popularität aus. Nach erbitterten<br />

Gerichtsfehden mit den Angehörigen, war ihm ein Großteil<br />

des von ihr eingebrachten Vermögens zugestanden worden.<br />

Der Verdacht, sie ermordet zu haben, war nach Ansicht<br />

seiner Gegner nie ausgeräumt worden. Stähler hatte<br />

sich auch nach der medienwirksam inszenierten Rückkehr<br />

in die Heimat eine gesunde Portion Materialismus bewahrt.<br />

Er gründete mit dem Erbe seiner Frau als Basis<br />

landwirtschaftliche Betriebe, Supermärkte, Wäschereien


und Verlage. Dabei profitierte er sowohl von den großzügigen<br />

Spenden seiner Jünger, als auch von den mit viel<br />

Idealismus und Begeisterung eingebrachten Arbeitsleistungen,<br />

die seine Geschäfte alsbald von der Konkurrenz<br />

abhoben. Die Kombination von preisgünstiger Qualität<br />

und freundlichem Personal garantierten ihm Erfolg in jeder<br />

Branche.<br />

Sein Konzern expandierte Jahr für Jahr um zweistellige<br />

Prozentpunkte. Der Preis, den die Anhänger Stählers bezahlen<br />

mussten, war freilich hoch. Sie wurden vollständig<br />

finanziell und psychisch abhängig von dem Guru, der keinerlei<br />

Privatbesitz duldete und Widerstand gegen sein diktatorisches<br />

Regime im Keim erstickte, indem er alle Kritiken<br />

als Fallstricke Satans brandmarkte, die in seinem<br />

Wirkungsbereich nicht geduldet und mit dem Entzug der<br />

Barmherzigkeit Gottes gesühnt wurden.<br />

Ingrid kam immer seltener nach Hause und hatte es zur<br />

Bedingung gemacht, das Thema Stähler auszuklammern.<br />

Sie würde sonst endgültig den Kontakt abbrechen. Kimrod<br />

wusste, dass sie einen großen Teil des Stipendiums, das<br />

man ihr nach zwei Semestern bewilligt hatte, an die Sekte<br />

abführte und unentgeltlich als Verkäuferin in einem von<br />

Stählers Märkten jobbte. Die freie Unterkunft und Verpflegung<br />

in einem überfüllten Massenquartier, die man ihr dafür<br />

gewährte, stellten nur einen unzureichenden Gegenwert<br />

für ihre Leistungen dar. Stähler nahm sie nach Strich<br />

und Faden aus, aber man konnte absolut nichts dagegen<br />

tun. Ingrid war längst volljährig und für ihr Leben selbst


verantwortlich. Gegen die Mauer, die Stähler in ihrem<br />

Kopf errichtet hatte, war kein Kraut gewachsen.<br />

„ Ingrid macht, glaube ich, gerade ihre Zwischenprüfung.<br />

Ich mache mir in der Beziehung keine Sorgen. Sie hat ein<br />

Hirn für zwei. Wo sie das bloß her hat?“ antwortete Kimrod<br />

gequält witzig.<br />

Remke wusste, wo der Schuh drückte.<br />

„ Na wart mal ab. Das ist die gleiche Geschichte wie bei<br />

Wolf und Totsch. Das ist so eine Art Sturm und Drangphase.<br />

Das renkt sich schon wieder ein.“<br />

„ Du hast leicht reden, weil du keine Bälger angeschafft<br />

hast. Ich war nicht so schlau. Jetzt weiß ich nicht mehr<br />

aus und ein vor lauter Sorgen. Aber lassen wir das. Ich<br />

will heute noch etwas erreichen in unserem Fall. Was<br />

schlägst du vor?“<br />

„ Immer soll ich die Ideen haben. Du bist doch der große<br />

Zampano.“<br />

„ Dann lass uns nach dem Essen sofort abhauen und zurück<br />

ins Zentrum eilen. Wie wär!s mit dem Maxim. Die haben<br />

doch ständig mit der Stadt Ärger. Wenn sie nichts<br />

rausrücken, machen wir die Bude dicht. Das wird ein Fest.<br />

Wer war eigentlich heute Nacht vor Ort? Härtlein?“<br />

„ Du hast es erraten. Es wird also nicht viel bringen, wenn<br />

wir da noch mal vorbeischauen. Die Körper sollen am<br />

Oberhafen gleich am Wasser gelegen haben. So gründlich<br />

wie der ist, macht die Arbeit gar keinen Spaß mehr.<br />

Man lebt doch immer von den Fehlern anderer.“


Ein Ober brachte das Eis und die Currywurst. Die Polizisten<br />

rauchten nach dem Essen noch eine Zigarette und<br />

fuhren anschließend los. Der Verkehr war dichter geworden,<br />

weil Hertha ein Heimspiel hatte. Kimrod und Remke<br />

analysierten die Fähigkeiten des prominenten Gegners<br />

Bayern München. München bezog seine Stärke noch immer<br />

aus den millionenschweren Beinen internationaler<br />

Starfußballer. Hertha, die seit vier Jahren wieder erstklassig<br />

war, musste mit Kampfkraft und Teamgeist dagegen<br />

halten, weil ein Sponsor abgesprungen war und Geld zum<br />

Ankauf von Verstärkung Mangelware war. Die Polizisten,<br />

die sich das Spiel gerne selber angeschaut hätten,<br />

schimpften wie die Rohrspatzen auf ihren Beruf, der einem<br />

nichts als Ärger einbrachte.<br />

Wenig später stellte Kimrod den Wagen in den für Gäste<br />

reservierten Parkplatz ab und befestigte an der Innenseite<br />

der Windschutzscheibe ein Polizeischild.<br />

„ So, jetzt können sie uns nicht mehr abschleppen lassen.<br />

Leider habe ich meine Knarre nicht dabei. Na ja, es wird<br />

auch so reichen.“<br />

Remke lüftete seinen Pullover. Eine kleine Automatik kam<br />

unter der linken Achsel zum Vorschein, die Kimrod nicht<br />

bemerkt hatte.<br />

„ Gut, noch besser. Los, da lang. Ich kenn da einen kleinen<br />

Privateingang. Wir wollen die Herren doch ein bisschen<br />

überraschen“, sagte Kimrod und stapelte einige leere<br />

Bierträger übereinander. Anschließend schob er den


Turm unter ein zugepinseltes Fenster. Kimrod testete seine<br />

Konstruktion auf Standfestigkeit und begann den Aufstieg.<br />

Das Fenster war nur angelehnt. Kimrod stieß es auf<br />

und winkte Remke heran, der mit eindrucksvoller Gestik<br />

andeutete, nicht schwindelfrei zu sein. Kimrod stützte sich<br />

mit den Unterarmen auf den Sims auf und zog sich ächzend<br />

durch den schmalen Rahmen.<br />

Das Fenster war hoch genug, um einem Mann in gebückter<br />

Stellung Platz zu bieten, so dass sich Kimrod umdrehen<br />

konnte. Der Boden war sehr viel höher als draußen<br />

und er konnte sich bald gefahrlos fallen lassen. Kimrod<br />

misstraute den Kletterkünsten Remkes und schlich sich<br />

lautlos aus der Toilette zum Lieferanteneingang, der mit<br />

schweren Riegeln gesichert war. Mit einem Einbrecher<br />

von innen hatten die Bordellbetreiber freilich nicht gerechnet.<br />

Kimrod hatte leichtes Spiel mit der Tür. Schließlich<br />

war er vor Jahren bei maßgeblichen Kapazitäten der<br />

Branche in die Lehre gegangen. Remke stand unglücklich<br />

vor den gestapelten Bierkästen. Er schien noch immer auf<br />

eine Strickleiter oder ein Seil zu warten.<br />

„ Psst, du Nachtwächter. Los, komm schnell. Wir sind hier<br />

nicht zu Hause“, raunzte ihn Kimrod an. Sie drangen tiefer<br />

ins Gebäude ein, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen.<br />

Plötzlich drang aus einer Tür, die einen Privataufkleber<br />

trug, Lärm auf den Gang. Kimrod legte sein Ohr an die<br />

Tür und horchte. Seine Züge begannen sich aufzuhellen.


„ Die spielen Poker. Glaub mir, wir haben die ganze Bande<br />

im Sack. Bei drei machen wir reinen Tisch. Die Tür<br />

dürfte offen sein.“<br />

Remke nahm hinter Kimrod mit durchgeladener Waffe<br />

Aufstellung. Bereit auf alles zu schießen, was ihre Sicherheit<br />

gefährden konnte. Kimrod stieß die Tür auf und rief:<br />

„ Hände hoch und keine falsche Bewegung.“<br />

Die vier Männer, die an einem mit Geldscheinen aller<br />

Größe bedeckten Tisch saßen, dachten nicht daran, den<br />

lautstark vorgebrachten Befehl auszuführen. Ein Spieler<br />

mit Baseballmütze und dicker Zigarre im Mund gab grinsend<br />

Entwarnung.<br />

„ Keine Panik Leute. Die zwei Komiker sind von der Mordkommission.<br />

Und umgebracht haben wir bis jetzt noch<br />

keinen. Höchstens ruiniert.“<br />

Die Mienen der restlichen Zocker begannen sich ebenfalls<br />

zu entspannen. Mike, der Mann mit der Zigarre, musste<br />

es wissen. Er war der Pächter des Etablissements und<br />

veranstaltete die Pokerrunden seit Jahren zur vollsten Zufriedenheit<br />

aller Beteiligten. Bei ihm gab es kein Limit und<br />

Falschspieler mussten draußen bleiben. Wer verlor wusste<br />

zumindest, dass er nicht betrogen worden war. Und<br />

Glück konnte auch ein Anfänger haben, wobei sich Mikes<br />

Künste am Grünen Tisch bis dato noch gegen jeden Duselbruder<br />

durchgesetzt hatten. Egal ob der Heimweg mit<br />

vollen oder leeren Taschen angetreten wurde, der Poker<br />

im Maxim war ein Geheimtip und die meisten ließen es<br />

nicht bei einem einmaligen Besuch bewenden.


Einige Beamte von der zuständigen Polizeiinspektion<br />

wurden geschmiert und da von den Teilnehmern so gut<br />

wie keine Beschwerden kamen, war die Existenz der<br />

Spielhalle nur von einigen Verwaltungsmenschen bedroht,<br />

die bislang jeglicher pekuniärer Versuchung widerstanden<br />

hatten und Mikes Laden des Öfteren unliebsame Besuche<br />

abstatteten. Mike besaß zwar ein ausgeklügeltes<br />

Frühwarnsystem - die Bekannte seiner Freundin arbeitete<br />

in der zuständigen Abteilung - aber die permanenten Kontrollen<br />

begannen doch ihn nervös zu machen. Man war<br />

nicht mehr Herr im eigenen Haus und musste sich von<br />

spießigen Fuzzis Vorschriften machen lassen. Gott sei<br />

Dank wurde in ein paar Wochen gewählt und wenn man<br />

den richtigen Mann durchbrachte, sah die Sache schon<br />

anders aus. Mike war deshalb schwer erleichtert, dass er<br />

nur zwei harmlose Kriminalbeamte vor sich hatte, wobei<br />

er mit einem per Du war.<br />

Kimrod taxierte rasch den Wert des Geldes und bedeutete<br />

seinem Kollegen, die Waffe zu senken.<br />

„ Sonst passiert noch was, obwohl man hier keinen Verkehrten<br />

treffen kann. Was Mike, hast wieder ein paar<br />

Dumme gefunden.“<br />

Mike stand auf und gab Kimrod die Hand.<br />

„ Guten Tag, Herr Kriminaldirektor. Schön, dass Sie uns<br />

wieder mal beehren. Wen darf ich für Sie reservieren? Wir<br />

haben für den Herren etwas Handfestes aus der Inneren<br />

Mongolei auf Lager. Da stehen nicht nur die Augen<br />

schräg.“


Kimrod gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den<br />

Bauch und zog ihm die Mütze ins Gesicht.<br />

„ So kennst du uns, was! Nichts hören, nichts sehen,<br />

nichts sagen. Mike, eins schwör ich dir. Bevor ich in Rente<br />

gehe, wirst du Ehrenkommissar bei der Berliner Kripo. So<br />

störungsfrei wie du deinen Laden organisierst, das schafft<br />

sonst keiner hier.“<br />

„ Da hab ich aber noch ein Wörtchen mitzureden. Ich werde<br />

nämlich demnächst pensioniert und hätte da ein paar<br />

ganz andere Kandidaten in Aussicht“, sagte Remke und<br />

musterte dabei die anderen Spieler unfreundlich. Er hatte<br />

sich vorgenommen, tabula rasa zu machen.<br />

„ Los, los, meine Herren! Aufstehen und Hände an die<br />

Wand. Wir wollen hier nicht fest wachsen.“<br />

Die Männer richteten fragende Blicke auf Mike, der seufzend<br />

die Schultern hochzog.<br />

„ Avanti, avanti, mir geht das nicht schnell genug.“<br />

Remke hob drohend seine Pistole, die Spieler setzten sich<br />

in Bewegung. Remke durchsuchte sie recht ruppig, wurde<br />

aber nicht fündig.<br />

„ Kein Ballermann, kein Solingen, nichts. Da stimmt doch<br />

was nicht. Max, wehe wenn du vorher Alarm geschlagen<br />

hast, während ich draußen gewartet habe. Mit mir nicht<br />

Freundchen, ich...“<br />

„ Das hab ich mir doch gedacht, dass ich wieder dran<br />

schuld bin, wenn sich der feine Herr bepinkelt, weil er seinen<br />

Arsch zwei Meter in die Höhe hieven muss. Wenn ich


sie gewarnt hätte, wäre wohl kaum noch Geld auf dem<br />

Tisch“, bellte Kimrod zurück.<br />

Remke nahm einen Fünfhunderter vom Tisch und führte<br />

ihn ganz nah an Kimrods Augen vorbei. Er lächelte dabei<br />

diabolisch.<br />

„ Oder...“<br />

„ Oder was?“ fragte Kimrod scharf.<br />

Mike versuchte zu schlichten.<br />

„ Hört doch auf, ihr beiden Supercops. Mir kommen gleich<br />

die Tränen, so was von sauber seid ihr. Und Sie, Meister<br />

Remke, wissen doch ganz genau, dass hier sehr oft um<br />

Geld gespielt wird. Egal ob mit oder ohne Polizei...“<br />

„ Das lass ich ...“<br />

Remke wurde immer ungehaltener. Von dieser Puffotter<br />

wollte er sich nicht beschmutzen lassen.<br />

„ Sie und Ihr dreckiges Geld. Sie glauben wohl, damit<br />

können Sie sich alles erlauben. Aber Sie sind es gar nicht<br />

wert, dass ich mich aufrege.“<br />

Remke ließ den Schein fallen. Kimrod fing ihn mit einer<br />

blitzartigen Handbewegung auf und steckte ihn dem<br />

Pächter ins Hemd.<br />

„ So, jetzt ist alles wieder an seinem Platz und wir können<br />

zur Sache kommen. Dabei hoffe ich insbesondere auf<br />

deine Mithilfe, Mike“, sagte Kimrod und informierte die<br />

Pokerrunde über den Mord an den beiden Mädchen. Da<br />

erwartungsgemäß niemand etwas zur Aufklärung beitragen<br />

konnte, bat Kimrod Mike, ihn mit seinen Untermiete-


innen reden zu lassen. Mike führte ihn nach oben in die<br />

Separees.<br />

„ Hier links, die erste Tür, das ist Renate und die dritte Tür<br />

rechts, Doris. Mehr sind heute nicht da. Aber mach nicht<br />

zu lange, sonst...“<br />

Er lachte dreckig und ging nach unten, um weiter zu spielen.<br />

Remke zog sich mit einer Illustrierten in eine Ecke zurück.<br />

Kimrod klopfte bei Renate. Man hörte wie Musik leiser<br />

gestellt wurde. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich<br />

verschlafen.<br />

„ Hallo, Mike? Ich dachte, du machst erst um sechs auf.“<br />

Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und sofort wieder<br />

zugeschlagen.<br />

„ Hauen Sie ab, wir haben noch geschlossen.“<br />

Kimrod zog seinen Ausweis aus dem Portemonnaie.<br />

„ Polizei! Ich komme rein dienstlich!“<br />

Renate machte nach einer Weile wieder auf, überprüfte<br />

kurz den Ausweis und empfing den Kommissar danach in<br />

einem weit geschnittenen Jogginganzug. Die Prostituierte<br />

war schlank, vielleicht Ende zwanzig und lud Kimrod ein,<br />

es sich bequem zu machen. Sie wies dabei auf ein rotes<br />

Sofa, neben dem ein breites Futonbett stand. An den<br />

Wänden hingen Reproduktionen später Helnweinwerke,<br />

die einen befremdenden Kontrast zum trivialen Verwendungszweck<br />

des Raumes bildeten.<br />

Kimrod zog seine Jacke aus, das Zimmer war stark beheizt.<br />

Renate nahm auf dem Sofa Platz und wiederholte<br />

ihre Aufforderung.


„ Setzen Sie sich doch. Ich weiß was Sie denken, aber nur<br />

weil man sein Geld damit verdient, bedeutet das noch<br />

lange nicht, dass man nur noch eins im Kopf hat. Außerdem<br />

hat mir Mike viel von Ihnen erzählt, eigentlich nur<br />

Positives. Ich will Sie also nicht bestechen...mit meinen<br />

Mitteln. So manch einer Ihrer Kollegen ist da empfänglicher.“<br />

Sie lächelte süffisant. Kimrod wusste nur zu gut, worauf<br />

sie anspielte.<br />

„ Mag sein, doch deswegen bin ich nicht hier. Zwei Ihrer<br />

Kolleginnen, es handelt sich bei den Opfern mit großer<br />

Wahrscheinlichkeit um Prostituierte, wurden gestern<br />

Nacht ermordet in der Grenzallee aufgefunden. Waren die<br />

Mädchen gestern hier? Oder hat sich einer der Gäste auffällig<br />

benommen, Drohungen ausgestoßen?“<br />

Renate konnte ihm nicht weiterhelfen. Ihr war nichts aufgefallen.<br />

Sie bestand darauf, die Bilder der Leichen zu<br />

sehen.<br />

„ Bitte, wenn Sie unbedingt wollen. Aber beklagen Sie sich<br />

nachher nicht, wenn Ihnen schlecht wird.“<br />

Kimrod setzte sich neben Sie und wartete auf ihre Reaktion.<br />

Renate hielt die Bilder sehr lange in ihren Händen und<br />

machte einen ziemlich betroffenen Eindruck. Kimrod<br />

steckte die Bilder schließlich wieder ein.<br />

„ Sie müssen sich nicht so quälen. Mir ging es genauso,<br />

als ich sie zum ersten Mal sah. Man zweifelt daran, dass<br />

ein Mensch der Täter sein kann. Viehische Grausamkeit,<br />

die einem monströsen Gehirn entsprungen sein muss. Wir


müssen den Täter zur Strecke bringen, bevor er wieder<br />

zuschlagen kann.“<br />

Renate hatte sich wieder gefasst.<br />

„ Darin stimme ich vollkommen mit Ihnen überein. Dieses<br />

Schwein gehört lebenslänglich hinter Gitter. Ich werde alles<br />

tun, um Sie zu unterstützen. Ich fürchte nur, dass ich<br />

Ihnen nur wenig behilflich sein kann. Ich bin zwar aktives<br />

Mitglied bei Hydra, einer Berufsgenossenschaft der Huren,<br />

aber die Mädchen kenne ich nicht. Wenn man so lange<br />

im Geschäft ist wie ich, kann man allerdings Ihre<br />

Skepsis bezüglich der Natur des Täters nicht mehr unbedingt<br />

teilen. Solche Monstren gibt es mehr, wie Sie sich<br />

vorstellen können. Bei den meisten kommt es nur nicht<br />

zum Ausbruch.“<br />

Kimrod erhob sich und dankte der Prostituierten für ihre<br />

Mitarbeit. Renate wünschte ihm viel Erfolg und verschloss<br />

hinter ihm die Tür. Kimrod versuchte sein Glück bei der<br />

nächsten Prostituierten. Doris weigerte sich hartnäckig<br />

aufzumachen und stieß nur wüste Beschimpfungen aus.<br />

Mit Scheißbullen wolle sie nichts zu tun haben. Kimrod<br />

beendete das sinnlose Unterfangen vorzeitig und ging<br />

wieder hinunter zu den Spielern. Remke hatte seinen<br />

Stolz inzwischen überwunden und kiebitzte bei einem Zocker<br />

über die Schulter. Kimrod sah auch bei zwei Runden<br />

zu und drängte anschließend zum Aufbruch. Remke bettelte<br />

nun förmlich darum, noch ein wenig bleiben zu dürfen.


„ Nein, jetzt ist Schluss. Wir gehen erst ins Mirage, dann<br />

zurück ins Präsidium und danach kannst du machen, was<br />

du willst. Voraussichtlich. Wenn uns Zefhahn schon gehen<br />

lässt.“<br />

Mike wieherte wieder los bei der Bekanntgabe des<br />

Schlachtplans. Die Anwesenheit der Polizisten schien sich<br />

paradoxerweise sehr positiv auf seine Stimmung auszuwirken.<br />

Remke konnte sich schließlich doch noch losreißen<br />

von der packenden Partie und die Beamten verließen<br />

das Bordell durch den Hintereingang. Mike verabschiedete<br />

sich mit ein paar kräftigen Lachern und vergaß nicht,<br />

auch das Toilettenfenster zu schließen.<br />

Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten die Kommissare<br />

das Mirage, das eine Kategorie unter dem Maxim angesiedelt<br />

war. Berta, die Besitzern, ließ die Zügel nach ihrem<br />

ersten Herzinfarkt etwas schleifen. Die Mädchen wirkten<br />

nicht so gepflegt, die Zimmer waren schmuddelig und<br />

abgewetzt. Die Preise lagen dafür um einiges unter denen<br />

der Konkurrenz und Tante Berta, wie sie im Kiezjargon<br />

liebevoll, doch nicht ohne Respekt, genannt wurde, entging<br />

nichts, was sich im Milieu abspielte.<br />

Sie kannte alles und jeden. Die Mädchen kamen zu ihr,<br />

wenn sie Kummer hatten und die Zuhälter akzeptierten sie<br />

als Schlichterin in ihren Streitigkeiten untereinander. Die<br />

dem Bordellbetrieb angegliederte Bar war schon geöffnet.<br />

Kimrod und Remke ließen sich an der Theke nieder und<br />

bestellten zwei Pils. Berta machte sich am Zapfhahn zu<br />

schaffen und drückte auf einen Knopf neben der Regist-


ierkasse. Sofort erschienen drei Mädchen, die sich an die<br />

Theke zu den Kriminalbeamten gesellten. Berta litt unter<br />

grünem Star und hatte die Polizisten offensichtlich nicht<br />

erkannt. Erst als Remke die Animierdamen freundlich,<br />

aber bestimmt verscheuchte, begannen sich ihre Züge erkennend<br />

aufzuhellen.<br />

„ Mein Gott, bin ich ein altes Trampel. Ich hab doch gewusst,<br />

dass ich die Stimme schon mal gehört habe. Otto<br />

und, wenn mich nicht alles täuscht, Max. Was wollt ihr<br />

trinken?“<br />

„ Pils, Tante Berta. Du hast sie schon in Bearbeitung,<br />

glaube ich. Wie geht!s, du alte Bretterhütte? Wir haben<br />

uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen“, sagte<br />

Remke leutselig.<br />

Berta kam ganz nahe heran. Ihr noch immer stattlicher<br />

Busen ruhte schwer auf einer Lage gestapelter Biergläser.<br />

„ Man kann nicht klagen. Ich muss dafür dankbar sein,<br />

dass ich überhaupt noch hier stehen kann. Man wird halt<br />

alt.“<br />

Tante Berta seufzte und ging zurück zum Zapfhahn.<br />

„ Diesmal übernimmst du. An dir hat sie einen Narren gefressen“,<br />

sagte Kimrod leise zu seinem Kollegen.<br />

Berta schüttete das noch fehlende Bier aus einem als<br />

Tropfenfang dienenden Glas nach und stellte die zwei Pils<br />

vor die Polizisten auf den Tresen. Das Bier schmeckte<br />

nicht so schal wie es aussah. Kimrod zündete sich eine<br />

Zigarette an. Bei Tante Berta war es trotz allen Unzulänglichkeiten<br />

immer noch am gemütlichsten. Kimrod gab


Remke unauffällig einen Stoß in die Seite. Berta hatte sich<br />

eben den zweiten Schnaps eingeschenkt und wenn man<br />

von ihr noch etwas erfahren wollte, war Eile geboten. Zumal<br />

sie bei weitem nicht mehr so viel vertrug wie früher.<br />

Remke orderte eine Runde Southern Comfort. Berta folgte<br />

der Einladung nur zu gerne. Endlich kam wieder Schwung<br />

in die Bude, und das an einem Fußballnachmittag. Die<br />

Nachtclubbetreiberin leerte schnell ihren Korn und servierte<br />

den Whiskylikör auf ihrem besten Tablett. Die Jungs<br />

waren zwar von der Schmiere, aber doch so nette Kerle.<br />

Sie hatten es sich verdient. Berta kam um den Tresen herum<br />

und nahm gewichtig zwischen den Polizisten Platz.<br />

„ Wohl sein, die Herren. Ich habe nicht gedacht, dass ich<br />

das noch erlebe. Von zwei so schnieken jungen Kerlen<br />

eingeladen zu werden! Habt ihr denn was zu feiern?“<br />

Sie stürzte den Schnaps hinunter und stellte das Glas mit<br />

einer etwas zu heftigen Handbewegung auf die Theke zurück.<br />

Remke stoppte das abdriftende Teil elegant mit dem<br />

Ellbogen.<br />

„ Nun aber langsam, meine Gute. Nachher wirft man uns<br />

noch vor, dich mit Alkohol gefügig gemacht zu haben. Das<br />

wollen wir doch vermeiden.“<br />

Tante Berta rückte näher an Remke heran. Ihr gewaltiger<br />

Vorbau bebte eindrucksvoll.<br />

„ Du Schmeichler. Du willst dich doch bloß vor der nächsten<br />

Runde drücken. Dabei geht doch bei euch sowieso alles<br />

auf Spesen. Aber ich krieg dich schon noch rum. Auch


wenn ich schon siebzig bin und aussehe wie eine alte Vettel.“<br />

Remke nahm sie tröstend in den Arm.<br />

„ Na, so schlimm ist das nun auch nicht. Wenn ich nicht<br />

verheiratet wär...mein lieber Schwan, da könntest du heute<br />

Nacht was erleben. Das gäb einen harten Schlagabtausch“,<br />

prophezeite der Oberkommissar vollmundig und<br />

tätschelte dabei herzhaft ihren rechten Busen.<br />

Tante Berta gluckste vor Vergnügen.<br />

„ Mein Gott, das wäre die Nummer meines Lebens. Wir<br />

müssten das Bett nahe an die Stützwand rücken, damit<br />

wir nicht durchbrechen. Ich weiß aber genau, was du wirklich<br />

vor hast. Willst mich besoffen machen und dann soll<br />

ich dir wieder einen Verbrecher ans Messer liefern. Doch<br />

das kostet eine Kleinigkeit. Einen noch. Ich mache euch<br />

einen Vorzugspreis. Hau weg, das Zeug!“<br />

Kimrod machte gute Miene zum bösen Spiel. In seinen<br />

Augen war die Partie so gut wie verloren. Remke trug zu<br />

dick auf. Die Alte kam schon richtig ins Schwitzen, aber<br />

sie schien nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Sie hatte<br />

sofort spitz bekommen, was ihr vermeintlicher Verehrer im<br />

Schilde führte. Tante Berta füllte mit überraschender Behändigkeit<br />

Whisky nach, stellte die halbvollen Gläser zurück<br />

auf die Theke und kramte aus einer Schublade eine<br />

angegilbte Zigarettenspitze hervor. Remke bot ihr eine<br />

Marlboro an.


„ Danke, der Herr. Jetzt bleib ich aber hier auf meinem<br />

Platz. Ihr wollt mich doch nur veräppeln. Was liegt nun<br />

an?“ fragte Berta nüchtern.<br />

Remke steckte sich auch eine Zigarette an und nahm<br />

noch einen Schluck, bevor er loslegte. Berta hörte sich<br />

seinen Bericht kommentarlos an. Sie wusste die Elfenbeinspitze<br />

stilvoll einzusetzen. Den Dreh wie man auf<br />

Männer wirkte, hatte sie noch immer heraus. Als Remke<br />

fertig war und sie die Tatfotos inspiziert hatte, blieb Berta<br />

mit der erkalteten Spitze im Mund wortlos stehen. Ganz<br />

so als wollte sie das berühmte Edgar Wallace Portrait in<br />

den uralten Krimibänden nachstellen. Es schien in ihr zu<br />

arbeiten, doch das Mahlen konnte von Außenstehenden<br />

nicht klassifiziert werden. Remke nickte verstehend, obgleich<br />

auch ihm selber nicht ganz klar war warum. Kimrod<br />

drückte seine Marlboro aus und beendete das Schweigen.<br />

„ Alles klar, keiner weiß Bescheid. Die zweite Runde übernehme<br />

ich.“<br />

„ Lass mal, das geht schon klar. Ich wollte dich doch heute<br />

noch einladen. Versprochen ist versprochen. Außerdem<br />

schulde ich dir noch fünf Euro“, sagte Remke langsam.<br />

Er schien noch auf etwas zu warten. Berta wurde wieder<br />

munter.<br />

„ Na, schlagt euch die Köpfe ein deswegen. Normalerweise<br />

geht!s anders herum. Sechs SC, macht dreißig Euro.<br />

Billiger kann ich!s nicht machen, auch nicht für euch. Und<br />

mit dieser Geschichte mit den Mädchen, da lasst euch<br />

noch mal sehen, wenn ihr wisst, wie die Häschen heißen.


Ich war früher selber eine große Bordsteinschwalbe, aber<br />

an so was kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.<br />

Aber könnt schon sein, dass ich sie kenne. Hier<br />

kommen auch viel selbständig arbeitende Pflänzchen hereinspaziert.<br />

Wenn sie vorher noch ordentlich Zeche machen,<br />

hab ich nix dagegen. Aber manche benehmen sich<br />

dann wie auf der Straße und machen mir die Kundschaft<br />

abspenstig. Ist eben alles nicht mehr so wie früher. Man<br />

muss es halt heutzutage nehmen wie es kommt. Wer groß<br />

pingelig ist, bleibt auf der Strecke. In unserem Metier sowieso.<br />

Aber schade um die jungen Dinger. Ich werde auf<br />

jeden Fall Augen und Ohren, besonders die Ohren, offen<br />

halten, weil sehen tu ich nicht mehr viel.“<br />

Remke gab ihr die geforderten Scheine und schaute auf<br />

die Uhr.<br />

„ Zwanzig nach zwei. Da kommen wir doch locker noch<br />

zum Spiel zurecht. Weiter kommen wir heute eh nicht<br />

mehr. Das ist doch alles nur verplemperte Zeit. Wenn Tante<br />

Berta nichts weiß, weiß niemand etwas. Komm, lass<br />

uns abhauen.“<br />

„ Eigentlich hast du recht, aber ich will mich noch vorher in<br />

der Zentrale erkundigen. Vielleicht ist wieder was aufgetaucht.“<br />

Kimrod ging zum Telefon, das hinter der Theke an der<br />

Wand hing und noch mit einem Zähler ausgestattet war.<br />

Er wählte und wartete lange, doch niemand ging ran. Erst<br />

als er im Begriff war aufzulegen, wurde abgehoben.<br />

„ Kriminalrat Zefhahn. Mit wem spreche ich?“


„ Hier Kimrod, Chef. Gibt es was Neues?“<br />

„ Das wollte ich eigentlich euch fragen. Die Leichen werden<br />

noch untersucht. Ich bin sicher, dass wir da mehr<br />

rausholen können. Ihr Standort?“<br />

„ Eisenbahnstraße, Mirage, bei Tante Berta. Hat aber auch<br />

nichts rausgerückt. Wundern Sie sich also nicht über ansteigende<br />

Spesenabrechnungen. Diese Art von Kneipen<br />

sind teuer, und wenn wir bloß Leitungswasser trinken,<br />

werden die Schweigsamen noch schweigsamer. Da muss<br />

man schon investieren, bevor die überhaupt mal mit einem<br />

reden. Wir waren noch bei der Journalistin, draußen<br />

in Müggelheim. Die ist schon wieder zu Hause und bereitet<br />

eine Story vor.“<br />

„ Das kann ich mir vorstellen. Ausgerechnet von diesem<br />

linken Kampfblatt. Dass ihr mir da nicht in die Quere<br />

kommt. Keine Insiderinformationen und keine privaten Interviews.<br />

Das geht alles seinen offiziellen Gang. Wir machen<br />

täglich unseren Pressebericht und das muss reichen.<br />

Ich lass mir von diesen Schmierfinken nicht vorschreiben,<br />

wie wir unsere Arbeit zu erledigen haben.“<br />

„ Und wie soll es weitergehen? Ich meine, was kommt als<br />

Nächstes dran? Ein weiteres Puff?“<br />

„ Mein Gott, lasst euch was einfallen. Ich bin doch nicht<br />

euer Kindermädchen. Tut, was ihr für richtig haltet und<br />

was zur Aufklärung der Tat beiträgt. Was zählt, sind<br />

brauchbare Ergebnisse, sonst nichts. Wie ihr weiterkommt,<br />

ist eure Sache. Ich hoffe, ich habe mich klar genug<br />

ausgedrückt.“


„ Wie immer, Chef, wie immer. Also dann, bis bald.“<br />

„ Nein, nicht bis bald, sondern spätestens bis achtzehn<br />

Uhr im Präsidium. Habe ich das nicht schon gesagt... also<br />

wirklich, muss man denn alles doppelt und dreifach...“<br />

„ Äh ja, ich habe verstanden. Bis achtzehn Uhr. Das<br />

passt, ich meine, bis dahin kann man schon noch was erreichen.“<br />

„ Apropos erreichen. Habt ihr diese beiden Komiker, Maikovsky<br />

und Herder, irgendwo vorgefunden? Die haben es<br />

nämlich nicht für nötig gehalten, sich zwischendurch zu<br />

melden. Na die können was erleben. Wenn ich Härtlein<br />

nicht hätte...“<br />

„ Gut Chef, beziehungsweise nein, haben wir nicht. Geht<br />

alles in Ordnung. Ich muss Schluss machen, wir werden<br />

belauscht. Ich lege auf. Bis später.“<br />

Kimrod wirkte sichtlich erleichtert, als er das Gespräch<br />

beendet hatte. Zefhahn hatte wieder einmal alle Klarheiten<br />

gründlich beseitigt. Das mit achtzehn Uhr traf sich jedoch<br />

gut. Sie konnten ungestört das Fußballspiel genießen.<br />

Der Tag war doch nicht ganz verloren. Und versäumen<br />

würde man auch nichts. Für tiefergehende Recherchen<br />

war es einfach noch zu früh. Remke hatte da recht.<br />

Woanders noch fündig zu werden, war vorerst unwahrscheinlich.<br />

Tante Berta hantierte schon wieder mit Hochprozentigem.<br />

Es wurde Zeit, Land zu gewinnen. Die gute Seele neigte<br />

dazu, nach reichlichem Alkoholkonsum ausfallend zu<br />

werden.


„ Komm Otto. Wir müssen weiter. Zefhahn will Ergebnisse<br />

sehen. Wir begeben uns an einen Ort, wo es immer welche<br />

gibt“, sagte Kimrod verheißungsvoll zu seinem Kollegen.<br />

Remke verstand die Andeutung und verabschiedete<br />

sich bei Berta, deren glasiger Blick in eine andere Welt<br />

gerichtet zu sein schien. Remke gab ihr noch einen Klaps<br />

auf den Hintern und folgte Kimrod auf die Straße. Berta<br />

gab keinen Mucks von sich. Sie registrierte den Aufbruch<br />

der Männer nicht mehr.<br />

„ Eigentlich schade. Wenn sie sich ein bisschen zusammenreißen<br />

würde, könnte sie das große Geld machen.<br />

Wenn sie nüchtern ist, verbreitet sie eine so anheimelnde<br />

Atmosphäre. Warum sich manche Menschen so mit Vorsatz<br />

ruinieren müssen?“ bemerkte Kimrod traurig.<br />

„ Ach weißt du, ob man das unbedingt ruinieren nennen<br />

soll? Sie ist ein sehr sentimentaler Mensch und hat ein<br />

großes Herz. So jemand muss eine Mauer aufbauen zwischen<br />

sich und der harten Realität. Sie macht das mit Alkohol.<br />

Das konserviert ihre Gutherzigkeit. Der Suff hat daher<br />

auch was Gutes. Man muss es nur erkennen können<br />

unter all dem Morast“, antwortete Remke optimistisch.<br />

„ Wahrscheinlich hast du recht. Bei solchen Leuten gehört<br />

das einfach mit dazu. Ohne solche Masken würde an deren<br />

Persönlichkeit ein wichtiges Teil fehlen. So wie Cowboystiefel<br />

erst recht wirken, wenn sie schön abgewetzt<br />

sind. Kein Glanz ohne Schatten.“


Als sie den Parkplatz im Hinterhof des Maxim erreichten,<br />

brausten zwei dicke Schlitten davon. Kimrod glaubte einen<br />

der Pokerspieler am Steuer zu erkennen. Die Partie<br />

schien vorzeitig beendet worden zu sein. Doch die Zocker<br />

hatten sich gerächt. Auf dem Dach des Dienstwagens lag<br />

ein fetter Haufen Hundescheiße. Hinter den Scheibenwischer<br />

war ein Pikass geklemmt. Auf Anonymität wurde<br />

anscheinend kein gesteigerter Wert gelegt.<br />

„ Sieh mal einer an. Unsere Kartenhaie haben ihre Visitenkarte<br />

hinterlassen. So eine Sauerei. Erst letzte Woche<br />

war ich in der Waschstraße mit dem Scheißkübel. Und<br />

jetzt das hier. Ich hätte nicht übel Lust, deinem Freund Mike<br />

einen zweiten Besuch abzustatten. Und diesmal durch<br />

die Vordertür, mit einem Zug Grenzschützer im Rücken.<br />

Dem würde das Lachen endgültig vergehen“, sagte Remke<br />

aufgebracht.<br />

Kimrod brach von einem dürren Holunderbusch einen Ast<br />

ab und wischte damit die Fäkalien vom Dach.<br />

„ Ach Gott, das sind halt die üblichen Lausbubenstreiche.<br />

Wenn man das alles an die große Glocke hängen würde“,<br />

sagte Kimrod beschwichtigend.<br />

Plötzlich rief eine Stimme von oben.<br />

„ Kann ich nix dafür. Die Hamburger Kollegen lassen sich<br />

halt nur ungern stören. Wenn ihr wollt, fahr ich euch die<br />

Kiste schnell zum Waschen.“<br />

Mikes Kopf ragte aus einer winzigen Dachluke hervor, von<br />

einem Ohr zum anderen grinsend. Remkes Drohung verfehlte<br />

ihre Wirkung offensichtlich vollständig oder Mike


hatte sie einfach nicht gehört. Remke bückte sich nach einer<br />

zerschlissenen Obsttüte und wickelte mit den Papierfetzen<br />

den übelriechenden Hundehaufen ein. Er ging näher<br />

an die Fassade heran, aus der Mikes Haupt lugte, und<br />

nahm Maß. Kimrod schüttelte den Kopf und parkte den<br />

Wagen aus. Da hatten sich zwei gefunden. In der Kinderstunde<br />

wurde Unterhaltung weitaus höheren Niveaus geboten.<br />

Remke warf endlich und wurde mit einem Guss kalten<br />

Wassers belohnt, das der findige Bordellpächter schnell<br />

beschafft hatte. Remke besudelte sich hauptsächlich selber<br />

und setzte sich schimpfend und stinkend in den Wagen.<br />

Kimrod nutzte die Gunst der Stunde und verließ eilends<br />

das umkämpfte Areal. In dieser Stimmung war dem<br />

Oberkommissar alles zuzutrauen. Es grenzte an ein Wunder,<br />

dass er seine Waffe nicht benutzt hatte.<br />

„ Weißt du, Otto, was mir heute den ganzen Tag über aufgefallen<br />

ist bei den Ermittlungen, die wir anzustellen versucht<br />

haben?“ fragte Kimrod, nachdem er demonstrativ<br />

das Fenster geöffnet hatte.<br />

Remke grummelte nur unwirsch vor sich hin. Ihm steckte<br />

die eben erlittene Niederlage noch gehörig in den Knochen.<br />

Kimrod gab so schnell nicht auf. Wahrscheinlich<br />

nagte derselbe Wurm in Remke und fand dort nur andere<br />

Nahrung vor. Man musste ihn packen und ans ungewohnte<br />

Tageslicht zerren. Nur so konnte der schleichenden<br />

Vergiftung zu Leibe gerückt werden.


„ Also gut. Wenn du nicht willst, dann mache ich eben den<br />

Anfang. Dass wir in gewissen Kreisen kein sehr hohes<br />

Ansehen genießen, ist ein alter Hut. Doch so wie man uns<br />

heute überall abgekanzelt hat, beginnt man sich zu fragen,<br />

ob uns überhaupt noch jemand ernst nimmt. Nicht<br />

mal bei so einem abscheulichen Fall, der nach Aufklärung<br />

schreit. Da denkt man sich doch, dass da so eine Art interfraktionelle<br />

Koalition entstehen müsste, um die Bestie zur<br />

Strecke zu bringen. Aber Schweigen im Walde. Bullen<br />

verpisst euch! Ihr korrupten Arschkriecher wollt bloß euer<br />

Gehalt aufbessern mit irgendeiner linken Tour. Die Mädchen<br />

sind doch für euch bloß Abfall, die ihre gerechte<br />

Strafe erhalten haben. Kleine, billige Nutten. Nicht wert,<br />

viel Aufhebens davon zu machen, auf der ihnen gebührenden<br />

Müllkippe endgelagert...noch ein paar Mal umgedreht,<br />

um die geifernde Blutgier der Massen zu befriedigen<br />

und dann endgültig verscharrt...meine Herren, der<br />

nächste Fall, aber bitte ohne störende Gefühlsduselei. Dafür<br />

werden Sie nicht bezahlt. Ein bisschen rumstochern<br />

und dann Schwamm drüber...“<br />

„ Nun hör schon auf. Kriegt er gleich wieder seinen Moralischen,<br />

bloß wegen der paar Weiber. Ja, ich weiß wovon<br />

ich rede. Die Leute sind nun mal so. Und dass wir überall<br />

wie die größten Hanskasper behandelt werden, liegt nicht<br />

nur an den Kollegen von der Schupo, die gerne mal das<br />

Händchen aufhalten. Der Fisch stinkt von oben her. Vom<br />

Kopf. Keine unnötigen Beschränkungen des Amüsierbetriebes.<br />

Die Stadt lebt von den Touristen, die ordentlich ei-


nen drauf machen wollen. Also Cops, lasst die Handschellen<br />

stecken und geht auf Verbrecherjagd. Nur nicht in unserer<br />

Nähe! Bürgerrechte haben Vorrang! Erledigen Sie<br />

Ihre Arbeit, aber ohne jemanden weh zu tun... und so weiter,<br />

und so fort.“<br />

„ Du kommst aber früh drauf, das predige ich schon seit<br />

Jahrzehnten. Jetzt weiß doch kein Schwanz mehr, wie er<br />

sich im Dienst verhalten soll. Da werden viele halt passiver,<br />

man holt sich dann weniger Schrammen. Zu viel Eifer<br />

bedeutet meist nur Ärger. Sich raushalten und durchschmuggeln,<br />

das ist die gängige Devise heutzutage. Nur<br />

nicht auffallen!“<br />

Remke klopfte Kimrod aufmunternd auf die Schulter. So<br />

schnell war Preußen noch nicht verloren. Je näher sie<br />

dem Stadion kamen, desto dichter wurde der Verkehr. In<br />

der Reichsstraße verursachten Dutzende von Bussen ein<br />

mittleres Verkehrschaos. Kimrod kam trotz Hupe und Kojaklampe<br />

nur noch im Schritttempo voran. Die Münchener<br />

Fans waren zu Zigtausenden angereist und ergriffen<br />

lautstark von dem Berliner Territorium Besitz. Wie üblich<br />

wurden schon während der Anfahrt Unmengen von Alkohol<br />

vertilgt, so dass die Begeisterung vieler Anhänger<br />

schon vor dem Anpfiff jegliches Maß verlor. Im Nu brannten<br />

die ersten Autos und die vereinzelt auftretenden Polizisten<br />

versuchten vergeblich, die randalierenden Hooligans<br />

zur Räson zu bringen.


Die Herthafrösche verbrüderten sich bereitwillig mit den<br />

Münchenern, wenn ein neues Fahrzeug gekippt oder ein<br />

Ordnungshüter attackiert wurde. Die ersten Warnschüsse<br />

peitschten auf, wie zur Begrüßung der Wasserwerfer, die<br />

auf der Rominter Allee heranrollten. Unmittelbar vor dem<br />

wieder abgerüsteten Ford, Kimrod hatte die Rundumleuchte<br />

sicherheitshalber vom Dach entfernt, wurde ein<br />

Wachtmeister von seinem Hengst herunter zu Boden gerissen.<br />

Sofort bildete sich über den Wehrlosen eine dichte<br />

Traube, die Kimrod und Remke mit wirbelnden Schlagstöcken<br />

zu zersprengen versuchten. Kimrod bewahrte die<br />

hilfreichen Accessoires immer griffbereit unter seinem Sitz<br />

auf, so dass die beiden Kommissare ihrem Kollegen<br />

schnell zur Hilfe kommen konnten. Mehrere Randalierer<br />

ließen schreiend vor ihrem Opfer ab.<br />

Kimrod und Remke verteilten platzierte Schläge auf essentielle<br />

Körperteile wie Kopf und Nieren, so dass den<br />

Getroffenen nachhaltig die Lust verging. Die Hartnäckigsten<br />

jedoch, die zu betrunken waren, um noch Schmerzen<br />

verspüren zu können, umringten bald den neuen Gegner<br />

und gingen mit aufgeschlagenen Bierflaschen auf die Beamten<br />

los. Remke griff sofort zur Pistole und wollte gerade<br />

den ersten Schuss abgeben, als sich eine Hundertschaft<br />

des Sonderkommandos mit wuchtigen Tritten und Schlägen<br />

den Weg zum Tatort bahnte. Die Angehörigen der<br />

Spezialtruppe waren am ganzen Körper mit Plastikprotektoren<br />

gepanzert und in allen Nahkampftechniken ausgebildet.<br />

Wenn einmal die Schilder und Knüppel nicht mehr


ausreichten, kamen mehrschüssige Schrotflinten zum<br />

Einsatz, die Gummigeschosse abfeuern konnten. Dabei<br />

wurden auch ernsthaftere Verletzungen in Kauf genommen.<br />

Die Flinten wurden aber nur benutzt, wenn Leib und<br />

Leben eines Beamten gefährdet waren. So viel geballte<br />

Staatsmacht nahm den Schlägern rasch den Mut. Sie<br />

suchten ihr Heil in der Flucht.<br />

Der vom Ross geholte Wachtmeister war noch am Leben,<br />

doch er benötigte rasch ärztliche Hilfe. Sein Gesicht war<br />

übel zugerichtet, er blutete stark aus tiefen Schnittwunden.<br />

Kimrod und Remke wiesen sich dem Kompanieführer<br />

gegenüber als Polizisten aus und nahmen die Verfolgung<br />

auf. Die Täter waren allerdings schon längst in der Masse<br />

untergetaucht. In den wogenden Horden Festnahmen<br />

vorzunehmen, war sowieso ein aussichtsloses Unterfangen.<br />

Es sei denn man war bereit, den Rest der Meute mit<br />

Maschinengewehren niederzumähen.<br />

Kimrod und Remke schlugen sich bis zum Haupteingang<br />

durch und zeigten ihre Ausweise vor. Erst nachdem sie<br />

ein bulliger Ordner überprüft hatte, wurden sie eingelassen.<br />

Sie suchten sich ganz unten einen Platz, unmittelbar<br />

unter den Trainerbänken. Remke besorgte zwei Bier und<br />

Wurstsemmeln. Es konnte losgehen. Doch bevor die Spieler<br />

aufliefen, wurde ein fahrbarer Ring auf den Rasen geschoben.<br />

Zwei Kickboxer traten in Aktion und lieferten sich<br />

einen sehenswerten Fight. Das Stadion war schon ziemlich<br />

voll, doch das Publikum spendete den Akteuren nicht<br />

den verdienten Beifall. Erst als zwanzig Cheerleadergirls


viel knuspriges Fleisch zeigten, kam Stimmung auf. Der<br />

Ring wurde wieder nach draußen geschoben und die<br />

Fußballer kamen endlich zu ihrem Recht. Die Bayern<br />

drängten von Anfang an vehement auf das Herthator und<br />

konnten mehrere gute Schüsse platzieren. Hertha brauchte<br />

eine knappe halbe Stunde, um zur ersten nennenswerten<br />

Chance zu kommen. Eine deftige Granate prallte von<br />

einem Abwehrspieler direkt vor die Füße der wieselflinken<br />

Sturmspitze, die jedoch knapp am linken Pfosten vorbeizog.<br />

Die Partie ging torlos in die Halbzeit. Die Veranstalter ließen<br />

nur noch die Cheerleader auftreten, die Kickboxer<br />

wurden nicht mehr bemüht. Nach dem Wechsel dominierte<br />

die Herthaelf. Der italienische Startrainer hatte einen<br />

Stürmer mehr aufs Feld geschickt. Etliche klare Torchancen<br />

wurden herausgearbeitet, die Bayern gerieten zusehends<br />

in Bedrängnis. Die Heimmannschaft versäumte es<br />

aber, die zahlreichen Möglichkeiten zu verwerten. Als sich<br />

wieder einmal alle Feldspieler in der Bayernhälfte aufhielten,<br />

nahm das Unglück seinen Lauf. Der erfahrene Libero<br />

der süddeutschen Millionenelf passte klug auf den zurückhängenden<br />

Mittelstürmer, der den Ball in einem sehenswerten<br />

Sololauf unbedrängt in den Berliner Sechzehnmeterraum<br />

trieb. Seine südamerikanische Schnelligkeit<br />

und Ballbeherrschung ließen den gegnerischen Abwehrspielern<br />

nicht den Hauch einer Chance und er kam<br />

vor dem Berliner Torwart frei zum Schuss. Der Ball landete<br />

unhaltbar im rechten Kreuzeck. Der Keeper war durch


eine geschickte Körpertäuschung kurz vor dem Abziehen<br />

verladen worden, so dass er auf die falsche Seite hechtete.<br />

Es blieben noch zwanzig Minuten, um den unverdienten<br />

Rückstand aufzuholen, doch nun machte sich die auf<br />

internationalen Parkett erworbene Routine und Cleverness<br />

der Bayern bezahlt. Man war nicht umsonst während<br />

der letzten Jahrzehnte in fast allen wichtigen europäischen<br />

Wettbewerben vertreten gewesen. Gekonnt ließ<br />

man die nassforschen Nachwuchstalente ins offene Messer<br />

laufen.<br />

Durch das Ausnutzen einer weiteren Konterchance erhöhte<br />

Bayern auf zwei zu null, und das fünf Minuten vor<br />

Schluss. Nun rasteten die aufgepeitschten Berliner Anhänger<br />

vollständig aus. Sie hatten den Außenstürmer der<br />

Bayern im Abseits gesehen. Erneut sollte die vom Pech<br />

verfolgte Elf trotz der überlegenen Spielleistung an dem<br />

Unvermögen eines Unparteiischen scheitern. Man war<br />

nicht gewillt, das tatenlos hinzunehmen. Feuerwerkskörper<br />

wurden in rauen Mengen gezündet und aufs Spielfeld<br />

befördert. Trotz dicker Rauchschwaden unterbrach der<br />

Referee die Partie nicht. Die Bayernspieler beschwerten<br />

sich vergeblich über die unzähligen Wurfgeschosse, die<br />

es von den Rängen hagelte. Der Schiedsrichter ließ die<br />

restlichen hundertzwanzig Sekunden ohne Rücksicht auf<br />

Verluste ablaufen. Die Anweisungen vom DFB waren eindeutig.<br />

Spielunterbrechungen oder gar vollständige Abbrüche<br />

waren tunlichst zu vermeiden. Die Hooligans waren<br />

danach umso schwerer unter Kontrolle zu bringen.


Obwohl gründliche Leibesvisitationen vorgenommen wurden,<br />

passierten bei jedem Spiel Unmassen von gefährlichen<br />

Gegenständen die Kontrollen. So wurden Messer,<br />

Blechdosen, Gasrevolver und selbstgebastelte Sprengkörper<br />

von harmlos aussehenden Zuschauern in die Stadien<br />

geschmuggelt und dort an die Randalierer verteilt.<br />

Vom Alkoholverbot war man wieder abgekommen, da die<br />

Fans sich bei verhängter Prohibition vor den Spielen umso<br />

heftiger betranken, so dass es noch vor dem Anpfiff zu<br />

wüsten Ausschreitungen kam.<br />

Die ersten Hooligans begannen die meterhohen Absperrgitter<br />

zu überklettern. Die Stadionleitung hielt es für angebracht<br />

die fest installierten Wasserkanonen einzusetzen.<br />

Diese Hochdruckwerfer bestrichen die untere Hälfte der<br />

Ränge mit einem gebündelten, eisigen Strahl und kühlten<br />

zuverlässig die Gemüter der tobenden Rowdies. Insgesamt<br />

kamen drei Kanonen zum Einsatz. Das Spiel endete<br />

fast unbemerkt während der ernüchternden Gemeinschaftsdusche.<br />

Kimrod hatte das Stadion zehn Minuten<br />

vor dem Ende der Partie verlassen. Er wollte den Ford vor<br />

dem allgemeinen Aufbruch in die gesperrte Rominter Allee<br />

retten. Remke, der seit anno Tobak für Hertha schwärmte,<br />

hielt die Stellung bis zum Schluss. Er geriet mitten ins<br />

Gewühl und benötigte deshalb eine halbe Stunde, um den<br />

vereinbarten Treffpunkt an der Einmündung der Hanns<br />

Braun Straße zu erreichen.


Kimrod unterhielt sich mit einem Wasserwerferfahrer, der<br />

sich über die hohe Ausfallquote in seinem Ausbildungsjahrgang<br />

beklagte.<br />

„ Nur vier von sieben sind noch dabei, der Rest abgenibbelt.<br />

Dem Stress nicht gewachsen. Vor dem Spiel, zum<br />

Beispiel, hat es drüben am Reiterstadion einen Toten gegeben.<br />

Angeblich Herzstillstand. Man will die Bilanz so eines<br />

Tages nicht verfärben. Für mich war das Mord, oder<br />

zumindest Totschlag. Den haben die Sanis bloß so schnell<br />

verfrachtet, damit nichts aufkommt. Der hatte einfach das<br />

verkehrte Trikot an. Rot-weiß unter lauter Fröschen, das<br />

konnte nicht gutgehen. Den haben sie so lange an seinem<br />

Schal gezupft bis die Pumpe streikte. Eine saubere und<br />

schnelle Sache. Das können nicht alle ab. Ich hier in meinem<br />

Tank muss mir auch vorstellen, dass ich im Krieg bin<br />

und durch die feindlichen Linien rolle. Anders kommst du<br />

nicht klar damit. Immer drauf aufs Gas und nicht links oder<br />

rechts schauen. Was bei drei nicht aus dem Weg ist, wird<br />

plattgemacht. Klotzen, nicht kleckern...das ist so ein<br />

Spruch von meinem Kommandanten. Soll irgend so ein<br />

Heini von der Wehrmacht erfunden haben, der mit seinen<br />

Tanks, also richtigen Panzern mit Kanonenrohr und allem<br />

drum und dran, durch ganz Europa gebrettert ist. Find ich<br />

absolut o.k. so. Wenn dann volle Kanne. Was anderes<br />

zieht doch bei diesen Knallköpfen nicht mehr. Die wollen<br />

einzig und allein Rabatz und den sollen sie haben. Ich<br />

lass mir nix mehr gefallen. Wenn man Kommandant sagt<br />

Volle Fahrt Geradeaus, dann gibt!s kein Halten mehr!


Rumms und durch. Alles andere ist Käse, das kapieren<br />

viele bloß nicht. Die meinen hier kann man auch was mit<br />

dem Gebetbuch erreichen. Aber das ist nicht. Gerade vorhin<br />

haben sie einen von uns vom Pferd geholt und halb tot<br />

geprügelt. Hier herrscht Krieg. Da kann mir einer erzählen,<br />

was er will. Ohne Knute läuft da gar nix mehr.“<br />

Remke, der inzwischen zu ihnen gestoßen war, nickte beifällig.<br />

„ So ist! s recht, junger Mann. Nur ordentlich draufhalten<br />

und durchdrücken. Diese Scheißliberalen sollen sich ihren<br />

Psychologiefirlefanz an den Hut stecken. Hier an der Basis<br />

sind andere Qualitäten gefragt. Recht so. Sie werden<br />

Ihren Weg machen.“<br />

Kimrod bugsierte Remke ins Auto. Es war schon viertel<br />

vor sechs und Zefhahn liebte keine Verspätungen. Remke<br />

hatte mit dem schneidigen Werferfahrer ein Exemplar<br />

nach seinem Geschmack gefunden. Der war aus dem<br />

richtigen Holz geschnitzt, so musste der zukünftige deutsche<br />

Polizeibeamte aussehen. Es gab also doch noch<br />

Hoffnung.<br />

Im Präsidium waren die zwei anderen Teams schon eingetroffen.<br />

Kimrod und Remke stürzten in letzter Minute in<br />

das Büro, das ihnen heute Morgen als Hauptquartier gedient<br />

hatte. Kriminalrat Zefhahn klopfte unwirsch auf die<br />

kleine Tafel, auf der er neue Fakten festgehalten hatte.<br />

„ Bitte, meine Herren, wir wollen doch nicht die ganze<br />

Nacht hier verbringen. Wenn Sie schon zu spät kommen<br />

müssen, kann ich wohl verlangen, dass Sie meine Ausfüh-


ungen nicht ständig unterbrechen. Jetzt muss ich schon<br />

wieder von vorne anfangen. Wie ist übrigens das Spiel<br />

ausgegangen?“<br />

Der Kriminalrat durchbohrte Remke mit strafenden Blicken.<br />

Er wusste instinktiv, wo sich die beiden Nachzügler<br />

so lange herumgetrieben hatten. Und dann beichten, dass<br />

sie nichts in Erfahrung bringen konnten. Wenn das Labor<br />

nicht so gute Arbeit geleistet hätte, würde man mal wieder<br />

völlig im Dunkeln tappen. Die Männer in den weißen Kitteln<br />

machten sich immer unentbehrlicher. Die Mehrzahl<br />

der Fälle wurde inzwischen mit Hilfe des Mikroskops und<br />

des Reagenzglases aufgeklärt. Viele Kriminologen promovierten<br />

erst in naturwissenschaftlichen Fächern wie<br />

Chemie und Biologie, bevor sie in den Polizeidienst eintraten.<br />

Männer wie Remke waren nur mit der Waffe schnell und<br />

versuchten, ihre mangelnde Fachkompetenz durch tumbes<br />

Drauflospoltern zu kaschieren. Freilich, ab und zu<br />

verfing sich noch ein Fisch in diesem grobmaschigen<br />

Netz, doch der Großteil des Fangs wurde schon lange von<br />

allen neuen Techniken gegenüber aufgeschlossenen Beamten<br />

wie Härtlein eingeholt, die ruhig und methodisch<br />

vorgingen und noch aus dem feinsten Härchen Schlüsse<br />

ziehen konnten, die oftmals zur Ergreifung der Täter führten.<br />

Und jetzt wollte dieser ungehobelte Klotz auch noch<br />

frech werden. Zefhahn hatte das Datum seiner Pensionierung<br />

schon mit roter Farbe in sein Notizbuch eingetragen.


Hoffentlich fand sich rasch ein geeigneter Nachfolger für<br />

diese Dreingabe.<br />

Remke wölbte unbeeindruckt die Brust.<br />

„ Erstens, Herr Kriminalrat, sind wir nicht zu spät, sondern<br />

gerade noch rechtzeitig gekommen. Just in time, um mich<br />

an den von Ihnen bevorzugten Jargon anzupassen. Es<br />

muss alles nach Ausland oder lateinisch klingen. Deutsch<br />

ist was für derbe Bauern. Zweitens kommen wir deshalb<br />

so spät, weil Sie uns mit leeren Händen losgeschickt haben.<br />

Und nun sollen wir was aus dem Hut zaubern. Aber<br />

das kennt man ja. Hauptsache, dass im Zweifelsfall die<br />

Verantwortung nach unten abgeschoben werden kann.<br />

Wir sind dann wieder die Blöden. Fahndungspannen,<br />

schlampige Ermittlungen, immer die Schwierigkeiten mit<br />

dem Personal. Ich sehe Ihr nettes Köpfchen schon wieder<br />

im Fernsehen. Der große Matador weiß, wie man sich in<br />

Szene setzt.“<br />

Zefhahn bedeckte angesichts dieser Tirade die Augen.<br />

Und das noch an seinem Golfnachmittag. Als ob er seine<br />

Männer nicht immer vor den giftigen Attacken der Medien<br />

in Schutz genommen hätte und dabei seine eigene Reputation<br />

aufs Spiel setzte, selbstlos und alle Konsequenzen<br />

in Kauf nehmend. Ohne diese Kamikazetaktik säße man<br />

doch schon längst im Innenministerium, fern aller Widrigkeiten<br />

einer kleinkarierten Polizeiadministration. Bereit für<br />

strategische Weichenstellungen in der Sicherheitspolitik.<br />

Sich nicht mehr sich mit diesen Flegeln herumschlagen


auchen, die immer glaubten, ihre Gossenmanieren an<br />

ihm erproben zu müssen.<br />

„ Ich weiß, Remke, mit Ihnen wurde vierzig Jahre lang<br />

Schlitten gefahren. Ihre Vorgesetzten haben Sie nur ausgenutzt<br />

und drangsaliert. Die Öffentlichkeit weiß Ihre verdienstvolle<br />

Tätigkeit auch nicht zu würdigen und bei den<br />

Verbrechern sind Sie von Haus auf in Verschiss, da Sie<br />

kein Pardon kennen und vor keinem Delikt die Augen verschließen.<br />

Ich weiß, Sie haben tausendmal Recht und alles<br />

hat sich gegen Sie verschworen, doch versuchen Sie<br />

doch einmal, sich in meine Lage zu versetzen. Ich stehe<br />

doch unter einem viel größeren Druck wie Sie. Wenn was<br />

schief läuft, heißt es doch nicht Remke und seine Kommission<br />

haben versagt, sondern Zefhahn oder Wulke sind<br />

unfähig und müssen ersetzt werden.<br />

Ihre Arbeit ist nicht leicht, aber da sind Sie doch nicht der<br />

Einzige. Wir alle müssen tagtäglich unseren Mann stehen.<br />

Und wenn wir untereinander nicht zusammenhalten, können<br />

wir den Laden gleich dicht machen. Stellen Sie bitte<br />

für die wenigen Monate, die Sie noch bei uns verbringen,<br />

alle Animositäten zurück und versuchen Sie zu kooperieren,<br />

in unser aller Interesse. Wir sind auch bloß Menschen!“<br />

Zefhan bat Maikovsky um seinen Bericht. Die Frohnatur<br />

stand auf und warf sich in Pose. Er wollte dem Kriminalrat<br />

und Remke in nichts nachstehen.<br />

„ Nachdem wir uns mit anatolischen Spezialitäten und<br />

würzigem Kaffee gestärkt hatten, widmete ich mich aus-


giebig der gebräuchlichen Morgenlektüre. Herder schäkerte<br />

trotz meiner Warnungen mit der properen Bedienung.<br />

Doch Kemal, der Wirt, ließ fünf gerade sein und beendete<br />

das Techtelmechtel nicht unsanft mit seinem Krummsäbel<br />

und beschränkte sich darauf, uns mit Köstlichkeiten seiner<br />

Heimat zu versorgen. Es gab frische Datteln, Oliven in Öl,<br />

Oliven in Essig, Oliven mit Füllung, Oliven...“<br />

Zefhahn unterbrach die Litanei unwirsch.<br />

„ Ich weiß, Maikovsky, Sie sind der führende Orientexperte<br />

in Deutschland und Sie könnten uns noch tagelang irgendwelche<br />

Rezepte oder Aussprachevorschriften durchdeklinieren,<br />

aber kommen Sie jetzt endlich zur Sache. Wir<br />

sind doch hier nicht auf einer Laienspielbühne, auf der<br />

sich jeder möglichst effektvoll in Szene setzen muss! Hat<br />

sich die Tat in Kreuzberg schon herumgesprochen, wusste<br />

jemand Näheres? Nur das interessiert mich, sonst nichts.<br />

Bitte.“<br />

Maikovsky sank etwas in sich zusammen. Er wollte seiner<br />

Schilderung doch nur etwas Lokalkolorit angedeihen lassen,<br />

die Atmosphäre greifbarer machen.<br />

„ Na gut, komme wir also zur Sache. Über die Morde habe<br />

ich nichts erfahren. Es wusste auch niemand etwas darüber.<br />

Nicht verwunderlich, wenn es sich um Nutten handelt.<br />

Das sind Unpersonen, noch viel schlimmer als bei uns.<br />

Bei den Radikalen auf alle Fälle ist das so. Man macht<br />

das zumindest nicht so öffentlich. Die Schriftgelehrten haben<br />

übrigens eine Lücke im Koran ausfindig gemacht. Ein


Mann kann da auch mit einer Frau eine Ehe auf Zeit eingehen,<br />

wenn sie geschieden oder verwitwet ist. Ganz legal<br />

und mit Absegnung der Pfaffen. Diese Frauen auf Zeit<br />

sind dann halt früher vielfach als Ersatzprostituierte verwendet<br />

worden und haben ein sehr ausschweifendes Leben<br />

geführt. Die Stimmung im Allgemeinen ist nach wie<br />

vor schlecht. Die Kurden planen Attentate gegen die Türken,<br />

die Türken gegen die Deutschen. Insbesondere die<br />

Söhne Allahs, die gegen die deutsche Unterstützung des<br />

Regimes in Ankara protestieren, die Kurden aus dem gleichen<br />

Grund gegen die Deutschen. Beide zusammen,<br />

Kurden und Türken, gegen die deutsche Regierung, die<br />

zu lasch gegen Hakenkreuzier vorgeht. Und so weiter,<br />

und so weiter. Wir haben viel Kaffee getrunken und geschwätzt.<br />

Es war ein gelungener Tag. So was geht halt<br />

nicht von heute auf morgen.“<br />

Zefhahn forderte Härtlein auf, seine Ergebnisse zu präsentieren.<br />

„ Tja Chef, wir haben auch nicht allzu viel vorzuweisen.<br />

Am Oberhafen wird gebaut. Da steht eine große Containersiedlung.<br />

Nachts treten die Prostituierten sich auf die<br />

Zehen. Aber ohne vernünftige Bilder und Namen war da<br />

nichts zu machen. Man kam sich direkt hilflos vor. Nur<br />

dieses blutverschmierte Gesicht in der Hand und die Kleidungsfetzen,<br />

da wollte sich natürlich niemand festlegen.<br />

Wir haben bei mindestens fünfzig Anwohnern geklingelt,<br />

aber auch da Fehlanzeige. Am Wochenende geht!s bei


den Bauarbeitern immer ein bisschen lustiger zu. Da hat<br />

keine Schreie oder Kampfgeräusche gehört.“<br />

Kriminaloberkommissar Bullrich gab dem Vortragenden<br />

ein Zeichen. Härtlein überlegte kurz und nickte dann verstehend.<br />

„ Ach ja, ehe ich es vergesse. Da draußen sind des Öfteren<br />

schwere Daimlerlimousinen gesehen worden; dem<br />

Typ nach zu schließen Regierungskarossen. Aber außer<br />

den Chauffeuren war nie jemand zu erkennen. Da ist hinten<br />

meistens alles abgedunkelt, mit Spezialglas. Herren<br />

dieser Preisklasse suchen sich ihre Gespielinnen normalerweise<br />

nicht auf dem Straßenstrich. Also irgendwie hat<br />

mich das stutzig gemacht. Mehr war nicht.“<br />

Kriminalrat Zefhahn bezog mit einem triumphierenden Lächeln<br />

im Gesicht neben der Tafel Stellung.<br />

„ So, und jetzt kommen wir zu meinen Ergebnissen, beziehungsweise<br />

zu denen von HASSSO. Ich will mich nicht<br />

mit fremden Federn schmücken. HASSSO steht für Hard<br />

and Software Security Services Organisation, aber das<br />

dürfte allgemein bekannt sein oder sollte es zumindest.<br />

Gut, gehen wir gleich medias in res oder wie auch immer<br />

das heißen mag. Ich meine ganz schlicht und einfach:<br />

Lasst uns zur Sache kommen.“<br />

Zefhahn unterstrich zwei Namen.<br />

„ Claudia Luper, fünfundzwanzig Jahre, ledig und Susanne<br />

Roschmann, siebenundzwanzig Jahre, ebenfalls ledig.<br />

Beide wohnhaft in Neukölln, Siegfriedstraße 33b. Na, jetzt<br />

sind die Herren aber baff. Ein Polizeihund sticht sechs


meiner besten Beamten aus. Ein kurzer Pfiff, HASSSO<br />

fass und der Täter wird apportiert. Streifenweise, wenn es<br />

sein muss.“<br />

Niemand lachte. Die Polizisten waren wirklich verblüfft und<br />

warteten gespannt auf die Auflösung des Rätsels. Zefhahn<br />

genoss die Situation sichtlich. Da fiel den sonst nicht<br />

auf den Mund Gefallenen nichts mehr ein.<br />

„ Ja, meine Herren, das ist Polizeiarbeit der Zukunft. Modernste<br />

Technologie gepaart mit der Scharfsinnigkeit geschulter<br />

Gehirne. Aber ich will Sie nicht länger auf die Folter<br />

spannen, die Sache ist ganz banal zustande gekommen.<br />

Ein aufmerksamer Assistent in der Gerichtsmedizin,<br />

so was gibt es auch noch, ist aber bestimmt ein absterbender<br />

Ast, hat...äh, hat festgestellt, dass bei beiden<br />

Mädchen neuartige Füllungen, ich meine Zahnfüllungen,<br />

installiert sind. Füllungen die erst seit ein paar Monaten<br />

auf dem Markt sind und wegen des hohen Preises auch<br />

nicht weiter verbreitet sein dürften. Der Rest war ein Kinderspiel.<br />

Wir haben einen dentalen Fingerabdruck genommen,<br />

wenn ich mich so salopp ausdrücken darf und<br />

diesen dann in HASSS0 eingespeist. Es gibt in ganz Berlin<br />

eben nur drei Zahnärzte, die mit diesem neuartigen<br />

Material arbeiten. Und schwuppdiwupp, HASSSO such,<br />

hatten wir die Identifizierung. Das ist der Vorteil der modernen<br />

Datenvernetzung. Auch am Wochenende ist mit<br />

den richtiges Kodes alles jederzeit abrufbar. Wir sparen<br />

uns Zeit, Geld und jede Menge Nerven.“


Kriminalhauptkommissar Härtlein wollte es genauer wissen.<br />

„ Da tippt praktisch jede Sprechstundenhilfe in ihren Computer<br />

ein, wie die Zähne repariert worden sind. Aber wie<br />

kommen wir da ran? Ärzte hüten ihre Karteien wie ihre<br />

Augäpfel.“<br />

„ Das läuft dann über die Krankenkasse, glaube ich. Ein<br />

Teil davon jedenfalls. Aber das ist eben HASSSO. Der<br />

weiß genau, wo er suchen muss, und vor allem nach was.<br />

Bei Kapitalverbrechen haben die Anwender, also wir, große<br />

Vollmachten und auf eine ungeheure Datenflut Zugriff.<br />

Da kann so ein spezielles Programm schon sehr von Nutzen<br />

sein. Ich bin natürlich kein EDV-Experte, aber praktisch<br />

ist so was schon. Innerhalb von wenigen Stunden<br />

mit Erfolg abgeschlossen, die Aktion. Jetzt stehe ich auch<br />

der Presse gegenüber nicht mehr mit leeren Händen da.<br />

Ein kurzer Zwischenbericht ist schon über die Fernschreiber<br />

getickert. Die wollen was für ihre Sonntagsausgabe<br />

haben. Ich lass mir in der Beziehung nichts mehr nachsagen.<br />

Wer die Mediendiktatur haben will, soll sie bekommen“,<br />

äußerte Zefhan überschwänglich.<br />

Remke wurde hellhörig.<br />

„ Sie haben das hier alles den Pressefritzen zugänglich<br />

gemacht? Und uns total übergangen? Ha, warum gehen<br />

Sie nicht gleich zum Abendblatt? Da könnten Sie ihre Profilneurose<br />

wenigstens ausgiebig auskurieren. Aber das ist<br />

wieder typisch für unsere Abteilung. Die Männer werden<br />

zu Bauern auf dem Schachbrett der leitenden Herren de-


gradiert und nur noch sporadisch als Lückenbüßer eingesetzt.“<br />

Zefhahn wurde energischer. Sein Bariton dröhnte durch<br />

den kleinen Raum.<br />

„ Ich erfülle nur meine Pflicht. Der Innensenator hat eindeutige<br />

Anweisungen gegeben in dieser Richtung. Glasnost<br />

ist angesagt, meine Herren. Auch wenn es einige von<br />

Ihnen damit übertreiben zuweilen. Außerdem verstehen<br />

Sie nichts von Schach, Remke. Die Bauern sind zentrale<br />

Figuren, besonders im Endspiel. Ohne sie wäre der König<br />

verloren, ohne Bauern keine neue Dame. Ich weiß also<br />

gar nicht, was Sie immer wollen. Wenn Sie sich während<br />

der Dienstzeit nicht nur in Fußballarenen herumtreiben<br />

würden, wären wir nämlich schon längst fertig. Ich muss<br />

Ihnen nämlich noch was unter die Nase reiben. Das...“<br />

Kriminalrat Zefhahn kritzelte eine Darstellung an die Tafel,<br />

die entfernt an einen Hundekopf erinnerte.<br />

„ Das, meine Herren, hat die Gerichtsmedizin auf den Innenseiten<br />

der Schenkel der Mädchen gefunden. Ein<br />

Wolfsrachen, das Erkennungszeichen der Nazipartisanen<br />

nach Kriegsende. Die wurden von den Alliierten sehr gefürchtet,<br />

traten aber eigentlich nie in Erscheinung. Eine<br />

Geisterbrigade, die den Besatzungsmächten dann später<br />

dazu diente, harte Auflagen durchzusetzen, da die Hakenkreuzler<br />

sich angeblich noch nicht geschlagen gaben.<br />

Dieser Wolfsrachen wurde den Mädchen eingebrannt, wie<br />

bei einem Stück Vieh. Wo müssen wir also die Täter suchen?“


Zefhahn ließ den Kommissaren keine Zeit, die Frage zu<br />

beantworten. Er hörte sich selbst am liebsten reden.<br />

„ Wissen Sie, wie viele Rechtsradikale es in Berlin gibt,<br />

polizeilich erfasste? Eben! Das wird eine Schlacht! Von<br />

Degradierung keine Spur, meine Herren. Ihr Betätigungsfeld<br />

wächst ins Unendliche.“<br />

„ HASSSO wird!s schon richten“, bellte Maikovsky nach<br />

vorne.<br />

Auch er war mit Zefhahns Vortrag nicht ganz einverstanden.<br />

Man war bereit, große Opfer zu bringen und wurde<br />

dafür abgekanzelt wie ein Schuljunge, dessen Hausaufgaben<br />

vor Fehlern strotzte. Zefhahn nahm wieder etwas<br />

Tempo raus. Seine Rhetorikkurse machten sich bezahlt.<br />

„ Sie haben durchaus recht, mein Lieber. Das Programm<br />

stöbert schon durch diesen braunen Sumpf. Ab Montag<br />

können Sie unseren vierbeinigen Mitarbeiter an die Leine<br />

nehmen und an Ort und Stelle testen. Das ist übrigens<br />

nicht nur sinnbildlich gemeint. Ein elektronisches Notebook<br />

kann mit Festplattenmunition, die von HASSSO geliefert<br />

wird, bestückt werden. Sie sind also immer bestens<br />

im Bilde. Passen Sie nur auf, dass Ihnen das Untier nicht<br />

an die Kehle geht. Bei zu vielen Daten einfach abschalten.“<br />

Remke reagierte prompt.<br />

„ Schade, dass wir das nicht auch bei den Menschen einführen<br />

können. Das wäre ein revolutionärer Fortschritt,<br />

der das Leben ungemein erleichtern würde. Ich war vorhin<br />

noch nicht ganz fertig. Hertha hat zwei zu null verloren.


Der Schiedsrichter war gekauft, aber was will man machen.<br />

Geld regiert die Welt. Wir haben übrigens unsere<br />

Zeit nicht ganz nutzlos verplempert. Es gab wieder dicke<br />

Keilereien und wir konnten einen arg in Bedrängnis geratenen<br />

Kollegen raushauen. Na ja, eine Orden werden sie<br />

uns dafür nicht an die Brust heften. Dafür passiert so was<br />

zu oft. Aber trotzdem war es ein schönes Gefühl irgendwie.<br />

Mal wieder was richtig Handfestes zur Abwechslung.<br />

Wär ich doch nur beim Grenzschutz geblieben. Da kann<br />

man sich noch so richtig austoben.“<br />

Der Kriminalrat hatte sich schon längst ostentativ umgedreht<br />

und war zum Waschbecken gegangen. Diesen Kerlen<br />

musste man schon zeigen, wer Herr im Haus war.<br />

Was zu weit geht, geht zu weit. Und immer wurde einem<br />

dieselbe abgestandene Brühe aufgetischt. Diese Miesmacher<br />

sollten nur spüren, wie unwichtig sie eigentlich waren.<br />

Remke lag jedoch noch mehr auf dem Herzen. Der große<br />

Meister hatte das Wichtigste wieder einmal vergessen.<br />

Aber Hygiene und Sauberkeit gingen vor. Man musste<br />

sich einem akribischen Reinigungsritual unterziehen,<br />

wenn man mit dem gemeinen Pöbel in Kontakt geraten<br />

war. Dieser Fatzke.<br />

„ Chef! Was ist nun, sind es Nutten oder nicht?“<br />

Zefhahn befeuchtete seine Haare und drehte sich kurz<br />

um.


„ Ja, aber das habe ich doch schon zwanzigmal erzählt.<br />

Warum sind Sie eigentlich immer so unaufmerksam? Bei<br />

den anderen geht!s ja auch. Dabei wollte ich Sie noch zur<br />

Beförderung vorschlagen. Das wäre eine hübsche Aufbesserung<br />

Ihrer Rente gewesen. Ob ich das noch vor<br />

Wulke vertreten kann? Sie wissen wie er ist. Der deutsche<br />

Beamte ist ordentlich, ehrlich und bescheiden. Punktum,<br />

was will man da machen. Da müssen Sie schon den Bundespräsidenten<br />

vor einem Sprengstoffattentat bewahren<br />

oder so was Ähnliches. Na ja, Sie werden schon durchkommen.“<br />

Rache ist süß. Zefhahn kämmte sich befriedigt. Kimrod<br />

hatte auch noch ein Anliegen.<br />

„ Herr Kriminalrat, ein zentraler Punkt ist immer noch nicht<br />

geklärt. Wie passt der südländische Typus zu diesem<br />

Namen? Ich meine deutscher geht!s doch nicht?“<br />

Zefhahn strich die letzten Strähnen glatt. Ab einem gewissen<br />

Alter konnte man gar nicht genug auf sein Äußeres<br />

achten. Ein bisschen Eitelkeit war da nur von Vorteil. Zefhahn<br />

klopfte Kimrod wohlmeinend auf die Schulter.<br />

„ Sie haben natürlich Recht. Den Punkt muss ich wirklich<br />

übersehen haben in der Hektik der Konferenz. Die Geschichte<br />

ist ein bisschen kompliziert. Wir, beziehungsweise<br />

HASSSO, haben ein wenig Genealogie betreiben müssen.<br />

Diese Luper, die jüngere der beiden Callgirls...also<br />

das darf ich schon schnell erklären. Sie sind beide registriert,<br />

mit Finanzamt und allem drum und dran. Gott sei<br />

Dank hat der Gesetzgeber da jetzt auch endlich Nägel mit


Köpfen gemacht und diesen Erwerbszweig mit allen Konsequenzen<br />

als Beruf anerkannt. Da hat man nun in so<br />

mancher Beziehung tieferen Einblick und kann da auch<br />

teilweise besser zupacken.<br />

Gut. Was ich sagen wollte, diese Wohnung in Neukölln<br />

wurde auch richtig gewerbsmäßig genutzt. Die Spurensicherung<br />

war schon dort und hat, na ja, ihre Arbeit gemacht.<br />

Fingerabdrücke, Kleidung, Haare, Fussel, das<br />

komplette Programm. Bevor ihr Elefanten dort rumtrampelt,<br />

muss da alles vor Ort sauber und gewissenhaft untersucht<br />

werden. Die Einteilung für morgen und Montag<br />

mache ich gleich anschließend. Also Geduld. Je länger<br />

Sie mich reden lassen, desto schneller können Sie ins<br />

Wochenende starten. Auch wenn das paradox klingen<br />

mag. Also, der Vater von der Luper ist Türke. Ein Lehrer,<br />

der eine Deutsche geheiratet hat. Das Kind, diese Claudia,<br />

hat später den Namen ihrer Mutter angenommen. Die<br />

Eltern leben in Ankara, nur ein Bruder lebt noch hier in<br />

Berlin. Eine ziemlich finstere Type. Ja HASSSO, brav!<br />

Wer sich einmal bei uns verfangen hat, den lassen wir so<br />

schnell nicht mehr los. Wäre auch noch schöner. Also,<br />

Punkt eins geklärt. Punkt zwei verhält sich ebenso, nur<br />

umgekehrt.<br />

Familie Roschmann: Vater Deutscher, Mutter Türkin. Kind<br />

nimmt Namen des Vaters an, logischerweise, weil das halt<br />

hier in Deutschland praktischer ist. Ich meine, einen deutschen<br />

Namen zu haben, hat viele Vorteile. Der Vater, dieser<br />

Roschmann, ist schon verstorben. Krebs, mit Anfang


vierzig. Die Mutter ist wieder verheiratet, wieder mit einem<br />

Deutschen. Das erklärt die Namen, das Aussehen, einfach<br />

alles. Also, so weit, so gut. Wir haben schon einen<br />

guten Teil unserer Arbeit erledigt. Deshalb können wir unsere<br />

Truppen, glaube ich, etwas reduzieren. Härtlein und<br />

Bullrich scheiden aus der SOKO Spreetöchter aus. Passt<br />

doch ganz gut, oder? Spreetöchter, das reduziert sich jetzt<br />

auf vier Mann, aber das dürfte locker reichen. Die Presse<br />

wird zwar noch etwas Wind machen, zwei geschändete<br />

Huren, die eine sogar ohne Kopf. Da steigt die Auflage,<br />

da lacht das Leserherz, aber sonst, nein...übrigens, man<br />

muss die armen Dinger mit einer Bohrmaschine vergewaltigt<br />

haben. Der Tod trat wahrscheinlich jeweils durch Messerstiche<br />

ins Herz ein, bei der Kleinen jedenfalls. Die<br />

Roschmann, die ohne Kopf, woran die gestorben ist ursächlich,<br />

kann man wahrscheinlich nie mehr genau sagen.<br />

Hoffentlich hat man sie erstochen bevor...ich meine<br />

so unmenschlich und brutal kann ja niemand, außer...<br />

womit wir beim nächsten Punkt wären....wenn es sich um<br />

krankhafte Sexualtäter handelt. Leute diese Schlages, die<br />

dafür in Frage kämen, sollten alle hinter Schloss und Riegel<br />

sitzen, für alle Zeit. Die Praxis sieht leider Gottes anders<br />

aus. Nach ein paar Jahren in der Anstalt als geheilt<br />

hinterlassen, Rückfälle ausgeschlossen. Laut psychologischem<br />

Gutachten, die oft nicht das Papier wert sind, auf<br />

dem sie geschrieben werden. Diesen Täterkreis müssen<br />

wir natürlich auch berücksichtigen.


Aber zunächst, und damit zur Einteilung, wollen wir in der<br />

Ecke suchen, die sich besonders aufdrängt. Der Wolfsrachen<br />

nämlich. Das wird übermorgen das Erste sein. Das<br />

übernehmen die altbewährten Fahrensmänner Kimrod<br />

und Remke. Gleich für morgen stände noch ein Besuch<br />

bei Mustafa an, dem Bruder der Luper. Wenn ihr den nicht<br />

erwischt, büchst der womöglich für die ganze Woche aus.<br />

Und das wollen wir doch vermeiden, nicht? Wir wissen natürlich<br />

nicht, ob die Kleine noch mit ihrem Bruder in Kontakt<br />

gestanden ist, aber etwas Besseres fällt mir im Augenblick<br />

nicht ein. Wir werden auch versuchen, die Eltern<br />

zu erreichen. Das kann sich jedoch in die Länge ziehen.<br />

Dort unten weiß man nie.<br />

Ja, gut. Und Maikovsky und Herder versuchen ihr Glück<br />

zunächst mal bei der Mutter der Roschmann. Die wohnt in<br />

der Marienburger Straße, Prenzlauer Berg. Vielleicht ist<br />

da was zu holen. Ist immer schwierig mit den Angehörigen<br />

der Prostituierten. Da will keiner mehr was damit zu tun<br />

haben. Gut, dann bis Montag. Moment, diesen Mustafa<br />

könnt ihr in der Prinzenstraße 21 ausfindig machen. Ihr<br />

kennt euch da aus, aber möglichst morgen. Tut mir leid,<br />

aber ein bisschen müssen wir schon noch ranklotzen. Wir<br />

dürfen uns nichts nachsagen lassen. Von wegen auf dem<br />

rechten Auge blind oder so. Ihr kennt das ja. Da muss<br />

man vorbauen. Gut, dann ein schönes Wochenende. Bis<br />

Montag.“


Die Polizisten zündeten sich Zigaretten an. Zefhahn verließ<br />

mit Bullrich und Härtlein das Büro. Remke klatschte<br />

mit der flachen Hand gegen die Tafel.<br />

„ Dieses Schwein. Er weiß genau, dass ich meine Beförderung<br />

schon längst in den Wind geschrieben habe. Aber<br />

immer wieder muss er davon anfangen. Als ob Wulke daran<br />

schuld wäre! Eines Tages ist er fällig. Ich lasse ihn<br />

zwanzig seiner Golfbälle schlucken. Die kann er dann<br />

hübsch der Reihe nach versenken. Mit seinem Arsch.“<br />

Kimrod winkte ab.<br />

„ Du und deine leeren Versprechungen. Außerdem hast<br />

du das selber verbockt. So wie du den behandelst. Das<br />

würde sich keiner so mir nichts dir nichts gefallen lassen.<br />

Wenn du so weiter machst, schickt er dich bis zur Rente in<br />

den Urlaub. Wahrscheinlich arbeitest du auf das hin.“<br />

Auch Maikovsky musste seinen Frust loswerden.<br />

„ Der mit seinem HASSO kann mir den Buckel runterrutschen.<br />

Soll er doch das Ding auf einen Sackkarren verfrachten<br />

und durch Berlin schippern. Vielleicht könnte er<br />

mit diesem Wandofen ein paar alte Steckdosen verhaften<br />

oder weiß der Teufel was. Was erwartet er denn, wenn er<br />

uns mit leeren Taschen losschickt? Wir haben uns den<br />

Samstag doch völlig umsonst um die Ohren geschlagen.<br />

Ihr wart wenigstens so schlau und habt euch das Spiel<br />

reingezogen. Dabei hat Hertha doch in den letzten drei<br />

Spielen sieben Punkte geholt. Und jetzt gegen diese abgehalfterten<br />

Großkotze zwei zu null. Da ist doch was nicht<br />

mit rechten Dingen zugegangen. Aber einmal stärkt man


diesen Pfeifen nicht persönlich den Rücken, schon geht!s<br />

den Bach runter.“<br />

Remke setzte ihm genauestens auseinander, wie es zur<br />

schmachvollen Niederlage gekommen war. Auch wenn<br />

Maikovsky sonst ein ziemlicher Sprücheklopfer war, vom<br />

Fußball verstand er etwas. Er hatte stets den aktuellen<br />

Tabellenstand parat und wusste mit fachmännischen Analysen<br />

zu glänzen. Einer sachverständigen Diskussion<br />

stand also nichts im Wege.<br />

Kimrod rauchte nachdenklich zu Ende. Er war mit dem<br />

Verlauf des Tages eigentlich zufrieden. Zefhahn und die<br />

Medizinmänner hatten gute Arbeit geleistet. Die Jagd<br />

konnte jetzt richtig losgehen. Die Beute war identifiziert<br />

und die Räuber wenigstens ansatzweise markiert worden.<br />

Als Täter kamen Rechtsradikale, Zuhälter, durchgeknallte<br />

Freier, die vielleicht erpresst worden waren und krankhafte<br />

Sexualverbrecher vom Schlage eines Jack the Ripper<br />

in Frage. Keine kleine Auswahl. Der Schlüssel zu diesem<br />

Fall lag vielleicht im Milieu. Insofern war ihre heutige Tour<br />

nicht umsonst gewesen. Wer kannte die Mädchen näher,<br />

wer hatte sie vermittelt und angelernt? Mit welchen Freiern<br />

hatten sie es hauptsächlich zu tun gehabt?<br />

Tante Berta! Sie hatte schon vorhin ein so betretenes Gesicht<br />

gemacht. Das war ein Ansatzpunkt. Man musste sie<br />

nur aus der Reserve locken, ihr klar machen, dass nur die<br />

Polizei den Täter überführen und seiner gerechten Bestrafung<br />

zuführen konnte. Das war freilich leichter gesagt als<br />

getan. Die Polizei und die Justiz besaßen in dieser Bran-


che traditionell kein großes Ansehen. Die Bestechlichkeit<br />

einiger Vollstreckungsbeamten und die Gleichgültigkeit<br />

der Gerichte waren denkbar schlecht dazu geeignet, diesen<br />

Zustand zu verändern. Und Leute wie Berta konnten<br />

einen vielleicht als Mensch gut leiden, vergaßen aber bestimmt<br />

nie, dass man sich in zwei strikt getrennten Lagern<br />

befand.<br />

Die Sache würde also viel Zeit und Überredungskunst erfordern.<br />

Ersteres war nach Kimrod Einschätzung nur bedingt<br />

vorhanden. Man würde der Öffentlichkeit schnell einen<br />

Schuldigen präsentieren müssen. Die Wahlen standen<br />

bevor und die Senatoren der Justiz und des Inneren<br />

standen dementsprechend unter Druck. Der Bürger maß<br />

die Effizienz seiner Repräsentanten gern an der Auflösung<br />

solch blutgeschwängerter Trivialtragödien aus den Niederungen<br />

des horizontalen Gewerbes, mit dem zwar schon<br />

fast jeder Vertreter des männlichen Geschlechts im Rahmen<br />

von Initationsriten in Berührung gekommen war, das<br />

aber noch immer himmelweit davon entfernt war, gesellschaftlich<br />

anerkannt oder zumindest akzeptiert zu werden.<br />

Das Stückchen Normalität, das durch die formale Einordnung<br />

in die Selbständigensparte und die Gründung eines<br />

offiziellen Berufsverbandes erreicht worden war, verblasste<br />

angesichts der generellen Diskriminierung und Verachtung,<br />

die den Prostituierten weiter unverhohlen ins Gesicht<br />

schlug.<br />

Kimrod drückte seine Zigarette aus und verabschiedete<br />

sich von den Kollegen. Er vereinbarte mit Remke einen


Treffpunkt für morgen Mitttag und fuhr mit dem Dienstwagen<br />

nach Hause. Emma, seine Frau, hatte sich bereits<br />

Sorgen gemacht.<br />

„Ich dachte mir schon, dass was passiert sei. Du hättest<br />

dich aber auch mal melden können zwischendurch. Wo es<br />

doch wieder solche Krawalle gab im Stadion. Hat deine<br />

Verspätung damit zu tun?“<br />

Kimrod schlüpfte aus den Schuhen und ging neben seiner<br />

Frau vorbei in die Küche. Er hatte Hunger, außerdem wollte<br />

er erst einmal nichts mehr von den Ereignissen des Tages<br />

wissen.<br />

„ Im Kühlschrank sind Schnitten. Bier müsste auch noch<br />

da sein“, rief ihm Emma hinterher.<br />

Kimrod machte es sich gemütlich. Die Brote schmeckten<br />

herrlich, das Bier war erfrischend kühl. So ließ es sich leben.<br />

Emma wartete bis er fertig gegessen hatte und sich<br />

eine Zigarette anzündete.<br />

„ Also, was war denn heute so großartig los, an einem<br />

Samstag?“<br />

Kimrod stieß genüsslich kleine Rauchringe aus, nachdem<br />

er inhaliert hatte. Das war typisch. Sie ließ nicht locker bis<br />

er nachgab und ihr genauen Bericht erstattete. Er gab<br />

sich gerne geschlagen, denn ihre Anteilnahme war aufrichtig<br />

und manchmal auch hilfreich. Schon mehrmals hatte<br />

sich ihr gesunder Menschenverstand als nützlich erwiesen,<br />

wenn er in einem verzwickten Fall nicht weiterkam.<br />

Kimrod nannte sie deshalb in solchen Momenten scherz-


haft Watson, auch wenn sie sonst eigentlich gar nichts mit<br />

dem schrulligen Wald und Wiesendoktor gemeinsam hatte,<br />

der Sherlock Holmes bisweilen assistierte.<br />

Emma hatte Kimrod noch während ihrer Schulzeit kennen<br />

gelernt. Es war nicht einfach gewesen, den etwas scheuen<br />

jungen Mann zu erobern, der aus einfachen Verhältnissen<br />

stammte und es lange nicht glauben wollte, dass<br />

die piekfeine Professorentochter sich ernsthaft in ihn verknallt<br />

hatte. Doch Emma war hartnäckig und gab ihn auch<br />

dann nicht auf, als er Polizist wurde. Sie wurde mit dreiundzwanzig<br />

schwanger und beendete trotzdem erfolgreich<br />

ihr Biologiestudium. Sie hatten inzwischen geheiratet<br />

und sich eine kleine Wohnung genommen, wobei ihnen<br />

die finanzielle Unterstützung von Emmas Vater sehr gelegen<br />

kam, auch wenn Kimrod die pekuniäre Großzügigkeit<br />

des Gelehrten nur zähneknirschend akzeptierte. Aber als<br />

Polizeifachschüler durfte man nicht sehr wählerisch sein,<br />

besonders wenn man Frau und Kind zu versorgen hatte.<br />

Kimrod überwand den verbissenen Stolz des Proletariersprösslings<br />

und arrangierte sich schließlich mit der kosmopolitischen<br />

Bildungsbürgerfamilie seiner Frau, deren<br />

Mutter gebürtige Brasilianerin war und ebenfalls Vorlesungen<br />

an der Freien Universität hielt. Nachdem er zum<br />

Kommissar befördert worden war und sie die größten<br />

Geldsorgen hinter sich gelassen hatten, kam man sich<br />

auch menschlich näher und Kimrod wurde voll und ganz<br />

aufgenommen in den Klub der Intelligenzbestien, wie sein


Sohn Wolf diesen Teil des Stammbaums despektierlich titulierte.<br />

Der alte Professor, Emmas Vater, war ein wandelndes Lexikon<br />

und Kimrod hatte auch auf diesen Fundus schon öfters<br />

zurückgegriffen bei seinen kriminologischen Recherchen.<br />

Auch Emma war ihm intellektuell überlegen. Kimrod<br />

gestand sich das neidlos und ohne Groll ein, doch ab und<br />

an brachte sie ihre Herkunft zu penetrant ins Spiel. Sie<br />

entwickelte dann seines Erachtens nach richtigen Standesdünkel,<br />

dem er ebenfalls nur aus einer unterlegenen<br />

Position entgegentreten konnte. Doch in diesem Fall verstand<br />

er keinen Spaß. Auch wenn ihn mit seinen Eltern<br />

Zeit seines Lebens eher wenig verbunden hatte, brachte<br />

er ihnen heute mehr denn je ungeheuren Respekt entgegen.<br />

Trotz geringer Mittel allen Kindern eine hochwertige<br />

Bildung angedeihen zu lassen, war keine geringe Leistung.<br />

Kimrod wusste das spätestens seit der Einschulung<br />

seiner Kinder.<br />

Bücher, Taschenrechner, der oft nicht mehr den Anforderungen<br />

der Mathematiklehrer genügte, es sollte schon ein<br />

kleiner PC sein, Fahrkarten und Klassenausflüge. Überall<br />

wurde die staatliche Subventionierung zusammengestutzt<br />

und eingestellt. Wer dennoch in den Genuss öffentlicher<br />

Beihilfe kommen wollte, musste Bedürftigkeit nachweisen.<br />

Kimrod fiel das bei seinem Gehalt nicht schwer, auch<br />

wenn Emma durch ihr gelegentliches Jobben in einem Institut<br />

zu einer Verbesserung des Familieneinkommens<br />

beitrug. Unterm Strich blieb monatlich nur wenig übrig. Ein


Glück, dass Ingrid, die Tochter des Hauses, sich ein Stipendium<br />

erarbeitet hatte. Um so bitterer stieß es ihrem<br />

Vater auf, dass sie alles Stähler, diesem hanebüchenen<br />

Scharlatan, in den Rachen warf.<br />

Die Aussicht auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus für<br />

Emma war auch für die Familie verlockend, nicht nur aus<br />

finanziellen Gründen. Kimrod brachte immer häufiger das<br />

geringe Prestige seines Berufes mit der exotischen Lebensgestaltung<br />

seiner Kinder in Verbindung. Er hatte ihnen<br />

anscheinend durch sein Beispiel wenig geistigen<br />

Rückhalt und Orientierung bieten können. Beide gingen<br />

abgefeimten Bauernfängern auf den Leim, trotz des akademischen<br />

Blutes in ihren Adern, das, Ingrid hatte es bestätigt,<br />

noch immer heftig pulsierte. Wenn Emma den großen<br />

Sprung schaffte, ihre Erfolge auf kommunaler Ebene<br />

gaben Anlass zu berechtigten Hoffnungen, konnte sie sicherlich<br />

zur Reintegration der Kinder beitragen.<br />

Emma etablierte sich in der Partei immer stärker als Fachfrau<br />

für Wissenschaft und Forschung. Wenn die Wende<br />

endlich gelang und der angefaulte schwarze Moloch aus<br />

den Ämtern gejagt werden konnte, winkte vielleicht sogar<br />

ein Senatorenstuhl. Da die absolute Mehrheit höchstwahrscheinlich<br />

nicht erreichbar war, musste die SPD-<br />

Fraktion zwangsläufig in den sauren Apfel beißen und sich<br />

nach anderen kompromissfähigen Koalitionspartnern umsehen.<br />

Doch die waren rar. Die Ehe mit den Grünen war<br />

schon mehrmals gescheitert, doch alte Liebe rostet nicht.


Die Stimmen häuften sich, die empfahlen, in dieser Richtung<br />

verstärkt vorzufühlen.<br />

Die andere Alternative, die Sozialisten, war kaum verlockender.<br />

Die Nachfolgepartei der kommunistischen<br />

Staatsbankrotteure gewann jedoch zusehends an Profil,<br />

besonders bei den Jungwählern. Bei einigen Genossen<br />

stieg die pepige Linksaußenpartei immer mehr im Ansehen,<br />

schließlich hatte man bei allen divergierenden Entwicklungen<br />

gemeinsame Wurzeln. Und die Probleme des<br />

einfachen Mannes waren aktueller denn je.<br />

Die schweigende Mehrheit der Sozialdemokraten tendierte<br />

weder in die eine noch in die andere Richtung. Die radikalen<br />

Randparteien waren in den Augen vieler nicht<br />

bündnisfähig. Eine Zusammenarbeit machte keinen Sinn,<br />

da bei vielen essentiellen Themen von vornherein kein<br />

Grundkonsens bestand, zumindest in Berlin. Was blieb,<br />

waren die Rechtsextremen, die als Partner zwar noch<br />

immer indiskutabel waren, inzwischen aber über ein stabiles<br />

Stammwählerkontingent verfügten, das sie zu einem<br />

ernstzunehmenden Gegner machte.<br />

Insgesamt profitierten die Zwergparteien von ihrem Bürgerschreckimage.<br />

Die Protestwähler konnten den Herrschenden<br />

saftig eins auswischen, wenn sie ins extreme<br />

Lager abwanderten. Die Altparteien im Bundestag waren<br />

durch die langwährende Regierungskoexistenz stärker<br />

zusammengewachsen als beabsichtigt, konstruktive Opposition<br />

wurde nur noch von Außenseitern betrieben. Die<br />

Wahlen wurden deshalb sehnsüchtiger denn je erwartet.


Endlich mussten wieder demokratische Verhältnisse einkehren,<br />

die verfilzten Cliquen im Reichstag an die frische<br />

Luft gesetzt werden. Alle Umfragen bestätigten diesen<br />

Trend, so dass die Parteistrategen nicht umhinkamen, einer<br />

Fortsetzung und Neuauflage der Großen Koalition im<br />

Bundestag und den Länderparlamenten eine klare Absage<br />

zu erteilen.<br />

Kimrod war zwar im Grunde seines Wesens ein apolitischer<br />

Mensch, doch wenn er sich zum Urnengang aufraffen<br />

konnte, meistens brachte ihn Emma so weit, machte<br />

er bei der Union sein Kreuzchen. Die Innensenatoren<br />

wechselten häufig und der CDU-Kandidat war nicht immer<br />

der bessere, aber insgesamt lag die sicherheitspolitische<br />

Auslegung dieser Partei am ehesten auf seiner Linie, von<br />

den polternden law and order Sprüchen der Rechten einmal<br />

abgesehen, bei denen so manch frustrierter Kollege<br />

Zuflucht gesucht hatte. Auch Kimrod liebäugelte ab und<br />

an mit den braun angehauchten Rechtsauslegern, doch<br />

die oft mangelhaft ausgeprägte Integrität deren Propagandisten<br />

verhinderte bislang eine engere Anbindung an<br />

Personen und Programm der Blut und Bodenparteien. Er<br />

stieß sich ebenfalls an der aufgesetzt wirkenden Schlagwortpolitik<br />

der Ultrarechten, auch wenn die Regierungskoalition<br />

vieler ihrer Forderungen erfüllt hatte und eine<br />

Aufnahme aller Staaten des ehemaligen Ostblocks in die<br />

EU und NATO verhindert worden war.


In diesem Spektrum dominierte dumpfe Ausländerfeindlichkeit<br />

und Sündenbockabstempelungen, da war nichts<br />

gewachsen und tiefer begründet. Die Industrie und das<br />

Handwerk hatten zwar durchgesetzt, dass mehr billige Arbeitskräfte<br />

aus dem Osten und den Entwicklungsländern<br />

mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen ausgestattet<br />

wurden und dadurch das Lohnniveau gedrückt werden<br />

konnte, doch den Beweis, dass die drückende Arbeitslosenquote<br />

ursächlich allein mit dem Ausländeranteil in Verbindung<br />

stand, hatte noch niemand erbracht. Die Fremdenfeindlichkeit<br />

wurde von der scheinheiligen Boulevardpresse<br />

geschürt, die bestehende Missstände plakativ anprangerte<br />

und mit fetten Lettern ins Volksbewusstsein<br />

einbrannte. Wenn die so produzierte Gewalt wieder einmal<br />

eskalierte, war man mit Schuldzuweisungen schnell<br />

bei der Hand. Der autoritäre Staat schüre diese Konflikte,<br />

die Polizei habe nicht angemessen reagiert oder war gar<br />

der Bürger noch nicht reif für das toleranzerfordernde Zusammenleben<br />

in der multikulturellen Gesellschaft des einundzwanzigsten<br />

Jahrhunderts?<br />

Nichts haftete so sehr wie das gedruckte Wort, und Verbrechen<br />

wurden gerne nachgeahmt, aus welchen Gründen<br />

auch immer, so dass das potenzierende Element<br />

der Medien nicht hoch genug bewertet werden konnte.<br />

Die bluttriefenden Fernsehreportagen verleiteten leicht<br />

beeinflussbare Gemüter zur Folgetat. Anlässe zur enthemmenden<br />

Frustration gab es ebenfalls mehr als genug.


Die Politik spielte also auf mannigfache Weise in den<br />

Mordfall hinein. Es konnte also bestimmt nicht schaden,<br />

von berufener Seite eine Stellungnahme einzuholen. Emma<br />

setzte sich neben ihren Mann an den Küchentisch.<br />

„ Du rauchst wieder. War es wirklich so schlimm?“<br />

Kimrod drückte die Zigarette aus.<br />

„ Es geht. Zwar kein normaler Fall, aber wir sind schon ein<br />

gutes Stück vorangekommen. Dank HASSSO.“<br />

„ Wer ist das, euer neuer Hund?“<br />

„ Genau. Der alte Bullenbeißer geht in Pension und der<br />

amerikanische Bärenhund aus dem Siliconvalley tritt die<br />

Nachfolge an. Ein sehr gescheites Tier. Es ist eine wahre<br />

Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten.“<br />

„ Du willst mich auf den Arm nehmen. Hat Zefhahn mal<br />

wieder seinen Computer durch die Datenbanken gehetzt?<br />

Ich möchte nicht wissen, wo ihr eure Nase überall reinsteckt.<br />

Mit oder ohne Erlaubnis.“<br />

„ Ich auch nicht, ist mir aber egal. Der moderne Mensch<br />

lebt so, dass er nichts zu verbergen hat. Dann können einem<br />

sämtliche Datenschutzbeauftragte gestohlen bleiben.<br />

Die wahren Verbrechen finden im Kopf statt, dort wo keiner<br />

hinsehen kann. Was ich mir da manchmal ausmale...“<br />

Kimrod dachte an seine jungfräuliche Liaison mit den<br />

Rechten. Emma würde ihn aus dem ehelichen Schlafzimmer<br />

verweisen, wenn sie etwas davon wüsste. Gegen<br />

alles, was nach braun roch, entschieden auf die Barrikaden<br />

zugehen, war den Linken noch immer oberstes Pfadfindergebot.<br />

Emma bat ihn um eine Zigarette.


„ Das ist unfair. Nur weil du dich am Samstag mit einem<br />

stressigen Fall herumschlagen musst, fange ich wieder<br />

mit dieser Scheißqualmerei an. Führe mich nicht in Versuchung...“<br />

„ Psst, wenn das Ingrid hören würde. Die kann doch bestimmt<br />

schon alle Bibelsprüche rückwärts hersagen.“<br />

„ Nicht so laut. Deine religiöse Töchter liegt in der Wanne,<br />

in unserem Badezimmer.“<br />

„ Aber hallo. Ist ihrem Stähler das Manna ausgegangen<br />

oder was? Sie war doch bestimmt seit einem viertel Jahr<br />

nicht mehr hier.“<br />

„ Weil du sie immer wie eine Zehnjährige behandelst, die<br />

sich auf dem Rummelplatz in der Geisterbahn verirrt hat.“<br />

„ Ein treffender Vergleich. Stähler und Jahrmarkt, dort hat<br />

er bestimmt seine Karriere gestartet...in irgendeinem Nest<br />

in Texas oder Neumexico, in dem der Wüstenwind diese<br />

runden Büsche durch die Straßen treibt. Stähler steht in<br />

einem zerschlissenen Zirkuszelt auf dem obligatorischen<br />

durchlöcherten Whiskyfass und sabbelt vor einer Handvoll<br />

altersschwacher Zuhörer vor sich hin...<br />

lasst ab von eurem lästerlichen Treiben. Der Tag des<br />

Herrn naht und er wird furchtbares Strafgericht halten.<br />

Noch ist Umkehr möglich auf dem Pfad der Verdammnis.<br />

Der Herr wird die Seinen vor dem Zorn der Racheengel<br />

beschützen, doch wer sich von ihm abkehrt, fällt Satan<br />

anheim. Ich bin der Verkünder des Schicksals, nur wer mir<br />

spendet...Kasse links, Kasse rechts.


Emma klatschte amüsiert Beifall. Heute konnte er sich sogar<br />

einmal lustig machen über die Sektierer, die auch aus<br />

Parteikreisen regen Zulauf hatten.<br />

„ Bravo! Ich wusste schon immer, dass in dir ein Schauspieler<br />

steckt. Mein Gott, das war wirklich eine Nummer!<br />

Dass uns nur das Kind nicht hört, sonst sind wir sie endgültig<br />

los. Sie wollte etwas besprechen mit uns, mit uns<br />

beiden. Sie legt also noch Wert auf deine Anwesenheit. Es<br />

ist noch nicht alles verloren. Da kommt mir eine Idee. Wir<br />

könnten doch alle zusammen zum Essen gehen, zur Feier<br />

des Tages. Wär doch schön, nicht? Vielleicht kann ich<br />

Wolf noch erreichen. Der steckt natürlich schon wieder bei<br />

seinem Haufen, anstatt dass er sich mal nach einer<br />

Freundin umsehen würde. Aber was willst du machen? Ich<br />

rufe schnell in ihrem Hauptquartier an und danach erzählst<br />

du mir alles. Ich platze schon vor Neugier.“<br />

Emma verschwand im Flur um zu telefonieren. Aus dem<br />

Bad war gedämpftes plantschen zu hören. Wie oft war<br />

diese Reinigungsstätte heiß umkämpft gewesen, als die<br />

Kinder noch zur Schule gingen? Besonders kritisch war<br />

die Lage geworden, nachdem Ingrid ihr elftes Lebensjahr<br />

vollendet hatte und beschloss, eine Dame zu werden, die<br />

sich schminken musste und sehr viel Wert auf ihr Äußeres<br />

legte. Es war nicht leicht gewesen, sie davon zu überzeugen,<br />

dass es auch noch andere Personen im Haushalt<br />

gab, die sich frühmorgens waschen und Zähne putzen<br />

mussten. Sie stand danach tatsächlich für ein paar Wochen<br />

um fünf Uhr auf, um ihr Programm störungsfrei ab-


solvieren zu können. Ein Dickkopf, der es gewohnt war,<br />

bei der Verwirklichung seiner Pläne auch dornenreiche<br />

Pfade einzuschlagen.<br />

Emma hatte ihr Gespräch beendet.<br />

„ Ich habe nichts anderes erwartet. Dein Sohn ist unabkömmlich.<br />

Sie feiern den Abschluss der Freiluftsaison auf<br />

dem Dachsberg. Anwesenheit ist Pflicht. Weißt du übrigens,<br />

dass dein Sohn den Waffenschein beantragt hat?<br />

Totschs Offiziere haben alle einen. Ich mache mir Sorgen,<br />

jetzt werden sie ihn mit immer gefährlicheren Aufgaben<br />

betrauen. Kann man denn so was nicht verhindern? Ich<br />

meine, bevor es zu spät ist und man sich hinterher Vorwürfe<br />

machen muss, weil man nicht rechtzeitig eingeschritten<br />

ist.“<br />

Kimrod schüttelte seufzend den Kopf.<br />

„ Totsch ist ein Mann der Regierung, mit sehr guten Verbindungen<br />

nach oben. Er kann sich rausnehmen, was er<br />

will. Die Polizei ist ja unfähig, korrupt und streikt ständig.<br />

Also muss man sich jemand anders suchen, der für Ordnung<br />

und Sicherheit sorgt. Jeder Vorstadtschläger wird<br />

mit einer scharfen Waffe ausgestattet und darf ungestraft<br />

durch die Gegend ballern. Der Bürger will es so. Gegen<br />

die Kriminellen und Asozialen, die auf der Straße herumlungern,<br />

ist nun mal kein anderes Kraut gewachsen. Sollen<br />

sie doch! Mir können schon langsam alle gestohlen<br />

bleiben!“<br />

„ Aber Wolf ist doch kein Vorstadtschläger. Mir gefällt dieser<br />

Totsch zwar auch nicht, aber der Junge sieht das als


Chance, etwas aus sich zu machen. Es kann nicht jeder<br />

ein Einstein werden. Diesen Drang zum Ordnungshüter<br />

hat er vielleicht von dir geerbt. Und irgendwas muss er<br />

machen, um ein selbständiges Leben zu führen. Mir gefällt<br />

dieser martialische Aufzug auch nicht. Das militärische<br />

Gehabe und die kindische Geheimniskrämerei<br />

ebenso wenig, aber das gehört bei solchen Organisationen<br />

einfach mit dazu. Und nützlich sind sie doch in mancher<br />

Beziehung. Die Polizei kann doch schlecht für alles<br />

und jeden den Bodyguard spielen. Die Camos können in<br />

dieser Richtung viel flexibler vorgehen. Sie sind neutral<br />

und keiner Partei und keinem Politiker verpflichtet. Sie<br />

machten es sich zur Aufgabe, das Land vor Störenfrieden<br />

zu schützen und dem Bürger wieder ein ausreichendes<br />

Maß an Sicherheit zu verschaffen. Jetzt der Wahlkampf.<br />

In der ganzen Hektik und leider Gottes auch Brutalität der<br />

Veranstaltungen würde die freie Meinungsäußerung, ein<br />

elementarisches demokratisches Grundrecht, doch ohne<br />

die Camos nicht mehr möglich sein. Die Störer und Provokateure,<br />

wer sonst würde sie zur Räson bringen und an<br />

der Durchführung ihrer Vorhaben hindern? Von den verkappten<br />

und tatsächlichen Attentätern ganz zu schweigen.<br />

Ich meine, es kommt doch genug vor. Die Polizei allein ist<br />

den sehr rauen klimatischen Bedingungen nicht mehr gewachsen.<br />

Entweder wird überreagiert oder überhaupt<br />

nicht. Bei Totsch und seiner Truppe wissen die Chaoten,<br />

was sie zu erwarten haben. Die sind kampfsportmäßig


ausgebildet und wirken allein schon durch ihre Anwesenheit.“<br />

„ Deswegen braucht dein Sohn auch einen Waffenschein.<br />

Er darf deine Chaoten und Provokateure ruhig durchlöchern.<br />

Von ihm hat keiner etwas anderes erwartet. Ich<br />

dachte, Totsch wäre nur bei den Rechten so beliebt. So<br />

kann man sich täuschen. Mit Totsch und seiner Truppe<br />

werdet ihr euch noch sauber ins eigene Fleisch schneiden.<br />

Der stürzt sich doch wie ein Vampir auf jeden Blutstropfen,<br />

der in Deutschland vergossen wird, um ihn für<br />

seine Zwecke eiskalt und berechnend auszuschlachten.<br />

Das Einzige, wem sich der verpflichtet fühlt, ist seine<br />

Geldbörse. Sonst interessiert den nichts. Vielleicht noch<br />

die Befriedigung seiner Machtgelüste. Wahrscheinlich findest<br />

du ihn deshalb so sympathisch. Dein Drang in die<br />

große Politik erklärt da vieles. Ihr Sozis seid für mich auf<br />

jeden Fall gestorben. Wieder eine Stimme weniger.“<br />

Kimrod griente. Seltsam, sein Gehirn schien außergewöhnlich<br />

viele Glückshormone zu produzieren. Bei dem<br />

ganzen Müll, den er sich heute anhören musste, verlor er<br />

partout nicht seine gute Laune.<br />

„ Ja, ja, du und deine Rechten. Die musst du wählen,<br />

sonst wirst du nie Zefhahns Nachfolger“, konterte Emma<br />

trocken.<br />

„ Es würde auch kaum einen Unterschied machen, wenn<br />

man dich so reden hört. Aber ihr Sozialdemokraten zeichnet<br />

euch traditionell durch einen strammen innenpoliti-


schen Kurs aus, wenn ihr tatsächlich in der Regierungsverantwortung<br />

steht. Und Zefhahns Stuhl ist schon lange<br />

vergeben. Härtlein ist bereits heute wieder von unserem<br />

Fall abgezogen worden. Der Gute soll sich wohl nicht die<br />

Hände schmutzig machen. Fürs Grobe gibt es so nützliche<br />

Idioten wie mich. Soko Spreetöchter wurde auf vier<br />

Mann reduziert. Noch bevor wir richtig zu arbeiten angefangen<br />

haben. Nur noch Maikovsky, Herder, Remke und<br />

ich.“<br />

„ Eine starke Truppe, in der Tat. Auf wen werdet ihr losgelassen?<br />

Spreetöchter, das hört sich so romantisch an.“<br />

„ Ist es aber leider Gottes nicht. Zwei Callgirls wurden<br />

grausam ins Jenseits befördert. Deutschtürkinnen oder<br />

Türkischdeutsche, ich weiß nicht, wie man das nennt. Auf<br />

alle Fälle eine sehr unsaubere Angelegenheit. Ich will jetzt<br />

nach dem Essen nicht näher ins Detail gehen. Die Tat wird<br />

eine Menge Staub aufwirbeln. Zefhahn hat die Herren von<br />

der Presse bereits eingehend informiert. Wir werden uns<br />

also sputen müssen. Sogar morgen wird malocht. Zefhahn<br />

will mal wieder nach oben glänzen.“<br />

„ Und wo hat sich das Ganze ereignet?“<br />

„ Die Leichen wurden in der Grenzallee gefunden. In der<br />

Nähe von so einer Containersiedlung mit Bauarbeitern.<br />

Auf den Schenkeln der Mädchen wurden Wolfsrachen<br />

eingebrannt. Weißt du, wofür das steht?“<br />

„ Nein, keine Ahnung. Vielleicht hat sich da einer zu viele<br />

alte Gruselfilme reingezogen.“


„ Du liegst gar nicht so verkehrt. Dieser Wolfsrachen ist<br />

laut Zefhahn das Erkennungszeichen einer Nazipartisanentruppe,<br />

die am Ende des dritten Reiches in Erscheinung<br />

getreten ist.“<br />

„ Und so viele Jahre später soll sie wieder mit einem Doppelmord<br />

auf sich aufmerksam machen, deutsches Blut<br />

vergießen?“<br />

„ Wirkt reichlich konstruiert, das Ganze. Da hast du recht.<br />

Deutsch sind beide zur Hälfte. Das schließt doch einen<br />

aus rein rassischen Motiven, oder wie man das auch immer<br />

nennen soll, handelnden Mörder aus. Wenn man mit<br />

halb, viertel und achteldeutsch anfängt, kann man ganz<br />

Berlin zur ethnischen Säuberung freigeben.“<br />

„ Eigentlich die ganze Welt...“<br />

„ Und den ganzen Kosmos. Alles hat einen gemeinsamen<br />

Ursprung.“<br />

Diese Sentenz wurde von Ingrid beigesteuert, die in einen<br />

engen Bademantel gehüllt in der Tür erschienen war. Von<br />

ihrer Mutter hatte die sehr energisch wirkende Studentin<br />

die langen blonden Haare und von ihrem Vater die kräftige,<br />

doch sportlich wirkende Nase geerbt. Kimrod stand<br />

auf und begrüßte sie mit zwei Küssen auf die Wangen.<br />

„ Na, du lässt dich auch mal wieder blicken. Ich dachte<br />

schon, du weißt gar nicht mehr, wo deine Heimat ist. Du<br />

siehst gut aus, mein Prachtmädel.“<br />

„ Du auch, Paps. Wie geht!s denn so? Wie ich höre, bist<br />

du schon wieder fleißig am Arbeiten. Das bedeutet bei dir


nichts Gutes. Ich meine, wenn du aktiv wirst, tragen andere<br />

Trauer.“<br />

„ Na, na. Der Sensenmann bin ich aber nicht. Wir räumen<br />

nur die Reste weg und wollen verhindern, dass die bösen<br />

Buben ein zweites Mal zuschlagen.“<br />

„ Bei Claudia kamt ihr aber zu spät. Sie war eine Bekehrte,<br />

ein Mitglied unserer Gemeinde. Ich hoffe, das wird sich<br />

auf das Aufklärungstempo nicht nachteilig auswirken.“<br />

Kimrod war verblüfft. Seine Tochter war über die Tragödie<br />

bereits informiert.<br />

„ Woher weißt du, dass das Mädchen ermordet wurde?<br />

Sie hat doch hier keine Angehörigen, nur einen Bruder,<br />

den wir erst morgen benachrichtigen wollten.“<br />

„ Vielleicht hat sie keine Angehörigen, aber sie hat uns,<br />

die Gemeinde. Jemand von euch hat unsere Verwaltung<br />

verständigt und da ich einige Meditationskurse leite, die<br />

Claudia teilweise besuchte, hat man mich eingeschaltet,<br />

um die Umstände ihres Todes zu klären. Die Gemeinde<br />

lässt niemanden im Stich.“<br />

„ Moment. Ich denke, das ist meine Aufgabe. Davon lässt<br />

du lieber die Finger. Du könntest sie dir ordentlich verbrennen.<br />

Das werde ich zu verhindern wissen. Schließlich<br />

bist du meine geliebte Tochter, die ich nicht so einfach<br />

gemeingefährlichen Kriminellen ausliefere. Du kannst dir<br />

die Leichen gerne ansehen in der Gerichtsmedizin. Glaube<br />

kaum, dass du danach noch großartig Lust verspürst,<br />

dich mit der Sache näher zu beschäftigen.“


„ Du unterschätzt mich, Vater. So schnell bin ich nicht<br />

kleinzukriegen. Zuallererst muss für eine ordnungsgemäße<br />

Beerdigung gesorgt werden. Die Leiche wird verbrannt<br />

und die Urne von ausgewählten Bekehrten mit unserem<br />

Ritus bestattet. Dazu bräuchten wir noch ein paar persönliche<br />

Gegenstände von ihr: Kleidung, Schuhe etc. Das<br />

lässt sich doch sicher bis zum Dienstag oder Mittwoch der<br />

kommenden Woche bewerkstelligen, oder?“<br />

„ Moment, meine Liebe. Wann die Leichen freigegeben<br />

werden, entscheidet die Staatsanwaltschaft. Und in die<br />

Wohnung dürfen später vielleicht die Eltern oder der Bruder.<br />

Ihr jedoch mit Sicherheit nicht. Ich würde mir die Behausung<br />

gerne zuerst selber ansehen. Irgendwas findet<br />

man immer. Aber ich werde dir bestimmt nichts<br />

mitbringen...du musst gar nicht so beleidigt dreinschauen.<br />

Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter. Oder macht Stähler<br />

jetzt auch noch auf Voodoo? Sonst hat er doch schon<br />

alle möglichen und unmöglichen Glaubensrichtungen und<br />

Kulte abgegrast.“<br />

Emma versuchte, ihren Gatten zu bremsen.<br />

„ Max, fangt doch nicht schon wieder zum Streiten an. Es<br />

muss doch nicht immer in der gleichen Schiene verlaufen.<br />

Spätestens nach fünf Minuten kriegt ihr euch in die Haare.<br />

Immer wegen diesem Stähler. Dabei habt ihr euch früher<br />

so gut verstanden. Nun bleibt mal hübsch friedlich, alle<br />

beide.“<br />

Ingrid hob trotzig den Kopf.


„ Lass nur, Mutti. Er kann James nicht beleidigen. Dazu<br />

steht James zu weit über...“<br />

Ingrid zögerte. Die Formulierung geriet ihr etwas zu<br />

scharf.<br />

„ Ja komm, sprich es nur aus. Ich, der kleine Polizist, bin<br />

der letzte Trottel im Land. An mir darf jeder das Bein heben,<br />

besonders dein James. Wenn ich das bloß höre...<br />

James...der Kerl heißt doch Johannes oder Hans mit Vornamen.<br />

Wenn er den Amis nicht so viel Ärger bereitet hätte,<br />

säße er doch heute noch. Vielleicht sogar in der Todeszelle.<br />

Der Hund hatte sich nur zu gut abgesichert. Die<br />

oberen Zehntausend gaben sich in seinen Séancen die<br />

Türklinke in die Hand. Möchte nicht wissen, was die ihm<br />

alles gebeichtet haben, die Herren Senatoren und Manager.<br />

Da kann unsereins natürlich nicht mithalten.<br />

Max...Max und Moritz, das ist das Einzige, was den Leuten<br />

dazu einfällt.“<br />

Kimrods Empörung war nur teilweise gespielt.<br />

„ Du Armer. So, und jetzt vertragt ihr euch wieder. Schluss<br />

mit Stähler und Morden. Da vergeht einem doch der ganze<br />

Appetit. Paps will uns nämlich zum Essen einladen.<br />

Mach einen Vorschlag, Ingrid.“<br />

Emma ließ wie üblich keine Zweifel darüber aufkommen,<br />

wer zu Hause den Ton angab.<br />

„ Ist mir egal. Hauptsache, man kann gut essen. Wir sind<br />

fast alle Vegetarier. Da verlässt man sich lieber auf die eigenen<br />

Kochkünste“, erklärte Ingrid desinteressiert.


Kimrod zündete sich wieder eine Zigarette an. Auch daheim<br />

musste man sich noch auf strapaziöse Diskussionen<br />

einlassen. Dieser verfluchte Doppelmord verfolgte ihn<br />

noch bis ins Schlafzimmer. Es fehlte nur noch, dass die<br />

andere, diese Roschmann, SPD-Frauenbeauftragte gewesen<br />

war oder so was Ähnliches.<br />

Kimrod musterte seine stramm gebaute Tochter prüfend.<br />

„ Bist du schwanger, Herzchen oder ist dir nur der Bademantel<br />

deiner Mutter zu klein?“<br />

Ingrid lächelte verschmitzt<br />

„ Willst du auch wissen, wer sich an deiner Tochter vergangen<br />

hat? Dreimal darfst du raten...“<br />

„ Der gute alte James womöglich. Na dann sind wir unsere<br />

Sorgen endgültig los. Deine Mutter wird Wissenschaftssenatorin,<br />

du heiratest einen zigmillionenschweren<br />

Seelenbaron und unser Sohn wird Leibwächter vom Bundespräsidenten.<br />

Da kann man sich so zum Vergnügen<br />

auch noch einen Kriminalkommissar halten. Eine tolle<br />

Familie, wirklich! Wir sollten uns beim Fernsehen bewerben.“<br />

Kimrods Stirn warf erneut Falten. Wenn das mehr als nur<br />

ein schlechter Witz war...<br />

,,Das kommt noch früh genug. Jetzt wissen wir aber immer<br />

noch nicht, wo es hingehen soll. Max bitte, zur Abwechslung<br />

etwas Konstruktives. Schließlich bist du der<br />

edle Spender“, sagte Emma bestimmt.<br />

Kimrod hatte sich bereits entschieden.


„ Also wenn ich bezahlen soll, kommt nur die Frittenbude<br />

um die Ecke in Frage.“<br />

„ Jetzt drückt er sich. Außerdem habe ich nur zugenommen,<br />

weil ich mich nicht mehr so anstrengen muss an der<br />

Uni. Mein Stipendium habe ich sicher in der Tasche, die<br />

Zwischenprüfung ist im Kasten...“<br />

Ingrid wurde von ihrem Vater unterbrochen.<br />

„ Und jetzt kommt das dolce vita. Aber steht dir gut, im<br />

Ernst. Wenn ich nicht dein Vater wäre... ich werde euch<br />

doch ins Naxos entführen müssen, die griechische Kaschemme<br />

gleich am Branitzer Platz. Da sind wir in zehn<br />

Minuten vor Ort, zu Fuß natürlich. Ich bin heute schon genug<br />

durch die Gegend gegondelt.“<br />

„ Hast du gehört, Ingrid. Dein Vater lädt dich zum Griechen<br />

ein, in seiner unverwechselbar nonchalanten Art. Also<br />

manchmal, mein Lieber, wenn ich dich nicht schon so<br />

lange kennen würde...“<br />

„ Gottverdammte Weiber! Euch kann man wirklich nichts<br />

recht machen. Und Wolf klemmt den Schwanz ein und<br />

lässt mich mit der Horde allein. Vielleicht wäre es am besten,<br />

wenn ich euch fünfzig Euro gebe und zu Hause bleibe.<br />

Ich hol mir an der Tankstelle ein paar Bier und ihr seid<br />

mich los.“<br />

„ Warum klemmt Wolf den Schwanz ein, wie du dich so<br />

treffend ausdrückst? Feigheit konnte man ihm doch noch<br />

nie nachsagen“, wollte Ingrid von ihrem Vater wissen.<br />

„ Ich bin nun mal ein einfaches Proletariergewächs, mit<br />

dem deine Mutter übrigens sehr erfolgreich vor ihren Ge-


nossen angibt. Wir aus den unteren Klassen pflegen uns<br />

nicht so gewählt wie ihr, die kultivierte Elite, auszudrücken.<br />

Ich wollte damit nur sagen, dass dein Bruder wieder<br />

einmal eine familiäre Diskussion mit ziemlich konträren<br />

Standpunkten scheut. Zu so was wird doch der Abend bestimmt<br />

ausarten. Eine Frage zu vorhin hätte ich noch, als<br />

du an der Tür gehorcht hast. Woher wusstest du, dass ich<br />

mit der Aufklärung des Falls betraut wurde?“<br />

„ Ich habe nicht gehorcht. Ihr schreit nur so laut, dass ich<br />

sogar unterm Föhnen alles mitbekommen habe. Unser<br />

Büro hatte sich bereits mit euch in Verbindung gesetzt,<br />

das ist alles. Wir sind nicht überall so schlecht angesehen<br />

wie bei dir. Der Senator für kulturelle Angelegenheiten<br />

bescheinigte dem Feldzug Gottes kürzlich eine soziologisch<br />

wertvolle Ausrichtung. Das Christentum erhält durch<br />

Reverend Stähler endlich wieder dynamische Impulse, die<br />

sich durchaus mit den Zielen der beiden Altreligionen vereinbaren<br />

lassen. Eine Mehrung des positiven Einflusses<br />

unserer Gemeinde wird auch von maßgeblichen Teilen der<br />

Regierung gewünscht. Deshalb weiß ich so gut Bescheid,<br />

weil man auch am Fehrbelliner Platz der Auffassung ist,<br />

dass die Gemeinde durchaus in die Arbeit der Polizei mit<br />

einbezogen werden sollte.“<br />

„ Schön langsam wäre mir das auch lieber. Die Angelegenheit<br />

wir immer verwickelter. Jetzt ist die Luper, oder<br />

besser gesagt war sie, auch noch Mitglied in einer großen<br />

Sekte. Wie viele Bekehrte gibt es denn überhaupt in Berlin?“<br />

fragte Kimrod seine Tochter.


„ An die zehntausend. Auf Bundesebene sind wir schon<br />

seit längerem sechsstellig. Genaue Zahlen habe ich nicht<br />

im Kopf. Claudia hat übrigens ein Testament hinterlassen.<br />

Ihr Vermögen hat sie der Gemeinde vermacht, wie alle<br />

von uns. Die Eltern und ihr Bruder sollen nur ein paar persönliche<br />

Gegenstände erhalten. Der Täterkreis ist also<br />

enorm gewachsen.“<br />

„ Eigentlich nur um einen Mann: Hänschen Stähler. Die<br />

dicken Brocken reserviert er doch für sich selber. Seine<br />

Bekehrten dürfen sich um die Brosamen balgen.“<br />

„ Ach ja, und warum und womit hat er unsere Supermärkte<br />

und Bauernhöfe gekauft, mit Hosenknöpfen vielleicht?<br />

Das sind nur die Vorurteile der Missgünstigen und Neider.<br />

Materieller Besitz hat bei uns keinen so großen Stellenwert<br />

wie in euren Köpfen. Die Gemeinde lebt hauptsächlich<br />

vom Zusammenhalt und dem Enthusiasmus der Bekehrten.“<br />

„ Und vom schnöden Mammon! Fliehet die Unzucht. Alle<br />

Sünden, die der Mensch tut, sind außer seinem Leibe;<br />

wer aber Unzucht treibt, der sündigt an seinem eigenen<br />

Leibe, Korinther, Kapitel sechs, Vers 18; Haben die Taler<br />

deiner Claudia nicht ein paar unschöne Flecken abbekommen?<br />

Flecken, die stören auf dem schlichten, doch<br />

reinen Gewande des großen Meisters?“<br />

„ Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet, Matthäus,<br />

Kapitel sieben,Vers 1 und Du Heuchler, zieh erst<br />

den Balken aus deinem Auge, danach sieh zu wie du den<br />

Splitter aus deines Bruders Auge ziehest, ebenfalls Kapi-


tel sieben,Vers 5; Viele sind berufen, aber wenige sind<br />

auserwählt, Matthäus zwanzig, Vers 16; so viel zu Claudia<br />

und James. Ich weiß übrigens überhaupt nicht, ob überhaupt<br />

ein Vermögen da ist. Sie war doch noch so jung,<br />

kaum älter als ich.“<br />

Emma seufzte schwer. Jetzt beharkten sie sich auch<br />

noch mit Bibelzitaten.<br />

„ Kinder, das wird mir zu anstrengend mit euch. Ich lege<br />

mich noch für eine halbe Stunde aufs Ohr. Bis dahin dürftet<br />

ihr euren Disput schon ausgefochten haben. Also bis<br />

gleich.“<br />

Emma ließ die Tür hinter sich demonstrativ aussperrend<br />

ins Schloss fallen. Sie war die häuslichen Debatten nicht<br />

mehr gewohnt und musste sich etwas Distanz verschaffen.<br />

„ Noch ein Wunder. Deine Mutter verlässt die Runde ohne<br />

das letzte Wort gehabt zu haben. Mein Kalender quillt<br />

heute über vor dicken Eintragungen. Du tust gut daran,<br />

dich an die Vorgabe deiner Mutter zu halten. Abmarsch in<br />

einer halben Stunde. Eine Verspätung wird als Insubordination<br />

gewertet und streng bestraft. Entschuldigungen<br />

sind nur mit Beifügung eines ärztlichen Attests gültig.<br />

Nichtachtung wird mit Zwangsvorführung vor den Fraktionsausschuss<br />

geahndet, Verweildauer nicht unter zwei<br />

Stunden. Das Urteil kann auch durch den Strang vollstreckt<br />

werden“, bemerkte Kimrod amüsiert.


„ Na wenigstens hast du dir deine gute Laune nicht verderben<br />

lassen. Mir war heute gar nicht zu lachen zumute.<br />

Die armen Mädchen..“<br />

„ Ja, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Wahrscheinlich<br />

bin ich wieder jenseits von Gut und Böse angelangt.<br />

Ich werde jetzt auf jeden Fall erst einmal die Fische füttern.<br />

Oder hast du schon?“<br />

„ Nein. Ich bin doch hier bloß noch so was wie ein Gast.<br />

Ein Fisch ist glaube ich hinüber. Er schwamm jedenfalls<br />

mit dem Rücken nach unten.“<br />

„ Und mit dem Bauch nach oben. Das ist meistens ein untrügliches<br />

Zeichen. Ich werde mir die Sache selber ansehen.“<br />

Kimrod stand auf und ging ins Wohnzimmer. Das dicht<br />

bepflanzte Becken versteckte sich verschämt neben dem<br />

imposanten Bücherregal in der Ecke. Auch dieser Platz<br />

war nicht einfach zu ergattern gewesen. Emma hielt Aquarien<br />

grundsätzlich für spießig und traute der Technik nicht<br />

über den Weg. Die Scheibe könnte doch platzen und die<br />

glibberigen Fische wurden nachts aus ihrem Verließ kriechen.<br />

Kurzum, die sündteure Wohnzimmereinrichtung<br />

schwebte ihrer Meinung nach seit der Anschaffung der<br />

putzigen Haustiere in höchster Gefahr. Erst als der Verkäufer<br />

eine zehnjährige Garantie auf das Glas und den<br />

Rahmen gab, zerstreuten sich ihre Bedenken ein wenig<br />

und die Fischlein durften einziehen in den hehren Hort<br />

deutscher Bürgerlichkeit.


Denn die Spießige war eigentlich sie. Nur Kleingeister<br />

zeichneten sich doch durch sterile Tierfeindlichkeit aus.<br />

Bloß kein Dreck und die ganzen feinen Bleisatzausgaben<br />

der Memoiren und Reflektionen einstiger und heutiger bedeutender<br />

Sozialdemokraten wie Wehner, Brandt,<br />

Schmidt und Kolz immer auf Hochglanz poliert. Kolz galt<br />

als genialer Baumeister der großen Koalition, der die Maschinerie<br />

am Laufen hielt und mit schöner Regelmäßigkeit<br />

seine Gedanken zu den Themen der Zeit zu Bestsellern<br />

verarbeitete. Damit leistete er keinen unwesentlichen Beitrag<br />

zur Popularität der Regierung, deren Stern jedoch<br />

schon lange am Verblassen war, denn zu viele Versprechen<br />

blieben unerfüllt. Im Licht der kalten Realität entpuppten<br />

sich verheißungsvolle Formulierungen als abgedroschene<br />

Phrasen, die auch nicht durch mehrmaliges<br />

Wiederkäuen an Überzeugungskraft gewannen.<br />

Ingrid hatte recht gehabt. Einer der grünlich phosphoreszierenden<br />

Guppys war schon in Auflösung begriffen. Eine<br />

fette Schnecke hatte es durch ein unbegreifliches Manöver<br />

geschafft, sich an den Kadaver zu heften. Das hatte<br />

man davon, wenn man zu sehr mit dem Auge kaufte. Die<br />

geselligen Fische schimmerten zwar schön in dem etwas<br />

mystischen UV-Licht, doch sie schienen nicht sehr robust<br />

zu sein. Drei Abgänge innerhalb von zwei Wochen. Da<br />

war das Ende abzusehen. Oder wurde diese Empfindlichkeit<br />

absichtlich mit angezüchtet, um den Kunden zu<br />

Nachkäufen zu veranlassen und die durch Sonderangebo-


te bedrohte Kalkulation so wieder in den Plusbereich zu<br />

bringen? Zehn Fische dreißig Euro. Nach fünf Wochen<br />

noch einmal dreißig Euro, um allen Eventualitäten vorzubeugen.<br />

Vielleicht lag es wirklich nur am Futter. Macht<br />

insgesamt sechzig Euro. Da kamen Groß- und Einzelhandel<br />

schon wieder eher auf ihre Kosten. Wurde man<br />

denn wirklich nur noch hereingelegt, sogar bei einer solch<br />

harmlosen Transaktion wie dieser?<br />

Kimrod überließ der Schnecke gerne den Festschmaus.<br />

Ihr Einsatz als Gesundheitspolizei war von der Natur so<br />

vorgesehen und hatte sich in Jahrmillionen bestens bewährt.<br />

Blieb nur die Frage, wie es das gewitzte Weichtier<br />

bewerkstelligt hatte, an die Wasserleiche anzudocken.<br />

Wenn die Viecher an der Scheibe nach oben glitten bis<br />

zur Oberfläche, konnten sie dort Luft tanken und mit diesen<br />

Gaseinlagerungen ihren Auftrieb erhöhen, so dass einer<br />

zeitlich begrenzten Schwimmrunde nichts mehr im<br />

Weg stand. Aber wie den Guppy anpeilen, die Strömung<br />

berechnen, die durch den Filter erzeugt wurde?<br />

Hatte die Schnecke vom Boden aus den Zahnkarpfen erspechtet<br />

und dann eine gezielte nautische Aktion eingeleitet,<br />

die jedem Korvettenkapitän zur Ehre gereicht hätte?<br />

Oder war alles nur Zufall? Ein hirnloser, bedeckelter Muskel<br />

erreichte durch Planlosigkeit, die mathematisch prognostizierbar<br />

war, das angepeilte Ergebnis. Zehn Versuche,<br />

neun Fehlschläge, ein Treffer.<br />

Ob Emma etwas zur Lösung des Problems beitragen<br />

konnte? Sie hatte doch studiert und alles. Vielleicht, sie


war Molekularbiologin und hatte sich noch nie für sein<br />

Steckenpferd interessiert. Was nicht unters Mikroskop<br />

passte, war nicht erforschenswert. Zu handgreiflich, um<br />

ihren Akademikerverstand zu reizen. Die Spezialisierung,<br />

die in allen Berufen erforderlich war, brachte viele Nachteile<br />

mit sich. Das große Ganze, der Gesamtzusammenhang<br />

und das Wissen um die Vernetzung alles Gewachsenen<br />

und Lebendigen, das besonders in den Naturwissenschaften<br />

wichtig war, verschwanden aus dem Blickfeld.<br />

Wichtige Tatsachen wurden unterschlagen oder an<br />

den Rand gedrängt. Ein elementares Stück der Wirklichkeit<br />

kam abhanden. Wie die Zunge funktionierte, mit der<br />

die Schnecke die Gräten des Guppys so hurtig freilegte,<br />

konnte sie ihm wahrscheinlich beschreiben. Ebenso die<br />

Zusammensetzung des Gehäuses, doch wie intelligent<br />

war das Tier, gab es noch andere, höhere Kommandostrukturen<br />

als die angeborenen Instinkte?<br />

Wusste sie, die Schnecke, das sie gerade eine Leiche<br />

fledderte oder war das nur ein einfach erreichbarer<br />

Fleischbrocken, der schön weich und leicht verdaulich<br />

war. Irgendwie kamen ihm diese Beobachtungen bekannt<br />

vor. Eine Schnecke, die auf der Schneide eines Rasiermessers<br />

entlanggleitet. Dazu das anschwellende Dröhnen<br />

von Helikopterrotoren, Napalmabwürfe, die Musik der<br />

Doors, Marlon Brando, Martin Sheen. Die Bilder nahmen<br />

deutlichere Formen an. Genau, ein alter Kriegsfilm, Coppolas<br />

Apocalypse Now. Erst vor zwei Jahren war er doch<br />

in einem alten, schäbigen Programmkino gelaufen, zu-


sammen mit anderen Oldies aus Hollywoods glorreicher<br />

Vergangenheit. Eine Retrospektive auf die Siebziger und<br />

Achtziger des vergangenen Jahrhunderts, oder Jahrtausends...<br />

aber hatte sich wirklich schon so viel geändert,<br />

eine neue Epoche?<br />

Ein Colonel, der über die von ihm und seinen Feinden<br />

verübten Untaten den Verstand verliert, zur bluttrinkenden<br />

Dschungelgottheit mutiert und von einem Kameraden, einem<br />

Hauptmann, der ebenfalls vom Krieg zerbrochen<br />

wurde, ins ersehnte Jenseits befördert werden muss.<br />

Würde das heutzutage noch ein Regisseur auf die Leinwand<br />

bannen?<br />

Wohl kaum. Kriege gab es nach wie vor, genauso wie Filme<br />

darüber, doch die Distanz war gewachsen. Das Publikum<br />

war abgehärtet, teils durch entsetzliche Fernsehbilder,<br />

teils durch eigene Erfahrung. Die Bundeswehr unterhielt<br />

eine hochmobile Einsatzreserve, die im Bedarfsfall<br />

auf drei Divisionen aufgestockt werden konnte und von<br />

der UNO gerne und häufig angefordert wurde. Auch<br />

Wehrpflichtige wurden in Dritte Weltländern und anderswo<br />

als angebliche Friedenswächter und Deeskalationskatalysatoren<br />

eingesetzt. Die schwelenden Bürgerkriege begannen<br />

oft noch während der Anwesenheit der UNO-<br />

Truppen zu lodern und lichterloh zu brennen. Aufständische<br />

mussten mit Waffengewalt befriedet und an den Verhandlungstisch<br />

gezwungen werden. Der Tod wurde deshalb<br />

auch schon manchmal Zwanzigjährigen zum vertrauten<br />

Weggefährten. Die Nation schloss auf und bildete


gleichfalls einen robusten Panzer aus, der unangebrachte<br />

Gefühlsduselei erst gar nicht aufkommen ließ. Man war<br />

wieder wer und man war imstande und gewillt, die damit<br />

verbundenen Konsequenzen zu tragen. Nicht alle Teile<br />

der Bevölkerung natürlich. Opposition gegen diese Auffassung<br />

kam sowohl von links als auch von rechts.<br />

Der Pazifismus der Arbeiterschaft war seit ihrer Politisierung<br />

und Bewusstseinsbildung vorhanden. Eine Tradition,<br />

die leider vor den beiden Weltkriegen zugunsten effekthaschendem<br />

und ängstlichem Opportunismus vernachlässigt<br />

wurde. Doch der Widerstand aus der anderen Ecke,<br />

der radikal nationalen und rassistisch gesinnten, verblüffte<br />

angesichts des martialischen Auftretens der Anführer und<br />

Vorsitzenden der in Dutzende von Splittergruppen und<br />

-parteien zerfallenen Bewegung. Man wollte wahrscheinlich<br />

kein Blut für die schwarzen Affen lassen, sich gar einem<br />

indischen General unterordnen müssen...nein, nicht<br />

mit uns, aber Deutschland marschiert, am liebsten nach<br />

dem zehnten Bier auf einer Kirmes gegen einen altersschwachen<br />

Asiaten, der seine Glücksröllchen feilhält.<br />

Aber irgendwie war Kimrod doch froh, dass sich sein<br />

Sohn nicht bei den Soldaten verdingt hatte. Wie wäre er<br />

nach Hause gekommen, nach seinem Einsatz als Kampfbeobachter<br />

in einem Hubschrauber, der mit einer Salve<br />

fünfzig oder mehr Menschenleben auslöschen konnte?<br />

Nach dem Gefecht, nach Betätigen der Auslöser, als Held<br />

oder Krüppel?


Etliche waren zurück gekommen. Angeblich als Soldaten,<br />

die nur ihren Auftrag erfüllt hatten. Nicht mehr und nicht<br />

weniger. Aber konnte man das wirklich so einfach wegstecken,<br />

schnell den Job erledigen und ein paar Dutzend<br />

über die Klinge springen lassen? Anschließend einen zivilen<br />

Beruf ergreifen, als Anstreicher oder Krankenpfleger?<br />

Kimrod war während seiner Zeit im Einbruchsdezernat ein<br />

einziges Mal in eine Schießerei mit Todesfolge für einen<br />

Gangster verwickelt worden. Die Banditen hatten zuerst<br />

gefeuert. An der Berechtigung der Notwehr war auch von<br />

Seiten der Öffentlichkeit nie gezweifelt worden, doch der<br />

Beamte, der den tödlichen Schuss mit größter Wahrscheinlichkeit<br />

abgegeben hatte, die Ballistiker konnten<br />

sich auch hier zu keinem endgültigen Urteil durchringen,<br />

quittierte wenig später den Dienst. Das hatte man ihm<br />

dann doch angekreidet im Kollegenkreis, trotz dürftiger<br />

Anhaltspunkte aus dem Labor, einfach so das Handtuch<br />

zu werfen, quasi als Schuldeingeständnis. Da blieb auch<br />

was an den anderen hängen.<br />

Und das war nicht fair. Man tat doch nur das, was von einem<br />

verlangt wurde. Damit mussten solch schwer bewaffneten<br />

Gangster nun einmal rechnen. Sie taten es auch,<br />

doch auch bei Kimrod hatte sich damals ein flaues Gefühl<br />

in der Magengegend bemerkbar gemacht. Unter anderem<br />

wegen dieser nie ausgeräumten Zweifel. Hatten sich die<br />

Diebe nicht gegenseitig abgeknallt, hatten sich nicht alle<br />

ziemlich wahllos abgefeuerten Polizeikugeln verirrt, das<br />

heißt, alle gingen fehl, oder war da was getürkt worden,


im Labor, von den per Schulterschluss zusammengerückten<br />

Kriminalbeamten?<br />

Man tat tatsächlich gut daran, solche Überlegungen weit<br />

beiseite zu schieben oder sie als Spitzfindigkeiten zu betrachten,<br />

die es nicht wert waren, näher erörtert zu werden.<br />

Schlug man diesen Weg nicht ein, drohte einem wohl<br />

kaum das Schicksal des Colonels aus Apocalypse Now,<br />

das Militär plante und operierte in anderen Größenordnungen,<br />

eher schon eine schleichende Zermürbung wie<br />

sie sich bei Remke bemerkbar machte, der nur halb so<br />

hart war wie er sich gab und bei scharfen Verhören immer<br />

als erster Zigaretten anbot, wenn er nicht gleich auf eine<br />

baldige Beendigung drängte.<br />

Denn der Polizei wurde im Gegensatz zur Armee nicht<br />

durch einen breiten Grundkonsens der Rücken gestärkt.<br />

Als Bulle war man kein Hoffnungsträger, dessen Ankunft<br />

medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und vielleicht<br />

sogar einen Waffenstillstand verhieß. Der hohe technische<br />

Standard und das reibungslose Funktionieren der Anlagen<br />

und Einheiten, die die Bundeswehr der Völkergemeinschaft<br />

zur Verfügung stellte, wurde immer wieder hervorgehoben<br />

und lobend erwähnt. Vor allem im Ausland, wo<br />

man schon bald registriert hatte, dass üppig verteilte<br />

Streicheleinheiten für die Nachfolger der einst so verhassten<br />

Wehrmacht, beinahe ohne Diskussion und Debatte,<br />

den Weg für neue, großzügig bemessene Mittel freimachten.<br />

Auch wenn manchmal Unschuldige ihr Leben lassen


mussten. Die Absicht war gut und moralisch nicht anfechtbar.<br />

Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken,<br />

Matthäus, Kapitel neun, Vers 12; Weil du aber lau<br />

bist...werde ich dich ausspeien aus meinem Munde, Offenbarung,<br />

Kapitel drei, Vers 16; Kriegsdienst ist das Leben<br />

des Menschen, Hiob, Kapitel sieben, Vers 1. Stähler<br />

lässt grüßen. Die Bibel erfreute sich wieder eines großen<br />

Zuspruchs. Man musste sich wappnen.<br />

Der Polizist hingegen bedrohte den Freiraum des Individuums.<br />

Er drang nur in den kärglichen Rest der Privatsphäre<br />

ein, um Gerichtsbeschlüsse, Bußgeldbescheide,<br />

Haftbefehle und dergleichen zu überbringen. Da halfen<br />

auch keine Weisheiten aus den Testamenten. Bulle bleibt<br />

Bulle. Das Gesetz nimmt man am besten selber in die<br />

Hand. Der Staat stört da nur.<br />

Einen Strick über den nächsten Ast und hoch mit dem<br />

Galgenvogel. Der greift meiner Tochter nie wieder untern<br />

Rock. Herr Wachtmeister, das geht Sie gar nichts an! Wen<br />

ich widerrechtlich auf meinem Grund und Boden erwische,<br />

gehört mir. Bei dieser Visage muss man doch auf alles gefasst<br />

sein. Wie der schon schaut! Und stinken tun sie alle,<br />

nach Knoblauch oder weiß der Teufel was. Dem werde<br />

ich Mores lehren. Sehen Sie, wie er sich duckt. Der weiß<br />

genau, was die Stunde geschlagen hat. Mit mir nicht, in<br />

diesem Land herrschen bald wieder Recht und Ordnung.


Wenn ich mit ihm fertig bin, können Sie mit ihm machen,<br />

was Sie wollen. Und jetzt aus dem Weg...<br />

Das war die Schizophrenie des Otto Normalverbrauchers,<br />

der nur dem totalitären Regime zutraute, hart genug gegen<br />

die Verbrecher und das ganze andere Geschmeiß<br />

vorzugehen und hier dafür die Freiheit zu opfern bereit<br />

war...<br />

aber aufgeräumt hat er, dieser Hitler, das muss man ihm<br />

lassen. Da kam keiner ungeschoren davon so wie heute.<br />

Ab ins Lager und erst mal richtig arbeiten. Das hat noch<br />

keinem geschadet und diesen Parasiten gleich zweimal<br />

nicht. Damals hat!s schon die Richtigen erwischt, was<br />

man so hört...<br />

Gott sei Dank gab es kaum noch Überlebende, die diese<br />

turbulenten Zeiten selbst durchlitten oder umschifft hatten.<br />

Je nachdem, mochte man fast sagen. Doch das war nur<br />

ein Trugschluss. Mit den Akteuren wurde nicht der Ungeist<br />

beerdigt, der keimte auch schon wieder in den neuen, frischen<br />

Generationen, die mit einer Zwei vor dem Geburtsjahr<br />

das dritte Jahrtausend anzählten, das eigentlich noch<br />

unschuldig in den Wehen liegen musste.<br />

Das schien die schwerste Prüfung zu sein, die der<br />

Menschheit auferlegt worden war. Eine praktikable, für<br />

die Mehrheit tragbare und für Minderheiten erträgliche<br />

Staatsform zu finden, die am besten von allen zusammen<br />

getragen wurde. Am Rande dieses Weges lauerten Wegelagerer<br />

und großsprecherische Verführer. Die Paradiese


und Lustgärten, die sie priesen, waren hinlänglich ergründet<br />

und auf ihre Schwachstellen abgeklopft worden, die<br />

ertragreichen Böden ebenfalls entdeckt und bekannt.<br />

Doch deren Bewirtschaftung war mühselig und mit harter<br />

Fron verbunden. Erfolge stellten sich mitunter erst nach<br />

langer Hege und Pflege ein. Missernten mussten billigend<br />

in Kauf genommen werden. War die Demokratie schon<br />

wieder in Gefahr? Ein Kerl wie Totsch der neue Verführer?<br />

Wohl kaum, zumindest was Totsch anbelangte. Politische<br />

Ambitionen hatte dieser bislang nicht artikuliert, doch seine<br />

Mannschaft war ein Werkzeug, das in den falschen<br />

Händen großen Schaden anrichten konnte. Totsch wurde<br />

von vielen begrüßt. Endlich mal wieder einer, der zuhaut,<br />

zeigt, was Sache ist. Eine urdeutsche Tugend, die so lange<br />

von linker Larmoyanz geknechtet worden war. Wo der<br />

hinlangt, wächst kein Gras mehr. Die schlappe Polizei<br />

wird von umstürzlerischen Gewerkschaftlern unterminiert<br />

und in eine Clownstruppe verwandelt, die man allenthalben<br />

noch als Aufsicht im Altersheim einsetzen kann.<br />

Wo war man überhaupt noch erwünscht, angesagt? Hier<br />

bei diesen blutrünstigen Morden, wünschte die Volksseele<br />

den oder die Täter aufs Schafott? Vielleicht nicht einmal<br />

ins Gefängnis.<br />

Diese türkischen Metzen, deutscher Blutanteil hin oder<br />

her, hatten doch nichts Besseres verdient. Wer sich mit so<br />

etwas sein Brot verdient, braucht sich über nichts zu wundern.<br />

Eine Strafe Gottes, die vielleicht in ihrer Ausformung<br />

etwas überzogen ausgefallen, aber letztendlich doch be-


echtigt ist. Wahrscheinlich auch nur wieder eine interne<br />

Abrechnung, dieses Volk ist schnell mit dem Messer zur<br />

Hand. Da stochert man lieber nicht drin herum, da kommt<br />

bloß mehr Dreck hoch. Im Grunde ist es doch keinen Euro<br />

deutschen Steuergeldes wert, großartig nachzuforschen.<br />

Wenn die Presse befriedigt ist, einstellen. Wie schon so<br />

vieles aus dieser Richtung, das alles im Sand verlaufen<br />

ist. Hinter diesen orientalischen Ränken verbirgt sich<br />

nichts, was für unsereins von Belang sein könnte. Punkt,<br />

Schluss, Ende.<br />

Herder und Maikovsky würden sich im Milieu verlieren, irgendeiner<br />

abstrusen Spur nachhecheln und unterwegs<br />

Verdächtige en masse markieren. Zefhahn förderte diese<br />

Taktik durch ermunternden Zuspruch. Wichtig war, dass<br />

man nach außen etwas vorzeigen konnte, Betriebsamkeit<br />

sichtbar wurde. Dieses billige Streben nach Effekt und<br />

nicht nach Effizienz war eine bedauernswerte Erscheinung<br />

der Zeit. Schnell, schnell, anstatt langsam und<br />

gründlich. Wen man mit dem Kalender stoppen konnte,<br />

wurde geschasst, versetzt und degradiert.<br />

Schlechte Zeiten für Schnecken, die auch ans Ziel kommen<br />

und dabei keinen Quadratmillimeter unerforscht lassen.<br />

Remke konnte die Prostitution und den daran hängenden<br />

Rattenschwanz an Personal- und Postierungsproblemchen<br />

(wer darf wo stehen und seinem Gewerbe nachgehen)<br />

nicht verputzen. Außerdem stand er schon mit einem


Bein in der Rente. Seine Attacken gegen Zefhahn hatten<br />

es eindrucksvoll bewiesen.<br />

Das wird dein Fall, sollte diese Prophezeiung des Seniors<br />

schon jetzt, nach einem Tag, Wirklichkeit werden? Assistierte<br />

nur HASSSO? Konnte man diesem Köter auch das<br />

Apportieren beibringen oder lag der fette Knochen schon<br />

längst im Körbchen. Wurde von oben nur mal wieder ein<br />

großes Kesseltreiben veranstaltet, um die Erwartungen<br />

des Publikums zu befriedigen? Wie oft waren schon überführte<br />

Mörder und Terroristen abgeschoben und ausgeliefert<br />

worden? Wenn die Politik die Regie übernahm, blieb<br />

oftmals die Gerechtigkeit auf der Strecke. Natürlich nur im<br />

Namen der Staatsräson.<br />

Auch mit solchen Inszenierungen verdarb man es sich mit<br />

dem Bürger, der nicht mehr einsah, dass Kapitalverbrecher<br />

aus beispielsweise den arabischen Ländern, die tonnenweise<br />

Rauschgift schmuggelten und dabei über Leichen<br />

gingen, bevorzugt behandelt wurden, nur weil dadurch<br />

vielleicht eine vorsorglich genommene Geisel befreit<br />

oder eine Waffenlieferung an blutrünstige Revolutionäre<br />

verhindert werden konnte.<br />

Die Schnecke war satt. Sie löste sich vom Kadaver und<br />

flutete ihre Tanks. Drei, vier kleine Luftbläschen entwichen<br />

noch auf dem Weg nach unten. Das Gehäuse bohrte sich<br />

knirschend in den feinen Kies. Fertig machen zum Anblasen,<br />

Seerohrtiefe, Rohr eins bewässern...


Nein, das war ein anderer Film. Kimrod musste lachen.<br />

Auch in seinen Gehirnwindungen beanspruchte das High<br />

Definition Medienzeitalter seinen ihm gebührenden Platz.<br />

Man konnte sich drehen und wenden wie man wollte, es<br />

blieb immer jede Menge hängen, wenn man nicht gänzlich<br />

zum zeitgeistfeindlichen Laumeier degenerieren wollte.<br />

Das Buch zum Film, die Serie zum Buch, verfilmte Stories<br />

erstmals als Taschenbuch. Auch die Flucht in die Welt der<br />

Lettern war nur bedingt von Erfolg gekrönt. Die Überschneidungen<br />

mit Film und Fernsehen waren zu häufig<br />

und generalstabsmäßig geplant. Da wurde nichts dem Zufall<br />

überlassen. Das große Geld wurde doch nur noch im<br />

Kino und mit der Glotze verdient, von den Computerverwertungen<br />

einmal abgesehen.<br />

Wer sein Manuskript nur als Buch plante, war von gestern<br />

und hatte sich den Misserfolg selbst zuzuschreiben. Die<br />

alten Klassiker waren ganz nett, rein vom Sprachlichen<br />

her gesehen, aber als zeitgemäße up to date Unterhaltung<br />

nicht mehr zu gebrauchen. Die Welt von heute fesselnd<br />

auf Papier zu bannen und konsumierbar aufzubereiten,<br />

das gelang nur noch wenigen. Und die mussten<br />

schrille Aufhänger benutzen, um ihre Abnehmer zu interessieren<br />

oder überhaupt erst zu erreichen.<br />

Ingrids elegante Finger strichen Kimrod kurz zärtlich über<br />

den rasierten Nacken.<br />

„ Na, übst du dich ausnahmsweise in fernöstlicher Kontemplation?<br />

Der Fisch, der Mensch und die Kunst ein


Aquarium zu warten. Haben deine Schützlinge auch<br />

schön brav aufgegessen?“<br />

Ingrid ließ sich in die mit rotem Tuch bespannte Sitzgruppe<br />

fallen. Ihr Vater öffnete hastig die Futterluke in der Abdeckung<br />

des Beckens, in die drei Leuchtstoffröhren integriert<br />

waren. Jede produzierte Licht von unterschiedlicher<br />

Wellenlänge, da die Pflanzen in verschiedenen Abschnitten<br />

des Spektrums am effektivsten arbeiteten. Die Absorptionsspitzen<br />

des Chlorophylls lagen im violett-blauen und<br />

orange-roten Bereich. Zwei Röhren waren entsprechend<br />

gefärbt, eine weiße komplettierte das Assemble.<br />

Vielleicht sollten die Fische wenigstens einen Hauch von<br />

Tageslicht verspüren bei ihren kurzen, abrupt gestoppten<br />

Ausflügen. Schließlich war doch diese Welt für sie errichtet<br />

worden und nicht für das wuchernde Kraut. Die Fische<br />

stürzten sich gierig auf die bunten Flocken, die Kimrod<br />

sorgfältig unter die getrockneten Mückenlarven mischte.<br />

Besonders im Winter gab ihm dieser kleine Kosmos eine<br />

Menge ab. Draußen hingen dicke Nebel in den grauen<br />

Häuserfluchten. Die Bäume waren längst kahl und oft floh<br />

alle Freundlichkeit aus den Gesichtern. Da war man für<br />

jedes Stück Grün und Lebendigkeit dankbar und die Fische<br />

litten bei artgerechter Pflege wohl kaum mehr als ihre<br />

Brüder in den Strömen Asiens, Afrikas und Südamerikas.<br />

Ein Hobby war doch für jeden Deutschen Pflicht. Wer kein<br />

Steckenpferd ritt, galt als suspekt und tüftelte nachts sicherlich<br />

an Mordmaschinen herum. Wie der deutsche


Verbrecher, der was auf sich hielt, und sich grundsätzlich<br />

durch große Technikverliebtheit auszeichnete. Ferngelenkte<br />

Kleinstuboote, die Erpressungsgelder abholten,<br />

Falschgeld aus den Hochleistungskopierern, Kreditkartenreproduzierer<br />

und Automarder, die jede Alarmanlage und<br />

Wegfahrsperre überwanden. Man lag zumindest gleichauf<br />

mit den Kollegen aus anderen Ländern, die in international<br />

berüchtigten Ballungszentren und Schmelztiegeln<br />

agierten.<br />

Man hörte förmlich die Kiefer krachen, so herzhaft knusperten<br />

die Guppys an den Mückenlarven, die nach kürzester<br />

Bearbeitung in den Schlünden verschwanden. Da<br />

war es praktisch, im Wasser zu leben. Man brauchte nur<br />

den Mund aufzumachen und schon konnte man den Durst<br />

aus einem unerschöpflichen Reservoir löschen. Prost, die<br />

Herren.<br />

„ Paps, gehen wir jetzt oder was? In meinen Innereien<br />

rumort es schon so. Kein Wunder, ihr habt mir den Mund<br />

wässrig gemacht mit eurem Griechen und jetzt trödelt ihr<br />

wieder. Macht da drin vielleicht eine Miniaturnixe einen<br />

heißen Strip oder warum glotzt du so vertieft in deinen<br />

Westentaschenzoo?“<br />

Kimrod zerbröselte den letzten Rest Flocken zwischen<br />

den Fingern und schloss die Klappe.<br />

„ Wo ist deine Mutter? Die schmeißt hier den Betrieb. Ich<br />

bin nur Staffage, nicht maßgeblich“, sagte Kimrod verärgert.


Als ob er keine anderen Sorgen hatte! Strippende Meerjungfrauen<br />

im Aquarium...wo sie das nur immer herholten?<br />

Seine Mädels waren wirklich eine Klasse für sich.<br />

Er ging ans Fenster und schaute nach unten auf die Straße.<br />

Eichen-allee, der blanke Hohn. Die mickrigen Büsche,<br />

die verschämt auf einigen Begrünungsinseln vor sich hinvegetierten,<br />

hatten so gar nichts von der würdevollen Majestät<br />

der Gewächse, die der Straße vor langer Zeit den<br />

Namen gegeben haben. Die Sozialhilfeemfänger, die diese<br />

Restbiotope im Frühjahr und Herbst beackerten, dieser<br />

Ausdruck umschrieb die lieblos vorgenommenen Pflegemaßnahmen<br />

am treffendsten, hätten das verwahrloste<br />

Gestrüpp mit ein bisschen mehr Sorgfalt und Anleitung,<br />

gut ausgebildete Gärtner waren leider rarer denn je, locker<br />

in blühende Oasen verwandeln können. Doch auch<br />

hier erstickte das zwanghaft Angeordnete jegliches Bemühen.<br />

Für den Staat tat man nur das absolut Notwendige.<br />

Wer mehr Initiative zeigte, war doch krank und vergeudete<br />

seine Energien. Man konnte den armen Teufeln<br />

auch keinen Strick daraus drehen. Die Wohlfahrtsbezüge<br />

deckten kaum das Existenzminimum, und sich für ein paar<br />

Euro abzuschinden und auf den Knien herumzurutschen,<br />

war fast schon unzumutbar. Auch wenn es für viele die<br />

einzige Möglichkeit war, etwas nebenbei zu verdienen.<br />

Es schien nicht zu regnen. Das Trottoir wirkte immer leicht<br />

schmierig, auch bei schönem Wetter. Ingrid rief nach ihrer<br />

Mutter, die in der Garderobe in ihren Mantel schlüpfte.


„ Moment Kinders. Ich muss mir nur noch die Mütze aufsetzen.<br />

Seit ihr schon fertig?“ schmetterte Emma zurück.<br />

Ihre Stimme war volltönend und gut ausgebildet, eine<br />

Grundvoraussetzung für den Erfolg in der Politik. Emma<br />

hatte bei einer Studentin Unterricht genommen, auch<br />

wenn ihr Gatte damit gar nicht einverstanden gewesen<br />

war. Er gab an, diese Kasernenhofbeschallung zu hassen<br />

und hatte eines Tages sogar von seinem Schießstand Ohrenstöpsel<br />

mitgebracht, weil er dieses Geplärre nicht mehr<br />

aushielt, angeblich.<br />

Max wurde mit den Jahren immer empfindlicher, besonders<br />

seitdem Emma wieder arbeitete und eine steile Karriere<br />

in der Politik gemacht hatte. Männer waren da sowieso<br />

voreingenommen. Eine Frau, die sich selbstständig<br />

in der Gesellschaft verwirklichte, war mit Vorsicht zu genießen.<br />

Es konnte sein, dass man von so einer Amazone<br />

rechts überholt wurde und das letzte Stückchen Männerherrlichkeit<br />

unter diesem femininen Gestirn dahinschmolz.<br />

Oder war er nur eifersüchtig, weil es jetzt auch wieder<br />

andere Dinge in ihrem Leben gab, außer der Familie, die<br />

wichtig waren?<br />

Kimrod holte seine Zigaretten in der Küche und schlüpfte<br />

anschließend im Flur in seine Schuhe. Emma stand immer<br />

noch vor dem Spiegel und überprüfte den Sitz ihrer<br />

Baskenmütze. Ingrid lüftete in der Küche und leerte den<br />

Aschenbecher. Was waren Raucher doch für Ferkel. Nicht<br />

nur dass sie die Luft aufs Abscheulichste verpesteten,


nein, es wurden auch noch Langzeitstinkbomben hinterlassen.<br />

Schließlich hatten alle ihre Vorbereitungen abgeschlossen<br />

und es konnte losgehen.<br />

„ Fahren wir mit dem Lift oder gehen wir die Treppe runter?“<br />

fragte Ingrid.<br />

„ Eines ist mir so angenehm wie das andere. Der Aufzug<br />

streikt periodisch und das Treppenhaus ist dreckig“, erklärte<br />

Kimrod verdrossen. Sie entschieden sich für die<br />

Treppe, auch wenn es eine Menge teilweise rutschiger<br />

Stufen zu bewältigen gab. Die Wohnung lag im vierten<br />

Stock.<br />

„ Ich mag auch keine Fahrstühle. Da bekommen manche<br />

immer so einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Ich<br />

möchte nicht wissen, was da alles abgeht, wenn man mal<br />

wirklich stehen bleibt für längere Zeit. Das ganze Abteil<br />

prallvoll, vielleicht noch mitten im Sommer, bei dreißig<br />

Grad im Schatten“, sagte Ingrid, die die letzten Stufen mit<br />

einem großen Satz nahm.<br />

„ Da bist du hier ganz richtig. Mein Rekord liegt bei einer<br />

halben Stunde, alleine. Irgendwann könnt ihr mich unten<br />

im Schacht mit der Spachtel aufkratzen, wenn das Ding<br />

endgültig seinen Geist aufgibt und die Seile reißen. Ihr<br />

müsst mir allerdings versprechen, dass ihr dann den Vermieter<br />

lyncht. Dieser Drecksack drückt eine Erhöhung<br />

nach der anderen durch und investiert keinen Pfennig.<br />

Wahrscheinlich ist er auch ein großer Sozialdemokrat und


darf sich deswegen alles erlauben“, sagte Kimrod herausfordernd.<br />

Als sie das Haus verließen, wollte sich Kimrod bei seiner<br />

Frau unterhaken, doch Emma wehrte ihn ab.<br />

„ Du bist mir zu langsam. Wir gehen rechts, oder?“<br />

„ Ja, wenn während der letzten halben Stunde kein Polsprung<br />

stattgefunden hat, müsste das die Richtung sein.<br />

Branitzer Platz, Naxos, rechter Hand, marsch, marsch,<br />

auch wenn dir diese Order zutiefst widerstrebt. Oder wir<br />

gehen links und machen einen kleinen Umweg. Probier<br />

mal aus wie deine Füße reagieren, wenn!s wirklich nicht<br />

geht...“<br />

Kimrod gluckste. Seine Frau geriet tatsächlich ins Stolpern<br />

wegen einem prächtigen Loch im Asphalt.<br />

„ Mein Gott, bin ich ein Trampel. Jetzt hättest du wirklich<br />

fast einen Grund zum Lachen gehabt.“<br />

Emma strich sich über den Mantel, obwohl sie gar nicht<br />

gestürzt war. Warum ging sie auch immer auf diese Frotzeleien<br />

ein? Am besten gar nicht hinhören, der war doch<br />

nur neidisch.<br />

„ Eines lasst uns vorab klären: keine Politik, keine Kriminalgeschichten<br />

und kein Stähler. Wer dagegen verstößt,<br />

muss eine Runde ausgeben“, schlug Emma vor.<br />

„ Das finde ich gar nicht gut, denn über was sollen wir uns<br />

sonst unterhalten? Außerdem sind wir dann binnen kürzester<br />

Zeit stockbetrunken, weil sich keiner an diese Regel<br />

halten kann“, gab Kimrod zu bedenken.


Ingrid schüttelte nur den Kopf. Das konnte lustig werden.<br />

Die Eltern schienen sich seit ihrem Auszug nicht wesentlich<br />

weiter entwickelt zu haben.<br />

Die Familie erreichte das im Tavernenstil eingerichtet<br />

Restaurant nach wenigen Minuten. Costa, der grimmig<br />

dreinblickende Besitzer und Chefkoch, führte die Kimrods<br />

an seinen besten Tisch und brachte ihnen die Speisekarten.<br />

Er kannte und schätzte Kimrod, weil er sich in seiner<br />

Jugend selbst einmal als Polizist versucht hatte. Nur noch<br />

zwei andere Tische waren belegt. Keine gute Quote für<br />

einen Samstagabend. Dabei waren die Preise moderat<br />

angesetzt. Costa bezog alles frisch vom Großmarkt und<br />

auch die Portionen fielen nicht zu knapp aus. Doch die<br />

Leute, die jetzt noch häufig zum Essen gingen, liebten es<br />

protziger. Die gute, nahrhafte Kost war was für die Zukurzgekommenen,<br />

die schon froh waren, wenn sie zur<br />

Suppe zwei Scheiben Brot bekamen anstatt einer. Gerade<br />

jetzt in den schlechten Zeiten wollte man es den Proleten<br />

so richtig zeigen. Alles nur vom Feinsten, früher konnte<br />

jeder. Der einzige Zweig der Gastronomie, der sonst noch<br />

von der Wirtschaftsmisere profitierte, waren die alteingesessenen<br />

Bierkneipen, die mit abgenutztem Mobiliar den<br />

Verzweifelten und Hoffnungslosen ein adäquates Ambiente<br />

boten.<br />

Costa brachte drei Gratisschnäpse und nahm die Bestellungen<br />

auf. Die Kimrods hatten sich einfachheitshalber<br />

geschlossen für die Poseidonplatte entschieden, die ihnen<br />

Costa auch noch einmal besonders empfahl.


„ Das ist eine sehr gute Idee. Kommt alles direkt aus meiner<br />

Heimat. Fisch und Calamari, frisches Gemüse und<br />

zarte Kartoffeln. Was darf ich zu trinken bringen?“<br />

Emma schlug eine große Karaffe Landwein vor. Max war<br />

einverstanden, Ingrid ließ sich zusätzlich ein Glas Mineralwasser<br />

kommen. Sie war Alkohol nicht mehr gewohnt<br />

und befürchtete, betrunken zu werden.<br />

Der Grieche servierte die Getränke und man stieß aufeinander<br />

an.<br />

„ Ingrid, zum Wohl. Es soll dir weiterhin so gut gehen mit<br />

deinem Studium. Viel Erfolg“, wünschte Emma ihrer Tochter<br />

von ganzem Herzen.<br />

Sie wusste, dass es nicht leicht war, sich erfolgreich an<br />

einer Universität zu behaupten, besonders wenn man den<br />

Ehrgeiz besaß, den Abschluss möglichst schnell und mit<br />

besten Noten zu machen. Neben den notwendigen geistigen<br />

Voraussetzungen musste man dazu eine große Portion<br />

Disziplin und Beharrungsvermögen mitbringen, um an<br />

den aufgeblähten, bestreikten und überfüllten Bildungsstätten<br />

bestehen zu können.<br />

„ Ich kann mich da nur anschließen, auch wenn ich weiß,<br />

dass du dein Diplom schon so gut wie in der Tasche hast.<br />

Deine Mutter hat mir verraten, dass du etwas Besonderes<br />

mit uns zu besprechen hast. Also, was hast du auf dem<br />

Herzen? Ich als dein Vater habe für deine Sorgen immer<br />

ein offenes Ohr.“<br />

Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Irgendwie ahnte er<br />

schon, woher der Wind wehte.


„ Das weiß ich doch, Paps. Es ist ja auch gar nichts Großartiges.<br />

Ich ziehe um, in die Villa Schönborn, unser Gemeindezentrum<br />

für Berlin und eigentlich ganz Deutschland.<br />

Ich werde James persönliche Assistentin, die unter<br />

anderem die Ausbildung der Kursleiter koordiniert und ihm<br />

möglichst viel Verwaltungskram abnehmen wird. Er will<br />

sich ganz auf seine spirituelle Arbeit beschränken und nur<br />

noch zu speziellen Anlässen sprechen. Es wird demnächst<br />

kein Mangel bestehen an öffentlichen Kundgebungen<br />

und James will sich da nicht verausgaben oder gar<br />

missbrauchen lassen. Die Politiker schrecken doch vor<br />

nichts zurück...oh, Entschuldigung, Mutti.“<br />

Kimrod feixte, doch er wurde sofort wieder ernst. Wollte<br />

ihm da seine Tochter eine Verbindung unterjubeln, die weit<br />

über das Berufliche hinausging, eine Affäre mit Stähler?<br />

„ Tja, du bist lustig. Gerade beglückwünschen wir dich zu<br />

deiner Zwischenprüfung und jetzt willst du alles über Bord<br />

werfen, um ausschließlich im Kielwasser dieses Wanderpredigers<br />

zu dümpeln. Das wirst du uns doch nicht antun?“<br />

sagte Kimrod eindringlich.<br />

Ingrid blieb sachlich.<br />

„ Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Ich habe<br />

jetzt ein bisschen mehr Luft und wechsle nur meinen Arbeitsplatz.<br />

Da waren auch finanzielle Überlegungen ausschlaggebend.<br />

Warum auch nicht. James sagt immer, wer<br />

nach den Geboten Gottes lebt, kann nicht Schiffbruch erleiden<br />

und wird es zu was bringen. Mein Studium verläuft<br />

ganz normal weiter.“


Zwei Jugendliche mit glattrasierten Schädeln, die bunt<br />

bemalt und beklebt waren, stürmten ins Lokal und ließen<br />

sich am Nachbartisch nieder. Costa brachte ihnen zwei<br />

Dosen Bier und bedachte sie mit einigen griechischen<br />

Kraftausdrücken. Als Costa wieder verschwunden war,<br />

flogen die ersten Bierdeckel, einer auch an Emmas Hinterkopf.<br />

Die Biologin beförderte die Brauereipappe resolut<br />

zurück und begann zu schimpfen.<br />

„ Ihr kleinen Flegel. Der Sandkasten ist draußen. Hier drin<br />

ist nur für Erwachsene.“<br />

Einer der Paintos, so wurden diese Vertreter der aktiven<br />

Teenagerszene wegen der Kopfbemalungen genannt, die<br />

oft tagtäglich in stundenlanger Feinarbeit erneuert wurden,<br />

langte mit seiner Zigarette herüber und klopfte die<br />

Asche über Ingrids Schulter ab. Emma schüttete dem<br />

Rohling sofort ihren Wein ins Gesicht. Sie hatte während<br />

ihrer Studentenzeit so manchen Kampf mit den Faschos<br />

und der Staatsmacht ausgefochten. Da lief einer ins offene<br />

Messer. Sie war schon aufgesprungen und wollte ihren<br />

Angriff mit der Karaffe fortfahren, als Costa mit einer Bratpfanne<br />

bewaffnet den Schauplatz betrat und dem Spektakel<br />

ein rasches Ende bereitete. Seine wuchtige Statur<br />

verhinderte ein weiteres Aufflackern der Feindseligkeiten<br />

von Seiten der Paintos und wirkte sich auch abkühlend<br />

auf Emma aus, die die Karaffe auf den Tisch sinken ließ<br />

und sich setzte. Die kunstfreudigen Teenies suchten lachend<br />

das Weite. Der Knofelfresser war um einen Mo-


ment zu früh gekommen, vielleicht beim nächsten Mal.<br />

Der Grieche brachte noch einmal drei Schnäpse.<br />

„ Tut mir leid. Die sind so und machen sich einen Spaß<br />

daraus, die Leute anzupöbeln. Aber ich bin darauf angewiesen.<br />

Die kommen fast jeden Tag und verputzen eine<br />

Dose nach der anderen. Natürlich vergraule ich dadurch<br />

meine letzten Gäste. Was soll man machen? Schmeiß ich<br />

sie zu oft raus, kommen die nicht mehr und dann kann ich<br />

an fünf Tagen zusperren. Essen kommt gleich.“<br />

Costa stapfte zurück in seine Küche. Diese Sauhunde<br />

brachten ihn noch ins Grab. Kimrod klopfte seiner Gattin<br />

lachend auf die Schulter.<br />

„ Mein Schatz, du bist großartig. Heute Nachmittag beim<br />

Herthaspiel, wärst du voll auf deine Kosten gekommen.<br />

Da lebe ich ja direkt gefährlich, wenn ich dich immer so<br />

hoch nehme.“<br />

Emma zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief,<br />

um sich zu beruhigen.<br />

„ Ist doch auch wahr. Ausgerechnet das arme Kind, das<br />

sich nicht wehren kann. Am liebsten hätte ich die an die<br />

Wand geklatscht.“<br />

„ Aber Mutti, das sind doch Kinder. Außerdem bin ich gar<br />

nicht so wehrlos. Wolf hat mir ein paar Kniffe beigebracht,<br />

mit denen ich auch einen Gorilla beeindrucken kann.<br />

Prost.“<br />

Bald nachdem sie die Schnäpse vertilgt hatten, trug Costa<br />

die Meeresfrüchteplatte auf. Die Calamari waren zwar


etwas labbrig und die Kartoffeln zerkocht, doch im Großen<br />

und Ganzen war das Menü genießbar. Der vorzügliche<br />

Salat mit Oliven und Schafskäse entschädigte für einiges.<br />

Der Wein mundete ebenfalls. Was wollte man für die paar<br />

Euro mehr.<br />

Kimrod war als erster fertig und steckte sich dreist eine<br />

Marlboro an, die vorletzte.<br />

„ Denk doch an das Kind. Du weißt doch, wie empfindlich<br />

sie ist. Dass man bei euch Männern um jeden Zoll Anstand<br />

und Höflichkeit kämpfen muss“, wies ihn Emma zurecht.<br />

Kimrod hob kurz die Hand in Richtung Theke, hinter der<br />

Costa Gläser polierte. Wenig später stellte der thessalische<br />

Bär ein Tässchen Espresso vor Kimrod auf den<br />

Tisch. Das filigrane Porzellangefäß verlor sich beinahe in<br />

Costas Pranke, so dicht wölbten die schwarzen Büschel<br />

und knotigen Muskeln sich auf den Knochen.<br />

„ So, hat!s geschmeckt, Chef? Sind Sie mir bitte nicht böse<br />

wegen vorhin.“<br />

Kimrod bedeutete dem Griechen, sich auch etwas Hochprozentiges<br />

einzuverleiben.<br />

„ Keine Bange, Costa. In meinem Beruf verzieht man wegen<br />

so was keine Miene mehr. Mach doch dann bitte die<br />

Rechnung fertig. Ich hab den ganzen Tag geschafft.“<br />

Costa verschwand wieder hinter der Theke und begann,<br />

einen Block zu suchen.


„ Nicht sehr freundlich von dir, Max. Deine Tochter und ich<br />

sind doch noch gar nicht fertig. Außerdem ist der Wein<br />

noch halb voll“, sagte Emma vorwurfsvoll.<br />

Kimrod leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich<br />

sofort nach. Er hatte für heute genug von Bars, Nachtklubs<br />

und Kneipen. Dieser entnervende Konsumzwang<br />

und das ständig sinkende Niveau dieser Einrichtungen übten<br />

keine anziehende Wirkung mehr aus auf einen Mann<br />

in seinem Alter. Es sei denn, er wäre Alkoholiker oder<br />

sexsüchtig. Die Jahre, in denen Kimrod viel und gerne<br />

ausgegangen war, lagen weit zurück. Diese Einsicht bedurfte<br />

keiner weiteren Bestätigung. Da war der kleine Zwischenfall<br />

nur von marginaler Bedeutung. Costa hatte es<br />

schon ausgesprochen. Wer in diesen Zeiten überleben<br />

wollte, konnte sich seine Gäste nicht aussuchen. Man erstand<br />

billiges Dosenbier und verhökerte es unter der Woche<br />

an die Halbstarken, die es sicherlich ganz abwechslungsreich<br />

fanden, einen Abend oder zwei einmal nicht<br />

auf der Straße oder im Park zu verbringen.<br />

Wie Emma aufgeflattert war und die rasende Glucke gemimt<br />

hatte...ein Bild für Götter, auch wenn Ingrid dabei<br />

etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie hätte es<br />

wohl auch mit einem Dutzend dieser Milchbärte aufgenommen.<br />

Wirklich, eine Prachtfrau.<br />

Auch die SPD begeht schlagkräftig ihren Wahlkampfauftakt:<br />

Ihre Stimme für Emma Kimrod, die beweist, dass<br />

auch bei den Roten Recht und Ordnung Priorität haben.


Oder sollte sie sich vielleicht sogar umtaufen lassen in<br />

Emma Peel, die rächende Genossin, die den Hooligans<br />

zeigt, wo es langgeht.<br />

Endlich hatten die beiden Damen ihr Dinner beendet.<br />

Costa war nicht fündig geworden und hatte die Beiträge<br />

auf einem Bierdeckel addiert. Der Grieche bewies Geschicklichkeit<br />

und platzierte die Kostenaufstellung mit einem<br />

Weitwurf auf den Tisch der Kimrods. Vielleicht hatten<br />

ihm die zwei Schnäpse, die er sich auf Kosten des Kommissars<br />

genehmigt hatte, den Rest gegeben. Kimrod<br />

wusste, dass er spielend zwei Flaschen Wodka wegstecken<br />

konnte, doch er wurde dann etwas schluderig und<br />

seine Küche verwegen. Kimrod sah den Betrag und nickte.<br />

Er hatte mit mehr gerechnet. Gut dreißig Euro, für ein<br />

Fischgericht nicht zu viel.<br />

„ Jetzt weiß ich, wer diese Burschen angelernt hat. Der<br />

Meister persönlich, aber bring trotzdem noch zwei. Meine<br />

Mädels sind noch am Mampfen.“<br />

Costa brachte die Spirituosen und die beiden Männer<br />

prosteten sich zu.<br />

„ Auf dein Wohl, du altes Schlitzohr. Eins musst du mir<br />

noch sagen. Wie viel Prozent hat dieses Gebräu? Dass<br />

du es selber brennst, weiß ich.“<br />

„ Herr Kommissar, das ist ein Betriebsgeheimnis und wird<br />

nicht verraten.“<br />

„ In erster Linie für deinen Betrieb, ich weiß. Ohne kannst<br />

du nicht mal mehr eine Uhr aufziehen.“


Kimrod zahlte und gab ihm noch ein paar Euro Trinkgeld.<br />

Dem zähen Hund war immer noch nichts anzumerken.<br />

Costa räumte die restlichen Teller ab und trällerte zurück<br />

hinter seinen Tresen.<br />

„ So, jetzt reicht!s aber. Ich will hier keine Säufer heranziehen.<br />

Dass ihr euch nicht schämt, besonders du. Du<br />

hattest nämlich schon eine Fahne, als du nach Hause<br />

kamst. Ich wollte bloß nichts sagen, weil dass angeblich<br />

mit zu deiner Arbeit gehört. Den Wein überlässt du jetzt<br />

besser mir, sonst müssen wir dich nach Hause tragen“,<br />

sagte Emma und blähte drohend die Nüstern.<br />

Für Kimrod ein untrügliches Zeichen, dass sie keinen Widerspruch<br />

duldete. Sie schenkte Ingrid nach und goss den<br />

Rest bei sich ein, nachdem sie mit kräftigen Schlücken<br />

Platz geschaffen hatte. Kimrod lächelte. Costas Hausmarke<br />

zeigte Wirkung. Ob sich das alles vertrug, der Fisch,<br />

das Gemüse, alles mit viel Fett zubereitet und der ölige<br />

Wein, der gut rutschte, aber bestimmt nicht leicht verdaulich<br />

war? Kimrod erhob sich schnell und ging nach draußen.<br />

„ Bezahlt ist alles, ich brauche dringend frische Luft.“<br />

Er eilte vor die Tür und füllte erwartungsvoll die Lungen.<br />

Doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Das schale Gasgemisch,<br />

das sich durch seine angeteerten Bronchien<br />

zwängte, war nur sehr beschränkt dazu geeignet, etwas<br />

zur Regeneration seiner angeschlagenen Konstitution<br />

beizutragen. Gott sei Dank war es wenigstens deutlich<br />

kühler als drinnen. Das half ein wenig. Er hätte sich nicht


vorstellen sollen, welchen Weg die Zutaten vom Erzeuger<br />

bis zum Endverbraucher zurücklegten.<br />

„ Du lebst aber auch zu ungesund, Paps, das würde ich<br />

auch nicht aushalten. Mutti musste noch mal schnell auf<br />

die Toilette.“<br />

„ Die wird sich wundern. Costa ist berühmt für seine Kakerlaken.“<br />

„ Bloß weil er kein Deutscher ist. Das ist unfair!“<br />

Ingrid stampfte dabei etwas auf den Boden mit ihren kleinen<br />

Lederschühchen. Das sah süß aus. Kimrod hatte vergessen,<br />

dass sie eine Gerechtigkeitsfanatikerin war und<br />

alles immer so schrecklich wörtlich nahm. Dabei hätte<br />

Costa selber drüber gelacht. Bei ihm kämen halt internationale<br />

Delikatessen auf den Tisch.<br />

Emma ließ noch eine Weile auf sich warten. Vielleicht<br />

musste sie sich erst den Sitz freikämpfen. Oh, das war<br />

wieder eine Prüfung. Kimrod wollte sich gerade verabschieden,<br />

als Emma aus dem Lokal geschossen kam.<br />

„ Dein Freund ist mir der Richtige. Erst klatscht er uns die<br />

Rechnung auf den Tisch wie bei seinen Fratzen und dann<br />

wurde er auch noch anzüglich. Ob ich überall so temperamentvoll<br />

wäre und was weiß ich noch alles. Also ich bin<br />

bedient für heute. Los kommt, bevor da noch was lauert in<br />

dieser Bruthöhle.“<br />

„ Das ist das südländische Blut, das gehört bei denen mit<br />

dazu. Wichtig ist, dass wir satt geworden sind für wenig<br />

Geld“, erklärte Kimrod beschwichtigend.


Sie gingen los und erreichten die Wohnung ohne weitere<br />

Zwischenfälle. Ingrid zog sich in ihr altes Zimmer zurück<br />

und die Eltern machten es sich vor dem Fernseher bequem.<br />

Emma herrschte wie üblich über die Fernbedienung<br />

und blieb bei einer ihrer geliebten Talkshows hängen.<br />

Vielleicht gehörte sie bald selbst zu den gefragten<br />

Gästen, den Top Ten, oder waren es gar nur fünf, die ewig<br />

die gleichen abgestandenen Themen walkten und von einer<br />

Quasselrunde in die nächste hechelten.<br />

Heute ging es um die Renten. Wie hoch, wie sicher, wie<br />

lange noch? Emma war sofort Feuer und Flamme für den<br />

Kandidaten der Sozis, einen zweitrangigen Sozialministers<br />

eines drittklassigen Bundeslandes, der eine offensichtlich<br />

auswendig gelernte Sentenz immer wieder in die<br />

Mikrofone blökte und alle anderen Protagonisten der Unsachlichkeit<br />

zieh. Emma würzte die drögen Duelle mit bissigen<br />

Kommentaren, wobei sie sogar ab und zu aus der<br />

Fraktionsdisziplin ausscherte und die Forderung der Grünen<br />

nach einer weiteren, größtenteils von den Arbeitgebern<br />

getragenen Senkung der Rentenversicherungsbeiträge<br />

unterstützte.<br />

Verarmter Adel, dachte sich Kimrod abgeklärt und schlief<br />

darüber ein. Als er die Augen wieder öffnete, lag er noch<br />

immer im Wohnzimmer, in voller Montur. Emma war wohl<br />

wieder einmal an seinem narkotischen Tiefschlaf gescheitert,<br />

der, wenn er durch Alkohol gefördert wurde, nur durch<br />

rabiateste Mittel gestört werden konnte.


Es war kurz nach halb sechs. Kimrod entschloss sich liegenzubleiben.<br />

Seine Frau beklagte sich immer furchtbar<br />

über sein Schnarchen und hatte ihn wahrscheinlich auch<br />

deswegen auf diese diskrete Art und Weise aus dem ehelichen<br />

Schlafgemach verbannt. Sie würde sich zwar nachher<br />

wieder beschweren, weil er nicht einmal mehr am Wochenende<br />

Zeit für Zärtlichkeiten aufbrachte, aber das war<br />

nichts Neues. Kimrod musste sich ungefähr seit seinem<br />

vierzigsten Geburtstag eingestehen, potenzmäßig nicht<br />

mehr ganz auf der Höhe zu sein. Was früher fast zu viel<br />

vorhanden war, gleich zu Anfang ihrer Ehe hatte er nur mit<br />

Mühe und Not den Verführungskünsten einiger Kolleginnen<br />

widerstanden, wallte jetzt nur noch selten in ihm auf.<br />

Auch andere Frauen interessierten ihn nicht mehr sonderlich.<br />

Vielleicht war er auch schwul. Ein spätes coming out,<br />

warum nicht.<br />

Emmas Libido ging mit ihren sonstigen Aktivitäten konform.<br />

Politik fand nicht nur im Kopf statt. Ob sie sich bereits<br />

nach Ersatz umgesehen hatte, einem jungen, feurigen<br />

Sozialisten etwa, der sich gerne von einer erfahrenen<br />

Praktikerin anlernen ließ? Sie war attraktiver denn je und<br />

die moderne Frau war für Triebsublimierungen wie Verseschmieden<br />

und Klavierspielen nicht mehr zu haben.<br />

Handfeste Lösungen waren angesagt. Ob sie sich mit einem<br />

detailgetreuen Vibrator anfreunden konnte, den viele<br />

ihrer aufgeklärten Schwestern dem schlappen Original<br />

vorzogen? Gesunde zwanzig Zentimeter, die nicht beim<br />

ersten Windstoß in sich zusammen sanken, mit spritz-


freudigem Ejakulationssimulator. Der treue Begleiter für<br />

die Frau, die schon alles gehabt hat.<br />

Kimrod dämmerte wieder hinüber in die barmherzigen<br />

Gefilde des Vergessens, fern von männermordenden<br />

Walküren, die ihre verschreckten Schlaffis höchstens noch<br />

zum Batterien besorgen benötigten.<br />

11.10 Sonntag<br />

Um acht Uhr schlug Kimrod wieder die Augen auf. Die<br />

Vorhänge waren schon zurückgezogen und verführerischere<br />

Düfte drangen aus der Küche herüber. Er duschte<br />

kurz und schlüpfte in seinen pepigen Trainingsanzug.<br />

Emma war schon am Frühstücken. Es gab Müsli, Cornflakes<br />

und kerniges Schwarzbrot mit Marmelade. Nimrod<br />

schenkte sich Kaffee ein und füllte eine Schüssel mit den<br />

Schokoflocken und Milch.<br />

„ Wie ein Mensch so schnarchen kann. Ich habe zweimal<br />

die Lautstärke nachregulieren müssen. Und an wach kriegen<br />

war eh nicht zu denken. Manchmal beneide ich dich<br />

direkt.“<br />

Emma wartete vergeblich auf eine Antwort. Kimrod verdrückte<br />

hastig seinen Brei und nippte ein bisschen am


Kaffee, bevor er sich den Kellerschlüssel schnappte und<br />

seiner besseren Hälfte einen Kuss auf die Wange drückte.<br />

„ Ich fahre ein paar Meter spazieren. Bis Mittag bin ich<br />

spätestens wieder da. Du brauchst aber nicht großartig zu<br />

kochen. Bis gleich.“<br />

Emma blickte ihm staunend nach. So früh schon fit, das<br />

passte gar nicht zu ihm. Vielleicht die Zigaretten. Die<br />

Schachtel war leer. Ohne war kein Frühstück komplett.<br />

Kimrod benutzte den Lift, der polternd seine Fracht nach<br />

unten beförderte. Er stieg aus, ging über die Treppe zu<br />

den Kellerabteilen hinunter und sperrte den Raum auf,<br />

der neben etlichen alten Möbeln auch sein Mountainbike<br />

beherbergte. Der Kommissar überprüfte den Luftdruck<br />

und schob das Sportgerät nach draußen. Er verriegelte<br />

hinter sich die Tür und schulterte den massiv gebauten<br />

Drahtesel. Carbonrahmen waren immer noch teuer, Kimrod<br />

hatte sich deshalb mit einem schwereren Stahlchassis<br />

beschieden. Er trug das Bike auf die Straße und trat in die<br />

Pedale. Am ersten Automaten zog Kimrod eine Schachtel<br />

Lights und setzte die Fahrt anschließend fort, allerdings<br />

ohne Glimmstängel im Mund. Er fuhr Richtung Grunewald.<br />

Dort gab es schöne Radwege und man lief nicht<br />

ständig Gefahr, von einem geifernden Automobilisten vom<br />

Sattel geholt zu werden. Als er die letzten großen Vorfahrtsstraßen<br />

hinter sich gelassen hatten, begann sich die<br />

Sonne auf dem vom Hochnebel verhangenen Firmament<br />

als weiße Scheibe abzuzeichnen. Der Kommissar bog in


die Teufelstraße und überholte munter andere Ausflügler,<br />

die in den Forst radelten.<br />

Wenig später hatte Kimrod den Teufelsberg erreicht. Er<br />

ließ sich in der Nähe der Rodelbahn auf einem großen<br />

Findling nieder und genoss seine erste Zigarette. Dabei<br />

beobachtete er einen Penner, der auf einer umgedrehten<br />

Gemüsekiste stehend Volksreden hielt. Kimrod rauchte<br />

fertig und mischte sich unter ein paar Dutzend Schaulustige,<br />

die den geifernden Alten umringten. Etwas abseits<br />

dieser Versammlung hielt sich ein Trupp Camos auf, etwa<br />

zehn Mann stark. Einer der selbsternannten Hilfssheriffs<br />

trug einen schweren Revolver an der Hüfte, vermutlich ein<br />

Offizier. Die obligatorischen Tarnjacken, schwarze, auf<br />

Hochglanz gewichste Schnürstiefel, Bürstenschnitte und<br />

enge Bluejeans vervollständigten das gewollt martialische<br />

Outfit der Schmalspurkämpen, die sich betont lässig gaben<br />

und in kurzen Abständen gemeinsam ablachten. Der<br />

in Lumpen gehüllte Prediger wurde lauter.<br />

„ Und somit ist es an der Zeit, die Schaumschläger und<br />

Rattenfänger im Reichstag auszuräuchern. Das Feuer der<br />

Reinigung wird genährt vom Hass der Besitzlosen und<br />

Entrechteten. Dieses Natterngezücht, das schon so lange<br />

auf unserer Würde herumtrampelt, muss endlich zerschmettert<br />

werden. Wer sich noch einen Funken Anstand<br />

bewahrt hat, schließt sich mir an. Auf dass ein neues Fanal<br />

über der Hauptstadt leuchtet und die Funken aus dem<br />

Gebälk dieser unsäglichen Schwatzbude stieben. Heute<br />

ist der Tag der Abrechnung. Kommt her Ihr Opfer der in-


ternationalen Verschwörung, die euch in Armut knechtet<br />

und fern von den Krippen der Reichen und Mächtigen<br />

darben lässt. Wer noch aufrecht gehen kann, folget mir<br />

nach. Wir werden die Wurzeln des Übels herausreißen<br />

und der versengenden Flamme der Vergeltung anheim<br />

fallen lassen.“<br />

Der Rhetoriker im Büßergewand, sein struppiger Mantel<br />

verlieh ihm tatsächlich ein wenig das Aussehen eines biblischen<br />

Propheten, stieg von seinem Podest herunter und<br />

versuchte mit wirren Gesten, hinter sich eine Prozession<br />

zu sammeln. Sein Pech war, genau auf die Camos zuzuhalten,<br />

die ihn prompt niederschlugen, als er einen von<br />

ihnen in seiner Trance anrempelte. Die rabiaten Kerle<br />

schleiften den Wehrlosen hinter ein nahes Gebüsch und<br />

setzten dort die Sonderbehandlung fort. Kimrod war nahe<br />

daran einzugreifen, doch da er seine Hundemarke nicht<br />

eingesteckt hatte und sich nicht ausweisen konnte, setzte<br />

er sein Vorhaben nicht in die Tat um. Diese Brüder würden<br />

wohl nicht zögern, ihm die gleiche Abreibung zu verpassen.<br />

Bei dem Kräfteverhältnis war eine Rettungsaktion<br />

glatter Selbstmord. Die restlichen Zuschauer zerstreuten<br />

sich bereits. Vielleicht war dieser Irre doch gefährlich. Die<br />

Jungs sollten ruhig tüchtig hinlangen. In diesen Zeiten<br />

musste man die Demokratie mit Händen und Füßen verteidigen.<br />

Mitleid war da fehl am Platze, besonders mit diesen<br />

Parasiten, die ihren unverdienten Anteil am Volksvermögen<br />

immer unverschämter einforderten.


Kimrod wusste, dass viele so dachten, auch wenn die<br />

Grenzen zwischen Armut und Verelendung immer fließender<br />

wurden und sich so mancher biedere Bürger über<br />

Nacht auf der Straße wiederfand, weil seine Arbeitslosenbezüge<br />

storniert wurden und die Sozialhilfe nicht mehr die<br />

Kosten für die Wohnung abdeckte. Die Clochards wurden<br />

tatsächlich immer dreister und organisierten sich in Banden.<br />

Da wurden Bezirke wie im Drogenhandel abgesteckt<br />

und wehe dem, der im Nachbarrevier wilderte und dort<br />

den Hut aufhielt. Es existierten regelrechte Krüppelakademien,<br />

an denen jeder Defekt von der Blindheit bis zur<br />

Querschnittslähmung zum Schein oder auch in Wirklichkeit<br />

erworben werden konnte. Alte Hasen brachen Arme<br />

und Beine und sorgten dafür, dass die Knochen nicht<br />

mehr richtig zusammenwuchsen und die Auszubildenden<br />

lebenslänglich versehrt blieben. Dass ab und zu ein Patient<br />

das Zeitliche segnete, tat der Popularität dieser Rosskuren<br />

keinen Abbruch. Schließlich schuf man sich dadurch<br />

eine Existenz, die ein bescheidenes, doch regelmäßiges<br />

Einkommen sicherte.<br />

Die mickrigen Krümel vom großen Kuchen waren also<br />

umkämpfter denn je. Da kam es schon vor, dass der Bitte<br />

um eine milde Gabe mit forschen Mitteln Nachdruck verliehen<br />

wurde oder man sich aufs Börse ziehen verlegte.<br />

Wer in der Gosse landete, war deshalb eine Sozialleiche<br />

und wurde wie störender Abfall behandelt, wahrscheinlich<br />

auch weil die Penner einem so anschaulich die Kehrseite<br />

der freien Marktwirtschaft präsentierten.


Da Camos hatten genug und preschten mit einem pechschwarzen<br />

Kleinbus davon. Kimrod kümmerte sich um<br />

das Opfer, das mit aufgeplatzten Lippen, aber lächelnd einen<br />

unverständlichen Singsang von sich gab. Kimrod half<br />

ihm aufzustehen. Der Stadtstreicher stank wie die Pest<br />

und grinste noch immer breit. Kimrod verstand. Die<br />

Schergen der Machthaber hatten sich nicht als Schimären<br />

entpuppt, sondern übten ihr grausames Handwerk in der<br />

Realität aus. Der Kampf war noch nicht verloren.<br />

Wahrscheinlich war der Mann krank und gehörte in ein<br />

Sanatorium, doch der Staat hatte die öffentlichen Nervenkliniken<br />

teilweise aufgelöst und die armen Teufel im Stich<br />

gelassen, die nicht mehr arbeiten konnten und keine Unterstützung<br />

von den Angehörigen erfuhren. Jetzt weinte er<br />

doch. Kimrod drückte ihm zwei Euro in die Hand und ging<br />

zurück zu seinem Fahrrad, bei dem ein grau melierter,<br />

drahtiger Mann stand. Der Jogger, seiner Kleidung nach<br />

zu schließen, winkte Kimrod heran. Kimrod kam das Gesicht<br />

bekannt vor. Vielleicht ein Schauspieler, die wirkten<br />

alle so aalglatt. Der Mann schüttelte Kimrod als erstes die<br />

Hand.<br />

„ Guten Morgen. Ich heiße Schneider, Burkhard Schneider,<br />

Staatssekretär im Kanzleramt.“<br />

Kimrod stellte sich ebenfalls vor.<br />

„ Schau an, ein Kommissar. Aber ich habe schon von Ihnen<br />

gehört, mein Lieber. Sie haben den Würger von Wilmersdorf<br />

zur Strecke gebracht und den Pornormörder


überführt, der seine Kundinnen mit einem Dildo abmurkste.<br />

Patenter Mann, das merkt man sofort. Schöne Luft<br />

heute, nicht wahr?“<br />

Die Tragödie, die sich gerade abgespielt hatte, schien den<br />

Politiker nicht im Geringsten zu interessieren. Kimrod<br />

blieb stumm.<br />

„ Ah, Sie sind noch ganz gedankenverloren wegen den<br />

Camos. Ich bitte Sie, wo kämen wir da hin, wenn jeder die<br />

Regierung und das Parlament zum Abschuss freigeben<br />

dürfte. An ein paar Spielregeln muss man sich schon halten,<br />

auch als Obdachloser, der nichts mehr zu verlieren<br />

hat außer seiner Weinbuddel.“<br />

Die gleichen Symptome wie bei Emma. Totsch hatte alle<br />

Volksvertreter infiziert. Kimrod schluckte einen Großteil<br />

seiner Empörung wieder hinunter. Hier war Hopfen und<br />

Malz verloren.<br />

„ Also ich sehe das ein bisschen anders. Was haben die<br />

Typen hier überhaupt zu suchen? Das ist doch kein Privatgrundstück,<br />

sondern ein Naherholungsgebiet, das jedem<br />

Bürger offen steht. Auch dieser armen Kreatur. Der<br />

wusste doch gar nicht, was er sagt.“<br />

„ Und wenn schon. Sie müssten es doch eigentlich besser<br />

wissen. Oder können Sie bei Ihrer Arbeit immer buchstabengetreu<br />

die Gesetze einhalten? Na also, außerdem hat<br />

dieser Clown provoziert und einen der Tarnjacken angepöbelt.<br />

Wir sind doch nicht in London.“<br />

„ Aber sie haben ihn grundlos zusammengeschlagen. Ich<br />

komme damit als einziger Augenzeuge vor Gericht nicht


durch. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin, aber das<br />

sind Tatsachen, auch wenn es sonst niemanden interessiert.“<br />

„ Ach was. Hier nehmen Sie zwanzig Euro, das wird als<br />

Schmerzensgeld reichen. Da kann sich Ihr Schützling ein<br />

paar Tage lang zutrinken. Wahrscheinlich hat er es nur darauf<br />

angelegt.“<br />

Kimrod steckte den Schein ein und wollte dem verhinderten<br />

Umstürzler nachfahren, der in Richtung Teufelssee<br />

losgezogen war. Schneider drückte auf die Vorderradbremse.<br />

„ Eine Frage hätte ich noch. Wie kommt ihr denn voran mit<br />

diesem Nuttengemetzel? Ein interessanter Fall. Ihr Vorgesetzter,<br />

dieser Zefhahn hat mich kurz eingewiesen.“<br />

„ Ach Gott, was soll man schon auf die Beine bringen innerhalb<br />

von vierundzwanzig Stunden. Das wird eine verzwickte<br />

Sache. Hunderte von potentiellen Tätern, keine<br />

Zeugen bis jetzt. Da bleibt nur die Hoffnung auf unsere<br />

Spezialisten. Vielleicht ist doch was an den Leichen hängen<br />

geblieben. Speichel, Haut oder Fussel von Textilien<br />

etwa.“<br />

„ Na, ich werde mich auf dem Laufenden halten. Das wird<br />

man alles wieder uns ankreiden, wenn da geschludert<br />

wird. Jetzt fahren Sie schon los, sonst entfleucht er Ihnen<br />

noch. Bis bald.“<br />

Kimrod nickte kurz und schwang sich in den Sattel. Der<br />

Stadtstreicher war bereits hinter einer Biegung verschwunden.<br />

Kimrod holte ihn kurz vor einem fahrbaren


Imbissstand ein. Es war nicht schwer zu erraten, was den<br />

Clochard so magisch anzog. Kimrod stopfte ihm den<br />

Schein in die Manteltasche und wünschte ihm einen<br />

schönen Tag. Der Penner prüfte den Zwanziger kurz und<br />

trottete selig weiter, dem Lockruf des Alkohols folgend.<br />

Die Sonne war wieder hinter einem grauen Schleier verschwunden.<br />

Kimrod begann zu frieren. Sein Sportdress<br />

machte zwar optisch viel her, ließ einen aber bei tieferen<br />

Temperaturen im Stich. Für kühle Witterung gab es spezielle<br />

Monturen, die der vorausschauende Verbraucher<br />

längst erstanden hatte. Die Freizeitindustrie hielt für jeden<br />

erdenklichen Anlass die maßgeschneiderte Ausrüstung<br />

parat. Mit der Laufgarnitur zum Parkplatz, zum Tennisplatz<br />

weiter mit dem Cabriokäppi, dort ins Dress des Wimbledonsiegers<br />

oder bei Bedarf in den Allwetteranzug. Anschließend<br />

ein paar Drinks in der Lounge. Natürlich im<br />

englischen Zwirn. Die Liste ließ sich fast endlos fortsetzen.<br />

Besonders wenn man Kinder hatte, ging dieser<br />

Kostümierungszwang schwer ins Geld. Man will bei den<br />

Nachbarn nicht auffallen und als arm gelten.<br />

Der Kommissar strengte sich an und war in fünfzehn Minuten<br />

zu Hause. Die Schenkel schmerzten und seine Atmung<br />

begann zu rasseln. Da kam einem jede Zigarette<br />

hoch. Oder war er einfach schon zu alt für solche Extratouren,<br />

kam er gar in die Wechseljahre? Kimrod verstaute<br />

sein Rad und wagte den Aufstieg trotz allem über die


Treppe. Er hatte keinen Schlüssel dabei und läutete. Ingrid<br />

linste kurz durch den Spion und sperrte auf.<br />

„ Mutti hatte einen Anruf bekommen und musste weg. Irgendeine<br />

dringende Besprechung. Du weißt, wie nötig es<br />

die Parteifritzen zur Zeit haben.“<br />

Kimrod nickte und ging in die Küche. Im Kühlschrank<br />

stand eine schöne, große Flasche Mineralwasser, die laut<br />

Hersteller mit regenerierenden Substanzen versetzt war.<br />

Das staatliche Drogenveto wurde eigentlich immer lächerlicher.<br />

Viele Lebensmittel prahlten mit aufputschenden Ingredienzien,<br />

die auf dem Index stehenden Stoffen an<br />

Wirksamkeit und Gefährlichkeit oft nicht nachstanden.<br />

Kimrod hatte kein Chemiestudium absolviert und schluckte<br />

die erfrischende Mixtur ohne weiteres Nachdenken. Der<br />

kleine Ausflug war nicht ohne gewesen. Er nahm sich vor,<br />

wieder mehr für seine Fitness zu tun. Wenn er so weiter<br />

machte, konnte ihn jeder Eierdieb auf fünfzig Meter abhängen.<br />

Kimrod aß noch ein paar Brote und trank dazu Kaffee. Ingrid<br />

leistete ihm Gesellschaft. Er überlegte, ob er ihr von<br />

dem Vorfall im Park erzählen sollte. Besser nicht, dass<br />

würde sie nur ihrem Bruder vorwerfen und er wollte keinen<br />

Keil zwischen die Kinder treiben. Vielleicht wusste sie<br />

noch etwas über diese Claudia. Um zwölf traf er sich mit<br />

Remke am Steubenplatz. Je mehr er von dem Mädchen<br />

wusste, desto zielstrebiger konnte er ihrem Bruder gegenüber<br />

auftreten, der für nassforsch und blindlings fragende<br />

Polizisten bestimmt kein offenes Ohr hatte. Zef-


hahn hatte eine Andeutung gemacht, dass Mustafa kein<br />

unbeschriebenes Blatt mehr wäre. Vielleicht wusste Remke<br />

mehr. Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Wahrscheinlich<br />

ächzte seine Lunge auch nur vom Verfolgen.<br />

„ Du hast doch gesagt, dass du Claudia näher kanntest.<br />

War sie alleinstehend oder gab es einen Freund?“ fragte<br />

er seine Tochter.<br />

Ingrid biss sich auf die Fingernägel. Irgendwas ging in ihr<br />

vor, das sie nervös machte. Sein Instinkt sagte ihm, woher<br />

diese Unruhe kam.<br />

„ Hat das irgendwas mit eurer Gemeinde zu tun? Du<br />

kannst mir das ruhig erzählen, weil wir es sowieso herausfinden<br />

werden. Es passiert nicht zum ersten Mal,<br />

dass Sektenmitglieder unter mysteriösen Umständen in<br />

die ewigen Jagdgründe eingehen.“<br />

Kimrod schien den richtigen Ton gefunden zu haben. Seine<br />

Tochter hob trotzig den Kopf.<br />

„ Das sind Schauermärchen aus der Regenbogenpresse.<br />

Wir sind keine Sekte, sondern eine christliche Gemeinschaft.<br />

Eine der letzten intakten. Vielleicht diffamiert man<br />

uns deswegen unentwegt. Kann sein, dass du vielleicht<br />

Recht hast. Bevor dauernd deine Grützköpfe auf unseren<br />

Grundstücken herumschleichen, sage ich es dir lieber<br />

selbst. Claudia hatte einen Freund, der die Toten Brigaden<br />

unterstützte und deswegen im Untergrund lebt. Mehr weiß<br />

ich auch nicht. Das hat sie Stähler offenbart, bei einer Sitzung.“


„ Das fällt quasi unters Beichtgeheimnis. Wenn er im Untergrund<br />

lebt, dürfte es keine große Kunst sein, mehr über<br />

ihn in Erfahrung zu bringen. Das Bundeskriminalamt und<br />

der Verfassungsschutz verfügen über sehr umfangreiche<br />

Datenbanken. Aber jetzt geht es quer durch den Gemüsegarten:<br />

von ganz links nach rechts außen. Der Fall artet<br />

jetzt schon aus. Bin gespannt, wie das weitergeht.“<br />

„ Ich nicht.“<br />

Ingrid zog sich beleidigt in ihr Zimmer zurück. Die Toten<br />

Brigaden waren eine der Nachfolgegenerationen der Roten<br />

Armee Fraktion. Wer der legitime Erbe dieser legendären<br />

Truppe war, blieb umstritten. Die Toten Brigaden<br />

machten jedenfalls ihrem Namen alle Ehre. Wo Politiker<br />

und Industriegrößen um die Ecke gebracht wurden, waren<br />

die Brigaden nicht weit. Sprengungen aller Art und<br />

spektakuläre Entführungen komplettierten das Repertoire<br />

der Terroreinheit, die auch auf internationaler Ebene aktiv<br />

wurde und Kontakte zu befreundeten Bombenlegern<br />

pflegte.<br />

Zefhahn hatte wieder einmal geschlafen. Vielleicht war die<br />

Luper tiefer in diese Geschichte verstrickt gewesen und<br />

einem Femegericht zu Opfer gefallen. Bei diesen Fanatikern<br />

genügte oft schon der kleinste Verdacht und die Rübe<br />

rollte. Ihr Freund musste damit gar nichts zu tun haben.<br />

Die Kommandoebene scherte sich nicht um die Belange<br />

des Fußvolks. Sein Pech, wenn er sich mit einer<br />

Verräterin eingelassen hatte. Das war keine abwegige


Idee. Eine Nutte, die hochrangige Volksvertreter zu ihren<br />

Kunden zählte, musste für die Umsturzstrategen eine willkommene<br />

Informationsquelle gewesen sein. Was wurde<br />

doch nicht alles auf der Matratze geplaudert. Die frigiden<br />

Gattinnen interessierten sich doch längst nicht mehr für<br />

die Sorgen und Nöte des gestressten Führungspersonals.<br />

Da kam so ein kleines Kätzchen gerade recht. Endlich jemand,<br />

der zuhörte. Und irgendwann regte sich das Gewissen<br />

bei der Kleinen. Ein kleiner Tip an die richtige Adresse<br />

und schon kamen die Kameraden schwer in die<br />

Bredouille und wurden verklappt. Ein gefährliches Spiel,<br />

auf das sich wirklich nur abgebrühte Profis einlassen sollten.<br />

Amateure kamen nur allzu oft unter die Räder.<br />

Kimrod drückte die Zigarette aus und ging ins Wohnzimmer.<br />

Die Beleuchtung war immer noch nicht eingeschaltet.<br />

Aber recht viel konnten die Fische nicht versäumt haben.<br />

Ihr Umfeld bot selten etwas anderes als die öde Monotonie<br />

ihrer beengten Unterwasserwelt. Zweimal am Tag Futter,<br />

der Rest stupides Treiben in der Strömung der Kreiselpumpe.<br />

Und das bis zur Stunde Null. Die Menschen<br />

mussten ziemliche Sadisten sein.<br />

Kimrod versorgte die Guppies und legte sich aufs Sofa. Er<br />

stellte seinen Armbanduhrwecker auf zwanzig vor zwölf.<br />

Das war kein leichtes Unterfangen. Sein Chronometer war<br />

mit x-Knöpfen gespickt, die teilweise mit mehreren Funktionen<br />

belegt waren: Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Smogalarm,<br />

Stoppuhr, da fehlte nur noch der Geigerzähler.<br />

Kimrod hatte es bis dato noch nicht geschafft, alle mögli-


chen Operationen ohne Bedienungsanleitung durchzuführen,<br />

obwohl das hochbauende Gerät schon seit zwei Jahren<br />

sein linkes Handgelenk zierte.<br />

Gegen die These mit den Terroristen sprach Folgendes:<br />

Warum wurde auch Susanne Roschmann exekutiert? Zur<br />

Tarnung oder hatte sie ebenfalls für die Brigaden gearbeitet<br />

und zu viel gewusst? Und noch etwas passte nicht ins<br />

Bild. Die Reebokerevoluzzer, die sich gerne mit den Fetischen<br />

ihrer Yuppiealtersgenossen ausstatteten, hinterließen<br />

ihre Visitenkarte am Tatort oder schickten hölzerne<br />

Bekennerschreiben an Redaktionen und Behörden. Wollte<br />

man hier eine falsche Fährte legen, weil noch andere<br />

Gunstgewerblerinnen im Sold der Killer standen und noch<br />

arbeiteten?<br />

Alles nur Spekulationen, die einen scheinbar nicht weiterbrachten.<br />

Aber es war wichtig, alle Untiefen auszuloten.<br />

Jetzt gab es nämlich viele Bluthunde auf der Spur der<br />

Mörder außer der lächerlichen Soko Spreetöchter. Beispielsweise<br />

die Geheimdienste, die Sektierer mit Ingrid an<br />

der Spitze, die sensationsgeilen Journalisten, Mustafa,<br />

den Bruder der Luper. Vielleicht Mafiabanden, die es nicht<br />

gerne sahen, wenn in ihrem Bezirk ohne ihre Erlaubnis<br />

gemordet wurde, und so weiter und so fort.<br />

Was Emma wohl gerade treiben mochte? Lernte sie einem<br />

Jungfalken das Fliegen auf einer in Schweinsleber<br />

gebundenen Sonderausgabe des Kapitals? Die gegerbte<br />

Tierhaut wurde so schön glibberig von den Brunstsekreten


und schmatzte rhythmisch im Takt der Kopulierenden.<br />

Marx selig soll auch kein Kostverächter gewesen sein.<br />

Man konnte es ihr fast nicht verdenken. Verheiratet mit einem<br />

kleinen impotenten Schnüffler, eine Frau mit ihren<br />

Fähigkeiten. Hochintelligent, tatendurstig, von allen umschwärmt.<br />

Das musste doch schiefgehen. Siehe Wolf,<br />

siehe Ingrid. Ohne diese Flasche von Vater wären sie<br />

doch nicht ihren Rattenfängern in die Falle gegangen.<br />

Kimrod drehte sich um. Das sonore Brummen des Filters<br />

ließ ihn einnicken. Endlich vergessen, nicht mehr grübeln.<br />

Sanftes Schweben in den unergründlichen Sümpfen des<br />

Unterbewusstseins. Einfach herrlich.<br />

Später. Was bimmelte da nur so penetrant, eine riesige<br />

Glocke im Turm einer Kathedrale? Kimrod versuchte, sich<br />

die Ohren zuzuhalten, doch seine Arme bewegten sich<br />

nicht. Nein, nicht schon wieder. Der Glöckner springt in<br />

die Seile, aufhören! Er schlug die Augen auf. Sanft erklang<br />

die kleine Melodie, komm wach auf. Der Wecker,<br />

keine Glocke, das hatte ihn so gebeutelt. Musste sich<br />

auch noch im Schlaf alles ins Abstruse, Monströse verkehren?<br />

Er drückte wahllos auf ein paar Knöpfe und das<br />

Piepsen erlosch endlich. Kimrod ging ins Bad und wusch<br />

sich das Gesicht. Gott sei Dank bekam er noch keine<br />

Glatze. Das hätte aber auch an ein Wunder gegrenzt. Nur<br />

Männer mit zu viel Testosteron mussten doch um ihren<br />

Kopfschmuck bangen. Und von einem Hormonüberschuss<br />

konnte bei ihm wirklich nicht die Rede sein. Er schlüpfte<br />

in die Jacke und zog seine ausgelatschten Cowboystiefel


an. Wenigstens dieses Utensil hatte er aus seiner wilden<br />

Zeit herüberretten können. Da fühlte man sich gleich um<br />

zwanzig Jahre jünger.<br />

Er klopfte bei Ingrid, doch die Tür blieb verschlossen. Der<br />

Vogel war ausgeflogen, ohne sich zu verabschieden.<br />

Mussten denn alle Familienzusammenkünfte so abrupt<br />

und unfreundlich enden? Er überprüfte seine Taschen.<br />

Schlüssel, Portemonnaie, Papiere, alles da. Aber keine<br />

Zigaretten. Die lagen in der Küche. Kimrod holte sie und<br />

verließ die Wohnung. Der Wagen stand auf einem Grundstück,<br />

das bald wieder bebaut werden würde. Der zuständige<br />

Makler hatte Kimrod, dem gefürchteten Kommissar,<br />

gerne einen Stellplatz zur Verfügung gestellt. Kostenlos<br />

selbstverständlich. Jetzt würden es sich alle Ganoven<br />

zweimal überlegen. Ein Träumer. Kimrod wusste, dass es<br />

sich nur eine sichere Methode gab, die Autoknacker abzuschrecken:<br />

Einen möglichst heruntergekommenen<br />

Rostkübel, in dem ein auf das Armaturenbrett geklebtes<br />

Transistorradio für zehn Euro für die musikalische Untermalung<br />

sorgte. Aber man kam vom Regen in die Traufe.<br />

Die Schrotthaie witterten Bares und umkreisten gierig die<br />

Beute. Die fackelten nicht lange und verfrachteten die altersschwachen<br />

Mühlen in die Recyclingbetriebe. Ein Hunderter<br />

sprang dabei allemal heraus. Der Besitzer konnte<br />

sich dann mit seiner Versicherung herumschlagen, die<br />

überhaupt nur noch selten Teilkasko für Blechgreise anbot.


Kimrod startete und parkte den Wagen vorsichtig aus.<br />

Schräg hinter ihm stand ein dicker Daimler, dessen<br />

Alarmanlage bei der kleinsten Berührung ausgelöst werden<br />

würde. Also Vorsicht. Das Manöver gelang und Kimrod<br />

fuhr los. Es waren relativ wenige Autos unterwegs. Sie<br />

würden gut vorankommen. Remke wartete schon. Auf die<br />

U-bahn war noch Verlass. Kimrod bremste ab und entriegelte<br />

die Tür.<br />

„Tag Chef. Du bist ausnahmsweise mal pünktlich. Ich hatte<br />

mich schon auf einen kleinen Fußmarsch eingestellt,<br />

um dich aus den Federn zu werfen.“<br />

Remke grinste breit. Das war ein Sonntag nach seinem<br />

Geschmack. Sein junger Kollege hatte den Nachmittag<br />

bestimmt schon verplant gehabt und war genauso auf die<br />

Nase gefallen wie er selber. Kimrod erzählte von dem Auftritt<br />

der Camos am Teufelsberg.<br />

„ Sieh einer an. Die Herren von der Konkurrenz. Aber ich<br />

hätte mich auch nicht eingemischt ohne Marke und Pistole.<br />

So was schmeckt mir natürlich auch nicht. Zu zweit<br />

hätten wir mehr ausrichten können. Fahr nicht wie ein<br />

Henker. Ich habe gerade erst gegessen“, sagte Remke,<br />

der sich immer noch an seinem Gurtschloss zu schaffen<br />

machte. Das Ding wollte einfach nicht einrasten. Er gab<br />

es schließlich auf und lehnte sich fluchend zurück. Dann<br />

eben nicht.<br />

„ Wenn was passiert, zahlt der Staat. Also keine Bange.<br />

Außerdem kann ich mir schwer vorstellen, dass es hier


ein Teil gibt, das härter ist wie deine Birne. Zigarette?“<br />

fragte Kimrod.<br />

Remke nahm sich eine und drückte den Anzünder. Wieder<br />

Fehlanzeige. Kimrod gab ihm grinsend sein Feuerzeug,<br />

das auch erst nach etlichen Versuchen zu überreden war.<br />

„ Hast du schon Zeitung gelesen?“ fragte Remke.<br />

„ Nein. Ich darf doch zu Hause außer dem sozialistischen<br />

Gemeindeboten nichts lesen. Wie war denn das Echo?“<br />

Remke hatte einen Artikel ausgeschnitten.<br />

„ BamS. Soll ich dir vorlesen?“<br />

„ Nein, verschone mich. Fasse das Wichtigste zusammen.“<br />

„ Jawoll, Herr Lehrer.“<br />

Remke berichtete kurz und steckte den Artikel wieder ein.<br />

Sie hatten sogar die Fotos von den Leichen mit drin. Die<br />

Gerüchte schossen wild ins Kraut, aber irgendeinen konkreten<br />

Anhaltspunkt konnten auch die Redakteure nicht<br />

vorweisen. Man versprach, den Lesern täglich die neuesten<br />

Fakten zu liefern. Sie waren dabei sich festzubeißen,<br />

zweifellos.<br />

„ Wenigstens waren wir nicht auf dem Titel. Zu viel Werbung<br />

ist auch nicht gesund. Wie war!s denn in der Ubahn?<br />

Gestern ging dir doch die Muffe bis zum Anschlag.“<br />

Remke konnte nicht ganz folgen.<br />

„ Ich, warum? Ich fahr doch immer mit der U-bahn. Wieso<br />

Muffe?“<br />

„ Egal. Gestern hast du jedenfalls noch behauptet, man<br />

sticht dich ab im Gedränge, aber du lebst noch. Wenn wir


doch nicht immer quer durch die Stadt tigern müssten.<br />

Das nervt unheimlich.“<br />

Remke nickte mehrmals.<br />

„ Wem sagst du das. Ich habe heute Morgen schon wieder<br />

eine Kerze gestiftet.“<br />

Sie bogen um halb eins in die Prinzenstraße ein. Remke<br />

machte die Nummer ausfindig und Kimrod parkte den<br />

Wagen kurzerhand auf dem Gehsteig. Die Verkehrswachteln<br />

konnten sich ihre Verwarnungen sonst wo hinstecken.<br />

Sogar Remke hatte nichts einzuwenden. Die Wohnung<br />

lag im Keller eines dreistöckigen Mietshauses neuerer<br />

Bauart. Gar keine so schlechte Adresse. Dekorativer Efeu<br />

verlieh dem Gebäude einen gemütlichen Anstrich. Hier<br />

konnte man sich zu Hause fühlen.<br />

„ Dieser Mustafa muss ganz schön Kohle stecken haben.<br />

Ich könnte mir das nicht leisten“, sagte Remke und klopfte<br />

anerkennend auf die kupferne Dachrinne.<br />

„ Stimmt, aber lass uns mal machen. Ich will keine Wurzeln<br />

schlagen“, erklärte Kimrod. Sein Kollege drückte auf<br />

die Klingel. Es führte zwar nur eine schmale Steige hinunter<br />

ins Souterrain, doch alles war picobello sauber. Keine<br />

Schmierereien, kein Abfall, nichts. Remke donnerte mit<br />

der flachen Hand gegen die Tür. Wieder keine Reaktion.<br />

Jetzt wurde Remke laut.<br />

„ Aufmachen, Polizei! Bei drei schieß ich das Schloss auf.“<br />

Er griff tatsächlich nach seiner Pistole und spannte sie<br />

nachdrücklich. Nach einer Weile wurden Schritte hörbar.<br />

Eine verschlafene Stimme meldete sich gedämpft.


„ Was wollt ihr? Ich bin längst raus aus dem Geschäft.<br />

Heute ist Sonntag und ich habe keine Lust, mir irgendwelchen<br />

Quatsch anzuhören.“<br />

„ Wir sind wegen Ihrer Schwester hier. Sie wissen doch,<br />

was passiert ist!“ schrie Kimrod und bedeutete Remke, die<br />

Waffe verschwinden zu lassen.<br />

Mustafa ließ die Polizisten eintreten.<br />

„ Eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung. Muss ein<br />

hübsches Sümmchen gekostet haben.“<br />

Mustafa ging nicht auf Remkes Bemerkung ein und bat<br />

die Beamten, Platz zu nehmen. Sie lehnten dankend ab.<br />

„ Whisky, Wodka oder ein Bier?“ fragte der Hausherr anschließend.<br />

„ Für mich Whisky. Mit Eis, wenn!s geht“, gab Kimrod an.<br />

„Dasselbe“, knurrte Remke kurz.<br />

Hier stimmte doch was nicht. Von seiner Schwester hatte<br />

der Kerl noch kein Wort gesagt. Als ob sein Goldfisch eingegangen<br />

wäre. Kimrod stand interessiert vor dem riesigen<br />

Kaltwasserbecken, das vor Leben nur so wimmelte.<br />

„ Ich handle nicht mehr mit Rauschgift. Sie können sich<br />

die Mühe sparen. Einmal Knast hat mir gereicht“, sagte<br />

Mustafa gelangweilt. Kimrod drehte sich um.<br />

„ lhre Schwester wurde ermordet. Interessiert Sie das<br />

nicht?“<br />

„ Ich bin im Bilde, keine Sorge. Was wollen Sie von mir?<br />

Sie müssen sich an diesen Stähler wenden, nicht an mich.<br />

Der hat sie auf die Straße geschickt, nicht ich.“


Mustafa goss sich nach. Er trank seinen Whisky ohne Eis.<br />

Diese Bullen waren wie üblich Bauern und checkten<br />

nichts.<br />

„ Wo sind Sie beschäftigt?“ fragte Kimrod und widmete<br />

sich wieder dem Treiben der variantenreichen Gold-<br />

fischmutationen.<br />

„ Mal hier, mal da. Import-Export. Ich habe den zweier<br />

Schein. Da kommt man gut durch, wenn man bis in den<br />

Irak runter blockert.“<br />

„ Haben Sie eine Idee, wer Ihre Schwester ermordet haben<br />

könnte? Hatte sie Feinde? Zuhälter?“<br />

Kimrod musterte den jungen Mann eindringlich. Aber da<br />

passierte nichts, kein Zucken, null Gefühl.<br />

„ Woher soll ich das wissen. Ich sah sie zum letzten Mal<br />

vor zwei Jahren. Diese Schlampe, mit der sie immer zusammen<br />

war, ist Gott sei Dank auch mit drauf gegangen.<br />

Ein Glück, sonst hätte ich sie erledigen müssen. Die hat<br />

das alles ausgeheckt. Eine richtige Drecksau.“<br />

Er leerte hastig sein Glas und schenkte sich nach. Remke<br />

hatte sich inzwischen im Bücherregal umgesehen. Mehrere<br />

Koranausgaben, auch im arabischen Original. Philosophische<br />

Texte, offensichtlich ein aufgewecktes Bürschchen.<br />

„ Sind Sie sehr religiös und wollen vielleicht deswegen<br />

nichts mehr mit ihrer Schwester zu tun haben“, fragte<br />

Remke Mustafa.<br />

„ Das geht Sie nichts an. Für Frauen wie meine Schwester<br />

gibt!s eigentlich nur eine Strafe. Die hat sie bekommen.


Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“, antwortete Mustafa<br />

und zündete sich eine Zigarette an.<br />

„ Ein guter Moslem trinkt doch keinen Alkohol und handelt<br />

nicht mit Drogen. So weit kann es mit Ihrer Lauterkeit also<br />

nicht her sein“, sagte Remke provozierend.<br />

Mustafa stieß einen unverständlichen Fluch aus und<br />

nahm noch einen Schluck.<br />

„ Aber für die Ungläubigen sind Kleider aus Feuer geschnitten;<br />

gegossen wird siedendes Wasser über ihre<br />

Häupter, das ihre Eingeweide und ihre Haut schmilzt. Und<br />

eiserne Keulen sind für sie bestimmt (Koran, Sure 22 ). Ihr<br />

könnt euch also auf einiges gefasst machen. Und nicht<br />

erst im Jenseits. Der Kampf wird auch hier ausgefochten.<br />

Ihr seid Dschahannams Brennstoff (Sure 21), mehr nicht.“<br />

Mustafas Stimme war schneidend geworden. Man merkte,<br />

dass ihm die Koranzitate sehr viel bedeuteten.<br />

„ Was für Brennstoff bitte? Ich kenne nur Koks und Kohlen.“<br />

Remkes Kommentar war nicht sehr gelungen. Auch Kimrod<br />

schüttelte den Kopf.<br />

„ Wir wollen uns hier nicht mit Zitaten bewerfen. Das ist<br />

ein Sport für alte Männer. Ich dachte mir einfach, Sie<br />

könnten uns behilflich sein. Es kann doch nicht in Ihrem<br />

Interesse liegen, dass der Mörder unbescholten durch die<br />

Gegend läuft.“<br />

„ Allah wird ihn richten. Eure Strafen kenne ich. Zehn Jahre<br />

auf Staatskosten. Dreimal täglich warm essen, im Winter<br />

Heizung und ein Dach über dem Kopf. Wie viele auf


dieser Erde wären froh darüber? Aber diese Sache wird<br />

nicht hingenommen. Diese Hakenkreuzler, die eure Regierung<br />

unterstützt, sind dafür verantwortlich. Und jetzt<br />

gehen Sie. Ich will alleine sein.“<br />

Mustafa drückte die Zigarette auf seinem Handrücken<br />

aus, ohne einen Laut von sich zu geben. Kimrod führte ihn<br />

in die Küche und hielt ihm die Hand unters fließende<br />

Wasser.<br />

„ Allah kennt bestimmt auch die Worte vergeben und verzeihen.“<br />

Mustafa zog seine Hand zurück.<br />

„ Sie hat nie bereut. Jetzt ist es zu spät dafür. Nun gehen<br />

Sie schon.“<br />

„ Falls Sie es sich noch anders überlegen. Hier ist meine<br />

Nummer.“<br />

Kimrod gab ihm einen vorbereiteten Zettel und verließ mit<br />

seinem Kollegen die Wohnung. Mustafa hatte das Wasser<br />

schon wieder abgestellt. Allah ist mit den Standhaften.<br />

Der Ford war noch da. Nur der Außenspiegel fehlte und<br />

die hintere Stoßstange hing etwas weiter herunter als vorhin.<br />

Kimrod stieg ein und ließ den Motor an. Remke hatte<br />

vergessen, seine Tür zu verriegeln.<br />

„ Hast du ein Glück. Wenn man uns das Funkgerät ausgebaut<br />

hätte, säßest du jetzt schön in der Scheiße. Du<br />

wärst einen halben Monatslohn losgeworden. Und Zefhahn<br />

hätte dich mit Katzenkacke erschossen“, sagte Kimrod<br />

schadenfroh.<br />

Remke klopfte verächtlich gegen die veraltete Anlage.


„ Dieses Teil gibt es in jedem Supermarkt gratis, wenn<br />

man zehn Schachteln Waschpulver gekauft hat. Außerdem<br />

bist der Fahrer und für den Wagen verantwortlich.<br />

Dein Zefhahn besteht übrigens ausschließlich aus Katzenscheiße,<br />

auch wenn er in letzter Zeit auf den Hund gekommen<br />

ist. Wieso hat sich dieser Vogel eigentlich die Zigarette<br />

auf der Hand ausgedrückt? Der Aschenbecher<br />

stand doch gleich daneben. Wollte er testen, ob er für seine<br />

Tschanahama als Brennstoff geeignet ist? Du bist doch<br />

unser großer Bibelforscher. Was hatte das zu bedeuten?“<br />

„ Wenn du erfahren würdest, dass deine Schwester gerade<br />

in der Hölle gelandet ist, würdest du vielleicht auch etwas<br />

die Kontrolle verlieren. Claudia war schon länger für<br />

ihn gestorben, nun ist auch ihre Seele den Bach runter<br />

gegangen. Den Ungläubigen die Hölle.“<br />

Kimrod fuhr ein paar Meter auf dem Trottoir entlang und<br />

fädelte dann in den Verkehr ein. Remke legte seine Stirn<br />

in Falten.<br />

„ Als Moslem darf man also mit Drogen handeln, mit allem<br />

was dazugehört, aber nicht auf den Strich gehen, und<br />

muss teuflische Christen in den siebten Himmel befördern.<br />

Das ist eine Logik, der ich nicht ganz folgen kann.“<br />

„ Weil du eben ein Ungläubiger bist. Mit Logik hat das<br />

nichts zu tun. Ich stelle mir das so vor: Er handelt mit Drogen<br />

und erzielt damit enorme Gewinne. Wenn er wenigstens<br />

einen Teil davon für den heiligen Krieg opfert, ist die<br />

Sache wieder geritzt. Die Welt des Islams besteht aus<br />

zwei Etagen. Oben die Moslems, unten die Ungläubigen.


Bis alle Ungläubigen vernichtet oder bekehrt sind,<br />

herrscht Krieg. Zumindest für die Fundamentalisten. Und<br />

im Krieg sind bekanntlich alle Mittel erlaubt, auch wenn<br />

das der Koran nicht eindeutig regelt. Claudia gab ihr Gehalt<br />

Stähler, der dadurch zu ihrem Zuhälter wurde. Da lag<br />

der Gute vielleicht gar nicht so daneben. Wenn man bedenkt,<br />

für null Leistung von einer Nutte Geld kassieren,<br />

das ist Förderung der Prostitution. Vielleicht kann man ihn<br />

damit endlich festnageln. Jedenfalls ist Stähler kein Mullah,<br />

sondern ein Mann, der Irrlehren propagiert. Das Geld<br />

wurde für eine dem Islam zuwiderhandelnde Geschichte<br />

investiert. Alles war folglich verdammenswert. Capito?“<br />

„ Na ja, man kann!s immer hinbiegen wie man es gerade<br />

braucht. Das hat unser Mustafa doch vorhin angedeutet.<br />

Er verdiene sich seine Kröten mit Fahrten in den Irak, beispielsweise.<br />

Was mag der unseren speziellen Freunden<br />

so liefern? Drogen sind passe.“<br />

„ Was der transportiert? Waffen vielleicht, wenn sie nicht<br />

schon alles haben. Wäre fast mal wieder Zeit für einen<br />

neuen Schlagabtausch. Um einen Überblick zu gewinnen,<br />

was es Neues auf dem Markt gibt.“<br />

Kimrod schaltete das Radio ein. Deutsche Schlager. Das<br />

war auch Remke recht. Ein Programm für die ganze Familie.<br />

Der Verkehr war immer noch ruhig, nur wenig Sonntagsfahrer,<br />

die die Überholspuren blockierten. Am Sockel<br />

der Siegessäule kreisten circa dreißig schwarz gekleidete<br />

Männer um das Denkmal. Sie schwangen ihre Fahnen


und schmetterten großdeutsche Lieder. Ein rühriger Anblick.<br />

Kimrod ließ sein Fenster herunter und drehte eine<br />

Ehrenrunde. Die Hakenkreuzler grüßten unablässig und<br />

richteten ihre Blicke in den Himmel. Vielleicht wurden ihre<br />

Gebete erhört und der Führer inkarnierte. So inbrünstig<br />

wie seine Jünger hier ihre Freiluftmessen zelebrierten,<br />

wäre das kein Wunder gewesen; Heimkehr in sein Germania.<br />

Nicht nur böswillige Journalisten hatten sich schon<br />

gefragt, ob die Baupläne für das neue Berlin nicht doch<br />

von Hitler stammten. Oder zumindest von Speer. Zwei<br />

Größen der Gestaltung, die leider von den Wirrnissen der<br />

Zeit an der Verwirklichung ihrer architektonischen Vorhaben<br />

gehindert wurden. Bauherren, die zu Meistern der<br />

Zerstörung pervertierten. Ein schöner Gedanke.<br />

„ Na grüße doch deine Freunde schön. Du brauchst dich<br />

vor mir nicht zu genieren. Nur hoch die Flosse“, sagte<br />

Kimrod und griff Remke unter die Achsel.<br />

Remke kurbelte die Scheibe herunter und winkte freundlich.<br />

Die entrückten Recken würdigten ihn keines Blickes.<br />

Der Staat übersah inzwischen die ehemals streng verbotenen<br />

Insignien der Ultrarechten. Die lausbübisch veränderten<br />

Hakenkreuze, silbrig glänzenden Runen am Kragenspiegel...<br />

sollten sie doch. Man war eine gefestigte<br />

Demokratie und hatte derlei Spitzfindigkeiten nicht mehr<br />

nötig. Schließlich rührten auch die Antipoden mit Hammer<br />

und Sichel auf der Standarte ihre verrostete Werbetrommel.


Remke ging bereitwillig auf den Scherz seines Kollegen<br />

ein. Der kam ihm gerade recht.<br />

„ Sieh dir diese hochgeschossenen Heroen des Abendlandes<br />

an. Blond, blauäugig, bebend vor Kraft und zupackender<br />

Stärke. Das wäre doch schönes Wachpersonal.<br />

Gefeit gegen unmännliche Gefühle wie Mitleid und Barmherzigkeit,<br />

gesintert von der hehren Flamme des arischen<br />

Nordens...“<br />

„ Ja, ja, ich weiß schon, auf was du hinaus willst. Ganz so<br />

wie Wolf, der Fenriswolf, der am Tag der Götterdämm-<br />

erung seine Kette zerreißt und mit der Mitgardschlange<br />

die Welt verwüstet. Mein Wolf, du wolltest...“<br />

„ Nein, das ist dein Komplex. An den Jungen dachte ich<br />

nicht, bewusst jedenfalls. Aber wer ist jetzt der Hakenkreuzler?<br />

Fenriskette, Mitgardschlange, das sind böhmische<br />

Dörfer für mich. Da kann ich dir nicht das Wasser<br />

reichen. Kommst du noch mit auf ein Bier?“<br />

„ Danke, mir reicht!s noch von gestern. So blau war ich<br />

schon lange nicht mehr. Ein anderes Mal gern.“<br />

Sie erreichten den Steubenplatz gegen halb zwei. Remke<br />

stieg aus und Kimrod machte sich auf Parkplatzsuche.<br />

Sein Platz war belegt. Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge<br />

wurden zwar laut Schild kostenpflichtig entfernt,<br />

aber das lohnte die Mühe nicht. Nachher stellte sich heraus,<br />

dass kein Auto widerrechtlich parkte und er konnte<br />

die Kosten für die An- und Abfahrt des Abschleppdienstes<br />

berappen. Vielleicht hatte dieser Makler noch mehr<br />

Freunde, die er mit denselben Quadratmetern bedacht


hatte. Kimrod fuhr so lange um den Block bis etwas frei<br />

wurde. Endlich kam eine junge Mutti mit zwei Kleinkindern<br />

und räumte nach langem Rangieren das Territorium. Kimrod<br />

zwängte sich in die Lücke und stellte die Parkuhr ein.<br />

Zwei Stunden waren erlaubt, ein Ticket war ihm fast sicher.<br />

Doch bei einem Dienstwagen konnte man sich immer<br />

herausreden. Die Verwarnungsgebühren übernahm<br />

im Zweifelsfall der Staat. Man berief sich darauf, in der Eile<br />

des Gefechts vergessen zu haben, wer am Steuer gesessen<br />

hatte. Kimrod machte sich auf den Heimweg. Es<br />

war doch noch ein schönes Stück zu laufen.<br />

Emma war noch nicht zu Hause. Er ging in die Küche und<br />

schlug drei Eier in die Pfanne. Neben dem Brotkasten lag<br />

eine Notiz von Ingrid.<br />

Habe noch viel zu tun mit dem Umzug und schleiche mich<br />

deshalb davon. Du hast so schön geschnarcht. Alles Gute,<br />

Paps, deine Maus.<br />

Lieb, immerhin war sie nicht mehr böse auf ihn. Er zerkleinerte<br />

eine Zwiebel und hob die entstandenen Ringe<br />

unter die Eier. Im Kühlschrank lag eine welke Gurke. Die<br />

schlappe Frucht erinnerte ihn an ein gewisses Körperteil.<br />

Das grenzte schon an Verfolgungswahn....Das Kübisgewächs<br />

ließ sich gut schälen und lag satt in der Hand, ein<br />

ordentlicher Brocken. Es musste nicht immer alles bis in<br />

die letzte Faser steif sein. Der wahre Könner liebte doch<br />

mit lässiger Eleganz und glich mangelnde Härte mit<br />

Durchhaltevermögen aus. Diese schnellen, steil aufgerichteten<br />

Hundsruten standen einem Pubertierenden besser


zu Gesicht als dem reifen Lover. Aber wenn sich gar<br />

nichts mehr rührte? Dann eben nicht.<br />

Er hobelte die Scheiben mit Verve in eine kleine Schüssel<br />

und vervollständigte den Salat mit Essig und Öl. Ein bisschen<br />

zu viel Essig, doch das passte fast wieder zu dem<br />

abgelederten Schniepel, den er sich da zubereitet hatte.<br />

Die Eier waren auch so weit. Er aß gleich aus der Pfanne.<br />

Eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter dazu und ein kerniges<br />

Menü war fertig. Moment, die Krönung, ein gekühltes<br />

Helles. Fast hätte er es vergessen. Nachdem er die Pfanne<br />

leer geräumt hatte, vertilgte er den Rest des Salats.<br />

So, noch einen kurzen Schluck zum Runterspülen und ab<br />

mit dem Geschirr in die Pfanne. Die Arbeit war getan, das<br />

Verlangen gestillt. Man konnte zum gemütlichen Teil übergehen.<br />

Er zündete sich eine Zigarette an und genoss die<br />

Friedlichkeit der Stunde. Sonntagnachmittage im Herbst<br />

hatten auch was für sich. Man saß da und ließ die Zeit<br />

verstreichen. Warum nicht?<br />

Nachdem er die Kippe ausgedrückt hatte, legte er sich im<br />

Wohnzimmer aufs Sofa und widmete sich seiner Lektüre,<br />

einem Buch über die aufstrebenden Staaten Afrikas. Der<br />

Autor zeigte auf, was wo ging, hütete sich vor Verallgemeinerungen<br />

und hielt keine billigen Patentrezepte parat.<br />

Er erwies sich dabei als profunder Kenner der afrikanischen<br />

Geschichte, die bei ihm nicht erst mit dem Hissen<br />

der Kolonialflagge begann. Einige Grundmuster traten dabei<br />

öfters in Erscheinung: konkurrenzfähige Landwirtschaft,<br />

solides Handwerk und eine arbeitsplatzsichernde


Kleinindustrie, die einheimische Rohstoffe verarbeitete.<br />

Das waren die Faktoren, die den Schwellenländern zwar<br />

nicht gleich zum Großmachtstatus auf dem Weltmarkt<br />

verhalfen, doch die sie zu ernstzunehmenden Partnern in<br />

der Region avancieren ließen. Wenn man sie ließ.<br />

Von den ehemaligen Kolonialherren konnten folgende Errungenschaften<br />

übernommen werden: reger Austausch<br />

zwischen den Ökonomien, Abbau der Handelshemmnisse<br />

und Zölle, Freizügigkeit für Personen und Sachen und<br />

Beilegung aller Feindseligkeiten zwischen und innerhalb<br />

der Nationen. Das war natürlich leichter gesagt als getan.<br />

Wie lange und erbittert hatten die Europäer gerungen, um<br />

zu diesen Einsichten zu gelangen? Doch während etlicher<br />

Jahrhunderte und unter größten Opfern hatte man sie gezeugt<br />

und hochgepäppelt, diese Prämissen für das Prosperieren<br />

einer Gesellschaft. Nun sollte der schwarze<br />

Kontinent über Nacht dieselben Schritte vollziehen, unter<br />

denkbar ungünstigen Voraussetzungen.<br />

Die Werkzeuge des modernen Imperialismus waren nicht<br />

mehr nur Kanonenboot und Nilpferdpeitsche, sondern<br />

auch Rohstoffpreise und Zinsschraube. Die Direktiven<br />

wurden nicht im Weißen Haus oder im Kreml, sondern an<br />

den Börsenplätzen und in den Vorstandsetagen der<br />

Großbanken ausgegeben. Zwei- bis dreistellige Außenstände,<br />

in Milliarden Dollar, waren die Regel und nicht die<br />

Ausnahme, die Rückzahlung fast immer Utopie. Doch darum<br />

ging es gar nicht. Praktisch und erwünscht war das<br />

Abhängigkeitsverhältnis, das sich daraus ergab. Wer nicht


tilgen wollte, vorzugsweise in Naturalien, sprich Rohstoffe<br />

wurde vom Finanztropf abgehängt und boykottiert. Der<br />

Technologietransfer kam zu Erliegen. Die verkleidete Art<br />

von Sklaverei, die daraus erwuchs, konnte laut Verfasser<br />

nur durch Zusammenarbeit vor Ort abgeschafft werden.<br />

Erst wenn sich die Schuldner untereinander einig wurden,<br />

geschlossen Verhandlungen führten und Forderungen<br />

stellten, konnten sie ihr beklagenswertes Schicksal überwinden.<br />

Kriege, Seuchen, Hungersnöte, das waren die Resultate<br />

dieser verfehlten Strategie, bei der die Afrikaner nur vorläufig<br />

die Hauptleidtragenden waren. Die Kassenbons, die<br />

den Industrieländern auf den Tisch flatterten, hießen ökologische<br />

Katastrophen, Migrationswellen, die gegen die<br />

durchlässigen Tore der Ersten Welt brandeten und Radikalisierung<br />

der unterentwickelten Staaten, die ihre Waffen<br />

immer unverhohlener gen Norden richteten.<br />

Auch wenn nach dem Abholzen des Amazonasregenwaldes<br />

bis auf einen kläglichen Rest von zwanzig Prozent<br />

des ursprünglichen Bestandes noch keine neue Warmzeit<br />

begonnen hatte, kristallisierte es sich doch heraus, dass<br />

die Kapitäne des Kontors denkbar ungeeignet waren, die<br />

Geschicke so großer Gebiete von globaler Bedeutung zu<br />

bestimmen. Wer nur von Quartal zu Quartal dachte und<br />

arbeitete und Ökologie für eine lästige Erfindung verkrachter<br />

Spinner hielt, war überfordert bei der Entwicklung von<br />

Überlebensstrategien und misstraute jedem, dem nicht<br />

hauptsächlich Bilanzen zwischen den Ohren rotierten. Der


Autor schlug sogar die Etablierung eines allmächtigen<br />

Kontrollrats vor, in dem wenige Experten wie auf einem<br />

Kriegsschiff die absolute Kommandogewalt inne hatten<br />

und den havarierten Riesen mit präzisen Anweisungen<br />

aus der Gefahrenzone bugsieren sollten. Ein Organ, dessen<br />

Skelett schon in Form der UNO vorhanden war. Man<br />

musste es nur noch mit Leben, sprich allgemein akzeptierter<br />

Autorität, ausfüllen.<br />

Doch welcher Staat und welche Konföderation war bereit,<br />

zusätzliche Souveränität aufzugeben, auch wenn dies<br />

zum Wohle der Menschheit geschah? Und Sinn machte<br />

eine solche Institution auch nur, wenn sie von einem breiten<br />

Konsens getragen wurde. Und der war augenblicklich<br />

dank der weltweiten Wirtschaftskrise weiter entfernt denn<br />

je.<br />

Die Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcen, dieser<br />

Begriff fehlte noch in der Fibel der Ökonomen, die oft noch<br />

mit den Vokabeln des zwanzigsten Jahrhunderts hantierten.<br />

Wieder einer jener apokalyptischen Untergangsreißer,<br />

die auf die latenten Ängste der Wohlstandsbürger spekulierten<br />

und einem altbekannten Zustand einen effektvollen<br />

Horroranstrich verliehen? Kimrod wollte sich noch kein Urteil<br />

erlauben. Er hatte bislang kaum ein Drittel der Abhandlung<br />

bewältigt. Er wurde müde, legte das Buch beiseite<br />

und döste bis um halb vier vor sich hin. Keine Verpflichtungen,<br />

keine Bedürfnisse, nur passives sich treiben<br />

lassen. Fernöstliche Kontemplation. Praktisch, wenn man<br />

so gescheite Kinder hatte.


Kimrod rauchte später in der Küche eine Zigarette und<br />

studierte dabei den Programmkompass. Strahl Drei, sein<br />

Lieblingssender, brachte den ersten Teil einer australischen<br />

Endzeittrilogie. Er hatte den Film schon mehrmals<br />

genossen. Das war keine vergeudete Zeit, sondern Unterhaltung<br />

vom Feinsten. Handlung: Polizisten im faschistoiden<br />

schwarzen Lederdress bekriegten sich mit einer<br />

Motorradgang; Moral: Gegen Gewalt hilft nur Gewalt und<br />

Gewissensbisse sind nur dazu da, um überwunden zu<br />

werden; Sehenswert: die Weite und Teilnahmslosigkeit der<br />

australischen Steppe, die den stimmungsvollen Hintergrund<br />

für die Asphaltmassaker fernab europäischer Enge<br />

und Begrenztheit lieferte; Nachschlag: Die Desperados<br />

gerieten fast sympathischer als der einsame Held mit stierem<br />

Blick, weil sie konsequent die Arbeit ihrer Väter vollendeten,<br />

die ihnen nur Ruinen hinterlassen hatten. Die<br />

Polizei kämpfte für eine Ordnung, die schon längst nicht<br />

mehr existierte. Die Vollstrecker des Gesetzes verwandelten<br />

sich selbst in Höllenjockeys; Lieblingssätze: Für die<br />

Bullen sind wir nur Menschenmüll und Du hängst am Haken,<br />

Max und du weißt es.<br />

Hing er tatsächlich am Haken? Zumindest finanziell , aber<br />

sonst, war der Beruf die einzige Erfüllung seines Daseins,<br />

konnte er ohne ihn nicht mehr weitermachen?<br />

Die <strong>Kopie</strong> war alt und abgewetzt, das verlieh dem Spektakel<br />

zusätzliche Authentizität. Schrott, Sand, Gewalt, sah<br />

so die Zukunft aus? Nach dem Film ging er draußen noch<br />

ein paar Schritte. Es wurde abends zusehends frischer,


der Sommer war unwiderruflich vorbei. Na ja, dann kam<br />

der Winter, das Frühjahr, immer dieselbe Leier, aber bald<br />

würde er es überstanden haben. Noch zwanzig, fünfundzwanzig<br />

Jährchen, eigentlich lächerlich wenig.<br />

Er ging wieder ins Haus und las weiter. Um sechs kam<br />

Emma. Sie stellte sich sofort unter die Dusche und brauste<br />

ausgiebig. Diese harten Sitzungen... ob sie es mit mehreren<br />

getrieben hatte? Kimrod zwang sich, an etwas anderes<br />

zu denken. Sie würde stutzig werden, wenn er<br />

ständig vor sich hingrinste. Sie aß etwas anschließend<br />

und fragte von der Küche aus, ob er noch ein Bier wolle.<br />

Warum nicht, ein bisschen Dröhnung konnte nicht schaden.<br />

Den Rest des Abends verbrachte das Ehepaar wie<br />

üblich vor dem sündteuren TV-Gerät. Was blieb einem<br />

auch sonst übrig? Lesen war anstrengend und quatschen<br />

nervig. Kimrod ging um halb zehn ins Bett. Emma kam um<br />

elf nach. Sie war nackt und drängte sich gleich an ihn. Er<br />

hatte so etwas schon befürchtet, weil sie auf dem Sofa so<br />

verliebt getan hatte. Der wöchentliche Spießrutenlauf war<br />

fällig. Er entledigte sich seines Pyjamas und ließ sie gewähren.<br />

Schon lag sie auf ihm und kreiste mit dem Becken<br />

über seiner ungeladenen Kanone. Ihre Brüste tanzten<br />

einladend vor seiner Nase, doch es war sinnlos. Auch<br />

als ihr drahtiges Schamhaar immer fordernder gegen sein<br />

Geschlecht scheuerte, erfolgte keine Reaktion. Es war<br />

zum Verzweifeln. Jeder andere wäre allein beim Anblick<br />

dieses Körpers gekommen. Saftige Knospen auf vollen<br />

Titten, ein Arsch so rund und formvollendet wie zwei Fuß-


älle, eine Wespentaille, die Beine einer Ballerina und nirgends<br />

Fett oder Wabbel. Alles straff und glatt. Das schrie<br />

förmlich nach der Verschmelzung mit einem potenten<br />

Stier. Und dann das, tote Hose, nichts.<br />

Sie rutschte von ihm herunter und ging ins Bad. Es war<br />

überstanden, die versuchte Vergewaltigung abgewehrt.<br />

Vielleicht wartete schon ein strammer Gummimax in ihrem<br />

Kosmetikschrank auf seinen Einsatz. Sie kam aber bald<br />

wieder zurück. Ging es ohne ihn schneller, war er nur<br />

noch ein Klotz an ihrem Bein?<br />

„ Du solltest dich endlich einmal in Behandlung begeben.<br />

Dieser Zustand muss einen doch ganz krank machen.“<br />

Sie war immer noch erregt, ein leichtes Tremolo lag in ihrer<br />

Stimme. Hoffentlich war der Vulkan schon ausgebrochen.<br />

Noch so eine Prozedur würde er nicht überleben.<br />

Angriff ist die beste Verteidigung.<br />

„ Oder im Sexshop eine Salbe kaufen. Nach drei Tagen<br />

fault dir dann die Kappe weg. Nein danke. Ich kann mir<br />

keinen Seelenklempner leisten. Meine Kasse zahlt nicht<br />

einmal für Knoblauchdragees. Außerdem ist das alles<br />

Humbug. Wenn es nicht mehr geht, geht!s eben nicht<br />

mehr. Dem Nachwuchs eine Chance“, sagte Kimrod sarkastisch.<br />

„ Wie soll ich denn das verstehen? Meinst du, ich habe<br />

mich schon nach einem Nachfolger umgesehen, einem<br />

der sich mehr Mühe gibt? Du weißt genau, dass ich mir<br />

das so kurz vor den Wahlen nicht leisten kann. Man legt<br />

heute wieder Wert auf geordnete Verhältnisse. Aber du


könntest es doch mal mit einer Professionellen versuchen.<br />

Vielleicht fehlt dir dieser Zug ins Vulgäre.“<br />

Dass sie immer noch so sauer wurde. Diese Übung wiederholten<br />

sie schon zum x-ten Male, mit dem altbekannten<br />

Ergebnis. Er hatte doch Grund zum frustriert sein,<br />

nicht sie.<br />

„ Gelegenheit hatte ich gestern mehrmals. Ich setze dein<br />

Einverständnis in Zukunft also voraus. Und jetzt lass mich<br />

bitte schlafen. Ich habe einen harten Tag vor mir.“<br />

Emma knipste das Licht aus und rückte ihrem Gemahl<br />

nicht mehr auf den Leib. Zum Schluss organisierte er sich<br />

noch in einer Männergruppe.<br />

12.10 MONTAG<br />

Die Woche begann vielversprechend. Auf das Hauptquartier<br />

der Camos war um fünf Uhr fünfundvierzig ein<br />

Sprengstoffattentat verübt worden. Maikovsky hatte sich<br />

schon vor Ort informiert und erstattete in seinem Büro vor<br />

versammelter Mannschaft Bericht.<br />

„ Zwei Zimmer brannten komplett aus, etliche weitere<br />

Räume wurden schwer beschädigt. Es ist noch unklar, wie<br />

die Sprengsätze ins Haus gelangten. Man fand keine Spuren<br />

an den Türen. Die Täter müssen also aus dem Profi-


lager kommen. Oder sie hatten Nachschlüssel. Gott sei<br />

Dank war das Haus noch leer, die Putzfrauen kommen<br />

erst eine Stunde später. Der Sachschaden dürfte beträchtlich<br />

sein. Mehrere Computer zerschmolzen, Videoeinrichtungen<br />

gingen hops. Hoffentlich sind die Jungs gut versichert.“<br />

„ Eine warme Sanierung, das liegt doch auf der Hand.<br />

Wenn denen die Kohle ausgeht, fackeln sie ab.“<br />

Zefhahn löste sich aus dem Gewimmel. Er ließ Kimrods<br />

Verdacht nicht gelten.<br />

„ Nein, nein, das sind doch keine Bauern. Da steckt eher<br />

euer Mustafa dahinter. Was habt ihr denn erreicht?“<br />

Zefhahn schob Kimrod auf den Gang hinaus. Die Luft<br />

wurde bedeutend besser. Bullrichs Zigarillos stanken bestialisch.<br />

Direktimport aus Weißrussland.<br />

„Tja Chef, da war nicht viel. Der lässt sich nicht viel anmerken.<br />

Er sagte nur, dass der Tod seiner Schwester nicht<br />

ungesühnt bleiben würde. Sollen wir vorbei fahren und<br />

fragen, wo er die Nacht verbracht hat?“<br />

„ Nein, da kommen wir nur vom Hundertsten ins Tausendste.<br />

Ihr konzentriert euch auf die beiden Mädchen.<br />

Da müssen wir möglichst bald auf eine Goldader stoßen<br />

oder wie man da sagt. Sie wissen jedenfalls, was ich meine.<br />

Unseren Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen.<br />

Dann kommt alles andere von ganz allein. Konkret gesprochen<br />

heißt das Folgendes: Ihr knöpft euch jetzt sofort<br />

einen dieser Hakenkreuzler vor. Er heißt Sven Ohlins und<br />

wohnt in der Jungfernheide, Geitelsteig 30. Eine lange


Latte von Vorstrafen. Körperverletzung, Landfriedensbruch,<br />

Bildung verfassungsfeindlicher Vereinigungen. Ein<br />

ganz übler Bursche. Dem wäre so ein Ritualmord ohne<br />

weiteres zuzutrauen. Er arbeitet im Flughafen. Wenn er<br />

nicht zu Hause ist, schnappt ihr ihn euch dort. Falls er<br />

kein Alibi hat, nehmt ihr ihn euch vor. Er hat noch Bewährung.<br />

Wenn er nicht kuscht, durch den Wolf drehen. Ich<br />

gebe euch volle Rückendeckung. Diese Bande ist lange<br />

genug mit Samthandschuhen angefasst worden. Remke<br />

hat alles in seinem Notebook. Und jetzt los, diese Kerle<br />

dürfen nicht mehr zur Ruhe kommen. Wäre doch gelacht,<br />

wenn wir mit denen nicht fertig werden.“<br />

Zefhahn verschwand im Fahrstuhl. Wulke verlangte nach<br />

ihm. Ja, es brannte an allen Ecken und Enden. Die Stunde<br />

der Bewährung war gekommen. Kimrod schloss sich<br />

wieder seinen Kollegen an, die Maikovskys Vortrag über<br />

sich ergehen ließen. Dieser referierte inzwischen über die<br />

neuen Dienstfahrzeuge der Camos.<br />

„ Zwanzig pechschwarze Audi Quattros. Keiner unter hundertfünfzig<br />

PS. Hinter den Sitzen Gewehrhalter für die<br />

Mossbergs. Sicherheitsverglasung rundum, schusssichere<br />

Reifen. Sie steigen jetzt verstärkt in den VIP-Transport<br />

ein. Vielleicht könnt ihr mich eines Tages auch im Fond<br />

von so !ner Karre vorfinden, nach meiner längst überfälligen<br />

Entdeckung.“<br />

Endlich ging ihm die Luft aus. Wenn man ihn nicht ausreden<br />

ließ, brachte er es fertig, seinen Sermon über den<br />

Computer auf alle Schreibtische zu verteilen. Er war ein


egnadeter Hacker und man tat deshalb gut daran, es<br />

nicht darauf ankommen zu lassen.<br />

Kimrod und Remke zogen sich in ihr bescheidenes Domizil<br />

zurück, von allen treffend Besenkammer genannt, da<br />

sein Fassungsvermögen mit zwei Schreibtischen erschöpft<br />

war. Kimrod schenkte sich eine Tasse Kaffee ein<br />

und zündete sich eine Zigarette an. Das war wirklich mal<br />

eine erfreuliche Nachricht. Endlich bekam dieser Totsch<br />

sein Fett ab. Wenn dieser Mustafa auch mit drinsteckte,<br />

dann alle Achtung. Remke wusste seine gute Laune zu<br />

deuten.<br />

„ Da grinst sich einer einen ab. Du bist mir ja wirklich ein<br />

feiner Polizist. Und wenn deinem Sohn was passiert wär?<br />

Komm, lass uns abhauen, sonst fällt diesem Komiker wieder<br />

was Neues ein.“<br />

Er ließ es offen, ob er damit Maikovsky oder Zefhahn<br />

meinte.<br />

Über Nacht war ein kalter Ostwind aufgekommen. Dichte<br />

Wolken verdrängten den Hochnebel. Sie erreichten die<br />

Wohnung von Ohlins um zehn Minuten nach acht. Vielleicht<br />

schlummerte der braune Dreckspatz noch im Nest.<br />

Kimrod machte sich keine großen Hoffnungen. Ein kleiner<br />

Schläger, der sich mit aufgeschnappten Parolen wichtig<br />

machte, mehr nicht.<br />

Remke klingelte. Das war seine Domäne. Er würde auch<br />

nicht vor einer hochgezogenen Zugbrücke kapitulieren.<br />

Das Gebäude, ein schmaler, hoher Block, wirkte wenig<br />

einladend. Bei den permanenten Anwaltskosten und


Geldstrafen war wohl nicht mehr drin. Anstatt des rauflustigen<br />

SA-Verschnitts erschien die Hausmeisterin. Sie baute<br />

sich stilgerecht mit Putzeimer und Lockenwicklern im<br />

Treppenhaus auf. Die Polizisten brauchten sich nicht vorzustellen.<br />

„ Ich rieche euch fünf Kilometer gegen den Wind. Immer<br />

hacken sie auf dem Jungen herum. Dabei ist das ein anständiger<br />

Kerl, der dafür gerade steht, was er denkt. Und<br />

das schmeckt dieser Bagage nicht, diesem ganzen<br />

Zeugs, das unser schönes Deutschland ständig in den<br />

Dreck zieht. Sie können gleich wieder kehrt machen. Der<br />

Junge ist nicht da. Und ich werde mich hüten, ihm euch<br />

Bluthunde auf den Hals zu hetzen.“<br />

„ Sie werden doch. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl.<br />

Wir stellen die Hütte so lange auf den Kopf, bis er auf<br />

der Matte steht. Sie können Ihren Ruhestand glatt um<br />

zwei Jahre verschieben, so sieht!s danach hier aus.“<br />

Remkes Bluff zeigte Wirkung. Die Concierge ließ ihren<br />

Lappen auf die Fliesen klatschen.<br />

„ Er ist im Park, am Wildgehege. Wenn er Spätschicht hat,<br />

macht er da immer seine Übungen. Ein großer Kerl. Kurze,<br />

braune Locken und breite Schultern mit diesen Tätowierungen<br />

drauf.“<br />

„ Danke, wir kennen ihn. Wollen Sie ein Bild von ihm haben?“<br />

Remke klappte vorfreudig seine elektronische Spickkladde<br />

auf. Die Hausmeisterin wich einen Schritt zurück.


„ Ich kenne den Jungen. Wehe Sie fassen ihn mir wieder<br />

an. Er ist doch noch ein halbes Kind.“<br />

Remke bückte sich und drückte ihr den Putzlumpen in die<br />

Hand. Ihr mit Gold gespickter Mund öffnete sich immer<br />

weiter. Die Kommissare machten sich zu Fuß auf den<br />

Weg. Die Luft war seit langem endlich wieder erfrischend<br />

und bekömmlich.<br />

„ Das bewundere ich an dir so, Otto. Du weißt unsere Institutionen<br />

immer mit Respekt zu behandeln. Bis auf Zefhahn<br />

vielleicht, aber das ist nur ein Schönheitsfehler“,<br />

bemerkte Kimrod.<br />

„ Die deutsche Hausmeisterin waltet sein Generationen<br />

treu über den ihr anvertrauten Bereich. Unzählige Mieter<br />

hat sie an ihren großherzigen Busen gedrückt und vor den<br />

Unbilden der Straße bewahrt. Ihrer Umsicht und Fürsorglichkeit<br />

ist es zu verdanken, dass die Keimzelle unseres<br />

Volkes von Anfang an auf fruchtbarem Nährboden gedeihen<br />

kann.“<br />

„ Schon gut, Herr Reichsherdbuchwart. Sven Ohlins, das<br />

ist doch kein deutscher Name. Hat er sich den zugelegt<br />

oder ist er ihm verliehen worden? Was sagt denn HASS-<br />

SO dazu?“<br />

„ Ach weißt du, heutzutage mit dem neuen Namensrecht<br />

kann doch jeder heißen wie er will. HASSSO hat übrigens<br />

ein paar hundert Namen ausgespuckt, allein unter der<br />

Rubrik rechts außen. Da wirst sogar du zum Opa drüber,<br />

bis die alle abgehakt sind. Und das alles mit vier Mann.<br />

Ich weiß nicht, wie sich das unsere Oberpfeife, wieder


vorgestellt hat. Ohlins, unser Däne, soll Chef der Kampfgruppe<br />

Frundsberg sein. Kannst du damit was anfangen?“<br />

„ Nein, das ist aber wahrscheinlich so alter Nazikram. Wir<br />

können ihn ja fragen“, schlug Kimrod vor.<br />

Ohlins befand sich an dem von der Hausmeisterin angegebenen<br />

Platz. Er hing an einer Reckstange und machte<br />

Klimmzüge. Ohlins war nur mit einem Unterhemd und<br />

kurzen Hosen bekleidet. In der Tat ein kerniger Bursche.<br />

Seine Arme und Schultern waren reich bebildert. Panzer,<br />

Totenköpfe, Blutschwälle, Stacheldraht, Runen, ein wahres<br />

Schlachtfeld. Die Tätowierungen waren mehrfarbig<br />

und von hoher Qualität, keine billigen Knaststiche. Vor<br />

dem Turner wachte ein schwerer Molosser. Die Kriminalbeamten<br />

identifizierten ihr Opfer schon aus der Ferne.<br />

Remke brauchte keine Reproduktion auf dem Display abzurufen.<br />

Der Hund witterte die Gefahr instinktiv. Seine Nackenhaare<br />

sträubten sich und ein tiefes Grollen entwich<br />

seiner Kehle. Heute hatte auch Kimrod seine SIG eingesteckt.<br />

Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich bereits bezahlt<br />

machte. Ohlins gab seinem vierbeinigen Bodyguard ein<br />

kurzes Kommando und winkte die sich vorsichtig nähernden<br />

Gestalten heran.<br />

Schon wieder Staatsbesuch. Ohlins zog sich nach oben.<br />

Nur nicht aufregen. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Eichmann<br />

blieb misstrauisch. Wehe wenn die seinem<br />

Herrchen zu nahe kamen. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig,<br />

einen noch, sechsundzwanzig. Ah, das tat gut. Ohlins


löste seinen Griff und stellte sich neben Eichmann, der<br />

sprungbereit auf seinem Hinterteil Platz genommen hatte.<br />

So, jetzt konnten sie kommen. Der Hund bewies einmal<br />

mehr seinen Wert.<br />

„ Los, mach schon, Otto. Darauf wartet der doch nur, dass<br />

wir uns wegen dem Köter bepinkeln“, sagte Kimrod mit<br />

gedämpfter hervor und ging mit gutem Beispiel voran. Er<br />

näherte sich dem imposanten Duo bis auf ein halbes Dutzend<br />

Schritte.<br />

„ Der tut nix, wenn ihr schön brav bleibt.“<br />

Ohlins legte seine Hand auf Eichmanns imposanten<br />

Schädel und grinste frech. Remke zog seine Pistole und<br />

lud durch.<br />

„ Platz Eichmann!“<br />

Der Hund befolgte den Befehl seines Herrchens augenblicklich<br />

und legte sich auf den Bauch. Seine Augen folgten<br />

weiterhin jeder Bewegung der Störenfriede.<br />

„ Wenn ihr auf meinen Hund schießt, erlebt Berlin noch<br />

heute einen Aufstand. Und euch beide verfüttere ich an<br />

die Wildschweine. Wenn sie Bullenfleisch überhaupt annehmen.“<br />

Kimrod ging nicht auf die Provokation des Rechtsradikalen<br />

ein. Er überwand sich und trat dem Schläger direkt<br />

gegenüber, um ihm seinen Ausweis zu zeigen. Eichmann<br />

konzentrierte sich auf Remke, der so vorsichtig heranschlich,<br />

als ob er ein Minenfeld zu überqueren hätte. Seine<br />

Waffe hielt er schussbereit in der rechten Jackenta-


sche verborgen. Ohlins überflog das Dokument kurz und<br />

nickte.<br />

„ Sie sind Wolfs Vater. Freut mich, er ist ein guter Bekannter<br />

von mir. Was habt ihr denn auf dem Herzen? Mir wird<br />

schon langsam kalt, ich brauche Bewegung.“<br />

„ Meinen Sohn lassen wir heute ausnahmsweise aus dem<br />

Spiel. Ich will nur eins wissen. Wo waren Sie in der Nacht<br />

von Freitag auf Samstag?“<br />

„ Erst auf ein paar Bierchen in der Kneipe und dann zu<br />

Hause. Leider alleine, meine Freundin macht gerade Urlaub.“<br />

„ In der JVA höchstwahrscheinlich!“<br />

Auf Remkes Bemerkung reagierte nicht nur Ohlins verärgert.<br />

Auch Eichmann liftete seine fleischigen Lefzen. Dieser<br />

Mann mit der Hand in der Tasche wollte seinem<br />

Herrchen nichts Gutes, das war klar. Und er roch auch so<br />

komisch. Irgendein chemisches Zeug, das einem die Nase<br />

verbog.<br />

„ Was ist das denn für eine Knallcharge? Euer Mann fürs<br />

Grobe? Bloß weil es bei ihm nur für eine aufblasbare Gespielin<br />

gereicht hat, glaubt er, meine Lebensgefährtin<br />

durch den Dreck ziehen zu dürfen. Ich muss mir so was<br />

nicht bieten lassen!“<br />

Ohlins fing an, auf der Stelle zu laufen. Für ihn war das<br />

Gespräch beendet.<br />

„ Warum wollen Sie eigentlich gar nicht wissen, weshalb<br />

wir Sie um diese kleine Auskunft gebeten haben? Gehört<br />

der Umgang mit der Polizei schon so zu Ihrem Alltag?“


Kimrod ahnte zwar, dass hier nichts mehr zu holen war,<br />

doch was blieb ihm schon anderes übrig. Solche Typen<br />

waren auch durch kein mehrstündiges Verhör einzuschüchtern.<br />

Entweder es kam gleich was oder es kam<br />

nichts.<br />

„ Vielleicht ist am Wochenende eine Brücke in Hinterindien<br />

eingestürzt. Wir hatten da natürlich unsere Hände mit<br />

im Spiel. Soll ich das Geständnis gleich unterschreiben?<br />

Was weiß denn ich, was ihr uns andauernd anhängen<br />

wollt? Wahrscheinlich bald auch noch, dass wir nicht SPD<br />

wählen gehen“, antwortete Ohlins und drehte eine kleine<br />

Runde um die Polizisten herum. Eichmann blieb brav liegen.<br />

„ Da könnt ihr schon recht haben. Viel trauere ich denen<br />

bestimmt nicht nach. Nicht nur weil sie türkisches Blut in<br />

sich haben. Aber alles zu seiner Zeit. Erst muss die Macht<br />

erobert werden. Dann kommt die Nacht der langen Messer.<br />

Wir haben Zeit. Ist aber schön, wenn sich so etwas<br />

von allein erledigt. Wie gesagt, ich war zu Hause. Fragen<br />

Sie nur Klärchen, die Hausmeisterin. Die hält rund um die<br />

Uhr Wache. Da schlüpft keiner durch.“<br />

„ Lass dich doch von dieser Vorstadtvisage nicht verarschen.<br />

Wir werden seine Angaben genauestens überprüfen.<br />

Vielleicht langt!s auch für einen Durchsuchungsbefehl.<br />

Dann kipp ich seinen ganzen Mist auf die Straße und<br />

gieße Benzin drüber. Und seinem Köter stecke ich eine<br />

Dynamitstange in den Arsch.“


Remke ließ seinen Worten Taten folgen. Er versetzte Ohlins<br />

einen mittelprächtigen Stoß vor die Brust. Ohlins wollte<br />

sofort zum Gegenschlag ausholen, doch Kimrod ging<br />

dazwischen. Remke war dem Hünen nicht ansatzweise<br />

gewachsen und würde bald seine Pistole einsetzen müssen.<br />

Das bedeutete nur einen Haufen Ärger und musste<br />

unbedingt verhindert werden, auch wenn diesem Dumpfmichel<br />

ein Denkzettel nicht geschadet hätte. Ohlins steckte<br />

schnell zurück.<br />

„ Aber nur weil du Wolfs Vater bist. Erst dumme Fragen<br />

stellen und dann auch noch handgreiflich werden. Nur<br />

weil ihr wisst, dass ich noch Bewährung habe.“<br />

Eichmann sprang kläffend um die Streitenden herum.<br />

Wenn ihm sein Herrchen doch nur erlaubte, an dem<br />

Handgemenge teilzunehmen. Ein kurzer Wink und diese<br />

Kameraden würden ihr blaues Wunder erleben.<br />

„ So, Otto, das reicht schon. Wir verabschieden uns. Viel<br />

Spaß noch.“<br />

Kimrod zerrte seinen Kollegen von Ohlins weg und achtete<br />

darauf, dass dessen Hand in der Tasche blieb. Ohlins<br />

setzte seine Boxübungen verbissen fort. Wieder einmal<br />

typisch, wegen zweier Kanakenschnallen Steuergeld verpulvern.<br />

Aber nicht mehr lange. Der Tag der Abrechnung<br />

nahte unaufhaltsam.<br />

Erst als die Polizisten wieder auf der Straße angelangt<br />

waren, gab Kimrod Remke frei.<br />

„ Nun lass doch! Ich bin doch kein Berserker, den man nur<br />

in der Zwangsjacke unter die Leute lassen darf. Schön


langsam verstehe ich dich. Wenn sich die Camos mit diesem<br />

Gesindel einlassen, dann Gute Nacht“, schimpfte<br />

Remke weiter.<br />

Sie gingen zurück zum Wagen und hielten eine Lagebesprechung<br />

ab.<br />

„ Ein paar hundert Pappenheimer von rechts. Da muss es<br />

doch ein Raster geben, das man auf diesen Wust legen<br />

kann und dadurch neunzig Prozent wegfallen. Dieser<br />

HASSSO muss das doch draufhaben. Sonst wäre das<br />

keine Hilfe, sondern nur eine Arbeitserschwernis“, meinte<br />

Kimrod etwas verzweifelt.<br />

Er hatte von diesen computergestützten Fahndungsmethoden<br />

nie viel gehalten. Schließlich wurden doch keine<br />

Viren, sondern Wesen aus Fleisch und Blut gejagt. Und<br />

einem Rechner auszudeutschen, was mit psychologischem<br />

Moment gemeint war, hatte noch niemand fertiggebracht.<br />

Remke klappte den Datenträger auf und gab eine Zahlenkombination<br />

ein.<br />

„ Der Schlüssel. Wenn das Ding einmal in falsche Hände<br />

gerät. Wird dreimal hintereinander der verkehrte Code<br />

eingetippt, ist Sense. Nur der Speicher bleibt erhalten,<br />

aber man kann nichts abrufen bis vom Fachmann ein<br />

neuer Code programmiert wird. Das Beste an dem Ding<br />

ist das hier.“<br />

Remke zog eine Teleskopantenne aus dem Gehäuse und<br />

hielt sie aus dem Wagen.


„ Wenn es blinkt, sind Neuigkeiten unterwegs. Per Funk.<br />

Man ist damit also immer up to date. Was HASSSO erschnüffelt,<br />

bekommen wir postwendend nachgeschickt.<br />

Da nichts blinkt, ist auch nichts unterwegs. Wir müssen<br />

praktisch nie mehr zurück ins Präsidium.“<br />

„ Das hört sich nicht schlecht an. Ich kann mit diesem<br />

Mäusekino jedoch nicht viel anfangen. Da bekommt man<br />

Kopfschmerzen allein vom Hinsehen. Kann man das nicht<br />

ausdrucken? Das wäre doch ganz was anderes als dieses<br />

Geflimmer.“<br />

„ Na hör mal, das ist ein Hochleistungsmonitor mit was<br />

weiß ich wie vielen Millionen von Pixeln. Du brauchst<br />

wahrscheinlich eine Brille. Das Alter dazu hättest du ja.<br />

Drucken kann man nur zu Hause. Sonst könnte man das<br />

Ding schlecht überallhin mitnehmen. So weit sind die noch<br />

nicht. Also was ist, wollen wir Klärchen noch einmal interviewen?<br />

Ob dieser Idiot wirklich die Nacht im Bett verbracht<br />

hat?“<br />

Kimrod schüttelte den Kopf.<br />

„ Die stecken doch alle unter einer Decke. Wahrscheinlich<br />

darf ihm diese Vettel einmal im Monat den Schwanz abstauben<br />

und tut deshalb alles für ihn. So kommen wir<br />

nicht weiter. Am liebsten würde ich in die Zentrale zurück<br />

fahren und alles noch einmal durchackern. Mit meinem<br />

Gehirn als Sieb und nicht mit supraleitenden Windungen,<br />

die so viel anhäufen, dass man den Wald vor lauter Bäumen<br />

nicht mehr sieht.“


„ Das dauert aber, mein lieber Schwan. Ich will nicht mit<br />

leeren Händen heimkommen. Wo wir schon mal entronnen<br />

sind. Nein, ich habe eine Idee. Wir hüpfen einfach eine<br />

Sparte weiter...hier, prima, Olaf Bremser, Gorgasring<br />

siebzehn. Das ist hier gleich in der Nähe, Haselhorst.“<br />

„ Und was haben wir bei dem zu erwarten? Auch ein Hakenkreuzler?“<br />

„ Nein. Zweimal schwere Körperverletzung, einmal mit Todesfolge.<br />

Bekam acht Jahre und saß insgesamt zwölf.<br />

Exhibitionismus, Kinderpornographie, versuchte Vergewaltigung.<br />

Der hat schon alles durchprobiert. Vielleicht<br />

erwischen wir ihn dabei, wie er sich gerade von seinem<br />

Cockerspaniel einen blasen lässt.“<br />

„ Wieso, hat er einen?“ hakte Kimrod amüsiert nach.<br />

„ Einen Spaniel oder einen Wurmfortsatz? Nein, war nur<br />

ein Scherz. Ich wollte dich nur vorbereiten.“<br />

„ Irgendwie kommt mir der Name auch bekannt vor. Wäre<br />

möglich, dass ich schon einmal das Vergnügen hatte.<br />

Aber den nehmen wir auf alle Fälle. Hat wohl schon öfters<br />

mit Nutten zu tun gehabt?“<br />

„ Fast ausschließlich. Darum kam er immer so billig davon.<br />

Vielleicht ist er jetzt endgültig durchgeknallt und hat<br />

in der Grenzallee Nägel mit Köpfen gemacht.“<br />

„ Na denn los.“<br />

Kimrod schnallte sich an und startete. Wenig später stoppte<br />

er vor einem Kiosk in der Nonnendammallee. Remke<br />

stieg aus und besorgte die Taz und Proviant. Kimrod hatte<br />

ihn mit dem Erwerb des Blattes beauftragt, weil die Re-


daktion nicht vor hohen Tieren Halt machte und natürlich<br />

wegen der Zollner, die so unliebsam am Sonntag Morgen<br />

überrascht worden war.<br />

Kimrod parkte auf einer Bushaltestelle und wurde prompt<br />

von einem BVG-Chauffeur angehupt, der auf seine älteren<br />

Rechte pochte. Und Remke tauchte einfach nicht wieder<br />

auf. Kimrod schlich ein paar Meter weiter. Der nachfolgende<br />

Verkehr war sehr dicht und staute sich augenblicklich<br />

hinter dem Hindernis. Lange würde er sich nicht halten<br />

können. Fast jeder, der sich vorbeigequetscht hatte,<br />

grüßte ihn mit eindeutigen Gesten. Endlich kam Remke<br />

um die Ecke gerannt. Wenigstens hatte er zwei Bier untergeklemmt.<br />

Das war zumindest eine Teilwiedergutmachung.<br />

Kimrod nahm den Fuß von der Kupplung, noch<br />

während Remke am Einsteigen war. Remke verlor eine<br />

Büchse.<br />

„ Jetzt halt an, du Pistenschreck. Die werden dich schon<br />

nicht gleich einen Kopf kürzer machen. Wenn man keine<br />

Nerven dazu hat, sollte man nicht Auto fahren. Das schöne<br />

Bier“, jammerte Remke.<br />

Kimrod ging kurz auf die Bremse. Remke ließ nun alles<br />

kurzerhand auf die Bodenwanne fallen und griff sich mit<br />

einer flinken Handbewegung die davonrollende Dose.<br />

Kimrod scherte überhastet ein und wäre beinahe von einem<br />

Mercedes gerammt worden, der gerade im Begriff<br />

war, vorbeizuziehen. Der Daimlerpilot blieb für mindestens<br />

zehn Sekunden auf seiner Doppelfanfare. Kimrod wurde<br />

tatsächlich etwas nervös und fand den ersten Gang nicht


auf Anhieb, den er einlegen wollte, weil er erneut abgebremst<br />

hatte.<br />

Remke stellte das richtige Übersetzungsverhältnis mit einem<br />

gekonnten Handkantenschlag her und drohte, die unter<br />

Druck stehende Bierbüchse im Wageninneren zu öffnen,<br />

wenn sie nicht schleunigst diesen Ort des Unglücks<br />

verließen. Doch Kimrod war schon wieder die Ruhe<br />

selbst. Er fuhr an und beachtete die Gestalt in der schwäbischen<br />

Nobelkarosse nicht weiter, die noch immer wild<br />

mit den Armen gestikulierte und inzwischen dunkelrot angelaufen<br />

war.<br />

„ Na Gott sei Dank. Ich kam mir schon vor wie in der<br />

Fahrschule. Dabei wolltest du doch Rennfahrer werden“,<br />

sagte Remke und riss seine Dose auf. Nachdem er einen<br />

tüchtigen Schluck genommen hatte, schüttelte er die havarierte<br />

Büchse noch einmal und hielt sie Kimrod unter die<br />

Nase.<br />

„ Was gibt es denn zu mampfen? Doch hoffentlich keine<br />

Fischsemmeln?“ äußerte der Kriminalhauptkommissar<br />

abweisend.<br />

Kimrod konnte dieses Produkt deutscher Esskultur nicht<br />

ausstehen, weil er von seiner Frau mit Insiderberichten<br />

aus den Lebensmittelinstituten eingedeckt wurde. Wenn<br />

man zu genau wusste, was wo drin war, konnte einem<br />

schnell der Appetit vergehen. Nur schade, dass die Wissenschaftler<br />

so gut wie nie Alternativen anboten. Von irgendwas<br />

musste man sich schließlich ernähren. Das war<br />

auch Remkes Standpunkt. Er biss kraftvoll in sein He-


ingsbrötchen und verteilte dabei die anfallenden Brösel<br />

nicht ohne Vorsatz bis zum Armaturenbrett vor.<br />

Punkt neun Uhr erreichten sie den Gorgasring. Sie machten<br />

die Adresse ausfindig und parkten. Remke ließ sein<br />

Fenster herunter und bat Kimrod um eine Zigarette.<br />

„ Dein Bier dürfte sich inzwischen auch wieder beruhigt<br />

haben. Hier ist deine Wurstsemmel. Ich habe da übrigens<br />

eine nette Sendung gesehen neulich. Du weißt schon, die<br />

immer so Skandale aufdecken. Bei einer bekannten deutschen<br />

Firma haben die da Mäuschen gespielt, so mit versteckter<br />

Kamera. Uralte Rinderfüße, Häute, Sehnen,<br />

Fischmehl, abgestandene Marinaden, jede Menge Parasiten.<br />

Alles in einen Topf und Volldampf. Markenqualität aus<br />

deutschen Landen. Da ist sogar mir der Hunger vergangen.“<br />

Kimrod öffnete die Dose ganz vorsichtig. Nur noch eine<br />

kleine Schaumkrone blubberte aus der Öffnung. Die Operation<br />

war gelungen. Er gab Remke die Lightsschachtel<br />

und nahm einen tiefen Schluck. Mann, das war gut. Kein<br />

Wunder, dass es so viele Alkoholiker gab.<br />

„ Nun rück schon das Blättle raus. Wetten, dass mein<br />

Name fällt in einem der Berichte?“<br />

Remke ging nicht auf den Vorschlag Kimrods ein. Er<br />

steckte sich eine Zigarette an und reichte seinem Chef<br />

wortlos die Zeitung rüber. So nannte er ihn zumindest immer,<br />

wenn Kimrod einen Bock geschossen hatte. Die Taz<br />

trumpfte mit einer Titelstory auf. Dieser Bremser lief ihnen<br />

nicht davon. Kimrod las laut vor: Überschrift:


Wer Gewalt sät.<br />

Dieselben Instanzen, die sich heute heuchlerisch in den<br />

Mantel der Trauer hüllen, haben noch gestern vor einer<br />

Überfremdung der Gesellschaft gewarnt und zur Diffamierung<br />

von Minoritäten aufgerufen. Die zu erwartenden Stellungnahmen<br />

des Regierenden Bürgermeisters und seines<br />

Innensenators können vor so viel falschem Mitleid triefen<br />

wie sie wollen. Wer ihre Äußerungen zu den jüngsten Unruhen<br />

im August im Gedächtnis behalten hat, weiß woher<br />

der Wind weht. Wer der Ghettobildung den Weg bereitet<br />

und die ausländischen Mitbürger vom öffentlichen Leben<br />

ausschließt, braucht sich nicht zu wundern, wenn auf den<br />

Straßen Blut fließt und bürgerkriegsähnliche Zustände<br />

herrschen. Die Abscheu erregende Doppelzüngigkeit der<br />

Kollegen von der Boulevardpresse muss in diesem Zusammenhang<br />

nicht eigens erwähnt werden. Monotone,<br />

auf die niedrigsten Instinkte abzielende Propaganda, ruft<br />

Elemente auf den Plan, die am besten hinter dicken Anstaltsmauern<br />

aufgehoben wären. Der Terror hat Dimensionen<br />

angenommen, die vielleicht nur noch mit den Verhältnissen<br />

im Hakenkreuzdeutschland vergleichbar sind.<br />

Das abgetrennte Haupt eines bedauernswerten Geschöpfes<br />

wird dazu benutzt, eine Kämpferin für Freiheit und<br />

volksnahe Demokratie mundtot zu machen. Wir lassen<br />

uns aber nicht einmal mit solchen Mitteln an der Ausübung<br />

unseres Berufes hindern. Die Pressefreiheit ist in<br />

einem Staat, den die beiden Mammutparteien monopolartig<br />

beherrschen, unverzichtbarer denn je. Jetzt erst recht...


Remke flüchtete ins Freie. Der brachte es fertig, den ganzen<br />

Sermon herunterzubeten. Remke ließ den Blick über<br />

die tristen Häuserzeilen schweifen. Zweistöckige Reihenhäuser<br />

in Fertigbetonbauweise. Jedes Abteil vielleicht vier<br />

Meter breit. Sporadisch eingestreutes Grün in Form kümmernder<br />

Koniferen. Sogar die robusten Weißdornbüsche<br />

schafften es nicht über ihr Bonsaimaß hinauszuwachsen.<br />

Bei dem gelblichen Schutt kein Wunder, in den die Pflanzen<br />

ihre Wurzeln treiben mussten. Die ganze Gegend<br />

wirkte lebensfeindlich, marode, obwohl die Gebäude bestimmt<br />

noch keine zehn Jahren zählten. War da nicht<br />

doch etwas dran, dass kranke Verhältnisse kranke Charaktere<br />

produzierten? Ein Schwein wie Bremser nur ein<br />

Opfer seiner Umwelt? Nein, man musste sich auch zusammenreißen<br />

können. Irgendeine Ausrede ließ sich<br />

sonst fast immer finden.<br />

Remke drückte den Klingelknopf. Kimrod genoss inzwischen<br />

seine Lektüre. Auf der dritten Seite fand sich ein<br />

schönes Foto von Günter Loschmitz, dem Oppositionsführer<br />

im Abgeordnetenhaus und Aspiranten auf den Sessel<br />

des Regierenden. Hand in Hand mit Kai Dorn, dem berühmt<br />

berüchtigten Halbweltkönig. Aufgenommen in einem<br />

von Dorns Läden. Loschmitz war zwar laut Presseberichten<br />

glücklich verheiratet, doch er tauchte des Öfteren<br />

ins Milieu ab, um sich ganze Wochenende zu besaufen<br />

und mit den Kiezgrößen zu renommieren. Seiner Popularität<br />

tat das keinen Abbruch. Ein leutseliger Volksver-


treter, der Manns genug war, auch auf diesem Parkett zu<br />

bestehen. Wer sich nur mit Bachkantaten vergnügte, war<br />

suspekt und wusste nichts von den Sorgen des kleinen<br />

Mannes.<br />

In dem Artikel wurde die Verflechtung von Politik und organisierter<br />

Kriminalität angedeutet. Sehr gut auf jeden<br />

Fall, dass auch die Sozis mit drin steckten. Vielleicht hatte<br />

der joviale SPD-Kapitän auch schon auf der Matratze mit<br />

den beiden Mordopfern Bekanntschaft gemacht. Ein entgleister<br />

Herrenabend, warum nicht? Bei den Genossen<br />

schien das ja gang und gäbe zu sein. Hatte ihm nicht<br />

auch Emma vorgeschlagen, eine anerkannte Samentherapeutin<br />

zu konsultieren? Das konnte in der Tat lustig<br />

werden. Ingrid durch Stähler, Wolf durch Totsch, Emma<br />

über Loschmitz und er selbst mit der Soko. Die ganze<br />

Familie in einem Boot und mittendrin in einem brisanten<br />

Kriminalfall. Manchmal passte aber auch alles. Aber dieser<br />

Loschmitz war die Prise, die die Suppe wieder<br />

schmackhaft machte. Vielleicht konnte man auch einmal<br />

so einen Zwölfender erlegen und in die Trophäensammlung<br />

einreihen.<br />

Remke kam zurück. Er schnippte seine Kippe in den<br />

Rinnstein und öffnete die Tür.<br />

„ Fehlanzeige. Der Bruder hat sich verdünnisiert. Seine Alte<br />

hat keine Ahnung, wann er wiederkommt.“<br />

„ Wir warten“, antwortete Kimrod knapp.<br />

Remke begann, draußen auf und ab zu gehen. Kimrod las<br />

weiter. Um zwanzig nach neun kam eine Gestalt im flecki-


gen Jogginganzug anmarschiert. Er zog einen Handwagen<br />

hinter sich her, in dem sich ein Kasten Bier und zwei<br />

Kanten Toastbrot befanden. Remke nahm ihn in Empfang.<br />

„ Na Meister, gibt! s wieder Nachschub? Hauptsache, es<br />

schmeckt noch.“<br />

Er zeigte dem Verblüfften seine Polizeimarke auf fragte,<br />

ob er für die Nacht von Freitag auf Samstag ein Alibi habe.<br />

Bremser begann, etwas nervös zu werden.<br />

„ Woher kennen Sie mich überhaupt? Ich meine, ich bin<br />

doch nicht bei allen Bullen...“<br />

Remke legte sich warnend den Zeigefinger auf den<br />

Mund.<br />

„ Ich habe bereits mit Ihrer Bekannten... nein, nur ein paar<br />

Worte gewechselt. Sie sagte mir, dass Sie beim Einkaufen<br />

wären. Ihr Alibi hat sie auch bestätigt. Ich will es nur noch<br />

einmal von Ihnen hören. Also?“<br />

Bremser nahm wieder etwas Farbe an.<br />

„ Ich war zu Hause. Meine Frau kann es bestätigen. Ich<br />

war schon seit zwei Jahren in keiner Kneipe mehr. Wenn<br />

ich lüge, soll mir die Hand abfaulen.“<br />

Remke musterte schelmisch seine vergilbten Finger, die<br />

vom Halten des Handwagens noch leicht verkrümmt waren.<br />

„ Viel geht nicht ab, aber jetzt brauchst du nicht mehr deine<br />

Tentakel bemühen, wenn Not am Mann ist. So eine<br />

Muschi hat schon was für sich, auch wenn sie in so einem<br />

Gestell wie bei deiner Alten eingebaut ist.“


Kimrod drückte auf die Hupe. Er war der Unterhaltung mit<br />

einem Ohr durch sein geöffnetes Fenster gefolgt. Remke<br />

überspannte den Bogen wieder mal ein bisschen.<br />

„ Na gut, Meister. Für heute lassen wir es gut sein. Aber<br />

wir behalten dich im Auge. Viel Spaß noch“, sagte Remke<br />

zum Abschied.<br />

Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und griff sich<br />

eine Flasche Bier aus dem Träger. Bremser senkte den<br />

Kopf und zog den Wagen vor die Haustür. Alles runterschlucken,<br />

auf nichts einlassen. Er hatte seine Lektion<br />

zweifellos gelernt.<br />

Remke nahm das Notebook aus seiner Tasche und tippte<br />

ein paar Bemerkungen ein. Kandidat zwo erledigt. Über<br />

Funk gab!s auch keine Neuigkeiten. Jetzt war wieder der<br />

Chef am Zug. Remke stieg ein und präsentierte stolz die<br />

Konterbande.<br />

„ Sonst säuft mir der zu viel. So was zementiert doch alte<br />

Freundschaften. Die ehemaligen Gegner trinken aus<br />

demselben Pott. Schwamm drüber, Genosse. Trink.“<br />

Kimrod hatte zwar seine Dose noch nicht leer, aber er<br />

nahm trotzdem einen Schluck. Süffiges Pils, von Bier<br />

schien Bremser etwas zu verstehen. Von Polizeiarbeit<br />

weniger, sonst hätte er sich von Remke nicht so einschüchtern<br />

lassen. Das gehörte mit zum Spiel. Ein paar<br />

Tiefschläge anbringen und die Reaktionen des Probanden<br />

abwarten. Manchmal kam etwas dabei heraus, manchmal<br />

auch nicht. Bremser hatte im Knast nur kuschen gelernt.<br />

Diese Staatsfritzen saßen immer am längeren Hebel.


Wenn der wüsste. Ein guter Anwalt konnte ein Anklage<br />

abbiegen, nur weil sich die ermittelnden Beamten unkorrekt<br />

verhalten hatten. Man musste vorsichtig sein. Die<br />

Presse stürzte sich ebenfalls mit Vorliebe auf zu grob vorgehende<br />

Polizisten.<br />

Dieser Ohlins schien da besser informiert zu sein. Er hätte<br />

Remke glatt vermöbelt, weil er ihm dumm gekommen war.<br />

Nicht vorzustellen, wenn ihm Remke eine Kugel ins Knie<br />

verpasst hätte. Man musste dem Guten Zügel anlegen.<br />

„ Otto, bei aller Liebe, du darfst nicht so rangehen. Erst<br />

die Keilerei mit diesem Rabauken, jetzt die Attacken unter<br />

die Gürtellinie bei diesem Schwachkopf. Ab und zu mag<br />

das die richtige Taktik sein, und, nebenbei gesagt, mich<br />

kotzen diese Typen genauso an, doch ich habe keine Lust<br />

jede Befragung mit entsicherter Maschinenpistole vorzunehmen,<br />

weil du die Kunden mit Beleidigungen bis zur<br />

Weißglut reizt. Ein bisschen mehr piano bitte. Ruhig mal<br />

ab und zu eine vor den Latz knallen, aber auch zurückhalten,<br />

wenn es die Lage erfordert.“<br />

„ Ich bin ein paar Jährchen länger im Geschäft wie du.<br />

Auch wenn du einen höheren Rang hast, ich weiß sehr<br />

genau was ich tue und ich werde meine Methoden bestimmt<br />

nicht mehr ändern. Einmal hü, dann wieder hott.<br />

Mach ihn fertig, aber nicht zu flott. Da soll sich noch einer<br />

auskennen. Soll ich den Nächsten rauspicken?“ fragte<br />

Remke unwirsch und klappte das Notebook auf.<br />

Kimrod schaltete das Radio ein. Es war gleich halb. Zeit<br />

für die Kurznachrichten.


„ Lass deinen Gameboy nur mal stecken. Nur immer das<br />

präsentiert zu bekommen, was dieser HASSSO hervorgewürgt<br />

hat, geht mir gegen den Strich. Irgendwer muss<br />

das Zeug auch eingeben. Das ist auch eine Art Zensur.<br />

Und das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Wäre<br />

nicht zum ersten Mal, dass uns die Redakteure um eine<br />

Nasenlänge voraus sind“, sagte Kimrod.<br />

Remke steckte den elektronischen Gehilfen wieder weg.<br />

Na gut, dann eben nur noch Dienst nach Vorschrift. Den<br />

Anweisungen der höheren Dienstgrade ist immer Folge zu<br />

leisten, Eigenmächtigkeiten sind zu unterlassen. Das<br />

konnte er haben. Die Nachrichtenfanfare ertönte. Kimrod<br />

hatte den richtigen Sender erwischt.<br />

„ Soeben wurde gemeldet, dass in den Räumen des Sicherheitsunternehmens,<br />

die heute Morgen teilweise durch<br />

einen Anschlag verwüstet worden sind, ein Bekennerschreiben<br />

der Toten Brigaden aufgefunden wurde. Der<br />

Brief befand sich in einem feuerfesten Stahlzylinder und<br />

entging dadurch der Vernichtungskraft der Feuersbrunst,<br />

die erst durch den Einsatz mehrerer Löschfahrzeuge eingedämmt<br />

werden konnte. Die Toten Brigaden waren zuletzt<br />

vor achtzehn Monaten in Erscheinung getreten, als<br />

sie vergeblich versuchten, den Industriellensohn Horst<br />

Köplich zu entführen. Nach dem Scheitern dieses Verbrechens<br />

war man von einer entscheidenden Schwächung<br />

der Terrororganisationen ausgegangen, da zwei zum Führungskader<br />

gehörende Bandenmitglieder durch den heldenhaften<br />

Einsatz der Grenzschutzsondertruppe GSG 9


überwältigt und verhaftet werden konnten. Über den Inhalt<br />

des Schreibens ist zur Zeit der Ausstrahlung noch nichts<br />

bekannt. In Tokio fragten gestern...“<br />

Kimrod schaltete das Gerät ab.<br />

„ Gut, jetzt kann es losgehen. Ich weiß, warum die Brigaden<br />

gegen Totsch losgeschlagen haben.“<br />

Remke zeigte sich nicht überrascht von dieser Erklärung<br />

seines Kollegen.<br />

„ Und, wer weiß das nicht? Die Linken bezeichnen Totsch<br />

als Hakenkreuzler, der eine Gefahr für die Demokratie ist.<br />

Ist doch nicht zum ersten Mal, dass es deswegen zu Auseinandersetzungen<br />

gekommen ist.“<br />

„ Aber nicht von Seiten der Brigaden. Claudia Luper hatte<br />

einen Freund, der die Brigaden unterstützte. Habe ich dir<br />

davon nicht schon gestern erzählt?“<br />

„ Nicht dass ich wüsste. Wir waren nur schnell bei diesem<br />

Mustafa. Du hast mir nur von den Camos am Teufelsberg<br />

erzählt, glaube ich zumindest. Woher hast du denn diese<br />

Neuigkeiten?“<br />

„ Von Ingrid. Claudia soll das Stähler offenbart haben, bei<br />

einer Art Beichte. Sieh mal nach, ob das dein HASSSO<br />

auch intus hat?“<br />

„ Da brauche ich nicht nachzusehen. Ich habe doch heute<br />

Morgen noch mal alles überprüft. Von Toten Brigaden<br />

keine Spur.“<br />

Kimrod fuhr los. Die verwüsteten Büros interessierten ihn<br />

sowieso. Jetzt hatte er einen Grund dafür, sich zum<br />

Schauplatz des Attentats zu begeben.


„ Terroristen et cetera, das läuft über das BKA und den<br />

Verfassungsschutz. Die wollen sich nicht gerne in die Karten<br />

schauen lassen und hüten eifersüchtig ihre Geheimnisse.<br />

Da beißt sich sogar dein HASSO die Zähne aus.“<br />

„ Mein HASSSO? Als ob ich den Quark erfunden hätte.<br />

Aber eins musst du mir noch erklären. Warum bekommt<br />

Totsch die Bomben ab? Er hat doch die Mädchen nicht<br />

ermordet.“<br />

„ Bist du sicher? Jetzt ist alles möglich.“<br />

Remke nahm einen tiefen Schluck und tippte sich unauffällig<br />

an die Stirn. Manchmal konnte er seinem Juniorpartner<br />

wirklich nicht mehr folgen.<br />

Kimrod gab Gas. Er wollte möglichst schnell den Stadtring<br />

erreichen. Wie hieß doch die alte Bauernregel: Der Täter<br />

kehrt fast immer zum Tatort zurück. Er hätte sich gleich<br />

auf seine Nase verlassen sollen, die ihm sagte, dass die<br />

Prostituiertenmorde nur die Spitze des Eisbergs waren<br />

und ein Paukenschlag dem nächsten folgen würde. Dieses<br />

sture Vorgehen nach Schema F war Zeitverschwendung.<br />

Nur wer flexibel auf die veränderten Umstände reagierte,<br />

konnte am Ball bleiben und Licht ins Dunkel bringen.<br />

Kimrods Eile war umsonst. Kurz nachdem sie in den<br />

Stadtring eingebogen waren, blockierte ein endloser Militärkonvoi<br />

die Fahrspuren. Ein MAN-Dreiachser hinter dem<br />

anderen. Ungefähr nach jedem zehnten Lastwagen gepanzerte<br />

Manschaftstransportfahrzeuge. Eine ganze Division<br />

schien verlegt zu werden. An ein Überholen der oliv-


grünen Trucks war nicht zu denken, da sich die Allradlaster<br />

untereinander Wettrennen lieferten und ohne Vorwarnung<br />

auf die linke Spur ausscherten. Immer wieder kam<br />

es zu abrupten Stopps. Man konnte dann einen Blick auf<br />

die aufgesessenen Infanteristen erhaschen, die schwer<br />

bewaffnet und vermummt auf den Planen verblendeten<br />

Ladeflächen kauerten. Remke glaubte mehrmals, asiatische<br />

Gesichtszüge ausmachen zu können. Diese Möglichkeit<br />

war gar nicht so abwegig. Die deutsche Armee kooperierte<br />

sehr eng mit den russischen Streitkräften. Gemeinsame<br />

Manöver, Technologietransfer, Bereitstellung<br />

von Übungsplätzen in den Weiten der russischen Steppe.<br />

Manche wollten auch von deutschen Atomraketen wissen,<br />

die man für harte Devisen von der Regierung in Moskau<br />

erworben hatte. Doch das waren nur Gerüchte.<br />

Die Ausbeutung und Nutzbarkeitmachung der sibirischen<br />

Bodenschätze und Landschaften war eine Herausforderung,<br />

die die Kräfte des russischen Bären noch immer<br />

überstieg. Deutsche Ingenieurkunst gepaart mit der Zähigkeit<br />

der Russen. Das war die Kombination, die, natürlich<br />

neben dem erforderlichen Kapitaleinsatz, den Erfolg<br />

der Operation ermöglichen sollte. Doch die Konkurrenz<br />

war groß. Es galt, die nordamerikanischen Bergbaukonzerne<br />

und die finanzstarke japanische Schwerindustrie<br />

auszustechen. Dass die dazu getroffenen Vereinbarungen<br />

zwischen Berlin und Moskau weit über das rein Wirtschaftliche<br />

hinauszielten, wurde allgemein angenommen.<br />

Es war von einer Restauration des alten Sowjetimperiums


die Rede, die von einem außenpolitisch wiedererstarkten<br />

Deutschland toleriert und durch den Einsatz von Bundeswehreinheiten<br />

in Zentralasien gefördert werden sollte.<br />

Man hatte die Lehren der Vergangenheit noch nicht vergessen.<br />

In Afghanistan war die Tüchtigkeit der islamischen<br />

Kämpfer nachdrücklich unter Beweis gestellt worden,<br />

doch eine neue Generation tatendurstiger deutscher<br />

Offiziere scheute auch vor risikoreichen Unternehmungen<br />

nicht zurück und brannte darauf, ihre Fähigkeiten zu erproben<br />

ohne von kleinkarierten Zivilisten gegängelt zu<br />

werden, wie es oft genug bei Blauhelmaktionen der Fall<br />

war. Fand heute schon die Generalprobe statt, mitten in<br />

Berlin?<br />

Kimrod unterließ jegliche Tempovorstöße und nahm das<br />

Gekrieche gleichmütig hin. Schließlich hatten sie es doch<br />

noch geschafft. Gerade als sie erleichtert in die Ausfahrt<br />

einscherten, preschte ein Volkswagenpickup der Camos<br />

an ihnen vorbei. Der Wagen war schwarzweiß im Zebradesign<br />

lackiert. Drei mit Schrotflinten behängte Männer<br />

standen hinter der Kabine auf der offenen Pritsche und<br />

hielten sich lässig an dem Überrollbügel fest. Sie waren<br />

anscheinend auch in Richtung Hauptquartier unterwegs.<br />

Kimrod versuchte sich dranzuhängen, doch der Pickup<br />

wurde zu halsbrecherisch pilotiert. Das war die Sache<br />

nicht wert. Kimrod befestigte seine Kojaklampe auf dem<br />

Dach und klebte das Polizeischild hinter die Scheibe.


„ So bekommen wir wenigstens einen Parkplatz. Jetzt ist<br />

es gleich zehn. Wenn wir einen Umweg gemacht hätten,<br />

wären wir auch nicht schneller gewesen. Ich schau mal,<br />

ob ich mich hier irgendwie dazwischen schummeln kann.<br />

Da vorne links geht!s zur Dahlmannstraße weg. Zur Not<br />

kann ich dahinein ausweichen.“<br />

Kimrod ordnete sich ein und bog ab. Nur noch ein kleiner<br />

Vorplatz auf dem Trottoir war mit Plastikbändern abgesperrt.<br />

Kimrod fuhr ein Stück in die Sperrfläche hinein und<br />

wartete kurz ab, ob sein Verhalten beanstandet wurde. Als<br />

dies nicht der Fall war, folgte er Remke, der gerade versuchte,<br />

sich Zutritt in den Bürokomplex zu verschaffen.<br />

Von der Polizei war nichts mehr zu sehen. Die Camos<br />

schienen die Aufklärung selber in die Hand genommen zu<br />

haben. Zwei mit Schlagstöcken ausgerüstete Camos hatten<br />

sich vor den zerborstenen Glastüren postiert. Sie waren<br />

instruiert, niemanden ohne Sonderausweis einzulassen.<br />

Remke gab auf. Im ersten Stock, wo die Detonation<br />

augenscheinlich erfolgt war, drang noch immer etwas<br />

Qualm aus den zerstörten Fenstern, die von Rußschwaden<br />

umrahmt wurden. Kimrod registrierte das Ausmaß der<br />

Schäden mit unverhohlener Befriedigung. Er zündete sich<br />

eine Zigarette an und grinste.<br />

„ Ein bisschen könntest du dich schon zusammenreißen.<br />

Wenn uns hier jemand sieht...zwei Beamte, die sich vor<br />

Lachen auf die Schenkel klopfen. Auch wenn dieser<br />

Totsch nicht gerade dein Freund ist. Wen haben wir denn<br />

da...“, sagte Remke und schüttelte dem kräftig gebauten


Camo die Hand, der aus dem Hauptquartier marschiert<br />

kam.<br />

„ Wolf, mein Junge. Ich hoffte schon, dich hier zu treffen.<br />

Na, jetzt hat er schon eine Wumme am Gürtel.“<br />

Kimrod registrierte den Holster an der Hüfte seines Sohnes<br />

mit Unbehagen. Emma hatte ihm doch gesagt, dass<br />

er erst den Schein machen müsste. Egal, ändern würde<br />

das auch nichts mehr. Einen Hauch von Krieg hatte er auf<br />

jeden Fall schon mitbekommen. Kimrod gab seinem Sohn<br />

ebenfalls die Hand.<br />

„ Kommt mit, Kinder, dort um die Ecke ist ein kleines Café.<br />

Irgendwie habe ich plötzlich Appetit auf was Süßes. Ich<br />

lade euch natürlich ein.“<br />

Wolf konnte sich nicht recht entschließen.<br />

„ Ich hab eigentlich gar keine Zeit. Dort oben kohlt noch<br />

alles vor sich hin. Wenigstens bekommen wir jetzt eine<br />

neue Einrichtung. Auf eine Tasse aber nur.“<br />

Das Stehcafe in der Dahlmannstraße war nett und gemütlich.<br />

Die Getränke gab es aus dem Automaten, das Gebäck<br />

an der Theke. Remke lud sich zwei speckige Quarktaschen<br />

auf. So eine Gelegenheit kam nicht alle Tage. Der<br />

Rentner in spe scheute sich fast, an ihr rundes Tischchen<br />

zurückzukehren, weil Vater und Sohn so idyllisch nebeneinander<br />

standen.<br />

„ Wie aus dem Poesiealbum. Der Filius kehrt nach Jahren<br />

der Emigration in den trauten Schoß der Familie zurück.<br />

Schade, dass ich keine Kamera dabei habe“, sagte Rem-


ke und schob seinen Kostenabschnitt unauffällig auf Kimrods<br />

Tablett.<br />

„ Und der Hausfreund präsentiert die Rechnung. Außerdem<br />

sind wir allenfalls eine Rumpffamilie. Die Hauptaktionäre<br />

fehlen. Ich zahle am besten sofort. Nachher wird!s<br />

mir zu viel“, erwiderte Kimrod.<br />

Er stellte sich an der Kasse an und überlegte, inwieweit<br />

ihm Wolf weiterhelfen könnte. Dieser Stahlzylinder zum<br />

Beispiel. Warum ging der Brief nicht wie üblich bei einer<br />

Agentur oder Redaktion ein? Kimrod beglich den Betrag<br />

und ließ sich eine Quittung geben. Wer klatschen will,<br />

muss zahlen.<br />

Wolf ließ sich gerade über die Vorteile seiner Jacke aus,<br />

die schwer entflammbar war und einen gewissen Schutz<br />

gegen Messerstiche bot.<br />

„ Außerdem ist es unser unverwechselbares Kennzeichen.<br />

Da weiß jeder, wie er dran ist.“<br />

„ Zweifellos.“<br />

Kimrod tippte auf den Holster.<br />

„ Muss das sein, hier drin, vor allen Leuten?“<br />

„ Du hast deine auch um“, sagte Wolf und griff seinem Vater<br />

mit der Fertigkeit des Insiders unter die Achsel. Oder<br />

willst du meinen neuen Waffenschein sehen?“<br />

Kimrod verneinte. Da war sowieso nichts mehr zu retten.<br />

„ Wir sind eigentlich wegen etwas anderem hier. Zwei<br />

Callgirls wurden ermordet.“<br />

Wolf nickte verstehend. Er hatte von der Sache flüchtig<br />

gelesen.


„ Eine von ihnen hatte einen Freund, der die Toten Brigaden<br />

unterstützte oder mit ihnen sympathisierte. Deshalb<br />

sind wir hier. Diese Information kommt von deiner<br />

Schwester, die der Reverend auf den Plan gerufen hat.<br />

Sie soll die Morde aufklären, weil Claudia Luper ein Gemeindemitglied<br />

war. Der Reverend lässt niemand ihm<br />

Stich, auch im Jenseits nicht. Ingrid darf da nicht mit<br />

hineingezogen werden. Hier wird mit harten Bandagen<br />

gekämpft. Mit dem Gebetbuch kann man keine schwerbewaffneten<br />

Terroristen zur Strecke bringen“, sagte Kimrod<br />

mit Nachdruck.<br />

Wolf stellte seine Tasse energisch auf den Tisch. Als Waffenführer<br />

hatte er einen strammen Sprung nach oben gemacht<br />

in der Hierarchie der Truppe. Totsch vertraute ihm,<br />

sonst hätte er ihn nicht für die Prüfung zugelassen. Dieses<br />

Vertrauen galt es zu rechtfertigen, bei Bedarf auch mit unnachgiebiger<br />

Härte. Sein Vater wollte ihn ausquetschen,<br />

so viel war klar. Erich Totsch, der ihm vor zwei Wochen<br />

auf einer Kameradschaftsfeier das Du angeboten hatte,<br />

wollte unbedingt vermeiden, dass ohne vorherige Rücksprache<br />

mit ihm etwas nach draußen dringen sollte. Interviews<br />

waren vorher abzusprechen und neugierige Fragen<br />

zu streichen. Strengste Bestrafung bei Zuwiderhandlung.<br />

Das bedeutete meistens Degradierung und Ausschluss.<br />

Und das war das Schlimmste, was einem echten Camo<br />

passieren konnte. Da durfte man auch auf keine Familienbande<br />

Rücksicht nehmen.


„ Du glaubst also auch, dass die Brigaden in die Prostituiertenmorde<br />

verwickelt sind?“ fragte Kimrod seinen Sohn,<br />

der nervös an den Knauf seines Revolvers tippte.<br />

„ Ach, diese Nutten sind mir eigentlich egal. Das fällt nicht<br />

in meinen Aufgabenbereich. Aber Ingrid soll sich auf alle<br />

Fälle raushalten. Ich glaube, ich muss jetzt wieder. Wir ersticken<br />

wirklich in Arbeit momentan“, antwortete Wolf.<br />

„ Eine Frage noch. Was stand in dem Bekennerbrief?“<br />

Kimrod legte seinem Sohn die Hand auf den Unterarm.<br />

Warum war der nur so nervös? Plötzlich straffte sich Wolfs<br />

Haltung. Totsch kam durch die Tür spaziert. Ein schmaler,<br />

feingliedriger Mann, vielleicht Ende vierzig. Oder aber<br />

auch zehn Jahre jünger. Bei diesen Sportlernaturen konnte<br />

man das nie so genau sagen. Glänzend schwarze, akkurat<br />

gescheitelte Haare und ein eher durchschnittlicher<br />

Gesichtsausdruck. Das sollte der berüchtigte Camochef<br />

sein, der sein Handwerk beim französischem Geheimdienst<br />

gelernt hatte, unbestätigten Gerüchten zufolge?<br />

Kimrod kannte seine Physiognomie nur aus der Zeitung.<br />

Er hatte da immer viel brutaler und rücksichtsloser gewirkt.<br />

Nun, in der Realität, fast die Züge eines Poeten.<br />

Wie man sich täuschen konnte. Totsch stellte sich vor und<br />

schüttelte beiden Polizisten eigentümlich die Hände. Seine<br />

Finger arbeiteten sich vor bis ans Handgelenk und versuchten<br />

dort, die schmalste Stelle des Unterarms zu umschließen.<br />

Das ging besonders bei Remke daneben, dessen<br />

fleischige Extremitäten zu voluminös für derartige


Liebkosungen waren. Wolf brachte ihm unaufgefordert einen<br />

Espresso.<br />

„ Zum Wohl, die Herren.“<br />

Totsch nahm nach diesem Trinkspruch sein Tässchen mit<br />

spitzen Fingern auf und nippte ein wenig an seinem Gebräu.<br />

Fast etwas affektiert, wie bei einer Tunte. Kimrods<br />

Lippen kräuselten sich unwirklich. Ältere Herren, die sich<br />

gerne mit Knaben umgaben, waren immer gewissen Verdächtigungen<br />

ausgesetzt. Der Eindruck konnte aber auch<br />

täuschen. Vielleicht war er zu voreingenommen. Das hieße,<br />

dass Wolf vielleicht zu den Erwählten gehörte, die<br />

dem Meister nach Dienstschluss zu Willen sein mussten,<br />

oder durften. Nein, das war unfair. Dann konnte man jeden<br />

Fußballtrainer an den Pranger stellen.<br />

„ Was führt Sie eigentlich her? Ich dachte, die Kollegen<br />

wären fertig“, sagte Totsch und zündete sich eine Zigarette<br />

an, die er einem vergoldeten Etui entnommen hatte.<br />

Kimrod, dem er das protzige Behältnis etwas herablassend<br />

unter die Nase hielt, griff zu und steckte sich das Luxusstäbchen<br />

an, obwohl noch eine von seinen Lights im<br />

Aschenbecher glimmte. Remke kannte die Marke. Das<br />

war nur etwas für Schauspieler. Viel zu stark parfümiert.<br />

Kimrod erklärte Totsch, warum sie hier waren.<br />

„ Ach, und jetzt wollen Sie wissen, was uns diese Scheißer<br />

geschrieben haben. Das konnte Ihr Sohn nicht wissen.<br />

Ich wollte nicht, dass zu viele eingeweiht werden.<br />

Aber es war eigentlich gar nichts Besonderes, der übliche<br />

Stuss. Militärisch-industrieller Block, Unterstützung durch


faschistoide Elemente, Kampf muss wieder aufgenommen<br />

werden. Von Ihrer Luper keine Spur, tut mir leid. Ihr Chef,<br />

dieser Zefhahn, ist gerade eben abgedampft. Hat Sie der<br />

nicht informiert?“ fragte Totsch mit säuselnder Stimme.<br />

Er blies den Rauch aus seiner Nase und fuhr geschäftig<br />

mit der Zunge im Mund hin und her.<br />

„ Nein, da haben wir uns wohl um ein paar Minuten verpasst.<br />

Sie kennen das, Leerlauf in deutschen Amtsstuben“,<br />

antwortete Kimrod.<br />

Totsch nickte verstehend. Der Mann schien Mutterwitz zu<br />

haben. Kein Wunder, bei dem vielversprechenden Sohn.<br />

„ Hier, meine Karte. Wenn Sie sich mal verändern wollen.<br />

Wir können tüchtige Leute immer gebrauchen. Nichts ist<br />

durch Erfahrung zu ersetzen.“<br />

Totsch warf seine Visitenkarte auf Kimrods Tablett und<br />

verabschiedete sich. Wolf wollte sich gleich anschließen,<br />

doch sein Vater hatte noch ein Anliegen.<br />

„ Rede deiner Schwester noch einmal ins Gewissen. Unter<br />

Geschwistern geht das oft leichter. In mir sieht sie nur<br />

den Bullen, der sie bevormunden will.“<br />

„ Mache ich, Vater. Ich sehe das genauso. Übrigens gut,<br />

dass du mich aufgehalten hast. Hier sind zwei Karten für<br />

das Montagsmassaker. Du weißt schon, Catchen, ab<br />

zwanzig Uhr in der Deutschlandhalle. Heute gibt es einen<br />

Bungeefight. Ich kann leider nicht wegen dieser Sache<br />

hier. Wir rechnen natürlich damit, dass noch weitere Anschläge<br />

verübt werden. Auf Gebäude, zum Beispiel, die


von uns überwacht werden. Und das sind nicht wenige.<br />

Viel Spaß beim Massaker.“<br />

Wolf verließ eilig das Café. Totsch schien ihm beigebracht<br />

zu haben, was Pflichterfüllung bedeutete.<br />

„ Jetzt weiß ich auch, warum man sagt, dass man seine<br />

Idole besser in der Vitrine verstauben lässt. Bei Licht besehen,<br />

bröckelt der Glanz“, meinte Remke desillusioniert<br />

und untersuchte die Karten.<br />

„ WCW, Wrestling der Superlative. Montagsmassaker in<br />

der Deutschlandhalle. Main Event,12.10, Bungeefight.<br />

Kannst du damit was anfangen?“ fragte Kimrod und fischte<br />

ein zweites von Totschs Räucherstäbchen aus der<br />

Handfläche. Remke pfiff anerkennend.<br />

„ Und das will ein Sicherheitsexperte sein. Oder hat er<br />

deswegen so säuerlich gegrinst, weil er einen Kripomann<br />

beim Stehlen erwischt hat?“<br />

„ Was heißt schon stehlen? Ich wollte ihn nur auf die Probe<br />

stellen. Ich bin mir sicher, dass er nichts gemerkt hat.<br />

Hast du sein Parfüm gerochen? Also ich brauche jetzt<br />

noch einen Kaffee. Da geht man ja die Wände hoch.“<br />

Kimrod füllte seine Tasse und erstand noch eine Nussecke.<br />

Er konnte es sich leisten, da er eher zu wenig als zu<br />

viel wog. Remke bearbeitete schon wieder seine Chipdatei.<br />

Kimrod hatte ihm auch noch einen Kaffee mitgebracht.<br />

Die Spesenfritzen wurden nur bei besonders kleinen Beträgen<br />

stutzig. Wenn man ordentlich auf den Putz haute,<br />

kam man mit seinem Antrag viel eher durch. Arbeitsessen<br />

mit Totsch, das hörte sich doch nicht schlecht an.


„ Ah, vielen Dank. Wie geht!s jetzt weiter?“ fragte Remke<br />

und schielte auf Kimrods Gebäck.<br />

„ Deinen automatischen Detektiv kannst du für heute<br />

wegpacken. Oder sind Neuigkeiten eingetroffen?“ sagte<br />

Kimrod.<br />

Remke schüttelte den Kopf. Nur einen Happen, das konnte<br />

er ihm doch nicht ausschlagen. Kimrod teilte die Ecke<br />

und steckte sie Remke in den Mund.<br />

„ Sonst noch einen Wunsch? Schlimmer wie ein Säugling.<br />

Also, jetzt lass ich mal meine Schaltungen krachen. Hier<br />

schräg gegenüber ist doch die Landesvertretung des<br />

Deutschen Blocks für Berlin. Diesen feinen Herren werde<br />

ich auf die Finger klopfen. Die sind jetzt bestimmt über jeden<br />

Polizisten froh, der sie vor den bösen Terroristen<br />

schützt. Anschließend statten wir der Charité einen Besuch<br />

ab. Ich würde mir die Leichen gerne persönlich anschauen.“<br />

Remke schluckte. ,<br />

„ Jetzt haben sich meine Gedärme verknotet. Ist das wirklich<br />

notwendig?“<br />

„ Ich denke schon. Es ist immer von Vorteil, wenn man<br />

sich vor Ort informieren kann. Vielleicht hat der Doktor etwas<br />

gefunden, was ihm zu unwichtig erschien, um in seinem<br />

Befund erwähnt zu werden. Aber lass dir ruhig Zeit.<br />

Es läuft uns nichts davon.“<br />

Remke nickte und legte seinen linken Arm auf den Tisch.<br />

Er zog ganz langsam den Ärmel seiner Jacke zurück.


„ Jetzt weiß ich, warum mich Totsch so komisch angefasst<br />

hat. Meine Uhr ist weg.“<br />

Kimrod war nicht sonderlich überrascht. Diese Prominenten<br />

hatten fast immer irgendwelche Marotten. Remke<br />

grinste und zog seine Swatch aus der Hosentasche.<br />

„ Reingefallen. Dem traust du wohl alles zu. Aber warum<br />

zum Teufel gibt dir einer so verdreht die Flosse?“<br />

„ Wahrscheinlich hat es ihm sein Imageberater empfohlen.<br />

Wichtiger erscheint mir, dass die Camos die Bombe nicht<br />

selber gelegt haben. Wolf wusste mit Sicherheit nichts von<br />

einer solchen Aktion. Er kann schlecht lügen. Und Totsch<br />

wirkte zwar etwas angespannt, doch nicht so wie einer,<br />

der gerade ein dickes Ding gedreht hat“, sagte Kimrod.<br />

„ Hattest du ihn tatsächlich im Verdacht?“<br />

„ Ja, aus mancherlei Gründen. Erstens Geld von der Versicherung,<br />

dann die Geschäftsankurbelung. Denn wo Attentate<br />

verübt werden, sind kompetente Sicherheitsleute<br />

gefragt und drittens die Vernichtung von Beweismaterial.<br />

Vielleicht hatte sich das Finanzamt angekündigt.“<br />

„ Na von dir möchte ich nicht verfolgt werden. Einem, der<br />

immer um dreizehn Ecken denkt, ist alles zuzutrauen. Gib<br />

mir doch diesen Aromaspender von Totsch. Ich will jetzt<br />

doch mal den Duft der großen weiten Welt schmecken.“<br />

Kurz nach elf verließen die Kommissare das Café. Sie<br />

überquerten die Straße und machten das Parteibüro ausfindig,<br />

das sich hinter einem Copyshop in einer Einkaufspassage<br />

befand. Die Polizisten verweilten kurz vor dem


großzügig dimensionierten Schaufenster, das Devotionalien<br />

der nationalen Rechten beherbergte. Flaggen, Bierkrüge<br />

mit altdeutscher Inschrift, Tonträger mit volkstümlicher<br />

Musik. Eigentlich nichts Außergewöhnliches. Die mit weißem<br />

Mobiliar ausgestattete Vertretung maß etwa fünf auf<br />

sechs Meter. Zwei Schreibtische, einer von einer ansehnlichen<br />

Sekretärin besetzt, und üppig wuchernde Topfpflanzen,<br />

die vor einer Regalwand standen, setzten die Akzente<br />

in dem angenehm klimatisierten Raum. Hier arbeitete<br />

man bestimmt gern.<br />

Hinter dem zweiten Schreibtisch gab Dr. Kaltenbrunn Befehle<br />

über die separate Tastatur in einen geschäftig summenden<br />

Computer ein. Er hatte die beiden Männer schon<br />

vor der Auslage bemerkt. Aber es war nie verkehrt wenigstens<br />

so zu tun, als ob man sich vor Arbeit kaum retten<br />

konnte. Die Mitgliedszahlen stagnierten, die Prognosen<br />

für die Wahlen waren alles andere als rosig. Wo es doch<br />

in Berlin vor Migranten nur so wimmelte. Die Straßen<br />

wurden nach Einbruch der Nacht unsicher, der Drogenhandel<br />

florierte. Und dazu noch die große Koalition. Man<br />

mochte meinen, dass das ausreichte, um frischen Wind in<br />

die Bewegung zu bringen. Doch mehr als ein laues Lüftchen<br />

hatte sich bis jetzt noch nicht geregt. Diese beiden<br />

Schwerenöter sahen nicht sehr vielversprechend aus.<br />

Aber man konnte nicht mehr wählerisch sein. Dr. Kaltenbrunn<br />

erhob sich gravitätisch und begrüßte die Ankömmlinge.


„ Ich heiße Dr. Kaltenbrunn. Sie dürfen sich gerne ein wenig<br />

umsehen. Beitrittsformulare sind hier mit dabei.“<br />

Dr. Kaltenbrunn drückte den inkognito auftretenden Beamten<br />

einen Wust von Prospekten in die Hände und setzte<br />

seine Arbeit fort. Nur nicht zu aufdringlich werden, das<br />

schreckte nur ab. Remke stellte sich so hin, dass er über<br />

das Infomaterial hinweg die Sekretärin beobachten konnte.<br />

Immer wenn sie sich nach vorne beugte, um etwas in<br />

die Ablage zu schieben, gab ihre Bluse den Blick auf den<br />

Ansatz zweier stattlicher Brüste frei. Oder kamen die<br />

Pflaumen nur durch den schwarzen BH so ansehnlich heraus?<br />

Remke blätterte rasch um. Hatte sie ihn ertappt?<br />

Nein, sie wollte nur ihren Augen etwas Ruhe gönnen. Nun<br />

komm schon, Mädchen, weg mit dem Wisch. Ja, mein<br />

Gott, da war nichts ausgepolstert, ein Bild für Götter. Dieser<br />

Doktor war zu beneiden. Der bestellte mit Sicherheit<br />

diesen Acker. Da konnte keiner nein sagen. Verdammt,<br />

jetzt hob sie wieder das Köpfchen.<br />

In jede fünfte Straftat ist ein Ausländer verwickelt. Wo, in<br />

Istanbul? Remke mimte wieder den interessierten Anwärter<br />

und vertiefte sich in das Propagandamaterial. Nach einer<br />

kleinen Ewigkeit ging das Spiel von vorne los. Diese<br />

Dinger waren wirklich waffenscheinpflichtig. Hoffentlich<br />

vergrub sich der Boss noch länger in seine Bildbände, die<br />

er in rascher Abfolge aus dem Regal zog. Kimrod war war<br />

schnell fündig geworden. Signal, Das Schwarze Korps,<br />

Deutsche Geheimwaffen. Lauter druckfrische Reproduktionen,<br />

die dem geneigten Betrachter mittels hochwertiger


Abbildungen mit der Welt des Dritten Reichs vertraut<br />

machten. Es fand sich auch ein Bändchen über Branninger,<br />

den Gründervater der Partei und Frontkämpen, dem<br />

durch seine provinzielle Prägung der große Erfolg versagt<br />

geblieben war. Kimrod hatte irgendwann einmal ein paar<br />

Absätze über den Mann und seine Zeit gelesen. Es ging<br />

unter anderem darum, wer als tapferer Recke galt und<br />

wer als Schwein. Zugehörigkeiten zu Verbänden und Einheiten<br />

wie allgemeine SS und die Waffen SS. Die einen<br />

als Wachpersonal im Lager, die anderen als Eliteeinheit<br />

an der Front. Eine Diskussion, die eigentlich niemanden<br />

mehr interessierte. Gerechte Kriege gab es schon längst<br />

nicht mehr. Und für die Opfer dürfte es auch keinen Unterschied<br />

gemacht haben, ob sie von Schergen mit silbernen<br />

Totenkopfabzeichen an den Kragenspiegeln oder von<br />

heroischen Viktoriakreuzträgern ins Jenseits befördert<br />

oder zu Krüppeln gemacht wurden. Helden- und Totengedenkfeiern<br />

wurden allenfalls noch von verschrobenen<br />

Käuzen oder von randalefreudigen Jugendlichen frequentiert.<br />

Die großen Gemetzel fanden nun woanders statt und<br />

standen den Vorbildern während der Weltkriege in nichts<br />

nach. Hunderttausende innerhalb weniger Wochen bestialisch<br />

abgeschlachtet, die Bilder via TV portionsgerecht ins<br />

Wohnzimmer geliefert. Wem stand da noch der Sinn nach<br />

antiquierten Soldatenfriedhöfen? Wenn den Funktionären<br />

nichts Besseres einfiel als diese ausgelutschten Kamellen,<br />

brauchten sie sich über mangelnde Nachfrage nicht<br />

zu wundern. Die Jugend druckte doch längst ihre eigenen


Magazine. Die Hitlerbüste im Schrein des minderjährigen<br />

Aktivisten war schon längst angestaubt und wurde nur<br />

noch vollständigkeitshalber aufbewahrt. Einer unter vielen.<br />

Mehr nicht.<br />

Kimrod machte sich Notizen, vor allem über den Rechner<br />

auf dem Tisch des Doktors und die Zahlen, die über den<br />

Bildschirm flimmerten. Vielleicht konnte Maikovsky etwas<br />

damit anfangen und ins System eindringen. Er war auf<br />

diesem Gebiet eine Klasse für sich. Warum der nicht umsattelte?<br />

Für den Polizeidienst war er nur bedingt geeignet<br />

und sein Talent verkümmerte ungenutzt. Remke war wieder<br />

in seinem Metier. Der alte Bock genierte sich doch<br />

nicht, die dralle Tippse abzuspannen. Oder war das normal<br />

für jeden Mann, dessen Säfte nicht nur oberhalb der<br />

Gürtellinie zirkulierten? Anstatt dass er den Doktor beschäftigen<br />

oder ablenken würde. Das war typisch. Wenn<br />

ihm etwas nicht schmeckte, schaltete er auf stur. Aber es<br />

wurde sowieso Zeit. Oder machten Ärzte erst um eins Mittag?<br />

Kimrod ließ seinen Block geräuschlos in die Innentasche<br />

seiner Jacke gleiten und hüstelte leicht. Remke ging wieder<br />

auf Tauchstation. Doktor Kaltenbrunn erhob sich.<br />

„ Haben Sie etwas Passendes gefunden? Wir haben<br />

selbstverständlich noch mehr vorrätig. Das ist nur eine<br />

kleine Auswahl. Man will nicht gleich zartbesaitete Besucher<br />

verprellen.“<br />

Kimrod strich über eine Pflanze. Die waren gar nicht echt.<br />

Dabei sahen sie so lebendig aus.


„ Ja, ich habe mir einen ersten Überblick verschafft. Sehr<br />

beeindruckend. Mein Sohn würde begeistert sein. Schade,<br />

dass nur noch wenige Menschen etwas für Traditionen<br />

und Geschichte übrig haben. Ihre Partei könnte da ein<br />

dankbares Betätigungsfeld finden. Bevor die Burschen<br />

verlottern und Unfrieden stiften. Oft genügt ein kleiner Anstoß.<br />

Die Wurzeln sind doch gesund. Man muss diese<br />

jungen Eichen nur zurechtstutzen...“<br />

Jetzt räusperte sich Remke. Er gab dem Doktor noch<br />

einmal die Hand und verstaute die Broschüren in seiner<br />

Jacke.<br />

„ Äh, ich glaube, wir müssen wieder. Die Pflicht ruft.<br />

Kommst du, Max?“<br />

Kimrod kratzte sich gedankenverloren an der Nase und<br />

steckte auch ein paar Zettel ein.<br />

„ Meine Stimme ist Ihnen sicher. Deutschland ist lange<br />

genug von Verrätern ausgeplündert worden. Doch der<br />

starke Stamm biegt sich nur, er wird nicht brechen. Leben<br />

Sie wohl, Herr Doktor. Sieg Heil.“<br />

Kimrod klopfte sich mit der geschlossenen rechten Faust<br />

auf die Brust.<br />

Der Doktor lächelte schief. Der trug aber plötzlich dick auf.<br />

Aber gesunde Anschauungen, zweifellos. Die Sekretärin<br />

erhörte Remkes Stoßgebete und präsentierte zum Abschluss<br />

noch einmal ihr aufreizendes Dekolleté. Remke<br />

verharrte für einige süße Augenblicke vor ihrem Schreibtisch.<br />

Aber es half nichts. Bevor der Chef wieder zu salba-


dern anfing. Also raus. Kimrod kam Gott sei Dank gleich<br />

nach. Das war überstanden.<br />

„ Ich dachte schon, der engagiert dich gleich vom Fleck<br />

weg als Generalsekretär. Mit Verlaub gesagt, das Schwafeln<br />

liegt bei euch doch in der Familie. Das wurde sogar<br />

diesem Heini zu viel. Wahrscheinlich hat er in Wirtschaftspolitik<br />

promoviert. Am Tresen sind alle gleich, der<br />

Wirt wird von den Säufern reich. Aber dieses raffinierte<br />

Luder, eine Wucht. Ihre Glocken, so prächtig und voll.<br />

Wenn man die zum Klingen bringen würde...“<br />

„ In deiner Gedächtniskirche. Es ist schon was Wahres<br />

dran. Kinder und alte Männer sind albern. Los, da drüben<br />

rührt sich scheinbar was“, sagte Kimrod und hetzte über<br />

den Damm.<br />

Remke konnte nicht viel erkennen. Mehrere Passanten<br />

schlichen an der Zentrale der Camos vorbei. Vor dem<br />

Eingang des Verwaltungsgebäudes wuchs ein großer<br />

Schutthaufen an. Untere Dienstgrade trugen in sperrigen<br />

Wannen verkohlte Trümmer aus den verwüsteten Räumen.<br />

Der Aufzug schien ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen<br />

worden zu sein, so dass alles durch das Treppenhaus<br />

transportiert werden musste. Totsch unterhielt sich<br />

etwas abseits mit drei sonnenbebrillten Herren in eleganten<br />

Anzügen. Kimrod erkannte außerdem Ilona Zollner,<br />

die hinter den Männern auf ihr Chance wartete. Doch<br />

Totsch würdigte sie keines Blickes.


„ BKA. Die Vögel kenne ich, immer picobello herausgeputzt.<br />

Pfui Deibel“, erklärte Remke, der hinter Kimrod aufgetaucht<br />

war.<br />

Und von Typologie verstand er etwas. Kimrod zündete<br />

sich eine Zigarette an und winkte. Die Journalistin verschob<br />

ihr Vorhaben und stöckelte über das verdreckte<br />

Trottoir heran.<br />

„ Eigentlich auch nicht schlecht. Wer auf stramme Waden<br />

steht“, sagte Remke grinsend.<br />

Kimrod stieß resignierend Rauch aus. Ging das schon<br />

wieder los. Die Journalistin wechselte ein paar Worte mit<br />

einem der schuftenden Camos und begrüßte dann die<br />

Kommissare.<br />

„ Na, das ist ein Zufall. Sie glauben wohl auch, dass der<br />

Anschlag mit den Morden zusammenhängt. Nicht nur wegen<br />

Claudia Lupers Freund. Bei meinen Nachforschungen<br />

im Milieu sind sehr viele Merkwürdigkeiten ans Tageslicht<br />

getreten. Die beiden Callgirls bedienten zuletzt vornehmlich<br />

hohe Tiere aus Politik und Wirtschaft. Loschmitz ist<br />

nur ein Name unter tausend anderen. Versuchen Sie in<br />

der Richtung Ihr Glück. Es lohnt sich mit Sicherheit.“<br />

Totsch hatte sich von den Bundespolizisten gelöst und<br />

ging in die Zentrale zurück. Ilona Zollner wünschte den<br />

Kriminalbeamten viel Erfolg und nahm die Verfolgung auf.<br />

Totsch galt als medienscheu. Aber alles hatte doch seine<br />

Grenzen, nach so einem Ereignis. Kimrod sperrte den<br />

Ford auf und startete. Remke hatte nicht gleich geschaltet<br />

und stellte noch immer Betrachtungen über die weibliche


Anatomie an. Titten oder Beine, so leicht wie diese Zollner<br />

oder... Moment, der saß schon wieder im Auto.<br />

„ Los, mach schon. Wir fahren jetzt zum Kastrieren. Ein<br />

kurzer, schmerzloser Eingriff. Du wirst dich hinterher viel<br />

besser fühlen. Du benutzt deinen Otto nur noch zum<br />

Wasser lassen. Kein steifes Laken mehr, deine Olle bekommt<br />

einen Vibrator zu Weihnachten und die Welt leuchtet<br />

für dich in neuen Farben. Du kaufst dir einen Malkasten<br />

und musst nicht mehr Groschen auf den Boden fallen<br />

lassen, um kleinen Mädchen unter den Rock linsen zu<br />

können“, sagte Kimrod und stieß zurück in die Dahlmannstraße.<br />

Remke geruhte endlich einzusteigen. Nur mittelprächtiger<br />

Verkehr, aber auffallend viele Streifenwagen und vereinzelt<br />

Gefährte aus dem Fuhrpark der Camos waren unterwegs.<br />

An einer Ampel kam neben Kimrod ein metallicschwarzer<br />

Quattro zum Stehen. Der Chauffeur trug die<br />

charakteristisch gesprenkelte Jacke und telefonierte emsig.<br />

Bis auf die Gewehrhalter stimmte alles mit Maikovskys<br />

Beschreibung überein. Sieh an, sieh an, da<br />

machten welche die ganz dicke Kohle.<br />

Zehn Minuten vor zwölf erreichten sie den Parkplatz der<br />

Großklinik.<br />

„ So, mein Junge, gleich ist es überstanden. Ich denke,<br />

örtliche Betäubung wird ausreichen“, sagte Kimrod und<br />

stieg aus.<br />

Remke machte keine Anstalten, ihm zu folgen.


„ Geht das schon wieder los. Du kommst mit, und wenn<br />

ich dich reinschleifen muss. Jedes Mal, wenn es unangenehm<br />

wird, beruft sich der Herr auf seine Tage“, schimpfte<br />

Kimrod über den Wagen hinweg.<br />

Remke gab kleinlaut nach.<br />

„ Aber nur, wenn wir vorher noch was Essen gehen. Die<br />

haben doch hier bestimmt eine große Kantine.“<br />

Remke hievte seinen Körper aus der Rostlaube und verriegelte<br />

die Tür. Hier wurde bestimmt viel geklaut. Diese<br />

verdammten Krankenhäuser mit ihrem ätzenden Desinfektionsgeruch.<br />

Da ging doch keiner freiwillig rein.<br />

Sie brauchten einige Zeit, um einen Informationsschalter<br />

ausfindig zu machen. Das junge Mädchen, das gerade<br />

Dienst hatte, war aber sehr verständnisvoll. Nachdem<br />

Kimrod seinen Ausweis vorgezeigt hatte, telefonierte sie<br />

ausgiebig und machte sich nebenbei Notizen. Als sie die<br />

Gespräche beendet hatte, überreichte sie Kimrod einen<br />

Spickzettel.<br />

„ Hier steht alles Wichtige drauf. Professor Malawi ist im<br />

OP-Saal beschäftigt. Vielleicht noch eine halbe Stunde.<br />

Die Leichen befinden sich in einem provisorisch eingerichteten<br />

Neubauflügel. Wenn Sie zum Parkplatz zurückgehen<br />

einfach links, das dritte Gebäude. An den Türen sind noch<br />

keine Beschriftungen angebracht. Sie können es eigentlich<br />

gar nicht verfehlen. Der Professor weiß Bescheid.<br />

Danke.“<br />

Sie drehte sich um und wieselte weiter über die Tastatur<br />

ihres PCs. Remke leckte sich die Lippen.


„ Einmal darf ich noch. Die eifrigen Finger der Kleinen haben<br />

mich da auf eine Idee gebracht. Zuerst die Titten aus<br />

dem Repbüro, dann die Zollner, nur Strapse, schwarze<br />

Strumpfhalter und ihre Pfennigabsätze, die sich bei jeder<br />

Bewegung zentimetertief in meine Haut eingraben. Ich<br />

liege nur auf dem Rücken und sehe nur ihre prächtigen<br />

Stelzen, die in ein flammrotes Vlies münden. Sie geht so<br />

lange auf mir spazieren bis es mir kommt. Zum Schluss<br />

die Kleine hier. Für ihre hurtigen Pfötchen kein Problem.“<br />

Kimrod war ein paar Schritte vorausgeeilt und versuchte<br />

aus den verwirrenden Beschilderungen schlau zu werden.<br />

„ Hier! Dort ist was für dich.“<br />

Er deutete nach oben auf eine Holztafel, die mit einem roten<br />

Kreuz bemalt war. Daneben stand Notaufnahme.<br />

Remke grinste kurz und schloss auf.<br />

„ Ich weiß auch nicht, was los ist. Vielleicht liegt!s am Wetter.<br />

Mein Granatsplitter rührt sich auch schon wieder...“<br />

„ Wenn dein Stehvermögen nur halb so groß wäre wie<br />

deine Klappe, hättest du als Pornodarsteller eine glänzende<br />

Karriere gemacht. Hier riecht es übrigens nach<br />

Bratwurst. Du wolltest doch noch was einschmeissen bevor<br />

wir unsere Mädels besuchen.“<br />

Nach einer langen Biegung tauchte in der Tat ein Kiosk<br />

auf, kurz vor dem Ausgang. Remke orderte zwei Currywürste<br />

und Bier. Obwohl striktes Rauchverbot herrschte,<br />

zündeten sich die Polizisten Zigaretten an. Wer erwischt<br />

wurde, bekam Hausverbot, laut Klinikordnung. Sie öffneten<br />

ihre Pilsflaschen und prosteten sich zu. Der Betreiber


der Bude machte die Würste fertig und warnte vor den<br />

Folgen des Rauchens.<br />

„ Sehen Sie mich an. Hab schon zwei Infarkte hinter mir.<br />

Alles nur wegen der Qualmerei. Aber machen Sie doch<br />

was Sie wollen. Sechs Euro, bitte.“<br />

Remke zahlte und ließ sich eine Quittung ausstellen. Kimrod<br />

spülte genießerisch jeden Bissen Wurst mit einem<br />

Schluck Bier hinunter. Stehvermögen, tja, das leidige<br />

Thema. Kimrod brachte es nicht einmal fertig, mit Remke<br />

über seine Potenzstörungen zu sprechen, seinem besten<br />

Freund.Mit gutem Grund. Die alte Plaudertasche würde es<br />

allen unter die Nase reiben, die es wissen wollten. Und<br />

auch den anderen. Ob dieser Malawi auch bei Männern<br />

Bescheid wusste? Es gab doch neuartige Implantate, die<br />

den echten Schwellkörpern nachempfunden waren und<br />

ähnlich funktionierten. Oder die elektromagnetischen<br />

Massagen. Man musste sich nur trauen.<br />

Remke stellte rülpsend seine leere Flasche zurück. Der<br />

Chef träumte schon wieder. Dem konnte abgeholfen werden.<br />

„ Hallo, aufwachen! Jetzt kannst du deinen nekrophilen<br />

Neigungen nachgehen.“<br />

Kimrod trank aus und erklärte:<br />

„ Das ist nicht von mir. Ich bin für Perversitäten aller Art<br />

offen, aber das geht zu weit. Ich fresse zwar tote Schweine,<br />

aber vorher vögeln möchte ich sie nicht.“<br />

Sie gingen weiter, immer der Beleuchtung nach. Der Professor,<br />

ein Inder mit Gandhibrille, höchstens vierzig, war-


tete schon. Er kam den Polizisten entgegen und begrüßte<br />

sie herzlich.<br />

„ Herr Kimrod, Herr Remke, es ist mir ein Vergnügen. Wer<br />

interessiert sich schon für unsere Arbeit? Oder wollen Sie<br />

lieber mit Ihrem Dienstgrad angesprochen werden?“<br />

„ Nein, das ist absolut in Ordnung so“, antwortete Kimrod.<br />

Sie hatten Mühe, mit dem Mediziner Schritt zu halten.<br />

Schon standen sie in einer Halle, die bis auf einem rollbarem<br />

Sektionstisch und zwei hohe, teilweise verglaste<br />

Kästen leer war. Der Professor dirigierte sie auf die seltsamen<br />

Behälter zu.<br />

„ Es tut mir sehr leid, aber es ging nicht anders. Kein<br />

Platz, keine Zeit. Ich habe Samstag und Sonntag hier<br />

durchgearbeitet. Diese Behälter sind Hibernierungsmaschinen.<br />

Man kann den menschlichen Körper darin praktisch<br />

unbegrenzt aufbewahren. Natürlich nach dem Exitus.<br />

Manche meiner Kollegen glauben, die Unsterblichkeit sei<br />

in greifbare Nähe gerückt. Das ist meiner Meinung nach<br />

noch ein weiter Weg dahin. Ich will Sie auch nicht mit<br />

technischen Details langweilen. Sie sind wegen der Mädchen<br />

hier. Bitte.“<br />

Der Professor winkte die Beamten näher heran. Remke<br />

kam dieser Aufforderung nur sehr ungern nach. Er erwartete<br />

freiliegende Gedärme und dergleichen. Man sah jedoch<br />

außer den Köpfen nichts. Sogar Susanne<br />

Roschmanns Haupt war wieder da, wo es hingehörte. Es<br />

saß wie angewachsen auf dem Hals. Der Rest wurde von<br />

weißen Leintüchern verhüllt. Die Gesichter waren gründ-


lich gereinigt und geschminkt worden. Sie wirkten deswegen<br />

streng und steril, als ob die Mädchen an Bord eines<br />

Raumschiffs fernen Galaxien entgegenjagten. Man musste<br />

nur auf ein Knöpfchen drücken und sie würden sich erheben.<br />

Nie im Leben käme man darauf, dass die beiden<br />

zu Tode gequält worden waren. Malawi dozierte weiter.<br />

„ Der linke Corpus weist Spuren schwerster Gewaltanwendung<br />

auf; mehrere Messerstiche in die linke Brusthälfte.<br />

Dann bei allen beiden gleich, Perforationen und Muskelrisse<br />

im Scheidenkanal bis in den Uterus hinauf. Wahrscheinlich<br />

vorgenommen durch einen rotierenden Holzbohrer,<br />

Größe 13 mm. Der Kopf des rechten Corpus wurde<br />

mit einer Taschensäge abgetrennt.“<br />

„ Taschensäge? Fuchsschwanz, Laubsäge?“<br />

Kimrod hakte nach. Vielleicht wurde dieser Punkt noch<br />

wichtig.<br />

„ Nein, nein, ich meine eine Drahtsäge. Ein vielleicht fünfzig<br />

Zentimeter langer Draht aus hochwertigem Stahl, in<br />

den Sägezähne eingearbeitet sind. An beiden Enden sind<br />

Griffe angebracht, an denen man abwechselnd zieht. So.“<br />

Der Professor streifte sein Stethoskop ab und legte den<br />

Horchschlauch um Remkes Oberschenkel. Remke war<br />

kitzlig. Als der Professor Sägebewegungen nachahmte,<br />

geriet ihm das bearbeitete Bein außer Kontrolle. Malawi<br />

wurde von Remkes Kniescheibe in der Kinnpartie getroffen.<br />

Er wankte zwei Meter zurück und nahm nach einer<br />

kurzen Erholungspause sein Stethoskop in Empfang, das<br />

Kimrod für ihn aufgehoben hatte. Damit war die Leichen-


schau wohl beendet. Remke begriff erst jetzt, was er angerichtet<br />

hatte. Er hörte abrupt zu kichern auf und rieb<br />

verlegen seine Schuhe aneinander. Doch der Professor<br />

war hart im Nehmen.<br />

„ Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Taschensäge.<br />

Sie wissen inzwischen, was ich meine?“<br />

Kimrod nickte.<br />

„ Gut. Wir fanden außerdem keine Spermaspuren oder<br />

Fremdkörperpartikel. Das wäre alles.“<br />

„ Diese Kisten hier dienen also nur zur Aufbewahrung,<br />

damit die Körper nicht in Verwesung übergehe“, stellte<br />

Kimrod fest und studierte noch einmal die Gesichter. Er<br />

wollte wissen, was die Mädchen zuletzt empfunden hatten.<br />

Erschrecken, Erstarren, Hass, Raserei, oder waren<br />

beide vorher betäubt worden? Malawi schien seine Gedanken<br />

gelesen zu haben.<br />

„ Wir haben eigentlich nicht viel verändert. Nur das Blut<br />

abgewaschen und ein wenig retuschiert. Ich habe mich<br />

auch gewundert. Es gibt allerdings Arten der Betäubung,<br />

die man hinterher nicht feststellen kann. Wir haben jedenfalls<br />

keinerlei giftige Substanzen nachweisen können.<br />

Theoretisch könnten die Angehörigen jetzt die Identifizierung<br />

vornehmen. Wir, oder vielmehr meine Kollegen, wollen<br />

die Hibernierungsautomaten zurück haben, die wir tatsächlich<br />

nur zum Kühlen benötigen.“<br />

„ Das kann noch dauern. Eine Frage noch, Professor. Auf<br />

was für einem Gebiet sind Sie Experte, außer der Gerichtsmedizin?“


„ Gynäkologie. Wenn Sie weitere Fragen haben, stehe ich<br />

Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Sie hätten gestern<br />

kommen sollen, da konnte man in den Innereien lesen<br />

wie in einem offenem Buch. Schade.“<br />

Remke war bereits an die frische Luft entwichen. Kimrod<br />

ließ sich noch eine Visitenkarte geben. Er hatte sich mehr<br />

erhofft. Die Mädchen waren auch tot noch schön. Waren<br />

Sie wirklich so gestorben? War der Mörder ein guter Bekannter<br />

oder Stammkunde, dem die Mädchen vertraut<br />

hatten? Bis zum bitteren Ende? Remke, der Feigling, war<br />

Richtung Parkplatz verschwunden. Hibernierungsmaschinen,<br />

was zum Teufel kochten die da drinnen wirklich aus?<br />

Versuche mit Leichen oder gar Lebendigen, in Frankensteinmanier?<br />

War Remkes Hast berechtigt, alle Mann an<br />

Deck, in Sektion C wurden zwei guterhaltene Organträger<br />

gesichtet, fertig machen zum Sezieren?<br />

Remke wirkte entspannt, als Kimrod am Parkplatz eintraf.<br />

„ Na, du alter Nekromane. Ist dir jetzt wieder wohler?“<br />

fragte Kimrod ihn.<br />

„ Es ist geschafft. Und alles noch dran. Wie geht!s weiter?“<br />

„ Zurück zu den Schneewitchensärgen. Malawi hat dir ein<br />

interessantes Angebot zu machen. Wenn du dich<br />

schockfrosten lässt, wird deine Pension verdoppelt. Man<br />

spürt nicht das Geringste und es regt ungemein an.“<br />

Kimrod grinste breit. Der saß.<br />

„ Dummsülzer. Ich will wissen, was als Nächstes auf der<br />

Speisekarte steht. Nun mach schon“, stieß Remke ungeduldig<br />

hervor.


„Tante Berta. Sie weiß bestimmt etwas über die Mädchen.<br />

Vielleicht hat sie schon Sehnsucht nach dir“, antwortete<br />

Kimrod.<br />

„ Jetzt wandern aber bei dir die Eier in Gehirnnähe. Und<br />

sich über mich beschweren.“<br />

Sie stiegen ein und fuhren los. Kimrod fielen die zahlreichen<br />

auswärtigen Kennzeichen auf. Viele Kleinbusse und<br />

Importwagen, meist älterer Bauart. Normalerweise ein Anzeichen<br />

für eine geplante Großdemonstration. Kimrod<br />

deutete auf den Aufkleber am Heck eines Brandenburgers<br />

Transits.<br />

„ Kannst du das lesen? Schlag Staat in Stöcke braucht<br />

das Land. Kann das stimmen?“ Remke grunzte unwillig.<br />

„ Ist mir egal. Immer wenn denen der Pelz brennt, machen<br />

sie bei uns Radau. Gottverdammte Zuwanderer.“<br />

Im Radio fand Kimrod jedoch keinen Hinweis auf die offensichtlich<br />

angesetzte Veranstaltung. Obwohl inzwischen<br />

fast sämtliche Straßenzüge über eine eigene Rundfunkstation<br />

verfügten, die jeden Hundefurz in den Straßennachrichten<br />

breittraten. Um viertel zwei parkte Remke den<br />

Wagen in der Eisenbahnstraße. Hier war Gott sei Dank<br />

weniger los. Von aufrührerischen Untertanen keine Spur.<br />

Das Viertel erwachte während der Woche erst nach Einbruch<br />

der Dunkelheit. Dann aber richtig. An jeder Ecke<br />

bekam man drei bis vier eindeutige Angebote, zu erstaunlich<br />

erschwinglichen Preisen. Der heißeste Renner waren<br />

die Chinesinnen, die allen Zoll- und Asylschranken zum


Trotz in die Republik strömten und die bäurischen Langnasen<br />

mit asiatischer Raffinesse bedienten.<br />

Das Mirage war noch geschlossen. Kimrod stemmte einen<br />

der Fensterläden auf und klopfte einen bestimmten Takt.<br />

Kurz darauf öffnete sich die massive Pforte. Tante Berta<br />

steckte ihren Kopf heraus und peilte die Lage.<br />

„ Los, macht schnell. Es soll euch keiner sehen.“<br />

Die Polizisten wischten durch den Eingang und verdrückten<br />

sich in eines der Separees. Tante Berta klemmte eine<br />

Flasche Johnny Walker unter und setzte sich gewichtig zu<br />

ihnen an den Tisch. Sie füllte die bereitstehenden Gläser<br />

und eröffnete die Runde.<br />

„ Ich habe euch schon erwartet. Heute geht!s rund. Totsch<br />

war nur der Anfang.“<br />

Schon war das Glas leer. Sie leckte sich genießerisch die<br />

Lippen und sorgte für Nachschub. Kimrod hielt vorsorglich<br />

die Hand über seinen Becher.<br />

„ Langsam. Das geht uns nichts an. Ich bin nicht der Innensenator...“<br />

„ Aber bald, wenn du so weiter schwafelst. Erzähl uns<br />

doch was über die beiden Kleinen. Sei brav, Schätzchen...“,<br />

sagte Remke und zwickte Tante Berta in die Seite.<br />

Remkes Annäherungsversuch wurde unsanft abgewehrt.<br />

Seine Hand landete hart auf dem Tisch. Tante Berta<br />

war auf Kriegspfad und nicht zu Scherzen aufgelegt.<br />

„ Aber nur weil ihr es seid. Ich kenne die beiden schon seit<br />

zwei Jahren. Sie haben hier auf der Straße angefangen<br />

und sich hoch gearbeitet. Zuletzt nur noch Stammkunden


der oberen Kategorie. Dieser Loschmitz wurde auch öfters<br />

in ihrer Nähe gesehen. Und auch andere. Ich kenne<br />

die alle Gott sei Dank nicht näher. So was spricht sich<br />

dann rum. Mund zu Mundpropaganda. Sie arbeiteten<br />

hauptsächlich in ihrem Apartment, meistens zu zweit. Die<br />

haben hier eine Menge gelernt und viel Geld verdient.<br />

Vielleicht zu viel. Sie wurden zum Schluss ziemlich immer<br />

abgehobener. Nur noch Schickimicki und so. Na ja,<br />

Hochmut kommt vor dem Fall. Ich konnte die Mädels<br />

trotzdem gut leiden.“<br />

Die Tränen, die über ihre Wangen kullerten, waren echt.<br />

Die Mädchen hatten den gleichen Beruf ausgeübt wie sie<br />

früher. Das reichte. Jetzt war Rache angesagt.<br />

„ Ihr seid bei mir eigentlich verkehrt. Sie traten gelegentlich<br />

noch in der Safaribar auf. Aber nur so zum Spaß. Nötig<br />

hatten die es schon lange nicht mehr.“<br />

Remke tätschelte ihr die Hand.<br />

„ Na, Kopf hoch. Du kommst schon drüber weg. Nimm<br />

erst noch Einen.“<br />

Sie befolgte seinen Rat und räumte danach die Flaschen<br />

weg.<br />

„ Ihr müsst jetzt gehen. Um drei geht die Demo los. Ich will<br />

bereit sein.“<br />

Kimrod nickte. Er konnte das gut verstehen. In ihrem Beruf<br />

zu viel mit der Polizei zu tun haben, war nicht ratsam.<br />

Sie hatte getan, was sie konnte.


Die Safaribar lag einen Katzensprung weiter, in der Zeughofstraße.<br />

Es war eigentlich mehr ein Privatclub als ein öffentliches<br />

Etablissement. Nur wer vom Rat der Weisen, so<br />

nannten die altgedienten Clubmitglieder ihren erlauchten<br />

Vorstand, für würdig befunden wurde, durfte eine Eintrittskarte<br />

lösen. Bei Wohlverhalten gab es dann später das<br />

begehrte Jahresticket und die lebenslängliche Permission.<br />

Auch hier war noch alles zu. Nur gedämpfte Musik drang<br />

auf die Straße. Die Polizisten hatten sich Zigaretten angezündet<br />

und beratschlagten sich.<br />

„ Wie kommen wir rein? Für die sind wir doch nur bessergestellte<br />

Sozialhilfeempfänger. Kommt wieder, wenn ihr es<br />

euch leisten könnt. Beglückt so lange eure Trampel zu<br />

Hause. Viel Spaß. Mehr wird da nicht zu holen sein“,<br />

meinte Remke pessimistisch.<br />

Kimrod war zuversichtlicher.<br />

„ Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl. Aber wir können<br />

jederzeit einen bekommen. Zefhahn hat es mir zugesichert.“<br />

Er hatte seine Stimme gehoben und deutete auf die Austrittsklappe<br />

der Klimaanlage zu, die im warmen Luftstrom<br />

flatterte. Remke stand auf der Leitung. Kimrod sagte ihm<br />

ins Ohr: Feind hört mit. Endlich war der Groschen gefallen.<br />

„ Und was Zefhahn sagt, hält er auch. Auf unseren Kriminalrat<br />

ist in solchen Situationen hundertprozentig Verlass“,<br />

pflichtete Remke seinem Kollegen bei.


„ Dann wollen wir mal“ , fuhr Remke fort und drosch gegen<br />

die Tür, die sofort aufgestoßen wurde.<br />

Zwei muskelbepackte Kerle mit Schnauzer und Dackelblick,<br />

Typ Sunillude, sprangen auf die Straße. Remke war<br />

vorbereitet. Schon starrten die Jungs in die Mündung seiner<br />

Sauer.<br />

„ So, und nun sachte. Wir hätten ein paar Fragen an den<br />

Chef. Schießübungen waren letzte Woche dran. Wiederholungen<br />

gefallen nicht“, sagte Kimrod und entschärfte<br />

damit die Situation. Einer der Türsteher kannte Remke<br />

flüchtig und nickte seinem Partner zu.<br />

„ Geht in Ordnung. Das sind Bullen. Gib oben Bescheid.“<br />

Der Angesprochene entfernte sich eilig.<br />

„ Ihr müsst so lange draußen bleiben. Ohne Karte kommt<br />

mir keiner rein“, erklärte der zurückgebliebene Supermann.<br />

Er wollte damit Remke einschüchtern, der seine Waffe<br />

wegsteckte und sich langsam auf die Tür zubewegte.<br />

„ Bist wohl der Oberschlaumeier hier. Ihm kommt hier keiner<br />

rein. Ich habe in dieser Klitsche schon mein Bier getrunken,<br />

als du dir noch die Scheiße von den Strampelhosen<br />

gekratzt hast. Richte Strelen einen schönen Gruß<br />

aus. Wenn er sich nicht mit uns unterhalten will, wird die<br />

Bude ausgeräuchert.“<br />

Remke wusste, dass das nur eine leere Drohung war. Hier<br />

verkehrte zu viel Kapital. Da rannte sich auch Wulke persönlich<br />

den Kopf ein. Doch wenn Strelen nur halb so<br />

schlau war, wie er sich gab, ging er nicht auf Konfrontati-


onskurs, da Polizei vor der Tür hundertprozent schädlicher<br />

war, als sie im Haus zu haben. Remkes Vermutung bestätigte<br />

sich nach einer kurzen Verschnaufpause. Der Hausherr<br />

rauschte durch die Phalanx seiner Bediensteten und<br />

trat den Polizisten mit seinem berühmten schiefen Lächeln<br />

entgegen. Die Bodyguards zogen sich widerwillig<br />

zurück. Wer ließ sich schon gerne von Staatsfritzen anpfeifen.<br />

„ Tag, die Herren. Lassen Sie uns die Sitzung an einen<br />

angenehmeren Ort verlegen. Die Cabarettruppe hat gerade<br />

Pause. Wir können uns also folglich ungeniert in einer<br />

der Nischen unterhalten. Bitte.“<br />

Remke konnte sich einen Kommentar zur bigottisch vorgetragenen<br />

Einladung des Bordelliers nicht verkneifen. Da<br />

konnte der Chef noch so grimmig dreinschauen.<br />

„ Halt, Meister. Erst wolltet ihr nicht, jetzt treten wir auf die<br />

Bremse. Sie können nachts in Ihrem dreckigen Loch abfüllen,<br />

wen Sie wollen, doch ich weigere mich, da...“<br />

Kimrod schaltete sich ein. Es half ja doch nichts, weil alles<br />

wieder an ihm hängen bleiben würde.<br />

„ Halt!s Maul, Otto. Wir müssen hier arbeiten und haben<br />

keine Zeit für Straßengeklöne. Lass deinen Sermon ab,<br />

wo du willst, aber nicht hier. Wir dürfen uns nicht den geringsten<br />

Fehler erlauben. Ich...“<br />

Strelen war ein Mann der Tat und zog die beiden Beamten<br />

mit einem geschickten Griff hinter die Schwelle seiner<br />

Pforte. Kimrod unterstützte ihn dabei, so gut er konnte,<br />

denn eine Schlägerei auf offener Straße war das Letzte,


was ihm heute noch abging. Nach einem kurzem Gerangel,<br />

beruhigte sich auch Remke wieder.<br />

„ Der war nicht von schlechten Eltern. Wo haben Sie denn<br />

das gelernt? Beim Bund?“ fragte Kimrod schelmisch.<br />

„ Nein, bei den Pfadfindern. Was wollen Sie denn von einem<br />

der ehrbarsten Bürger der Stadt? Geld, Frauen,<br />

Rauschgift, vielleicht sogar eine Mietsenkung?“<br />

Strelen setzte wieder sein Grinsen auf. Diesmal blieb<br />

Remke die Antwort schuldig, weil ihm ausnahmsweise<br />

nichts einfiel. Kimrod ging hinter die Theke und räumte<br />

drei Lagen Sektschwenker aus einem verspiegelten Regal.<br />

Strelen ließ ihn gewähren. Dem Rüpel würde nach einer<br />

gepfefferten Dienstaufsichtsbeschwerde schon noch<br />

das Lachen vergehen.<br />

„ Sie Knallcharge. Das kann Ihnen die Pension kosten.<br />

Nicht mit mir, Bürschchen. Ich habe mich nicht nach oben<br />

gekämpft, um vor einem A 10 Arsch zu buckeln.“<br />

Strelen schaltete aber rasch um. Er wurde sichtlich versöhnlicher.<br />

„Na gut, geschenkt. Aber nur wegen Otto.“<br />

Remke nickte grimmig. Strelen zündete sich eine dicke<br />

Zigarre an, Typ Zeppelin.<br />

„ Zur Beruhigung. Also?“<br />

Kimrod holte tief Luft.<br />

„ Die Nuttenmorde. Die Mädchen waren eine der Attraktionen<br />

Ihres Programms. Was wissen Sie?“<br />

Strelen zuckte harmlos mit den Schultern.


„Was ich weiß? Hä, hä, das würdet ihr Strauchdiebe wohl<br />

gerne in Erfahrung bringen? Ich kannte die Mädchen gut,<br />

aber das ist auch schon alles.“<br />

Remke fasste Kimrod am Arm.<br />

„ Komm, ich kenne ihn. Wenn er nicht will, müssen wir uns<br />

damit abfinden. Nichts wie raus hier. Es stinkt.“<br />

Strelen würdigte die zornig nach draußen eilenden Beamten<br />

keines weiteren Blickes. Zwei Staatskasper, mehr<br />

nicht. Warum sich aufregen. Die waren doch genauso viel<br />

wert wie ein korrodierter Groschen in der Pissoirrinne. Er<br />

rauchte seine Havanna genüsslich zu Ende.<br />

Es war auf den Punkt zwei Uhr, als die Polizisten ihr Fahrzeug<br />

erreichten. Ausnahmsweise war nichts beschädigt,<br />

auch kein Gruß von den Rinnsteinegeln, dem gefürchteten<br />

privaten Verkehrsüberwachungsverein, der gern und<br />

immer erbarmungslos zuschlug. Kimrod setzte die Fuhre<br />

in Bewegung.<br />

„ Wir haben noch ein bisschen Zeit. Lass mich überlegen.<br />

Wo stehen wir am günstigsten? Nun spuck schon aus.“<br />

„Keine Ahnung. Vielleicht am Mariannenplatz. Der Boss<br />

bist immer noch du.“<br />

Kimrod hielt sich an den Ratschlag seines Kollegen. Er<br />

sollte angeblich etwas von Strategie verstehen, wahrscheinlich<br />

aber nur beim Skat. Sie parkten den Wagen an<br />

einer günstigen Stelle und warteten auf die ersten Demonstrationsteilnehmer,<br />

die dann auch gegen vierzehn<br />

Uhr fünfundvierzig pünktlich eintrafen. Remke musterte<br />

die Gestalten angewidert. Langhaarige Müslidioten,


Emanzen, Grüne, Autonome, organisierte Schnallen und<br />

der übliche Tross von Schaulustigen, die bei jedem Aufmarsch<br />

mitmischten.<br />

Um drei verließen die Polizisten ihren Wagen und reihten<br />

sich unauffällig in den Demonstrationszug ein. Neben ihnen<br />

unterhielt sich ein grell geschminktes Pärchen über<br />

die Morde.<br />

„ Meiner Meinung nach steckt die Regierung ganz dick mit<br />

drin. Die Mädchen verkehrten doch ausschließlich in Jetsetkreisen.<br />

Nicht nur Loschmitz hat aus diesem Brunnen<br />

getrunken. Diese Staatsschweine sind doch alle gleich.<br />

Hoffentlich melden sich unsere Genossen aus dem bewaffneten<br />

Untergrund tatkräftig zurück. Für jeden abgemurksten<br />

Politiker spende ich zehn Euro für die Welthungerhilfe“,<br />

gab der androgyne Teil des nicht genau identifizierbaren<br />

Paares bekannt.<br />

Remke schluckte schwer. Kimrod gab ihm einen leichten<br />

Rempler in die Nieren. Sie ließ sich zurückfallen.<br />

„ Wir sind absolut inkognito hier. Du weißt, was du mit einem<br />

verkehrten Wort anrichten kannst“, sagte Kimrod leise.<br />

„ Ja, ja, schon gut. Ich bin nicht bekloppt. Aber diese linken<br />

Weltverbesserer sind die Schlimmsten. Von denen<br />

dürfte mir keiner ohne Aufsicht unterkommen. Lauter Geschmeiß!“


Gott sei Dank begannen weiter vorne die ersten einen<br />

Schlachtruf zu skandieren, so dass Remkes Ausfälle ohne<br />

Echo verpufften.<br />

„ Sperrt die Mörder ein! Sperrt die Mörder ein!“<br />

Sofort brüllten alle mit. Sogar Remke ließ sich nicht zweimal<br />

bitten.<br />

„ Wenn uns nur Zefhahn sehen, beziehungsweise hören<br />

könnte“, brüllte Kimrod in einer Kampfpause seinem Kollegen<br />

ins Ohr.<br />

„ Hängt den Kanzler auf! Hängt den Kanzler auf!“<br />

Auch dieser Vorschlag eines mit Stahlprügeln ausgerüsteten<br />

Blocks wurde sofort freudig aufgenommen. Schon flogen<br />

die ersten Steine. Schaufenster barsten, Autos gingen<br />

in Flammen auf. Die Polizei besaß nicht den Hauch einer<br />

Chance, diesem Inferno ein Ende zu setzen, trotz der<br />

grossen Masse der eingesetzten Beamten und Werfer.<br />

Pausenlos heulten Martinshörner. Autonome mit Rotkreuzbinden<br />

versuchten vergeblich, dem Heer der Verwundeten<br />

Herr zu werden. Wer umkippte, blieb liegen.<br />

Blutende mussten sich selbst verbinden.<br />

Die Ausschreitungen verebbten erst nach zwei Stunden.<br />

Wer noch nicht genug hatte, machte anderenorts weiter.<br />

Gelegenheiten gab es genug. Es ging schon lange nicht<br />

mehr darum, für oder gegen was demonstriert wurde,<br />

sondern nur um Krawall. Zerschlagen, brandschatzen,<br />

plündern, prügeln und töten. Das waren die Leitsprüche<br />

der staatsverachtenden Randalierer, die Verluste in den


eigenen Reihen gerne in Kauf nahmen und denen kein<br />

Anfahrtsweg zu weit war. Wo gehobelt wird, fallen Späne.<br />

Nach diesem Prinzip gingen auch die Einsatzleiter der Sicherheitskräfte<br />

vor. Totschs Truppe feierte an diesen Tagen<br />

fröhliche Urstände. Die Camos schossen da auch<br />

schon mal scharf. Warum nicht, diese Anarchisten legten<br />

es doch direkt darauf an. Nur tüchtig draufhalten, ganz so<br />

wie es der Werferfahrer vor dem Olympiastadium unverblümt<br />

geschildert hatte.<br />

Kimrod verlor Remke bald aus den Augen, aber sie hatten<br />

sich für siebzehn Uhr verabredet, am Mariannenplatz.<br />

Remke traf rechtzeitig ein, trotz der noch immer wild aufflackernden<br />

Rückzugsgefechte. Er war eben ein Kämpe<br />

alter Schule und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.<br />

„ Na, wie stehen die Aktien? Wie viel hast du heute umgepustet?“<br />

fragte ihn Kimrod gut gelaunt.<br />

Das Schlimmste war wohl überstanden. Oder auch nicht,<br />

denn Kimrod war sich darüber im Klaren, dass auf dem<br />

politischen Parkett andere Spielregeln galten. Wenn man<br />

sich bei diesen aalglatten Typen verhaspelte, konnte man<br />

ungemein hart auf dem Bauch landen. Und wer tat das<br />

schon gerne?<br />

Sie stiegen ein und fuhren los. Der Wagen war bis auf ein<br />

paar zusätzliche Dellen heil davongekommen. Logischerweise,<br />

Schrott reizte auch die tatfreudigsten Vandalen<br />

nicht. Die Polizisten erreichten ihr Ziel, das Büro des sozialdemokratischen<br />

Oppositionsführers Günter Loschmitz,<br />

um halb sechs. Loschmitz residierte im zwanzigsten


Stockwerk eines hypermodernen Wolkenkratzers, in den<br />

man nur nach einer aufwendigen Sicherheitskontrolle Zutritt<br />

erlangte. Remke war sofort wieder auf hundertachtzig.<br />

„ Nimm die Finger weg, du Komiker. Ich bin ein Kriminaler<br />

und keine Schwuchtel, die jeder Trottel begrapschen darf.“<br />

Der Wachmann, ausnahmsweise kein Camo, setzte seine<br />

Arbeit unbeeindruckt fort. Er wusste, dass er ein paar<br />

Scheine mehr im Monat machte als dieser Schimanskiverschnitt<br />

und blieb dementsprechend gelassen.<br />

„ Los komm, Otto, wir haben schon genug Zeit verplempert.<br />

Sonst geht uns dieser Parteifatzke noch durch die<br />

Lappen“, befahl Kimrod knapp.<br />

Nachdem sie die Kontrollen passiert hatten, fuhren sie mit<br />

dem Aufzug nach oben. Dort erwartete sie ein weiterer<br />

Privatsheriff, der die Polizisten nach einer kurzen Gesichtskontrolle<br />

entließ. Er war wahrscheinlich per Funk<br />

vom Anrücken der Konkurrenz informiert worden.<br />

„ So, jetzt sind wir also da. Wir hätten den Pinscher fragen<br />

sollen, wo sich Loschmitz gerade aufhält. Bis wir alle<br />

Zimmer durch haben, ist längst Dienstschluss“, sagte Kimrod<br />

besorgt.<br />

„ Typisch Beamter. Um fünf werden die Ärmel zugeknöpft.<br />

Und mir macht er immer Vorwürfe von wegen Dienstauffassung“,<br />

schimpfte Remke.<br />

„ Ja, ja, du bist der coole Supercop und ich der biedere<br />

Stundenschieber, der jeden Schritt stur nach Vorschrift unternimmt.<br />

Aber wie finden wir jetzt heraus, wo sich die Assel<br />

versteckt hält.“


„ Warum Assel? Wir sind doch nicht im Keller. Außerdem<br />

habe ich ihn schon. Dort drüben links. Das Brett...“<br />

Remke deutete auf eine mit Hier schläft der Chef Schild<br />

behängte Tür schräg gegenüber. Der Tip war gut. Gleich<br />

nachdem sie geklopft hatten, wurden sie von einer gut<br />

gebauten Brünetten in Empfang genommen. Remke<br />

übernahm die Verhandlungen.<br />

„ Guten Tag, schönes Kind. Wir würden uns gerne mit Ihrem<br />

Boss unterhalten. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen<br />

haben. Was haben Sie übrigens heute Abend vor?<br />

Ich würde mich freuen, wenn Sie...“<br />

Die Sekretärin reagierte barsch.<br />

„ Mit Ihnen bestimmt nichts. Herr Loschmitz ist für euch<br />

nicht zu sprechen. Er hat mit den Morden nichts zu tun<br />

und verweigert jegliche Stellungnahme.“<br />

„ Sein Pech. Ich bin mir sicher, dass eine rasche Aufklärung<br />

des Falls nur in seinem Interesse liegen kann. Wir<br />

wissen, dass Loschmitz häufig in der Safaribar verkehrte.<br />

Wir verfügen über gute Kontakte zur Presse. Die Zeitungen<br />

würden sich schwer wundern, wenn Sie mit uns nicht<br />

zusammenarbeiten. Und jetzt lassen Sie uns durch. Herr<br />

Loschmitz hat schon lange genug gepennt.“<br />

„ Sie Schwein!“<br />

Kimrod schob die Vorzimmerdame rigoros zur Seite und<br />

betrat ohne anzuklopfen das Büro des Politikers.<br />

Loschmitz telefonierte gerade. Kimrod hielt ihm seinen<br />

Ausweis unter die Nase und unterbrach die Verbindung.


„Was fällt Ihnen ein, Sie Flegel. Ich habe gerade mit dem<br />

Finanzminister gesprochen. Das wird Sie Ihre nächste Beförderung<br />

kosten. Wo kämen wir denn da hin?“<br />

„ Ist schon gut, Meister. Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen,<br />

nur ein paar Fragen beantworten. Wo waren Sie in<br />

der Nacht von Freitag auf Samstag?“ wollte Kimrod wissen.<br />

„ Auf einer Ausstellung. Kulturprogramm, nichts Aufregendes.<br />

Aber was geht Sie das an? Sie glauben doch nicht,<br />

dass ich mit den Morden etwas zu tun habe? Ihre Frau<br />

wird sich freuen, Sie Nestbeschmutzer.“<br />

Loschmitz zündete sich eine Zigarette an und lächelte<br />

süffisant. Vielleicht konnte man diese Pfeife auf die Tour<br />

mundtot machen.<br />

„ Meine Frau lassen Sie gefälligst aus dem Spiel. Es geht<br />

rein um Sie. Also?“<br />

„ Ich war in der Galerie Brusberg. Ganz offiziell, alte Meister.<br />

Sie können es jederzeit nachprüfen, mit anschließendem<br />

Sektempfang. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.<br />

Es gibt noch Leute, die sich ihr Geld verdienen müssen.“<br />

„ Wir werden Ihre Angaben selbstverständlich überprüfen.<br />

Bis bald.“<br />

Die Polizisten verließen das Büro und reihten sich in die<br />

Schlange vor dem Aufzug ein.<br />

„ Jetzt erst Büroschluss? Ich dachte, spätestens um vier<br />

werden die Bleistifte fallengelassen“, wunderte sich Remke.


„Tja, der Wahlkampf. Jede Stimme ist bares Geld wert.<br />

Da machen die Herrschaften mobil. Bin ich froh, wenn wir<br />

hier raus sind“, erklärte Kimrod angewidert.<br />

Die abgespannten Monitorvisagen der Angestellten sprachen<br />

Bände. Hier wurde in der Tat gearbeitet, natürlich für<br />

das Wohl des Bürgers.<br />

„ Eigentlich müsstest du den Fall abgeben. Ich meine wegen<br />

Befangenheit. Zwei Genossen pinkeln sich nicht gegenseitig<br />

ans Bein. Du verstehst, was ich meine“, sagte<br />

Remke.<br />

„ Geht das schon wieder los. Wir ermitteln gegen<br />

Loschmitz und nicht gegen meine Frau. Außerdem kennen<br />

sich die beiden kaum.“<br />

Kimrod schüttelte angewidert den Kopf. Otto konnte einem<br />

manchmal ungemein auf die Nerven gehen. Die Beamten<br />

verließen das Hochhaus und gingen zurück zu ihrem<br />

Wagen. Kein Strafzettel, wenigstens etwas.<br />

„ Ich fahre zurück ins Präsidium. Deinem HASSSO auf die<br />

Finger klopfen. Kommst du mit?“ fragte Kimrod seinen<br />

Kollegen.<br />

„ Nein, danke mir reicht!s für heute. Unser HASSSO hat<br />

außerdem immer die Nase vorn. Wann begreifst du das<br />

endlich?“<br />

Kimrod ließ sich auf keine weiteren Diskussionen ein. Er<br />

war von seinem Vorhaben, die Liste der Verdächtigen eigenhändig<br />

durchzuforsten, durch nichts abzubringen. Es<br />

wäre doch gelacht, wenn der Riecher eines erfahrenen


Praktikers weniger taugte als der Spürsinn kalter Leiterplatten.<br />

Sie kamen um fünfzehn Minuten im Präsidium an. Remke<br />

verabschiedete sich und wünschte seinem Juniorpartner<br />

einen erholsamen Feierabend, natürlich nicht ohne dabei<br />

dreckig zu grinsen. Kimrod knurrte ihm leise ein paar Flüche<br />

hinterher und machte sich an die Arbeit. Die meisten<br />

Büros waren schon verlassen, nur noch im Keller brannte<br />

Licht. Die Spurensicherung machte wieder einmal<br />

Überstunden oder Zefhahn ließ den Nachwuchs beim<br />

Nahkampftraining schwitzen. Eine Übung, die er ab und<br />

an eigenhändig leitete. Kimrod konnte sich also ungestört<br />

an die Arbeit machen. Er begann bei den Rechtsradikalen,<br />

genauso wie heute früh. Es stellte sich jedoch bald heraus,<br />

dass HASSSO tatsächlich ausschließlich auf das<br />

vorhandene Material zurückgegriffen und nur die gröbsten<br />

Abweichler nach unten und oben ausgesiebt hatte. Dasselbe<br />

Bild bei den Sexualverbrechern. Nur Altersheim-<br />

und JVAinsassen waren nicht berücksichtigt worden. Und<br />

etwas anderes als die Computerdatei war eben nicht vorhanden,<br />

Punktum. Nach einer Stunde vergeblichen Wühlens<br />

gab Kimrod entnervt auf. Remke hatte wieder einmal<br />

Recht behalten. Otto und sein gottverdammter Elektronikschnüffler,<br />

zum Teufel mit ihnen. Kimrod betäubte seinen<br />

Frust mit zwei schnellen Pils in einer nahegelegenen<br />

Kneipe und fuhr anschließend nach Hause. Emma hatte<br />

ihm ein paar belegte Brote zurechtgemacht und eine kleine<br />

Notiz auf dem Küchentisch hinterlassen: Komme erst


spät heim, das Übliche. Kimrod stärkte sich und machte<br />

es sich im Wohnzimmer gemütlich. Irgendwas drückte da<br />

an der rechten Poseite. Ach ja, richtig, die breitbauenden<br />

Wrestlingkarten. Es blieben nur noch zehn Minuten bis<br />

zum Beginn der Show. Kimrod machte sich wieder ausgehfertig<br />

und rief bei Remke an, denn Wolf hatte ihm zwei<br />

Karten geschenkt.<br />

„ Hallo, du schon wieder. Nein Danke, kein Bedarf. Da ist<br />

doch sowieso alles nur gestellt. Gute Nacht.“<br />

Zack, Ende der Vorstellung. Remke hasste fast alles, was<br />

über den großen Teich nach Europa kam, und dieses<br />

warm angehauchte Geschubse erst recht. In nichts vergleichbar<br />

mit einem guten, ehrlichen Boxkampf alter<br />

Schule. Na gut, diese Pflichtübung war erledigt, nun konnte<br />

der Spaß beginnen. Kimrod kannte das Proficatchen<br />

nur vom Fernsehen her. Diese Sportart wurde jedoch erst<br />

aus der Nähe besehen interessant. Der Bildschirm vermittelte<br />

nur einen Bruchteil von der Wucht und Eleganz der<br />

Gladiatoren. Wenn man etliche Kämpfe konsumiert hatte,<br />

begann man zu ahnen, was in den Athleten steckte und<br />

was sie zu leisten vermochten. Da war fast nichts abgesprochen<br />

oder angetäuscht, es ging knallhart zur Sache<br />

und nicht umsonst verschwanden einige Wrestler nach ihren<br />

Fights für Wochen oder Monate im Sanatorium. Oder<br />

ganz woanders. Die austrainierten Körper konnten natürlich<br />

Schläge und Stürze ab, die den Otto Normalverbraucher<br />

in den Rollstuhl gezwungen hätten, doch aus Stahl<br />

waren die Catcher auch nicht und die gellenden Schreie


dienten nicht ausschließlich zur Einschüchterung des<br />

Gegners. Der Schmerz musste sich Luft machen, denn<br />

immer wieder drosch der Attackierende auf das angeschlagene<br />

Gelenk.<br />

Kimrod traf kurz vor acht ein. Die Halle war bereits brechend<br />

voll, trotz des horrenden Eintrittspreises von fünfunddreißig<br />

Euro. Er verhökerte das zweite Billett an ein<br />

paar geschminkte und kostümierte Kids, die Paintos nahmen<br />

sich wie Chorknaben daneben aus, und stürzte sich<br />

ins Getümmel. Die Tribünen waren um einen pinkfarbenen<br />

Ring aufgebaut und bis auf den letzten Quadratzoll mit tobenden<br />

und kreischenden Fans besetzt. Ein Tagteamkampf,<br />

zwei gegen zwei, wobei jeweils nur ein Mann pro<br />

Abteilung im Ring stehen durfte, eröffnete den Reigen. Die<br />

Paarung hieß Donnerduo gegen die Crushercracks, die<br />

amtierenden Weltmeister in dieser Disziplin. Die Cracks<br />

dominierten von Anfang an den Gegner und ließen den<br />

etwas tollpatschig agierenden ersten Mann, Frank, keine<br />

Chance zum Wechsel. Denn der ausgeruhte, kampfhungrige<br />

Partner, der hinter den Seilen in der Ecke ausharren<br />

musste, durfte nur dann in den Ring, wenn sein Kamerad<br />

es schaffte, seine aufgehaltene Hand zu berühren.<br />

Schließlich schaffte es Frank doch noch auf allen vieren<br />

bis in die Ecke seines Kollegen, der nach dem erlösenden<br />

Touch voller Elan in den Ring stürmte, aber am Ausgang<br />

des Kampfes bestanden bald keinerlei Zweifel mehr. Zwei<br />

harte Dropkicks, dann die Beinschere und schon war der


Spuck vorbei. Die Cracks waren und blieben die amtierenden<br />

Champions. Ein Refight war so gut wie ausgeschlossen,<br />

denn die Donners hatten ihre Haut zu billig zu<br />

Markte getragen. Die Fans wollten Wrestler sehen, die<br />

sich bis zur totalen Erschöpfung bekriegten und erst aufgaben,<br />

nachdem alle Reserven vergebens mobilisiert<br />

worden waren. Die wahren Helden kämpften auch mit<br />

bandagierten und geschienten Extremitäten, schrien mitunter<br />

bei jeder Bewegung, aber die Glorie des zu verteidigenden<br />

oder erkämpfenden Gürtels, ließen sie alle<br />

Schmerzen und Qualen und vergessen. Durchbeißen und<br />

durchhalten, auch wenn!s weh tat. Die Message war klar<br />

und deckte sich vollkommen mit dem amerikanischen Mythos<br />

des einsamen Helden, der sich trotzig gegen die übermächtigen<br />

Bösewichte durchsetzte und überall selbstlos<br />

in Aktion trat, wenn die Freiheit oder eine andere Ikone<br />

der US-Gesellschaft bedroht war.<br />

Nach dem Tagauftakt folgte eine Handvoll eher durchschnittlicher<br />

Fights. Alte Haudegen erteilten Grünschnäbeln<br />

Nachhilfeunterricht und drittklassige Provinzgrößen<br />

wähnten sich noch immer in ihrer angestammten Heubodenheimat.<br />

Alles nichts Besonderes und Wrestlingfastfood.<br />

Doch der guten Stimmung tat das keinen keinen Abbruch.<br />

Die Fans beklatschten begeistert jeden Move und<br />

buhten lautstark, wenn der Schurke im Vorteil war. Eigentlich<br />

kein Wunder bei einem Durchschnittsalter von höchstens<br />

sechzehn.


Kimrod begann in seinen Kindheitserinnerungen zu kramen,<br />

aber außer Fußball kam nichts zum Vorschein. Das<br />

war eine total andere Welt hier. Brutalität und Prügel wurden<br />

wie bei Comixfiguren als selbstverständlich und doch<br />

nicht ganz ernstzunehmend akzeptiert. Hier konnte ungestört<br />

Dampf abgelassen werden, hier war noch alles in<br />

Ordnung. Gut und böse klar getrennt, gebräunte Bodybuildingkörper<br />

und skurrile Manager, die bisweilen tatkräftig<br />

und außerhalb der Legalität ins Geschehen eingriffen.<br />

Was wollte man mehr?<br />

Die Regeln waren tatsächlich nur da, um nicht beachtet zu<br />

werden. Die Referees sahen nur das, was sie sehen wollten<br />

und so mancher Kampf wurde durch eine unerlaubte<br />

Aktion entschieden. Wenn wirklich Not am Mann war und<br />

einer der Wrestler von seinem wütenden Gegenüber<br />

ernsthaft verletzt zu werden drohte, eilten die pausierenden<br />

Kollegen herbei und lenkten den Rasenden wie die<br />

Clowns beim Stierkampf von ihrem Opfer ab. Endlich begann<br />

der Hauptkampf, der Bungeefight. Die Lichter erloschen<br />

und die beiden Kontrahenten wurden mit ihrer Auftrittsmusik<br />

zur Begleitung ganz langsam von der Decke<br />

herab an den elastischen Seilen hängend in den Ring hinuntergelassen.<br />

An allen vier Eckpfosten waren inzwischen<br />

circa vier Meter hohe mit Sprossen versehene Verlängerungen<br />

angebracht worden. Kimrod rätselte, was es<br />

damit auf sich hatte, doch er wurde bald aufgeklärt. Kaum<br />

hatten die Wrestler festen Boden unter sich, bewegten sie<br />

sich im Kängaruhstil auf die Pfosten zu. Jimmy Hurricane,


der Favorit, machte seinem Namen alle Ehre. Mit einem<br />

mächtigen Satz und der Unterstützung des vorgespannten<br />

Seils enterte einen Pfahl und kletterte hurtig nach oben.<br />

Sein Gegner, ein maskierter Asiate, verfehlte sein Ziel im<br />

ersten Anlauf und verhedderte sich in den Seilen. Er<br />

musste sich neu orientieren. Jimmy witterte seine Chance.<br />

Er ging in die Knie und katapultierte sich mit seinen<br />

mächtigen Oberschenkeln auf den Asiaten zu, der erst<br />

jetzt wieder frei kam und der Attacke völlig schutzlos ausgeliefert<br />

war. Hurricane landete einen Volltreffer mit der<br />

rechten Ferse an der Schulter des Asiaten.<br />

Während Hurricane in Siegerpose locker zurück pendelte,<br />

wurde der Maskierte in hohem Bogen über die Begrenzungsgitter<br />

hinweg in die Zuschauer hineingeschleudert.<br />

Doch die Kids fingen ihn locker ab und nach einer kurzen<br />

Erholungspause musste sich der angeschlagene Wrestler<br />

in den Ring zurück begeben. Die Schmähungen der Fans<br />

ließen keine Zweifel aufkommen. So billig sollte der Knabe<br />

sich nicht davonstehlen. Hurricane lauerte schon wieder<br />

auf seinem Horst, bereit zu einem neuen Anschlag<br />

aus der Luft. Doch der Asiate war zäh und wiederholte<br />

seinen Fehler nicht. Er hüpfte vorsichtig hinter den Eckpfosten<br />

und hangelte sich in dessen Deckung nach oben.<br />

Hurricane nahm erneut Maß.<br />

Nach einem Zwischenschritt auf der Ringmitte, die Gummiseile<br />

verliehen seinem Move enorme Schwungkraft, flog<br />

er auf den vorgewarnten Gegner zu, der diesmal schneller<br />

war und dem Kickversuch ausweichen konnte. Hurricane


war jedoch ein alter Fuchs und entwickelte blitzschnell eine<br />

neue Strategie. Nachdem er den höchsten Punkt seines<br />

Sprungs erreicht hatte, vollzog er eine Hundertachtziggraddrehung<br />

um die eigene Körperachse und kam mit<br />

dem Oberkörper voran zurück. Als er an seinem Kontrahenten<br />

vorbeipfiff, schnappten seine muskelbewehrten<br />

Pranken nach dem Hals des Asiaten, der nur halbherzige<br />

Abwehrversuche mit der verbotenen geschlossenen Faust<br />

unternahm. Hurricanes Aktion misslang allein deshalb<br />

teilweise, weil der Körper seines Opfers zu glitschig war.<br />

Die schweißgetränkte Haut des Asiaten, es war nicht allein<br />

die Angst, die diese Reaktion bewirkte, unter den<br />

zahllosen Scheinwerfern entwickelte sich schnell eine<br />

mörderische Hitze, ließ eine Hand Hurricanes vollständig<br />

abgleiten, so dass er den Maskierten nur mit halber Kraft<br />

mit sich reißen konnte. Aber immerhin, der Asiate wurde<br />

erneut schwer getroffen und blieb benommen im Ring liegen.<br />

Was Hurricane mit ihm angestellt hätte, wenn sein<br />

Vorhaben vollständig gelungen wäre, wurde beim nächsten<br />

Angriff beantwortet.<br />

Hurricane kam erneut von ganz oben herangesaust, ging<br />

kurz vor der Landung in die Knie und schaffte es mit einem<br />

fantastischen Move, den Körper des noch immer<br />

halb Betäubten mit sich nach oben zu nehmen. Hurricane<br />

zog nun eine sehenswerte Nummer ab. Er hatte den Asiaten<br />

lässig wie eine Campingmatte unter den rechten Arm<br />

geklemmt und pendelte zwischen den zwei diagonal gegenüberliegenden<br />

Sprungpfosten hin und her. Er entwi-


ckelte dabei ein immer höheres Tempo, so dass der Maskierte,<br />

als er ihn schließlich fallen ließ, mit enormer Wucht<br />

auf die Bretter knallte, die zumindest in Jimmys Leben die<br />

Welt bedeuteten. Die Halle verwandelte sich in ein Tollhaus.<br />

Genau das wollten die Fans sehen. Keine Gnade<br />

für den Unterlegenen. Der Asiate benötigte geraume Zeit,<br />

um überhaupt wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben.<br />

Der strahlende Sieger stand jedoch bereits fest. Hurricane<br />

wiederholte seine Sturzkampfbombernummer noch<br />

ein paar Mal, doch die Luft war raus aus dem Fight. Der<br />

Maskierte blieb passiver Statist. Jimmy hätte seine Übungen<br />

genauso gut mit einem Kornsack vornehmen können.<br />

Schließlich war es irgendwann überstanden. Hurricane<br />

schulterte seinen Sparringspartner und verabschiedete<br />

sich strahlend von seinen Anhängern. Ein echter<br />

Profi eben.<br />

Die Show war zu Ende. Gott sei Dank, Kimrod konnte<br />

noch immer nicht verstehen, warum sich hier drin alle außer<br />

ihm so enthusiastisch gebärdeten. Wegen den paar<br />

Ohrfeigen so aus dem Häuschen zu geraten...nein, so<br />

weit war er noch nicht. Vielleicht verhielt es sich aber tatsächlich<br />

so wie beim Fußball. Nur wer selber mal gespielt<br />

hatte oder seit Jahrzehnten die Szene verfolgte, gewann<br />

Gefallen an der Sache und war durch nichts mehr von<br />

seiner Vorliebe abzubringen. Das konnte hinhauen, da die<br />

Kids doch spätestens bei der Einschulung mit Kampfsportarten<br />

Bekanntschaft machten.


Kimrod fuhr nach Hause und legte sich schlafen. Emma<br />

kam erst gegen ein Uhr nach Hause. Wie das diese Frau<br />

nur aushielt? Fast tagtäglich Sitzungen und Versammlungen,<br />

neben ihrem Job, neben dem Haushalt? Oder steckte<br />

tatsächlich ein anderer Kerl dahinter? Wenigstens unternahm<br />

sie diesmal keine Annäherungsversuche. Man<br />

konnte jeder Sache etwas Positives abgewinnen.<br />

13.10 Dienstag<br />

Der Tag begann, genauso wie sein Vorgänger, mit einem<br />

Paukenschlag. Ein paar Minuten nach Dienstbeginn<br />

trommelte Zefhahn seine Mannen zusammen.<br />

„ Morgen, Morgen, die Herren. Jetzt fängt die Sache an,<br />

interessant zu werden. Vor einer knappen Stunde wurde<br />

Reverend Stähler angeschossen...“<br />

„ Schade. Warum nur angeschossen?“<br />

„ Nein, Remke, das ist nicht der Zeitpunkt für dumme<br />

Scherze. Ich wollte mit meiner Formulierung nur zum<br />

Ausdruck bringen...äh, Kimrod, Ihre Tochter wurde nicht<br />

verletzt, bevor ich es vergesse.“<br />

Kimrod schluckte, aber immerhin.


„ Gut, es wird also ernst. Der Reverend besitzt großen<br />

Einfluss in maßgeblichen Kreisen. Da wird man uns ganz<br />

schön auf die Finger schauen. Was für Totsch galt, vielleicht<br />

war es ja doch nur ein selbstinszenierter Lausbubenstreich,<br />

muss nun vollständig ausgeklammert werden.<br />

Zwei Zufälle sind einer zu viel. Meine Herren, es brennt.<br />

Kimrod, Sie begeben sich augenblicklich zur Villa Schönborn.<br />

Wenn diese Sauereien nichts mit unseren Morden<br />

zu tun haben, lasse ich mich umtaufen. Und ihr beiden<br />

anderen bleibt vorerst hier. Wir müssen noch einiges klären.“<br />

Remke befand sich schon draußen auf dem Gang. Kimrod<br />

folgte ihm.<br />

„ Ach, hier bist du. Ich dachte, du wolltest mal wieder deine<br />

Papiere abholen.“<br />

„ Viel geht weiß Gott nicht mehr ab. Man darf bald überhaupt<br />

nichts mehr sagen. Lass uns bloß verschwinden<br />

von hier, sonst spreng ich den Saftladen noch in die Luft.“<br />

„ So kenne ich dich, Otto. Warum habt ihr eigentlich damals<br />

den Krieg verloren? Ich meine, wenn man dich so<br />

reden hört...“<br />

Remke beförderte seinen Vorgesetzten mit einem kräftigen<br />

Schubs in den Fahrstuhl. Es konnte losgehen. Sie erreichten<br />

die Villa um viertel nach acht. Kimrod hatte sich<br />

Zeit gelassen.<br />

„ Weißt du, Otto, allzu viele Köche verderben den Brei.<br />

Wenn du dir hier die Nummern ansiehst, verstehst du sofort,<br />

was ich meine.“


Die Kommissare kannten die Fahrzeuge von der Konkurrenz,<br />

Geheimdienst und Staatsschutz, ziemlich genau. Zu<br />

oft trat man sich neuerdings gegenseitig auf die Füße.<br />

Kompetenzstreitigkeiten. Immer mehr Täter wurden auch<br />

von den Bundesbehörden beansprucht, und der zusehends<br />

undurchsichtigere Bandendschungel in Berlin. Da<br />

flogen oft ganz schön die Fetzen. Wer da mithalten wollte,<br />

musste mit allen Wassern gewaschen sein und durfte sich<br />

keine Fehler erlauben. Es war schon passiert, dass sich<br />

der vermeintliche Großdealer als Undercoveragent aus<br />

Wiesbaden entpuppt hatte und man verlegen vor dem angeschossenen<br />

Kollegen auf das Eintreffen der Reporter<br />

wartete.<br />

Die Villa Schönborn, es war eigentlich mehr eine Residenz,<br />

befand sich direkt am nördlichen Ufer des Hundekehle<br />

Sees, gänzlich abgeschottet von einer über vier Meter<br />

hohen Mauer. Kimrod stellte den Wagen direkt vor dem<br />

schmiedeeisernen Tor ab.<br />

„ Ich habe nicht vor, allzu lange zu bleiben. Sieh dir nur<br />

diese Visagen an. Tout Berlin gibt sich die Hand.“<br />

Remke nickte.<br />

„ Ich kann dich gut verstehen. Vielleicht klappt!s beim<br />

nächsten Mal. Auch ein Stähler ist nicht unsterblich. Dort<br />

hinten steht übrigens Ingrid. Sie kann uns bestimmt weiterhelfen.“<br />

Die Polizisten bahnten sich einen Weg durch das Heer der<br />

Schaulustigen und Offiziellen. Die Tuschelnden verstummten<br />

als die Beamten passierten. Na immerhin et-


was. Remke registrierte das mit Befriedigung. So ganz<br />

abgeschrieben war man nun doch nicht. Ingrid wandte<br />

sich von zwei streng blickenden Damen ab und begrüßte<br />

ihren Vater.<br />

„ Hallo, du kommst erst jetzt?“<br />

„ Ja, du weißt ja, bei so einer Aktion spielen wir nur die<br />

zweite Geige. Was war nun los?“<br />

Ingrid wirkte ziemlich gefasst. Aber das konnte täuschen.<br />

Man sah ihr nicht immer an, was wirklich in ihr vorging.<br />

Besorgt war sie bestimmt.<br />

„ Tut mir leid, Vater. Ich habe eigentlich nichts mitbekommen.<br />

James kam von einer Sitzung zurück. Der Täter<br />

muss durch das Tor geschossen haben. Ich war leider<br />

noch im Haus. Kein Knall, keine quietschende Reifen.<br />

James wollte sich erst gar nicht helfen lassen, aber ich<br />

habe sofort den Notarzt verständigt. Ich weiß, wie heimtückisch<br />

manche Geschosse wirken können.“<br />

„ Aber nicht von mir“, sagte Remke, der sich mit HASSSO<br />

bewehrt unbemerkt genähert hatte.<br />

„ Max, es tut sich was im Äther. Ich kann ihn kaum noch<br />

unter Kontrolle halten.“<br />

„ Gut, gut, wir machen uns sofort auf den Weg. Geh schon<br />

mal vor. Ich komme gleich nach.“<br />

„ Immer auf Achse, ihr Polypen. Aber ich habe auch noch<br />

jede Menge zu tun. Die ganzen Leute, du weißt wie das<br />

ist“, entschuldigte sich Ingrid und drückte ihrem Vater<br />

noch einmal die Hand, bevor sie in der Menge verschwand.


Kimrod schloss sich Remke an, der sich zielstrebig Richtung<br />

Ausfahrt vorarbeitete.<br />

„ Erst draußen. Ich will vermeiden, dass diese Aasgeier<br />

auch nur ein Sterbenswörtchen mitbekommen“, flüsterte<br />

Remke seinem Kollegen hastig ins Ohr.<br />

Die Menge teilte sich nicht nur scheinbar etwas langsamer.<br />

Immer mehr Neugierige strömten heran und wollten<br />

die Sensation aus nächster Nähe genießen. Schließlich<br />

hatten die beiden Beamten es doch noch geschafft. Sie<br />

stiegen in den Wagen ein und fuhren langsam los. Remke<br />

konnte sich endlich Luft machen.<br />

„ Ein neuer Knaller. Bremser soll doch mit drinhängen. Wir<br />

müssen uns beeilen.“<br />

Kimrod trat aufs Gas.<br />

„ Wo war das, dieser Bremser? Ich bin ganz erschlagen<br />

von deinem verdammten HASSSO. So ein Tempo bin ich<br />

von dir nicht gewohnt.“<br />

Remke packte das Utensil verärgert ein.<br />

„ Ja, ja, dann sage ich eben nichts mehr. Aber du weißt,<br />

wo es hingeht. Pass auf...“<br />

Sie rammten beinahe einen rechts überholenden Porsche.<br />

Kimrod konnte gerade noch das Schlimmste verhindern.<br />

Ein kurzes Fanfarenduell und die Sache war ausgestanden.<br />

Kimrod atmete kurz durch und bot Remke eine Zigarette<br />

an.<br />

„ Danke, das kostet mich wieder ein paar Monate meiner<br />

Rente.“


Als sie die Autobahn erreichten, beruhigte sich der Verkehr<br />

wieder. Doch das in Richtung Schauplatz noch immer<br />

Andrang herrschte, machte sich fast bis zur Ausfahrt<br />

bemerkbar. Punkt halb neun parkten sie vor Bremsers<br />

Wohnung.<br />

„ Du bleibst sitzen. Er wird freiwillig mitkommen.“<br />

Remke hielt sich an die Anweisung seines Chefs. Wenig<br />

später begleitete Kimrod Bremser zum Wagen hinunter.<br />

Bremser machte einen gefassten Eindruck. Kimrod hatte<br />

ihm Handschellen angelegt.<br />

„ Habe ich doch Recht behalten. Man muss denen nur<br />

Respekt beibringen“, sagte Remke und öffnete für den<br />

Verhafteten die Rücktür. Kimrod antwortete nicht und fuhr<br />

los. Auf dem Präsidium kümmerte sich kein Mensch um<br />

die Ankommenden. Kimrod schob Bremser in sein Büro.<br />

„ So, nun sind wir ungestört. Was haben Sie zu dem Vorwurf<br />

zu sagen, mit einer Prostituierten in Kontakt geraten<br />

zu sein, die kurz darauf ermordet aufgefunden wurde? Die<br />

Morde in der Nacht von Freitag auf Samstag, letztes Wochenende?“<br />

Der Verdächtige blieb stehen, obwohl ihn Remke auf einen<br />

Stuhl zu drücken versuchte. Bremser blieb stumm.<br />

Kimrod zündete sich eine Zigarette an und gab Remke ein<br />

Zeichen. Remke verschwand und kam fünf Minuten später<br />

mit HASSSO und einer Anweisung des Staatsanwalts zurück.<br />

„ Wir dürfen“, sagte Remke und las Bremser den Haftbefehl<br />

vor. Bremser schwieg weiter.


„ Gut, dann eben nicht. Wir können auch anders“, erklärte<br />

Kimrod und verließ das Büro. Er versuchte, den Staatsanwalt<br />

persönlich zu erreichen. Ihm wurde klar, dass mit<br />

dem Kerl so nichts anzufangen war. Doch der Staatsanwalt<br />

wollte telefonisch keine weiteren Anweisungen geben.<br />

HASSSO habe gesprochen. Als Kimrod ins Büro zurückkam,<br />

erwartete ihn außer Bremser noch ein Arzt.<br />

„ Nur rein damit. Ich will wissen, wo Sie in der Nacht von<br />

Freitag auf Samstag gewesen sind“, brüllte Remke.<br />

Der Arzt wandte den Blick auf Kimrod.<br />

„ Machen Sie, was Ihnen dieser Komiker sagt. Ich bin<br />

heute tatsächlich wieder einmal vollkommen überflüssig“,<br />

sagte Kimrod frustriert.<br />

Kimrod wusste, was er aufs Spiel setzte. Diese Mittel<br />

wirkten zwar hübsch beruhigend, doch sie waren nachweisbar.<br />

Bremser setzte sich nicht zur Wehr, als ihm der<br />

Doktor das Injektionsgerät zwischen die Schulterblätter<br />

drückte. Zwei Minuten später kippte er um.<br />

„ So, jetzt könnt ihr machen, was ihr wollt. Ich habe meine<br />

Pflicht und Schuldigkeit getan.“<br />

Der Mediziner verließ das Büro.<br />

„ Und jetzt heißt es warten. Er wird bald etwas gelöster<br />

sein.“<br />

Remkes Prognose erfüllte sich. Bremser entspannte sich.<br />

„Es bleibt dabei. Ich war zu Hause.“<br />

Kimrod wusste, was er damit meinte. Weiter durften sie<br />

nicht gehen. Remke entließ Bremser mit einer wegwerfenden<br />

Handbewegung. Bremser verließ das Präsidium


ziemlich angeschlagen. Dass er nur auf Grund der Anzeige<br />

einer Nutte verhaftet worden war, hatte ihm niemand<br />

erzählt. Die Unterwelt wollte schließlich wieder ungestört<br />

ihren Geschäften nachgehen können. Da kam ihnen ein<br />

Typ wie Bremser gerade recht.<br />

Die Beamten schreckten auf. Besonders Kimrod, da sich<br />

HASSSO erneut meldete. Remke schaltete auf Empfang.<br />

„ Die Safaribar.“<br />

Er deutete auf das Telefon. Kimrod hob ab und schaltete<br />

den Lautsprecher ein.<br />

„ Hier DJ Leo. Wir spielen gerade Hartgasttracker. Wenn<br />

Sie unbedingt mithören wollen.“<br />

„ Ja, du Arschloch. Wir sind!s, deine Steuereintreiber. Max<br />

und Moritz.“<br />

Der Discjockey von der Safaribar. Kimrod wollte den Kerl<br />

nicht verprellen.<br />

„ Bleib du dran mit deinem Strelen.“<br />

„ In einer viertel Stunde an der Spree, unter der Jannowitzbrücke.<br />

Falls Sie dabei sein wollen, wenn mal wieder<br />

was unterm Parkett abläuft, gehen Sie hin. Viel Spaß beim<br />

Suchen. Haltet aber bitte die Nebelwerfer bereit. Wir machen<br />

auch mit.“<br />

Remke nickte. Wenn der sich nicht auskannte.<br />

„ Es bleibt dabei. Wenn, dann sind wir es nicht gewesen.<br />

Die Bullen.“<br />

Kimrod wusste, dass im V-Fall alles an ihm hängen blieb.


„ Jetzt drück schon drauf. Dein Schätzchen lässt dich<br />

auch heute nicht im Stich. Ich bin so richtig schön sauer“,<br />

sagte Kimrod gereizt.<br />

Er wusste nur zu gut, dass mit dem derzeitigen Stand der<br />

Technik alle Datentransfers mitgeschnitten werden konnten,<br />

natürlich auch vom Feind. Aber was blieb ihnen anderes<br />

übrig nach der Pleite mit diesem Bremser. Die Zeit war<br />

nicht auf ihrer Seite.<br />

„ Ich kenne diesen Leo nur flüchtig. Der ist zwar nur auf<br />

Kohle aus, doch sonst ein senkrechter Kerl. Die Chance,<br />

diesem Strelen endlich ein Bein stellen zu können, lasse<br />

ich mir nicht entgehen“, äußerte Remke verbissen.<br />

Kimrod drückte seine Zigarette aus.<br />

„ Gut, in einer viertel Stunde. Wir werden es schaffen. Du<br />

kannst gleich mit dem Beten anfangen. Ich will endlich<br />

wissen, was hier überhaupt gespielt wird. Abmarsch.“<br />

Die Straßen waren nicht besonders belebt. Kimrod befestigte<br />

den Kojak trotzdem auf dem Dach. Er wollte auf keinen<br />

Fall zu spät kommen. Fünfzehn Minuten nach neun<br />

parkten sie den Wagen ein paar hundert Meter unterhalb<br />

der Brücke. Es blieben noch genau hundertachtzig Sekunden.<br />

Nebel war aufgekommen.<br />

„ Sauwetter. Ich kann mich zwar dunkel an die Visage von<br />

diesem Fuzzi erinnern, aber ich will Sicherheitsabstand<br />

einhalten. Außerdem maskieren sich diese Diskotrottel<br />

fast täglich neu. Es könnte sein, dass wir dem Verkehrten<br />

in die Arme laufen.“


Remkes Bemerkung schien bei seinem Chef nicht auf<br />

fruchtbaren Boden zu fallen. Kimrod hielt schnurstracks<br />

auf die Brücke zu. Er hatte heute schon zu viel riskiert, um<br />

sich mit solchen Lappalien beschäftigen zu können. Kurz<br />

darauf löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des<br />

mächtigen Stützpfeilers.<br />

„ Leo.“<br />

Remke erkannte den DJ sofort an den massiven Umrissen.<br />

„ Aber halte bitte die Schnauze. Ich führe die Verhandlungen“,<br />

sagte Kimrod gedämpft.<br />

Leo schüttelte Remke zur Begrüßung die Hand.<br />

„ Alte Truppe. Wie geht!s, wie steht!s? Wenn ihr ein paar<br />

Mäuse mitgebracht habt, kann die Post abgehen.“<br />

„ Ich habe gerade einen Maulkorb verpasst bekommen.<br />

Du musst mit diesem Herren vorlieb nehmen.“<br />

Remke deutete auf Kimrod, der nervös nach allen Seiten<br />

sicherte. Die Sichtweite betrug höchstens sechzig Meter.<br />

Kimrod winkte Leo näher heran.<br />

„ Vor allem eins. Sprecht bitte leise. Wir dürfen auf keinen<br />

Fall...“<br />

Plötzlich kippte Leo um. Die Kommissare ließen sich sofort<br />

auf den Boden fallen und robbten hinter den Körper<br />

des Diskjockeys. Kimrod strich mit seiner rechten Hand<br />

über die Stirn der Leiche. Das groschengroße Einschussloch<br />

befand sich genau unterhalb des Haaransatzes.<br />

„ Blattschuss. Über eines bin ich mir jetzt wenigstens im<br />

Klaren. Wir beide allein sind ein paar Nummern zu klein


für diesen Fall. Der Sniper wollte nur diesen Singvogel<br />

zum Schweigen bringen. Lass uns von hier verschwinden.“<br />

Kimrod stand auf und klopfte sich den Schmutz von der<br />

Kleidung. Remke löste sich nur widerwillig aus der Deckung.<br />

„ Du hast Nerven. Und wenn wir auch gleich den Abgang<br />

machen? Ich bin doch nicht lebensmüde.“<br />

„ Aber vereidigt. Im Übrigen sind wir zu unbedeutend für<br />

solche Kaliber. Auf alle Fälle will ich mir nichts nachsagen<br />

lassen. Wir machen bei Loschmitz weiter.“<br />

Die Polizisten gingen zum Wagen zurück und fuhren zu<br />

Loschmitzs Büro. Diesmal wurden sie erst gar nicht hereingelassen.<br />

Der Leiter der Wachdienstmannschaft teilte<br />

ihnen mit, dass der Politiker im Reichstagsgebäude zu tun<br />

habe. Kimrod ließ sich auf keine Diskussionen ein und<br />

vertraute ausnahmsweise dem Schwarzrock. Remke war<br />

während der Fahrt pausenlos mit seinem Tausendsassa<br />

beschäftigt. Er informierte die Zentrale über die Vorfälle<br />

unter der Brücke und wollte sich mit Zefhahn kurzschließen,<br />

da sich der Junior seiner Meinung nach vergaloppiert<br />

hatte. Denn sich zu nahe an Politfritzen heranzumachen,<br />

war gefährlich. Das Parlament war wie immer abgeriegelt.<br />

„ Gottverdammte Bannmeile. Diese kleinen Schweine<br />

vermehren sich wie die Karnickel. Bei dem Scheißwetter<br />

profitieren sie sogar von ihren verfluchten Jacken“,<br />

schimpfte Kimrod und parkte den Wagen vor einer Sack-


gasse. Remke folgte seinem Vorgesetzten vorsichtig. Vor<br />

der Höhle des Löwen saßen nicht nur die eigenen Bleispritzen<br />

locker. Doch nachdem Kimrod einem Grenzschützer<br />

seinen Ausweis unter die Nase gehalten hatte,<br />

wurden sie nicht mehr belästigt. Sogar die Camos stellten<br />

sich ihnen nicht in den Weg, als sie das Gebäude betraten.<br />

Ein Kollege von der Kripo nahm sie in Empfang und<br />

führte sie in die Kommunikationszentrale.<br />

„ Hier bitte. Macht, was ihr wollt. Mehr kann ich wirklich<br />

nicht für euch tun. Wir sind nicht in eurem Präsidium.“<br />

Der Beamter verschwand wieder nach draußen. Er kannte<br />

keinen der beiden persönlich, aber immerhin hatten sie<br />

wahrscheinlich dieselbe Ausbildung durchlaufen. Was die<br />

nur hier drin wollten? Die hohen Herren leisteten sich<br />

zwar ab und zu einen Ausrutscher, schließlich waren sie<br />

auch nur Menschen, doch mit diesen Flittchengeschichten<br />

hatten sie doch mit Sicherheit nichts zu tun. Kimrod wandte<br />

sich an eine Sekretärin.<br />

„ Machen Sie mir eine Verbindung zu diesem Loschmitz.<br />

Er soll sich im Haus aufhalten.“<br />

Die Regierungsangestellte überlegte kurz und nahm dann<br />

den nächsten Hörer in die Hand. Remke musterte inzwischen<br />

die Damen, die in dem Großraumbüro für den Informationsfluss<br />

sorgten. Viele schöne Gewächse darunter.<br />

Jung müsste man noch mal sein.<br />

Die Sekretärin hatte ihr Gespräch beendet.<br />

„ Herr Loschmitz ist heute für niemanden mehr zu sprechen.<br />

Ende der Durchsage.“


Kimrod hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Er erinnerte<br />

sich an das Zusammentreffen mit diesem Schneider<br />

am Teufelsberg. Vielleicht konnte der ihm ein paar Türen<br />

öffnen.<br />

„ Gut, liebe Frau, dann funken Sie bitte Burkhard Schneider<br />

an, Staatssekretär im Kanzleramt. Der Mann kennt<br />

mich. Sagen Sie ihm, wenn er nicht kommt, lass ich seinen<br />

Chef verhaften.“<br />

Die Sekretärin holte tief Luft und telefonierte wieder. Kimrod<br />

hatte sich in Schneider nicht getäuscht. Der Staatssekretär<br />

traf wenige Minuten später in der Kommandozentrale<br />

ein und führte die Beamten in sein Refugium, ein<br />

schalldichtes und abhörsicheres Abteil im Souterrain.<br />

„ So, die Herren. Sie kenne ich bereits, Herr Kimrod. Deshalb<br />

müssen Sie mir Ihren Adlatus nicht näher vorstellen.<br />

Also, wo brennt der Hut?“<br />

Schneider ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und<br />

klopfte ungeduldig auf den Tisch. Remke griente. Endlich<br />

schien der Chef seinen Meister gefunden zu haben. Mit<br />

diesem Terrier war bestimmt nicht gut Kirschen essen.<br />

Kimrod ließ sich in einen mit Leder bespannten Sessel fallen.<br />

„ Gut, Wiederholung vierhundertfünfundsechzig, die<br />

Prostituiertenmorde. Loschmitz soll mit drinhängen. Ihr<br />

steckt doch alle unter einer Decke. Können Sie mir weiterhelfen?<br />

Eines verspreche ich Ihnen nämlich. Ich werde<br />

nicht eher ruhen, bis dieser Saustall ausgemistet ist.“<br />

Schneider schüttelte den Kopf.


„ So geht das nicht, mein Lieber. Wir lassen uns nicht erpressen.<br />

Wenn Sie mit uns ins Geschäft kommen wollen,<br />

müssen Sie auch was investieren. Als Erstes verschwindet<br />

Ihr Genosse. Ich verhandle nur mit Ihnen allein. Ich<br />

lasse ihn nach draußen führen.“<br />

Ein Camo tauchte auf und begleitete Remke bis zur<br />

nächsten U-Bahnhaltestelle. Der Kriminaloberkommissar<br />

war einerseits froh, den Fängen dieser beiden Scharfmacher<br />

entronnen zu sein, andererseits machte er sich Sorgen<br />

um Max, dessen Prophezeiungen sich nun endgültig<br />

bewahrheitet zu haben schienen. Vielleicht wurde tatsächlich<br />

eine Staatsaffäre daraus.<br />

Im Reichstagskeller wurden die Verhandlungen fortgesetzt.<br />

Schneider bot Kimrod Zigaretten an.<br />

„ Danke, ich habe meine eigenen. Was haben Sie in petto?“<br />

„ Alles!“<br />

Schneider sprang auf.<br />

„ Ich mache Sie jetzt zum Geheimnisträger. Wenn ich fertig<br />

bin, werden Sie in einer völlig veränderten Welt leben.<br />

In einer Welt, in der alles möglich ist. Und jetzt passen Sie<br />

gut auf. Was sagt Ihnen LARVEN?“<br />

Kimrod blieb stumm. Er war doch kein Insektenforscher.<br />

Schneiders Atmung beschleunigte sich. Es war nichts anderes<br />

zu erwarten bei einem Kripostümper.<br />

„ Linearaufzuchtsreaktorversuchseinrichtung Nord. L-A-R-<br />

V-E-N. Hat es Kling gemacht? Ja, gut, das braucht seine<br />

Zeit. Wir züchten Menschen. Wir, das ist eine Organisati-


on, die aus Politikern, Militärs und Wissenschaftlern besteht.<br />

Wobei das Primat natürlich bei der Politik liegt. So<br />

ganz wie im richtigen Leben. Die Betonung liegt auf züchten.<br />

Der Embryo reift innerhalb von zwei Jahren zum<br />

Imago, sprich Erwachsenen, heran. Wir machen das, um<br />

uns vor Anschlägen und Mordkomplotten zu schützen. Ihnen<br />

brauche ich nicht zu erzählen, wie gefährlich Führungskräfte<br />

heutzutage leben. Wir sind gezwungen, uns<br />

abzusichern. Wir machen das mit diesen Schossern, die<br />

bei Bedarf als Doppelgänger eingesetzt werden. Diese<br />

Ersatzmänner lernen innerhalb von zwölf Monaten genauso<br />

viel wie unsereins in zwanzig Jahren. Bleiben aber<br />

trotzdem immer nur Ersatz, ich meine Doubles. Bei näherer<br />

Inaugenscheinnahme fällt die Maske natürlich sofort,<br />

wenn man das betreffende Original näher kennt.<br />

Die Wissenschaftler werden von Konzernen bezahlt, von<br />

denen auch der Großteil der finanziellen Mittel stammt.<br />

Das Ganze soll sich also auch rechnen. Nun gut, grau ist<br />

alle Theorie. Wir fahren ins Labor. Vorher muss ich Sie<br />

aber noch vereidigen. Sie werden Offizier beim Staatsschirm<br />

und unterstehen damit direkt dem Innenministerium.<br />

Anschließend meine ich...“<br />

Kimrod zögerte keine Sekunde. Wenn es der Wahrheitsfindung<br />

diente, warum nicht? Auch wenn Schneider ein<br />

wenig dick auftrug, blieb noch genug übrig, um sich an<br />

den Krümeln schadlos zu halten.<br />

Schneider trug die Eidesformel vor und Kimrod sprach<br />

ihm nach. Dass seine Mundwinkel dabei zuckten, konnte


er nicht ganz verhindern. Irgendwie lächerlich war die<br />

Prozedur schon, besonders an diesem Ort. Staatsschirm,<br />

diese neue Abteilung operierte doch fast ausschließlich<br />

unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und jetzt sollte er selber<br />

Mitglied werden, gleich als Offizier? Armes Deutschland.<br />

Fing der ganze Zirkus schon wieder von vorne an?<br />

Straßenschlachten, Geheime Staatspolizei, und vor allem<br />

Schosser?<br />

Nachdem die Zeremonie abgeschlossen war, verließen<br />

die beiden Männer den Reichstag, mit zwei Camos als<br />

Eskorte. Ein gepanzerter Daimler mit uniformiertem Fahrer<br />

erwartete sie kurz vor dem Ende der Bannmeile.<br />

„ Es geht los, Harry, Richtung Biesenthal. Drück drauf“, instruierte<br />

Schneider den Chauffeur zackig.<br />

Kimrod stellte keine weiteren Fragen und genoss die<br />

Fahrt. Der massive Wagen schluckte alle Unebenheiten<br />

und ließ einen den schlechten Zustand der Straßen völlig<br />

vergessen. Auf den Nebenstrecken machte sich das Loch<br />

im Staatssäckel noch mehr bemerkbar als in der Metropole.<br />

Schlechte Bausubstanz, schlampig ausgeführte Arbeit,<br />

aber man gewöhnte sich daran. Es einmal nicht spüren zu<br />

müssen, war freilich Luxus.<br />

Der Ort Biesenthal war ebenfalls von dichten Nebelschwaden<br />

verhangen. Ein idyllischer Platz für Frankensteins<br />

Experimentierküche, wenn ihm Schneider nun doch<br />

keinen Bären aufgebunden hatte und diese Genmonster<br />

tatsächlich existierten. Sie passierten die Siedlung ohne<br />

anzuhalten und stoppten erst mitten im Wald vor einer


plötzlich aus dem Boden wachsenden Militärstreife. Die<br />

grimmig dreinblickenden Soldaten waren mit Sturmgewehren<br />

neuester Bauart bewaffnet und gaben den Weg<br />

erst frei, nachdem sich Schneider ausgewiesen hatte.<br />

Wenige Minuten später erreichten sie ihr Ziel.<br />

„ So, Kimrod, wir sind da. Wir haben uns für diesen Ort<br />

aus rein sicherheitstechnischen Überlegungen entschieden.<br />

Keine neugierigen Spaziergänger, keine getarnten<br />

Zeitungsfritzen. Die ganze Anlage ist mit hohen Stahlgittern<br />

umgeben, die bei Bedarf unter Strom gesetzt werden<br />

können. Das Militär ist nur pro forma Betreiber, die Karten<br />

mischen natürlich wir. Nun kommen Sie schon, wir lassen<br />

den Wagen draußen. Hier kommt sowieso niemand an<br />

uns ran“, sagte Schneider und verließ schwungvoll den<br />

Wagen.<br />

Er zückte eine weitere Karte und steckte sie in einen<br />

Schlitz neben dem Tor. Ein paar Sekunden später öffnete<br />

sich ein Flügel lautlos. Schneider ging voraus und winkte<br />

Kimrod heran. Außer ein paar billig wirkenden Baracken<br />

war noch nichts zu erkennen. Die ganze Umgebung verbreitete<br />

eine düstere Atmosphäre, so dass fast auch die<br />

letzten durchbrechenden Lichtstrahlen absorbiert wurden.<br />

Soldaten waren keine mehr zu sehen. Schneider führte<br />

Kimrod in eines der Gebäude.<br />

„ Jetzt erschrecken Sie nicht. Es ist alles nur halb so<br />

schlimm wie es aussieht. Moderne Gentechnologie, mehr<br />

nicht.“


Schneider betätigte einen verborgenen Knopf. Die unverputzte<br />

Wand teilte sich und ein Aufzug wurde sichtbar.<br />

Kimrod griff unbewusst zu seiner Zigarettenschachtel.<br />

Schneider wählte schon die gewünschte Etage an und<br />

rief:<br />

„ Nun machen Sie schon. Wir sind nicht mehr bei der Kripo.“<br />

Der Kommissar riss sich zusammen und betrat den Lift,<br />

der höchstens für vier Personen konstruiert war. Kimrod<br />

zählte mit, als sie nach unten fuhren. Bei neunundzwanzig<br />

stoppte die Kabine, mit zwanzig hatte er angefangen. Die<br />

unbekannte Größe war die Beschleunigung. Es war ziemlich<br />

rasant nach unten gegangen. Kimrod wollte Schneider<br />

nicht zu sehr mit neugierigen Fragen auf den Wecker fallen.<br />

Das beste Bild machte man sich bekanntlich immer<br />

selber.<br />

„ Wir befinden uns jetzt exakt fünfzig Meter unter der Erde.<br />

Zwar nicht atombombensicher, aber immerhin. Es<br />

steht auch einiges auf dem Spiel“, sagte Schneider und<br />

betrat einen röhrenförmigen Gang. Nach einer starken<br />

Biegung mündete der weißgetünchte Stollen in ein Labor.<br />

Der Aufzuchtraum maß etwa zwanzig mal dreißig Meter.<br />

Mehrere Wissenschaftler und Assistenten betätigten sich<br />

vor waschmaschineähnlichen Gebilden. Schneider führte<br />

Kimrod vor eine der Apparaturen.<br />

„ Im Inneren des Reaktors können Sie einen sechs Monate<br />

alten Embryo ausmachen. Er ist gut vierzig Zentimeter<br />

groß und schon sehr kräftig. Sie wiegen in dem Alter im


Durchschnitt achtzig Pfund. In den Reaktoren herrscht eine<br />

spezielle Atmosphäre, die den Kindern eine optimale<br />

Entwicklung garantieren.“<br />

„ Kindern? Ich dachte, es handelt sich um Klone, um<br />

künstliche Existenzen.“<br />

Kimrods Einwand löste bei Schneider ein kurzes Meckern<br />

aus. Der an einem Rechner stehende Bioingenieur rückte<br />

einen Schritt zur Seite.<br />

„ Kinder, was glauben Sie denn? Dass wir unseren VIPs<br />

die Bälger stehlen und hier hochpäppeln? Natürlich sind<br />

es Klone, die mit der Erbinformation eines Menschen gezeugt<br />

werden. Das nötige genetische Material befindet<br />

sich in jeder x-beliebigen Körperzelle. Wir bevorzugen<br />

Blut. Es lässt sich am besten aufbereiten.“<br />

„ Aufbereiten? Es muss also nachbehandelt werden...“<br />

Kimrod schob seinen Kopf ganz nahe an das Bullauge heran.<br />

Tatsächlich, in einer Ecke schlummerte friedlich ein<br />

gedunsen wirkender Knabe, dessen Kopf aber eher zu einem<br />

Fünfzehnjährigem passte. Schneider verfolgte amüsiert<br />

die Studien des Kommissars.<br />

„ Soll ich ihn wecken lassen? Das wird ein neuer Außenminister,<br />

falls wir mit unseren Wahlprognosen richtig liegen.<br />

Bald kann mit der Schulung begonnen werden. Wie<br />

das Ganze dann im Einzelnen abläuft, weiß ich selbstverständlich<br />

auch nicht. Aber unsere Gelehrten haben alles<br />

im Griff. Ich glaube, das genügt vorerst.“<br />

Kimrod nickte. Während der Rückfahrt gab der Staatssekretär<br />

Kimrod neue Anweisungen.


„ Sie sind draußen aus dem Fall, vollständig. Ihr Zefhahn<br />

ist bereits informiert. Wenn wir in Berlin sind, setzen Sie<br />

sich in Ihre Kiste und begeben sich direkt nach Hause.<br />

Was Sie heute erfahren haben, reicht wohl, denke ich.“<br />

Kimrod erhob keine Einwände. Hier war etwas Großes am<br />

Kochen, da hieß es am Ball bleiben. Das Reichstagsgebäude<br />

war noch immer dicht von Uniformierten umgeben.<br />

Es lag etwas in der Luft, zweifellos. Schneider ließ kurz<br />

neben Kimrods Wagen halten und entfernte sich anschließend<br />

in Richtung der Katakomben des Gebäudes.<br />

Kimrod machte sich aus dem Staub. Er war hungrig geworden<br />

und freute sich auf den freien Nachmittag. Seine<br />

Frau war nicht zu Hause, aber sie hatte den Kühlschrank<br />

gut bestückt. Kimrod kochte sich Nudeln mit Tomatensoße.<br />

Ein einfaches und nahrhaftes Gericht, dass einem<br />

frisch gebackenen Staatsschirmler auf alle Fälle zustand.<br />

Was wohl Remke gerade treiben mochte? Ohne seinen<br />

Chef war er doch völlig hilflos. Aber Schneider hatte sich<br />

klar ausgedrückt. Zur Verfügung halten und keinerlei Unternehmungen<br />

auf eigene Faust.<br />

Nachdem er den Abwasch erledigt hatte, legte er sich im<br />

Wohnzimmer aufs Sofa und schlummerte bald ein. Gegen<br />

achtzehn Uhr wurde Kimrod durch heftiges Klopfen geweckt.<br />

Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und öffnete<br />

fluchend die Tür. Remke schob ihn zurück in die Wohnung<br />

und legte los.<br />

„ Mensch, du Penner! Wie kann man an einem solchen<br />

Tag nur die Matratze durchliegen. Im Reichstag ist wäh-


end einer Sondersitzung eine Bombe explodiert. Exakt<br />

fünfundzwanzig Tote und jede Menge Verletzte...Kolz befindet<br />

sich unter den Opfern. Der Kanzler war Gott sei<br />

Dank nicht anwesend. Ich fürchte, der Rest der Regierung<br />

wird den nationalen Notstand ausrufen.“<br />

„ Sollen Sie doch. Ich bin jetzt beim Staatsschirm und setze<br />

mich nur noch aufgrund eines Führerbefehls in Bewegung.<br />

Du kannst meinetwegen den Fernseher einschalten.<br />

Ich rühre mich auf jeden Fall nicht von der Stelle.“<br />

Remke knipste den Apparat an. Die wenigen Sender, die<br />

überhaupt noch in Betrieb waren, berichteten ausschließlich<br />

von dem verheerenden Attentat. Blutbesudelte Bänke<br />

im Plenarsaal und alles voller Camos und Polizei. Plötzlich<br />

wurde ins Olympiastadium umgeschaltet. Auf der<br />

Spielfläche waren Hunderte von Verhafteten versammelt,<br />

die von Camos und vermummten Soldaten die Ränge hinunter<br />

geprügelt wurden. Der Kommentator verlieh dem<br />

brutalen Treiben einen legalen Anstrich.<br />

„ Die Regierung sieht sich genötigt, einem derartig ruchlosen<br />

Verbrechen mit außerordentlichen Maßnahmen zu<br />

begegnen. Gegen die hier verwahrten Personen besteht<br />

wohlbegründeter Verdacht, mit den Attentätern in Verbindung<br />

zu stehen oder sie sogar unterstützt zu haben. Sie<br />

werden alle später einem Haftrichter vorgeführt und einem<br />

verfassungsgemäßen Gerichtsverfahren zugeführt. Man<br />

kann von Gefahr im Verzug sprechen. Die Grundpfeiler<br />

der Republik sind bedroht.“


Remke wechselte auf einen anderen Kanal. Jetzt konnte<br />

man die Ereignisse aus der Sicht eines Gefangenen verfolgen.<br />

Der gewiefte Journalist, der die Aufnahmen lieferte,<br />

benutzte offensichtlich eine versteckte Kamera. Vielleicht<br />

in einer Einkaufstüte, um die Öffentlichkeit von diesen<br />

himmelsschreienden Barbareien in Kenntnis zu setzen.<br />

Die schweren Knüppel droschen gnadenlos auf die<br />

Wehrlosen ein. Wie Vieh trieb man die Menschen auf das<br />

Spielfeld hinunter. Wer zurückschlug, wurde sofort mit einer<br />

Faustfeuerwaffe exekutiert. Remke brüllte vor Wut.<br />

Das durfte doch nicht wahr sein, in seinem Stadion. Plötzlich<br />

wurde er blass. Er hatte einen kurzen kurzen Blick auf<br />

Ingrid, Kimrods Tochter, erhascht, die mit einer neuen<br />

Gruppe den Spießrutenlauf durch die Mordknechte antrat.<br />

Kimrod wusste wieder, was er zu tun hatte. Schneider,<br />

dieses Schwein, hatte alles geplant. Die Bombe im<br />

Reichstag miteingeschlossen. Und natürlich Ingrid. Wenn<br />

es brenzlig wurde, täuschte sich Remke nie. Es gab nur<br />

einen Weg, sie da rauszuholen. Sie mussten sich selber<br />

internieren lassen.<br />

Die Beamten stürmten nach unten. Als sie die Straße betraten,<br />

wurden sie von einem Kommando der Fallschirmjäger<br />

in Empfang genommen. Remke schoss sofort. Er<br />

setzte zwei Soldaten außer Gefecht und konnte bis in die<br />

nächste Einfahrt flüchten. Kimrod hatte nicht so viel Glück.<br />

Er wurde von drei Mann auf den Boden gedrückt und<br />

musste sich geschlagen geben.


„ Wenn du Schwein hübsch ruhig bleibst, passiert dir<br />

nichts. Wir machen nur einen kleinen Ausflug“, sagte der<br />

Zugführer.<br />

Seine Befehle waren eindeutig. Kein Aufsehen, Kimrod<br />

lebendig ins Lager transportieren. Die Soldaten verfrachteten<br />

Kimrod auf die Pritsche eines MAN Lastwagens. Es<br />

wurden ihm Handschellen angelegt und vier Mann zu seiner<br />

Begleitung abgestellt. An Flucht war nicht zu denken.<br />

Der LKW war nach hinten offen. Kimrod kam die Gegend<br />

bald bekannt vor, die sie durchquerten. Genau dieselbe<br />

Strecke wie heute Morgen mit Schneider. Der Fahrer holte<br />

aus der Maschine das Letzte heraus, so dass sie bald<br />

Biesenthal erreicht hatten. Wer nicht Platz machte, wurde<br />

mit halsbrecherischen Manövern zur Seite gedrängt. Endlich<br />

durfte sich der Pöbel austoben. Auch hier draußen lagen<br />

Gewalt und Umsturz in der Luft. Die Fahrt endete abrupt<br />

vor einem hohen Erdwall. Kimrod wurde von der Ladefläche<br />

getrieben und mit vorgehaltener Pistole gezwungen,<br />

den steilen, glitschigen Hang zu erklimmen. Er<br />

schaffte es gerade noch und teilweise nur auf allen vieren,<br />

doch die Warnschüsse, die dicht neben ihm im Erdreich<br />

aufspritzten, wirkten aufmunternd genug.<br />

Die Kuppe des Damms war von mehreren Rollen Natodraht<br />

gekrönt. Drei Viertel des umfriedeten Gebiets, es<br />

handelte sich offensichtlich um eine ausgebeutete Kiesgrube,<br />

war mit Wasser bedeckt. Auf den restlichen Quadratmetern<br />

kauerten einige bedauernswerte Gestalten im<br />

nassen Kot. Auf dem Wall standen mit Nachtsichtgeräten


und Präzisionsgewehren ausgerüstete Wächter. Da hatten<br />

einige aber eifrig in der NS-Kladde gespickt. Zwei<br />

Schwarzuniformierte, es fehlten nur noch die silbernen<br />

Runen an den Kragenspiegeln, schoben die Stacheldrahtrollen<br />

auseinander. Kimrod zwängte sich durch die Lücke<br />

und stolperte nach unten. Es begann, kalt zu werden. Die<br />

anderen Häftlinge rieben sich die Hände aneinander oder<br />

stampften mit den Füßen. Wenn sie noch konnten. Etliche<br />

waren schwer misshandelt worden und stöhnten vor<br />

Schmerzen. Gebrochene Arme und Beine, ausgeschlagene<br />

Zähne und Platzwunden.<br />

Kimrod fand das alles vor bei seinem ersten Rundgang.<br />

Er ging vor dem Weiher in die Hocke und schüttelte verzweifelt<br />

den Kopf. Wenn nur Ingrid nichts passierte.<br />

„ Nur nicht aufgeben, Chef. Alles hat ein Ende, auch das<br />

hier. Ich kenne Sie. Sie sind ein Bulle. Mein Name ist<br />

Manfred Reuchler, Sicherheitsingenieur bei LARVEN.<br />

Schneider hat mir von Ihnen erzählt. Sie müssen ein verdammt<br />

guter Mann sein, Herr Kommissar.“<br />

Kimrod erhob sich und starrte dem Ingenieur lange in die<br />

Augen. Warum hatte er ihn überhaupt angesprochen?<br />

Warum saß er hier drin mit ein, ein Mann, der bei LAR-<br />

VEN mitarbeitete? Ein neuer Fallstrick Schneiders?<br />

Der Ingenieur machte einen gut gelaunten Eindruck. Ein<br />

paar Kratzer im Gesicht, das war alles. Die Konzentrationslagerluft<br />

wirkte anscheinend anregend auf ihn.


„ Sie waren oder sind bei LARVEN beschäftigt. Warum<br />

versucht man Sie dann auszuschalten, einen Mann mit Ihren<br />

Qualifikationen?“<br />

Der Ingenieur beantwortete Kimrods Frage nicht sofort. Er<br />

fischte eine Packung Filterloser aus seiner Jacke und bot<br />

Kimrod eine an. Der Kommissar nahm den Glimmstängel<br />

dankbar entgegen. Reuchler wurde ihm immer sympathischer.<br />

„ Warum ich hier bin? Ganz einfach, ich weiß zu viel. Die<br />

Revolution frisst ihre Kinder.“<br />

Reuchler grinste immer breiter. Sein letzter Satz erschien<br />

ihm besonders treffend.<br />

„ Anfangs lief alles so schön nach Plan. Die Schosser gediehen<br />

prächtig, die Regierung zahlte brav. Das Unternehmen<br />

begann sich zu rentieren. Die beteiligten Konzerne<br />

konnten also zufrieden sein. Nur Schneider und<br />

Loschmitz waren unersättlich. Sie gierten nach mehr<br />

Macht, der absoluten Macht im Staat. So ein kleiner<br />

Putsch ist doch leicht zu bewerkstelligen, wenn die ganze<br />

Elite des Landes austauschbar ist und durch willenlose<br />

Befehlsempfänger ersetzt werden kann. Das genau hat<br />

sich in den letzten achtundvierzig Stunden ereignet. Doch<br />

wer zuletzt lacht, lacht am besten.“<br />

Reuchler inhalierte tief. Er schien sich seiner Sache ziemlich<br />

sicher zu sein.<br />

„ Und die Mädchen, wer hat die auf dem Gewissen? Etwa<br />

ein Schosser?“ fragte Kimrod.


„ Sehr wahrscheinlich. Loschmitz ist eine alte Sau, die<br />

sich gerne im Milieu suhlt. Aber zwei Nutten einfach so<br />

abzumurksen, das ist nicht seine Kragenweite. Wir hatten<br />

immer ein bisschen Schwierigkeiten damit, den Schossern<br />

so etwas wie Ethik oder Moral einzutrichtern. Wenn es unter<br />

die Gürtellinie ging, war nie so recht Verlass auf sie.<br />

Sie können es vor allem nicht verkraften, nur künstliche<br />

Wesen zu sein, von unseren Gnaden. Ein falsches Wort<br />

zur unrechten Zeit...da passiert so etwas schnell.“<br />

„ Ich verstehe. Wenn Loschmitzs Doppelgänger doch einiges<br />

von ihm mit in die Wiege gelegt bekommen hat, erklärt<br />

das vieles. Nun haben wir einen Golem auf der<br />

Fahndungsliste. Das kauft Zefhahn mir nie ab. Aber eigentlich<br />

bin ich gar nicht mehr bei der Kripo. Schneider<br />

hat mich für den Staatsschirm vereidigt.“<br />

„ Ein toller Hecht, der Herr Staatssekretär. Aber jetzt bin<br />

ich am Zug. Die Wärter dort oben sind alle geschmiert.<br />

Kein Problem also rauszukommen. Ein paar hundert Meter<br />

weiter im Unterholz habe ich einen Koffer vergraben,<br />

mit dem wir per Satellit alle im Umlauf befindlichen<br />

Schosser außer Betrieb setzen können. Alles über Telefon.“<br />

„ Gut, dann los. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Meine<br />

Tochter befindet sich in den Händen der Folterknechte im<br />

Olympiastadium. Wenn ihr etwas passiert, putsche ich<br />

mich an die Macht.“<br />

Reuchler winkte kurz einem der Soldaten auf den Wall.


„ So, jetzt kann es losgehen. Die Burschen sind nicht alle<br />

vom Erfolg der Aktion überzeugt. So ein Schuss kann<br />

auch verdammt schnell nach hinten losgehen. Ich habe<br />

pekuniär vorgesorgt. Wir haben die Schosser zum Beispiel<br />

auch als Organspender benutzt. Auf eigene Rechnung<br />

natürlich. Da war einiges rauszuholen. Die alten Vetteln<br />

zahlen praktisch jeden Preis für Austauschteile. Nun<br />

aber los. Der Lagerkapo oben hat genickt. Aber nicht zu<br />

auffällig.“<br />

Reuchler setzte sich vorsichtig in Bewegung. Er hielt auf<br />

den Soldaten zu, mit dem er sich verständigt hatte und<br />

begann, sich nach oben zu arbeiten. Kimrod folgte ihm<br />

lautlos. Er hatte seine Kipppe weggeschnippt und versuchte,<br />

sich möglichst schleppend zu bewegen. Wie ein<br />

angeschlagener KZ-Insasse eben. Der Sicherheitsingenieur<br />

erreichte wenig später den Scheitelpunkt des Begrenzungswalls.<br />

Der Wärter warf eine faltbare Vorrichtung<br />

über die Drahtrollen und wünschte Reuchler gedämpft alles<br />

Gute. Reuchler arbeitete sich hurtig über die Barrikade.<br />

Er gab dem Kommissar danach Hilfestellung, indem er<br />

sich auf die mit Kunststoff zusammengenieteten Aluplatten<br />

von seiner Seite her auf den Boden drückte. Kimrod fluchte<br />

leise und zerriss seine Hose. Sein rechtes Bein hatte<br />

sich verheddert. Da half nur noch Gewalt. Wie man in einer<br />

derartigen Ausnahmesituation noch so knickrig sein<br />

konnte. Reuchler fasste den Kommissar an der Hand und<br />

zog ihn zu sich hinunter. Die Stacheldrahtrollen schnellten<br />

lautstark in ihre ursprüngliche Form zurück. Dem Kom-


missar blieb keine Zeit zum Atem holen. Reuchler hatte<br />

einen elektronischen Apparat aus der Innentasche seiner<br />

Jacke hervorgeholt.<br />

„ GPS. In ein paar Minuten ist der Spuk zu Ende. Los, hier<br />

lang.“<br />

Der Ingenieur verschwand im Schatten der jungen Fichten.<br />

Kimrod duckte sich und trabte ebenfalls los. Niemand<br />

schien ihnen zu folgen. Hatten sie es tatsächlich schon<br />

geschafft? Etwa zehn Minuten später piepte Reuchlers<br />

Orientierungskästchen immer lauter. Der Ingenieur wurde<br />

langsamer.<br />

„ Wir sind da. Dort drüben die alte Eiche.“<br />

Er deutete auf einen vor dem Umkippen stehenden Baum<br />

und machte sich sofort zwischen den freiliegenden Wurzeln<br />

zu schaffen.<br />

„ Ha, ha, Herr Kommissar, wir haben gewonnen. Das Ding<br />

ging nicht verschütt.“<br />

Reuchler schwenkte triumphierend einen dreckbeschmierten<br />

Lederkoffer in der Luft, den er eben mit bloßen Händen<br />

ausgegraben hatte. Der Ingenieur stellte die richtige<br />

Zahlenkombination ein und ließ den Koffer aufschnappen.<br />

Er richtete den im Deckel befindlichen Schirm ein und begann,<br />

eine scheinbar endlose Nummernfolge einzutippen.<br />

„ So, das war!s. Jetzt sind alle im Betrieb befindlichen<br />

Schosser stillgelegt. Schneider und Loschmitz dachten<br />

wohl, mit meiner Internierung wäre diese Achillesferse<br />

ausgeschaltet. Sie werden sehen, wie schnell das Umsturzkartenhaus<br />

zusammenbricht. Der echte Kanzler


übernimmt wieder die Regierungsgeschäfte und wird die<br />

Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuführen.“<br />

„ Oder auch nicht. Diese Bonzen halten doch zusammen<br />

wie Pech und Schwefel. Vielleicht sind Loschmitz und<br />

Schneider nur kleine Handlanger. Aber egal. Was mich interessiert<br />

ist nur eins: Lebt meine Tochter noch? Wählen<br />

Sie bitte diese Nummer.“<br />

Kimrod drückte Reuchler einen Zettel in die Hand. Der Ingenieur<br />

fing an, die Tastatur zu bearbeiten und reichte<br />

Kimrod den Hörer. Nach ein paar Dutzend bangen Sekunden<br />

meldete sich Emma.<br />

„ Ingrid lebt. Otto hat sie rausgehauen. Nun sitzen die<br />

Camos im Stadion ein. Es wird alles wieder gut.“<br />

ende<br />

Copyright by Thomas Saalfeld<br />

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