wintertarn Kopie 5 24 Kopie - BookRix
wintertarn Kopie 5 24 Kopie - BookRix
wintertarn Kopie 5 24 Kopie - BookRix
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
10.10 SAMSTAG<br />
WINTERTARN<br />
„ Guten Morgen, die Herren. Ich hoffe, dass ich euch nicht<br />
zu früh aus den Betten geworfen habe, aber es ging leider<br />
nicht anders. Gestern Abend oder heute Morgen, ganz<br />
wie ihr wollt, sind in der Grenzallee zwei Leichen von einer<br />
Streife gefunden worden; weibliches Geschlecht, Alter<br />
zwischen zwanzig bis fünfundzwanzig Jahren. An einer<br />
Leiche fehlt der Kopf, an der anderen ist das Gesicht so<br />
stark deformiert, dass eine Identifikation bis jetzt nicht erfolgen<br />
konnte. Die beiden Mädchenkörper, es handelt sich<br />
bei ihnen möglicherweise um Prostituierte, der Kleidung<br />
nach zu schließen, weisen außerdem Unterleibsverletzungen<br />
auf, ziemlich gravierende sogar. Ein Sexualdelikt ist<br />
also wahrscheinlich. Die Haut- und Haarfarbe ist dunkel,<br />
die Opfer sind also möglicherweise Ausländerinnen. Türkinnen<br />
oder Ähnliches. Die Untersuchungen in der Gerichtsmedizin<br />
haben gerade erst begonnen. Weil die Mädchen<br />
wahrscheinlich Ausländerinnen oder nicht deutschstämmig<br />
sind, oder besser gesagt waren, ist der Fall natürlich<br />
besonders brisant. Das hat uns noch gefehlt, nach<br />
den Scherereien, die wir hier heuer im August gehabt haben.<br />
Das könnte der Tropfen sein, der das Fass endgültig
zum Überlaufen bringt. Die islamistischen Untergrundorganisationen<br />
werden sich wie Wölfe auf den Fall stürzen<br />
und bis zum Gehtnichtmehr ausschlachten. Es ist also<br />
größte Vorsicht angebracht bei den Ermittlungen. Ein verkehrter<br />
Schritt und es kommt zur Explosion.<br />
Deshalb habe ich Sie, meine Herren, aus dem Wochenende<br />
geholt und hier antanzen lassen. Am Samstag, um<br />
acht Uhr dreißig. Wegen zweier Huren, werden sich einige<br />
von Ihnen denken, aber es hilft nichts. Je schneller wir<br />
vorankommen und den Fall zum Abschluss bringen, desto<br />
eher können wir wieder auf Normalbetrieb umschalten.<br />
Wir haben auch so weiß Gott genug um die Ohren. Kimrod<br />
und Remke, Sie übernehmen bitte die Ermittlungen<br />
vor Ort. Straßenstrich, Bumslokale, Nachtbars, et cetera,<br />
et cetera. Euch kann ich da am besten hinschicken. Ihr<br />
kennt eure Pappenheimer noch vom letzten Mal. Ihr wisst<br />
schon, die Zuhälterkriege, Teil dreizehn.<br />
Herder und Maikovsky, ihr schleust euch in Kreuzberg ein<br />
und versucht dort ausfindig zu machen, ob jemand die<br />
Mädchen vermisst oder sie kurz vor ihrem Ableben noch<br />
gesehen hat. Aber Vorsicht! Die Ruhe bewahren und mit<br />
Fingerspitzengefühl vorgehen.“<br />
Kriminalkommissar Maikovsky richtete sich auf.<br />
„ Aber Herr Kriminalrat, wir sind doch keine Anfänger. Ich<br />
hab heute schon zwei Kebab verdrückt. Außerdem kenne<br />
ich in Kreuzberg viele Leute. Ich hätte beinahe mal eine<br />
Türkin geheiratet und...“
„ Es reicht, Maikovsky. Das wird kein Frühstücksausflug.<br />
Die Geschichte wird sich bestimmt schon herumgesprochen<br />
haben. Wir lassen noch heute Zettel mit den Kleidungsstücken<br />
der Toten in den einschlägigen Vierteln verteilen.<br />
Der Innensenator ist bereits informiert und will täglich<br />
auf dem neuesten Stand der Ermittlungen gehalten<br />
werden. Sie sehen also, dass ich Sie nicht umsonst hierher<br />
zitiert habe. Die große Politik schaltet sich wieder zu.<br />
Da heißt es auf Zack sein und mit Volldampf voraus....äh,<br />
wo bin ich stehengeblieben...richtig, die Einteilung. Kimrod,<br />
Remke nach da, Herder, Maikovsky nach dort und<br />
Härtlein, Bullrich, Sie beide befragen die Anwohner. Was<br />
haben die gestern Nacht gehört und gesehen. Wer ist<br />
aufgefallen, was hat sich da abgespielt, so ähnlich. Gehen<br />
Sie in die Geschäfte und Kneipen, läuten Sie die Leute<br />
raus, die unmittelbar am Fundort der Leichen leben. Befragen<br />
Sie Taxifahrer und Schichtarbeiter. Einfach alles,<br />
was uns irgendwie weiterhelfen könnte. Ich bleibe hier<br />
und werte die neuesten Nachrichten aus der Gerichtsmedizin<br />
und dem Labor aus. Ich wäre sehr froh, wenn wir bis<br />
heute Abend wenigstens so weit kommen, dass eine Identifizierung<br />
der Leichen zweifelsfrei vorgenommen werden<br />
kann. Vielen Dank, meine Herren.“<br />
Kriminalrat Zefhahn verließ das Büro, seine Polizisten<br />
hielten Kriegsrat. Kriminaloberkommissar Remke, der kurz<br />
vor seiner Pensionierung stand, war nicht sehr erbaut von<br />
dem neuen Fall.
„ Ausgerechnet zwei Kanakerbräute, noch dazu Nutten.<br />
Das bedeutet noch ein Magengeschwür, so kurz vor dem<br />
Ziel. Pfui Deibel, in was wir da wieder herumstochern<br />
werden müssen. Ich hasse diesen ganzen Bumsbetrieb<br />
wie die Pest und ausgerechnet uns schickt dieser Komiker<br />
dort hin. Will keiner mit uns tauschen? Ich geb auch ein<br />
Bier aus?“<br />
Maximilian Kimrod, verheiratet, zwei Kinder und dreiundvierzig<br />
Jahre alt, betrachtete nachdenklich die Tatortaufnahmen,<br />
die Zefhahn auf einem der Schreibtische zurückgelassen<br />
hatte. Die Miniröcke der Leichen waren zerfetzt<br />
und die Schenkel bis hinunter zu den Knie mit Blut<br />
beschmiert. Die Körperhaltung war bei beiden Mädchen<br />
arg verdreht und sichtlich unter roher Gewalteinwirkung<br />
entstanden. Das sah für Kimrod nicht nach Zuhälter aus.<br />
„ Tut mir leid, Otto, aber ich glaube das wird nichts mit<br />
deinem Bumsbetrieb. Meiner Meinung nach müssen wir<br />
den Täter eher im Zoo suchen. Vielleicht im Primatenhaus.“<br />
„ Du immer mit deinem Fremdwörterkauderwelsch. Der<br />
Boss hat gesagt im Milieu und damit basta. Du kannst<br />
doch nicht leugnen, dass die Mädels wie Nutten aussehen?<br />
Wer läuft denn zu dieser Jahreszeit noch mitten in<br />
der Nacht mit einem Minirock durch die Gegend, am<br />
zehnten Oktober? Ne, ne, wo der Alte recht hat, hat er<br />
recht. Vielleicht wollte da jemand auch nur ein Sexualdelikt<br />
vortäuschen und hat es deshalb wie aus dem Horrorfilm<br />
arrangiert. Könnte doch sein, oder Maikovsky?“
„ Hätte, könnte, vielleicht, das ist nicht meine Kragenweite.<br />
Ich halte mich an Fakten und sonst nichts. Außerdem<br />
habt ihr keinen Grund, euch zu beschweren. Erstens<br />
könnt ihr frühestens gegen vierzehn Uhr mit eurer Tour<br />
anfangen und zweitens werdet ihr nicht so wie wir gegen<br />
eine Wand laufen. Wenn es sich bei den Mädels um Töchter<br />
von Onkel Osman handelt, sind wir bestimmt die Letzten,<br />
die erfahren wie es passiert ist und wer mit drin<br />
steckt. Ich kenn die Brüder genau. Die halten dicht wie ein<br />
frischgeteerter Sautrog. Da dringt nichts nach draußen.<br />
Vielleicht muss ich mir einen Bart wachsen lassen und die<br />
Haare schwarz färben. Da hat doch schon mal einer, so!n<br />
Journalistenfuzzi - mir fällt der Name nicht ums Verrecken<br />
ein .. . Palgraf oder so ähnlich.“<br />
Herder bewarf seinen Kollegen mit einem Radiergummi<br />
und drängte zum Aufbruch.<br />
„ Komm Harry, das bringt doch nichts mehr. Wir rücken<br />
ab. Palgraf oder so ähnlich...manchmal weiß ich wirklich<br />
nicht, mit wem ich da seit zehn Jahren zusammenarbeite.<br />
Der Mann heißt....“<br />
Herder warf die Tür hinter sich zu und fuhr fort, seinen<br />
Busenfreund Maikovsky zu belehren, dessen Gelächter<br />
noch bis ins zweite Stockwerk hinunter zu hören war.<br />
Härtlein verteilte Zigaretten an die Männer. Kimrod wollte<br />
zuerst ablehnen, griff dann aber doch zu.<br />
„ Hat keinen Zweck. Mit der Scheiße, die jetzt auf uns zukommt,<br />
fang ich sowieso wieder an. Wenigstens sind wir<br />
jetzt die beiden Witzbolde los. Manchmal geht mir der gu-
te Harry schon arg auf den Senkel. Ob der überhaupt was<br />
ernst nimmt?“<br />
„ Das sind halt junge Burschen. Meiner Meinung nach zu<br />
schnell befördert worden. Da drückt dann manch einer zu<br />
fest aufs Pedal. Mir soll!s recht sein. So lange mir keiner<br />
in die Quere kommt“, sagte Kriminaloberkommissar Bullrich<br />
und machte eine wegwerfende Handbewegung.<br />
Remke nickte zustimmend.<br />
„ Was soll!s, mir kann sowieso alles an der rechten Backe<br />
vorbeigehen. Noch sechs Monate und dann ab nach Ibiza<br />
oder wie das heißt. Max, das wird dein Fall. Das habe ich<br />
im Urin. Fangen wir von mir aus im Zoologischen Garten<br />
an. Bei deinen Primaten oder wie die Dinger auch immer<br />
heißen mögen. Ich alter Dackel mag!s halt nicht mehr so<br />
exotisch. Auf alle Fälle lass uns von hier verschwinden.<br />
Ich habe tierischen Kohldampf. Ich kenn da so einen<br />
Schuppen in der Oranienstraße. Die machen schon um<br />
acht Uhr auf. Lass uns da hinfahren und anständig frühstücken.<br />
Ich lade dich auch ein.“<br />
„ Dann sofort. Ich bin auch ohne zu essen in die Klamotten<br />
gesprungen und hierher gedüst. Richtiger Kaffee, frische<br />
Hörnchen. Du musst mich nicht zweimal fragen.“<br />
„ Fein. Servus, die Kollegen“, sagte Remke.<br />
„ Guten Appetit“, erwiderte Bullrich kurz.<br />
„ Und meldet euch sofort, wenn sich was ergibt“, ermahnte<br />
Härtlein pflichteifrig die Männer, die ohne die Zigaretten<br />
auszudrücken im Fahrstuhl verschwanden. Das war nicht<br />
ungefährlich. Der Polizeipräsident war ein militanter Nicht-
aucher. Wer sich nicht peinlich genau an die penibel ausgetüftelten<br />
Verbotszonen hielt, riskierte eine Disziplinarstrafe.<br />
Remke gab sich jedoch gerne lässig in Kimrods<br />
Gegenwart, um den Jüngeren zu beeindrucken und von<br />
seiner großzügigen Dienstauffassung zu überzeugen.<br />
Die Zeit der sturen Paragraphenreiter war zweifellos vorbei,<br />
besonders im Kriminaldienst. Als Polizist musste man<br />
selbst zum kleinen Verbrecher werden, um bestehen zu<br />
können. Im Brennpunkt der sozialen Konflikte standen Millionen<br />
von Arbeitslosen, die auch nur die Hoffnung auf einen<br />
Job als Aushilfskellner schon längst aufgegeben hatten,<br />
radikalisierte Minderheiten mit Migrationshintergrund,<br />
eine immer stärker von der Verarmung bedrohte Mittelklasse<br />
und die explodierende Verrohung und Gewaltbereitschaft<br />
der Kinder und Jugendlichen. In jeder Gruppierung<br />
stieg die Bereitschaft, Gesetze zu brechen und gegen<br />
den Staat tätig zu werden.<br />
Nach den jüngsten Kürzungen im Sozial- und Arbeitslosenhilfebereich<br />
war die Rate der Sachbeschädigungen<br />
und mutwilligen Zerstörungen öffentlicher Einrichtungen<br />
besonders in den reicheren Vierteln stark nach oben geschnellt.<br />
Man wollte den Geldsäcken zeigen, dass man<br />
sich nicht unterkriegen ließ. Macht kaputt, was euch kaputt<br />
macht. Diese Parole längst vergangener Tage gewann<br />
eine neue, bedrohliche Bedeutung. Der Staat war<br />
verhasst wie nie zuvor. Zumindest bei den zwei Dritteln<br />
der Bevölkerung, die sich mit den weniger größeren Kuchenstücken<br />
zufriedengeben mussten. Die Blütezeit der
großen Koalition war vorbei, der Vertrauensvorschuss<br />
verbraucht und die Hoffnung auf eine Verbesserung der<br />
wirtschaftlichen Lage begraben. Die immer wieder beschworene<br />
Solidargemeinschaft war nur noch eine Phrase<br />
in abgedroschenen Politikerreden, um den Plebs zu besänftigen.<br />
Die Fassade bröckelte, der einst so witterungsbeständige<br />
bundesrepublikanische Außenputz und das<br />
Fundament begannen Risse zu zeigen.<br />
Die immer aggressiver agierenden Gewerkschaften machten<br />
längst nicht mehr vor dem ehemals geheiligten Beamtenstatus<br />
halt. Polizei, Post, Feuerwehr, alles konnte systematisch<br />
und über Nacht lahmgelegt werden, um die von<br />
einer Minusrunde in die andere eilenden öffentlichen Arbeitgeber<br />
und Ministerien zu höheren Abschlüssen zu nötigen.<br />
Doch Geld war keins mehr da. Das Steueraufkommen<br />
der Großindustrie sank von Jahr zu Jahr, und bei den<br />
kleinen Fischen war Vorsicht geboten. Neue Abgaben bedeuteten<br />
oftmals das Aus für mittelständische Betriebe<br />
und viele der Arbeitnehmer und Angestellten mussten bereits<br />
mehr als die Hälfte der Nettolöhne für die überteuerten<br />
Kredittilgungsleistungen aufwenden.<br />
Kimrod stammte aus kleinen Verhältnissen: der Vater<br />
BMW-Fließbandarbeiter, die Mutter Teilzeitsekretärin. Da<br />
wurde es eng, wenn man drei Kinder vernünftig großziehen<br />
und ausbilden wollte. Kimrod hatte sein Abitur auch<br />
nur gemacht, um nicht gleich als Sechzehnjähriger arbeitslos<br />
oder auf ein berufliches Abstellgleis geschoben zu<br />
werden. Zur Polizei ging er deshalb, weil sein Vater ihm
die Vorteile des Beamtendaseins ans Herz legte. Aber sogar<br />
dort stand die Unkündbarkeit neuerdings zur Debatte.<br />
Der Staat agierte da nach der Devise Auge um Auge,<br />
Zahn um Zahn. Nach der Fachhochschule für Verwaltung<br />
und Rechtspflege, Fachbereich Polizeivollzugsdienst, folgten<br />
ein paar Lehrjahre im Einbruchsdezernat. Seitdem<br />
konnte er alle Türen und Schlösser mit dem kleinen Finger<br />
öffnen. Danach zur Mordkommission, unter Remkes Fittiche.<br />
Es gab schlechtere Einkommensklassen, aber reich<br />
wurde im gehobenen Dienst auch niemand mehr. Man<br />
kam gerade so durch. Vor drei Jahren der neue Wagen.<br />
Einmal im Jahr zwei Wochen Griechenland, Essen, Kleidung,<br />
Versicherungen. Eine größere Wohnung war da einfach<br />
nicht drin. Kimrod stotterte immer noch die Zinsen für<br />
den Opel ab. Emma, seine Frau, hatte auf dem gehobenen<br />
Modell bestanden. Wenn nicht jetzt, wann denn<br />
sonst?<br />
Klar, sie hatte recht, das letzte Hemd hat keine Taschen,<br />
aber zu sehr über die eigenen Verhältnisse leben, konnte<br />
gefährlich werden. Der BF stieg, wobei BF für Bestechlichkeitsfaktor<br />
stand. Und das in einem Beruf, der einen<br />
mit allen Tricks und Kniffen in Berührung brachte. Jeder<br />
hat bekanntlich seinen Preis. Man sollte also nicht zu<br />
ausgiebig im Fahrwasser der Zinshaie baden. Remke BF<br />
drei, Kimrod BF fünf, Maikovsky BF sieben. Das war eines<br />
von Zefhahns Lieblingsspielchen. Für die Betroffenen war<br />
es freilich weniger lustig. Wer sich überschuldete oder ein<br />
unregelmäßiges Privatleben führte wie Maikovsky, der mit
Vorliebe unbefriedigte Ehefrauen bestückte, lief Gefahr,<br />
sich einer langwierigen Sicherheitsüberprüfung unterziehen<br />
zu müssen. Wer durchfiel, landete wieder bei der<br />
Schupo, zukünftige Beförderung ausgeschlossen.<br />
Ein weiteres fragwürdiges Beurteilungskriterium aus dem<br />
Köcher des Kriminalrats war der PF, der Pressefaktor.<br />
Kimrod acht, das lag hart an der Schmerzgrenze. Zefhahn<br />
wurde rasend, wenn einer seiner Beamten auf eigene<br />
Faust Öffentlichkeitsarbeit leistete. Der Platz an der Mediensonne<br />
war ausschließlich ihm, dem Dienststellenleiter,<br />
vorbehalten. Wer sich vordrängelte, müsste fürchterlichste<br />
Repressalien in Kauf nehmen, die Suspendierung vom<br />
Dienst eingeschlossen. Kimrod liebte jedoch die direkte<br />
Zusammenarbeit mit den Zeitungen und trug durch seine<br />
unvoreingenommene Art viel zur Hebung des Ansehens<br />
der Polizei bei. Von den vielen Tips und Hilfestellungen<br />
der Journalisten, die dabei abfielen, ganz zu schweigen.<br />
Einem Reporter standen einfach ganz andere Informa-<br />
tionskanäle offen.<br />
Zefhahn wachte freilich wie ein Zerberus über sein Monopol.<br />
Bereits mehrmalig hatte er Kimrod mit dem Entzug<br />
eines Falls gedroht, was aber jedes Mal durch Kimrods<br />
Beliebtheit in der Presse verhindert wurde. Für die breite<br />
Masse war man als Polizist entweder korrupt oder, was<br />
noch schlimmer war, ein sadistischer Staatsscherge, der<br />
aus purem Spaß an der Freude für die oberen Zehntausend<br />
den Bluthund spielte. Kimrod hatte sich daran gewöhnt,<br />
für alle Vergehen der Politiker büßen zu müssen,
die einerseits vom Otto Normalverbraucher immer drückendere<br />
Abgaben einforderten und andererseits nicht<br />
davor zurückschreckten, ihre Privatvermögen durch fragwürdige<br />
Steuerschiebereien zu mehren oder den Großkonzernen<br />
Erlasse in Milliardenhöhe zu gewähren.<br />
Durch die immer größer werdende Verarmung verschoben<br />
sich auch die Moralvorstellungen. Kleindelikte wie das Zurückdrehen<br />
des Stromzählers oder privater Hanfanbau<br />
wurden verstärkt gebräuchliche Mittel, um sich über Wasser<br />
zu halten und das Einkommen aufzubessern. Die Delikttoleranz<br />
nahm rapide zu, wie sich Zefhahn auszudrücken<br />
pflegte. Kimrod hatte gelernt, auch beide Augen zu<br />
zudrücken. Wer einen großen Fisch fangen will, muss<br />
zehn kleine erwischen und sie wieder laufen lassen,<br />
nachdem sie gesungen haben. Ein in der Praxis nicht immer<br />
leichtes Unterfangen, da sich die großen Hechte<br />
meistens stark im Hintergrund versteckt hielten und die<br />
kleinen Angst hatten und sich lieber einsperren ließen. Die<br />
Polizeiarbeit ähnelte daher immer mehr einer Gratwanderung.<br />
Links und rechts im Abgrund drohten Bestechlichkeit,<br />
Begünstigung, Beihilfe, Amtsmissbrauch, Strafvereitelung,<br />
Erpressung, Hehlerei und andere Rechtswidrigkeiten.<br />
Wer erfolgreich arbeiten wollte, war gezwungen, sich<br />
das ein oder andere Mal nach unten zu bewegen. Der Typ<br />
Remke, der auf der Fahrt zum Einsatzort drei Strafmandate<br />
wegen Gefährdung des Straßenverkehrs ausstellt, war<br />
zum Untergang verurteilt und konnte nur noch an der Seite<br />
eines Beamten von Kimrods Zuschnitt überleben, der
mit mehr Ganoven per Du war als mit Kollegen, die seine<br />
ironische Art leicht als Arroganz missdeuteten.<br />
Seit Kimrods Frau für das Abgeordnetenhaus kandidierte,<br />
fielen scheele Blicke auf ihn. Dabei war doch eine Partei<br />
so gut wie die andere und ohne die Sozis wäre die Lage<br />
noch viel beschissener. Kimrod machte sich aber in Wirklichkeit<br />
schon seit geraumer Zeit nichts mehr aus Parteiengezänk.<br />
Nur um im ehelichen und sonstigen Alltag etwas<br />
parat zu haben, übernahm er einige von Emmas Parolen<br />
und intonierte sie bei Bedarf.<br />
Remke war schwarz wie die Nacht finster und konnte aus<br />
dem Stegreif Grundsatzerklärungen des Kanzlers rezitieren.<br />
Sie hatten sich deshalb darauf geeinigt, das Thema<br />
Politik auszuklammern, was Remke nicht immer leicht fiel.<br />
Er glaubte immer, seinen vom reformierten Sozialismus<br />
indoktrinierten Kameraden bekehren zu müssen.<br />
„ Hallo, aufwachen, wir sind da. Pennst du oder stellst du<br />
schon wieder deine Reflexionen an? Nach dem Motto: Ich<br />
und die Welt. Die Stellung des sozial verantwortungsbewusst<br />
handelnden Kriminalbeamten im Wirkgefüge der<br />
postrevolutionären Realdemokratie insbesondere. Nur<br />
gut, dass ich keine solche Politwally zu Hause habe. Das<br />
täte mir gerade noch abgehen. Es gibt nichts Schlimmeres<br />
als intelligente Weiber. Du bist wirklich nicht zu beneiden.“<br />
„ Außer intelligente Kollegen. Da kannst du gleich nachvollziehen<br />
wie mir manchmal zumute ist. Ich bekomm!s zu
Hause und in der Arbeit reingedrückt. Außerdem bist du<br />
bloß neidisch. Wenn Emma den Sprung in das Abgeordnetenhaus<br />
schafft, kann ich meinen Beruf an den Nagel<br />
hängen. Dann reicht!s nämlich für zwei. Im Übrigen bist du<br />
der Sozialfatzke. Oder hab ich letzte Woche die drei Sudanesen<br />
laufen lassen, die am Ku'damm Dutzende von<br />
Börsen gezogen haben? Wahrscheinlich hast du sie wegen<br />
ihrer Hautfarbe nicht verhaftet. Unter Parteifreunden<br />
sozusagen“, sagte Kimrod bissig.<br />
„ Ich habe die Kollegen informiert. Sie haben sie wenig<br />
später gestellt. Wir sind nun mal bei der Mordkommission.<br />
Man muss das alles schön getrennt halten. Und nun<br />
komm. Tiefer runter geht's nicht.“<br />
Die Männer verließen den Fahrstuhl und gingen zu ihrem<br />
Dienstfahrzeug, das sich in der letzten Ecke der Tiefgarage<br />
unter dem Präsidiumsgebäude befand. Ein Teil der<br />
mehrstöckigen Parkplatzanlage diente gleichzeitig als<br />
Werkstatt. Hier wurden die Wägen frisiert und nach den<br />
oft materialmordenden Einsatzfahrten wieder hergerichtet.<br />
Die Zeiten des Überflusses waren auch hier längst vorbei.<br />
Nur was beim besten Willen nicht mehr zum Rollen zu<br />
bringen war, wurde ausgemustert. Der betagte Ford, den<br />
die beiden Polizisten bestiegen, lief ständig Gefahr, von<br />
einer der zahlreichen Verwertungsgesellschaften aus dem<br />
Verkehr gezogen zu werden. Man durfte ihn deshalb nie<br />
länger als achtundvierzig Stunden an einem Platz stehen<br />
lassen. Die Recyclinggeier wurden sonst aufmerksam und<br />
schlugen erbarmungslos zu.
Das Vehikel hatte unter der Haube noch gute zweihundert<br />
PS stecken. Man tat freilich gut daran, sie nur selten zu<br />
wecken. Bei höheren Geschwindigkeiten begann die Fuhre<br />
so bedenklich zu schwimmen und schaukeln, dass einem<br />
Angst und Bange wurde. Sogar Kimrod, der sonst<br />
kein Risiko scheute, drückte das Gaspedal nur zum Überholen<br />
durch und auch da erinnerte ihn Remke noch ständig<br />
an seine Rente, die er doch tunlichst nicht im Rollstuhl<br />
genießen wollte. Aber es war nichts zu machen. So lange<br />
der Wagen lief, gab es keinen Ersatz und die Mechaniker<br />
hatten es inzwischen zu einer wahren Meisterschaft im<br />
Präparieren und Instandsetzen von Rostlauben gebracht.<br />
Zefhahn verwies seine Untergebenen bei Klagen einfach<br />
an die Autobahnpolizei. Wer rasen wolle, müsse eben dort<br />
sein Glück versuchen. Seine Beamten seien Spürhunde<br />
und keine Rennfahrer, basta.<br />
„ Musik?“ fragte Kimrod, der die röhrende Limousine gekonnt<br />
ans Tageslicht steuerte. Remke nickte stumm. Die<br />
grauen Betonwände waren übersät von bunten Graffitos.<br />
Die Kids waren auch direkt unter den Augen der Polizei<br />
bienenfleißig. Remke hatte sich mehrfach nachts auf die<br />
Lauer gelegt, war aber nie fündig geworden. Die Künstler<br />
fertigten ihr Werke wohl während der Mittagspausen an.<br />
Einige Kunstjournalisten sollten sogar schon Fotos gemacht<br />
haben. Unter Zefhahns verschärftem Protest, der<br />
wahrscheinlich den Titel einer zukünftigen Ausstellung
fürchtete: Subwaystimmung unterm Präsidium oder so<br />
ähnlich.<br />
„ Was is? Ist dir nicht gut?“ erkundigte sich Kimrod weiter.<br />
Remke winkte ab.<br />
„ Lass mal. Mir ist schlecht vor Hunger. Und jetzt noch<br />
quer durch die ganze Stadt mit dieser Gurke. Fahr bloß<br />
langsam. Wir haben alle Zeit der Welt.“<br />
„ Gut, gut, ich bin auch nicht lebensmüde. Kannst ja beim<br />
nächsten Mal mit der U-bahn fahren.“<br />
,,Bin ich bescheuert oder was? Ich kenn ne Menge Typen,<br />
die bloß darauf warten, dass sie mir im Gedränge einen<br />
Schraubenzieher zwischen die Rippen stecken können.<br />
Alles schon mitgemacht.“<br />
„ Ach ja, das musst du mir genauer erzählen. Ich dachte,<br />
die Leute, die sich mit dir angelegt haben, schwimmen alle<br />
schon kieloben im Landwehrkanal.“<br />
„ Mach nur deine Witzchen. Zu meiner Zeit gab!s noch eine<br />
klare Frontenverteilung. Da war nichts mit Schmiere<br />
zum Anfassen oder Gestörtenregelung. Unter fünf Jahren<br />
ist bei mir keiner davongekommen. Da verschafft man<br />
sich Feinde.“<br />
Remke spielte auf ein neues Regierungsprogramm an,<br />
dass jedem Täter einen ursprünglichen Unschuldszustand<br />
zubilligte. Zum Verbrecher wurde man nur durch eine Verkettung<br />
unglücklicher Umstände im sozialen Umfeld. Die<br />
krankmachende, sprich den kriminellen Trieb verursachende<br />
Umwelt musste, wenn möglich, verändert werden
und der Täter in einem speziellen, der Haft- beziehungsweise<br />
Bewährungsstrafe sich anschließendem Programm<br />
lernen, mit dieser Umwelt anders, in einer keine kriminellen<br />
Verhaltensweisen produzierenden Art, umzugehen.<br />
Die Erfolge waren durchwachsen. Viele Mehrfachtäter hatten<br />
den Dreh bald heraus, sich mit dem richtigen Vokabular<br />
auch aus dem fünften und zehnten Einbruch herauszuwinden.<br />
Sie schützten vor, dass sie mit den hohen Anforderungen<br />
der unerbittlichen Leistungsgesellschaft nicht<br />
mehr zurechtkämen und man sie im letzten Täterschutzprogramm<br />
einfach unzureichend auf den rauen Alltag vorbereitet<br />
hätte.<br />
Bei Gewaltverbrechern griffen die Programme manchmal<br />
besser. Wer zum Beispiel seine Ehefrau krankenhausreif<br />
geschlagen hatte, konnte seine Strafe alternativ zum Gefängnis<br />
in einem Ausbildungslager für Einzelkämpfer abbüßen,<br />
in dem die vierschrötigen Feldwebel berechtigt<br />
waren, jegliche Regung individuellen Widerstands mit<br />
massiver körperlicher Gewalt zu brechen. Wer sich wiederholt<br />
von einem physisch weit überlegenen Gegner<br />
Prügel für eine verdreckte Uniform eingefangen hatte,<br />
merkte alsbald, dass diese Form von zwischenmenschlicher<br />
Kommunikation für den Unterlegenen ziemlich frustrierend<br />
war. Die Raufbolde lernten so ihre Lektion viel<br />
eindringlicher und kamen oft völlig bekehrt wieder nach<br />
Hause, insgeheim stolz, eine harte Schule durchlaufen zu<br />
haben. Das Projekt war erst am Anlaufen und man musste<br />
die richtigen Therapieformen für alle Täterprofile erst noch
ausfindig machen, so dass es zu früh war, eine Bewertung<br />
anzustellen. Fest stand nur, dass die Grenzen des herkömmlichen<br />
Strafvollzuges erreicht und teilweise auch<br />
schon überschritten waren.<br />
Die Strafen wurden immer höher und der Platz in den Justizvollzugsanstalten<br />
immer weniger. Wer seine fünfhundert<br />
Euro Bußgeld für zu schnelles Fahren nicht zahlen wollte,<br />
ließ die gesetzte Frist verstreichen und erklärte sich bereit,<br />
die ersatzweise verhängte Haft anzutreten, mit der<br />
Gewissheit, niemals gesiebte Luft atmen zu müssen. Um<br />
Drogenabhängige zu kurieren, die um ihre Sucht zu befriedigen,<br />
straffällig geworden waren, dachten manche<br />
schon laut darüber nach, malaiische Verhältnisse einzuführen.<br />
Dort steckte man die Süchtigen in militärisch geführte<br />
Umerziehungslager, in denen mit viel frischer Luft<br />
und Zwangsarbeit versucht wurde, den Junkies ihr Laster<br />
auszutreiben. Dealer hängte man nach wie vor kurzerhand<br />
auf.<br />
Es war also Bewegung ins Justizsystem gekommen. Mit<br />
welchem Erfolg und zu welchen Ufern, stand noch in den<br />
Sternen. Kimrod zog seinen Kollegen weiter auf.<br />
„ Die, die du einsperren wolltest, lachen sich heute noch<br />
krumm und bucklig. Erzähl mir lieber, was du jetzt mit deiner<br />
vielen Freizeit anfangen willst. Vielleicht noch ein Kind<br />
machen oder was?“<br />
Remke griff seinem Chauffeur scherzweise ins Steuer und<br />
betätigte dabei die Hupe. Ein Fahrer, der neben ihnen<br />
zum Überholen ansetzte, trat kurz auf die Bremse und
ewegte dann seine Hand mit gespreizten Fingern mehrfach<br />
vor dem Gesicht hin und her.<br />
„ Der hat dich gemeint. Fährst auch wie eine gesenkte<br />
Sau“, sagte Remke belustigt.<br />
Kimrod ging vom Gas und ließ den Mann vorbeiziehen.<br />
„ Also, was steht an? Klappt!s noch oder muss ich dich<br />
heute Nachmittag in der Safaribar auf Vordermann bringen?<br />
Kostet mich nur ein Lächeln“, meinte Kimrod gut gelaunt.<br />
Remke seufzte. Seine Frau war zwanzig Jahre jünger wie<br />
er und Kimrod machte immer wieder seine Anspielungen.<br />
Schlimmer wie ein pubertierender Sechzehnjähriger. Seine<br />
Inge bekam, was sie brauchte. In der Beziehung konnte<br />
ihm niemand etwas vorwerfen.<br />
„ Mich auf Vordermann bringen. Dass ich nicht lache. Solchen<br />
Nachtwächtern wie dir mache ich noch mit achtzig<br />
was vor. Kannst mir ja mal deine Alte ausleihen, wenn du<br />
es nicht glaubst. Aber beschwer dich nachher nicht, wenn<br />
sie dich von dem Tag an von der Bettkante stößt.“<br />
,,Das Risiko nehme ich locker in Kauf. Mach jedoch vorher<br />
dein Testament. Meine Frau ist einiges gewohnt und<br />
legt bestimmt ein scharfes Tempo vor. Du könntest dich<br />
überanstrengen. Wäre vielleicht kein schlechter Tod. Aber<br />
im Ernst. Mit was willst du deine alten Tage verbringen?<br />
Meinst du, dass du Theo behalten kannst, als Privatmensch?<br />
Rottweiler sollen doch verboten werden.“<br />
„ Papperlapapp. Außerdem ist Theo ein Mischling. Er hat<br />
viel Bernhadinerblut in den Adern, das macht ihn ruhiger.
Pass lieber auf, wo du hinfährst. Ständig von links nach<br />
rechts, da wird man richtig seekrank.“<br />
Kimrod schlängelte sich geschickt durch den zähflüssiger<br />
werdenden Verkehr. Häufige Spurwechsel waren unvermeidbar,<br />
wenn man schnell vorankommen wollte. Der<br />
Nieselregen wurde dichter, die Häuserzeilen am Straßenrand<br />
noch düsterer. Die Stadt sah von Jahr zu Jahr heruntergewirtschafteter<br />
aus. Alte Gebäude wurden nicht mehr<br />
saniert, die neuen Regierungspaläste wirkten morbide und<br />
deplatziert. Versicherungs- und Bankentower versuchten<br />
vergeblich, den tristen Gesamteindruck durch geschäftige<br />
Dynamik zu übertünchen. Lieblos hochgezogene Wohnblöcke,<br />
schwärzliche Siedlungen aus dem vorigen Jahrhundert.<br />
Man zog mit anderen europäischen Metropolen<br />
wie Paris und Rom gleich, freilich ohne deren kosmopolitische<br />
Leichtigkeit zu erreichen. Gewissermaßen nur im<br />
negativen Sinne.<br />
Kimrod suchte einen neuen Sender. Das System klinkte<br />
sich in eine ansprechende Hardrockstation ein. Kimrod<br />
erhöhte die Lautstärke. Die erwartete Reaktion seines<br />
Kollegen kam prompt.<br />
„ Dein Gedudel kannst du dir gefälligst zu Hause anhören.<br />
Wir sind im Dienst, da gibt!s für einen guten Polizisten nur<br />
eine Welle. Wenn!s denn unbedingt sein muss, dann bitte<br />
etwas leiser. Ich will mir jetzt auch nicht noch die Lauscher<br />
verderben.“
„ Apropos Lauscher. Nächste Woche soll die neue Walter<br />
PZ 40 eintrudeln. Hülsenlose Munition, Mündungskompensator<br />
und fünfundzwanzig Schuss im Magazin; Einzel<br />
- und Dauerfeuer. Mit der Flak kannst du in den Krieg ziehen.<br />
Die mäht alles um.“<br />
„ Na da wünsch ich euch viel Spaß. Je mehr Technik, desto<br />
schneller kaputto. Wie lang haben wir gebraucht, um<br />
die neue SIG von allen Kinderkrankheiten zu kurieren?<br />
Die Kaliber werden immer stärker, die Geschosse rasanter<br />
und die Rahmen kleiner. Das dauert lange bis das alles<br />
wieder zusammenpasst. Werde sie mir natürlich mal<br />
genauer ansehen. Ich will schließlich wissen, mit was ihr<br />
jungen Spunde durch die Gegend ballert.“<br />
„ Genau. Man will natürlich auch hören, was der Fachmann<br />
spricht. Wir werden das Gerät nächste Woche ordentlich<br />
durchchecken und dann sehen wir weiter. Ich bin<br />
aber echt saumäßig froh, dass wir endlich nachrüsten.<br />
Jeder Hinterhofgangster ist inzwischen besser bestückt<br />
wie wir. Da käme so ein kleiner Raketenwerfer gerade<br />
recht.“<br />
„ Vielleicht haben wir dann auch wieder gegen die Spiderwesten<br />
eine Chance. Es ist einfach ein Unding, bis auf<br />
fünf Meter herankommen zu müssen, um die Burschen<br />
umnieten zu können. Und dann auch nur noch mit überschweren<br />
Kalibern. Wir sind tatsächlich nicht mehr auf<br />
dem neuesten Stand der Technik.“<br />
„ Ich denke schon, dass sich in der Richtung was tun wird.<br />
Die Durchschlagskraft soll enorm sein. Diese Scheißelas-
toseide, an der wir uns bisher die Zähne ausgebissen haben,<br />
wird wird den neuen Turbogeschossen nicht viel entgegenzusetzen<br />
haben. Da werden einige eine saftige<br />
Überraschung erleben. Ich kann mir die Szene gut vorstellen.<br />
Da marschiert einer in seinem leichten Ganzkörperanzug<br />
in die Bank und verlangt ganz ruhig und gelassen<br />
die gesamte Kohle. Wir werden heimlich alarmiert, aber<br />
der Knabe hat nichts zu befürchten. Wenn er uns auf Distanz<br />
halten kann, riskiert er höchstens ein paar blaue Flecken.<br />
Plötzlich macht!s Wumm und dem Typen fliegen die<br />
Eingeweide auf die Fliesen. Die neue Walter hat zugeschlagen:<br />
fern, schnell, gut.“<br />
„ Du sagst es, und ich bin nicht mehr mit dabei. Eigentlich<br />
schade, vielleicht sollte ich noch einmal zehn Jahre draufpacken.<br />
Bin sowieso zu jung für die Rente.“<br />
„ Nein. Ich denke, du hast deine Zeit gehabt. Man muss<br />
immer dann aufhören, wenn es am schönsten ist. Du hast<br />
doch vorhin gesagt, dass dir vor dem neuen Fall graut.<br />
Ein untrügliches Zeichen, du solltest sofort Schluss machen.<br />
Früher mussten wir dich mit Gewalt ins Wochenende<br />
prügeln. Kein Tag unter zehn, zwölf Stunden, kein Fall<br />
zu groß. Da bleibt mit der Zeit der Verschleiß nicht aus...“<br />
„ Mensch, hast du den gesehen, der hat mindestens<br />
achtzig Sachen drauf. Stell den Kojak raus und setz nach.<br />
Der hat es bestimmt nicht umsonst so eilig. Ich will einen<br />
Besen gefressen haben, wenn der sauber ist.“<br />
„ Sachte Otto. Wir machen in Sachen Mord und sind von<br />
unserem Chef, der beauftragt wurde, eine Sonderkom-
mission zu bilden, angewiesen worden, in einem Fall Ermittlungen<br />
anzustellen, der keinen Aufschub duldet. Du<br />
hast gehört, was Zefhahn gesagt hat. Identifizierung bis<br />
heute Abend. Nicht umsonst, schätze ich. Da hat der<br />
Präsident persönlich aufs Gaspedal gedrückt. Bis ich diesen<br />
Fuzzi erwische, der wahrscheinlich bloß seine neue<br />
Mühle ausprobieren will, sind wir in Mahrzahn. Wir könnten<br />
wahrscheinlich eine schöne Stange Mäuse einkassieren,<br />
aber momentan werden wir für etwas anderes bezahlt.<br />
Außerdem ist der Sprit bald alle. Bevor ich die Mühle<br />
richtig auf Touren gebracht habe, sitzen wir auf dem<br />
Trockenen.“<br />
„ Gut, du hast gewonnen. Du willst nicht und hast den höheren<br />
Rang, aus welchen Gründen auch immer. Wahrscheinlich<br />
war das einer von deinen Spezis, der seiner<br />
Tussi imponieren wollte. Mir kannst du erzählen, was du<br />
willst. Ihr steckt doch alle unter einer Decke. Ich befürchte<br />
bloß, wenn du keinen mehr hast, der auf dich aufpasst,<br />
wirst du mit deinen Gangstern endgültig gemeinsame Sache<br />
machen.“<br />
„ Fang bloß nicht wieder damit an. Das sind nicht meine<br />
Freunde, alte Bekannte allenfalls und einige von denen<br />
sind auch nicht schlimmer wie der Minister da vorne in<br />
seiner Regierungskiste.“<br />
„ Kommunist. Außerdem ist das kein Minister, sondern ein<br />
Botschafter. Das ist ein Diplomatenkennzeichen. Na ja,<br />
mach doch was du willst. Was ich nicht weiß, macht mich<br />
nicht heiß. Eins ist auf jeden Fall sicher. Ich bleibe bis zum
letzten Tag im Dienst und werde bis zu diesem Tag dafür<br />
sorgen, dass die Gesetze eingehalten werden. Mit dir<br />
oder ohne dich. Ist mir schnurzegal.“<br />
„ Na dann ist ja gut. Mir nämlich auch.“<br />
Sie erreichten um viertel nach neun die Oranienstraße<br />
und parkten den Wagen in einer Tiefgarage. Das Cafe,<br />
das Remke ausgesucht hatte, war noch ziemlich leer, die<br />
Beleuchtung gedämpft. Sie bestellten zweimal französisches<br />
Frühstück und musterten dezent die Gäste. Remke<br />
kannte den Besitzer persönlich und wusste, dass sie hier<br />
geduldet wurden. Die Kundschaft entstammte normalerweise<br />
nicht dem kriminellen Milieu.<br />
Die noch etwas schläfrig wirkende Bedienung brachte das<br />
Essen nach wenigen Minuten. Es gab Hörnchen, Rührei<br />
mit Speck, drei verschiedene Sorten Marmelade, eine<br />
Kanne Milchkaffee, Orangensaft, appetitlich aufbereitete<br />
Butterstückchen und diverse Käsesorten. Kimrod ließ sich<br />
außerdem Zigaretten bringen. Remke vergewisserte sich<br />
bei der Bedienung, ob alles im Preis inbegriffen sei und<br />
langte dann herzhaft zu.<br />
„ Na, hab ich zu viel versprochen? Wo kriegt man hier<br />
noch für sieben Euro so viel zu fressen wie man will. Und<br />
schmecken tut es obendrein.“<br />
Kimrod, der gerade sein zweites Butterstückchen in Bearbeitung<br />
hatte, nickte zustimmend. Er schluckte den letzten<br />
Bissen mit einem großen Schluck Kaffee hinunter und un-
terbrach seine Beschäftigung, um sich eine Zigarette anzuzünden.<br />
„ Ja, nicht schlecht. Ich find nur, der Kaffee ist ein bisschen<br />
dünn. Zu Hause bin ich ihn stärker gewöhnt.“<br />
„ Ach Quatsch. Das ist Café au lait, französisches Nationalgetränk,<br />
zumindest vor zwölf Uhr. Ich gehe normalerweise<br />
nicht gerne mit meinen Fremdsprachenkenntnissen<br />
hausieren, aber die Betonung liegt auf Milch, viel Milch<br />
und dann kommt erst der Kaffee. Die Franzosen müssen<br />
morgens noch ihren Magen schonen, weil sie später wieder<br />
so viel Zeugs in sich reinschütten. Das sind keine Türken,<br />
die den Satz mitfressen. Nein, sanft und schonend.<br />
Wusste übrigens gar nicht, dass deine Frau Kaffee kocht.<br />
Ich dachte immer am Herd regierst du. Sie macht doch<br />
nur auf Hausfrau, wenn ein Reporter in der Nähe ist. Ansonsten<br />
feilt sie an ihren Reden und entwirft neue Strategien<br />
für ihre roten Brüder. Wenn sie nicht aufpasst, landet<br />
sie bald in der Grundwertekommission. Wenn sie nicht<br />
schon dabei ist...“<br />
„ Auf alle Fälle bin ich mir im Gegensatz zu dir nicht zu<br />
fein für die Hausarbeit. Meine Emma kocht sehr guten<br />
Kaffee und das hier ist Muckefuck. Ob mit lait oder ohne<br />
lait. Ich hab nämlich selber in der Schule Französisch gelernt.“<br />
„ Ach ja, das musst du mir genauer erzählen. Wie alt war<br />
denn die Lehrerin, einunddreißig?“<br />
„ Siebenundzwanzig, und sie hat wegen mir ihren Beruf<br />
an den Nagel gehängt. Es stimmt also doch. Manche
Männer werden ab einem gewissen Alter wieder kindisch.<br />
Wenn sie überhaupt jemals erwachsen geworden sind.<br />
Apropos Kaffeesatz fressende Türken. Diesen Ton kannst<br />
du dir postwendend abschminken. Wenn nicht, fliegst du<br />
raus.“<br />
„ Wär mir sehr recht. Wie oft muss ich satzfressende Türken<br />
wiederholen? Mir steht diese ganze Scheiße nämlich<br />
bis zum Hals. Jeder Fall ist neuerdings politisch und muss<br />
mit Fingerspitzengefühl gelöst werden. Nur wegen den<br />
paar eingeschlagenen Köpfen im August.“<br />
„ Es gab immerhin fast tausend Verletzte, hundert auf unserer<br />
Seite. Die Türken und der schwarze Block, in der Tat<br />
eine brisante Mischung. Aber wir dürfen die nicht zusätzlich<br />
provozieren, sonst gibt!s sofort wieder einen Affentanz.<br />
Damals sind zwei Türkinnen vergewaltigt worden.<br />
Heute haben wir zwei übel zugerichtete Leichen. Vielleicht<br />
ergibt sich da ein Zusammenhang.“<br />
„ Sag ich doch. Damals hat sich doch auch plötzlich herausgestellt,<br />
dass sie von einer Handvoll Landsleuten beklettert<br />
worden sind. Genauso wird!s jetzt auch wieder<br />
sein. Vielleicht war!s der erzürnte Bräutigam oder gar Bruder,<br />
der es nicht mehr verwinden konnte, dass das Mädchen<br />
anschaffte.“<br />
„ Das wäre einfach. Wir müssen auf alle Fälle aufpassen.<br />
Die Sache steht schon morgen in allen Sonntagszeitungen<br />
und ab Montag geht der Tanz richtig los. Aber mit reden<br />
allein kommen wir nicht weiter. Wir müssen einen<br />
Plan ausarbeiten. Wo gehen wir als Nächstes hin, wo
können wir was in Erfahrung bringen ohne gleich zu viel<br />
Staub aufzuwirbeln? Schieß los!“<br />
„ Langsam. Schau mal auf die Uhr. Wir sind zu früh dran.<br />
Bumslokale sonnabends ab fünfzehn Uhr. Eher nicht. Vielleicht<br />
noch in die ein oder andere Kneipe.“<br />
„ Das macht Härtlein. Dem will ich nicht begegnen“, gab<br />
Kimrod zu bedenken.<br />
„ Aber wie viele Kneipen gibt!s in Kreuzberg und Umgebung?<br />
Mir fällt schon eine ein. Nur die Ruhe.“<br />
„ Das bezweifle ich nicht. Wenn!s nur was bringt. Wir halten<br />
schon zu lange Maulaffen feil. Jetzt sind Taten gefragt.“<br />
„ Gerade sagst du, wir müssen mit Überlegung vorgehen<br />
und dann muss plötzlich alles Hals über Kopf gehen.<br />
Wenn wir wenigstens ein Foto hätten. Ich meine, ein richtiges<br />
Foto. Das könnte man den Leuten zeigen und die<br />
würden sich erinnern, wo sie die beiden Mädchen gestern<br />
Nacht gesehen haben und vor allem mit wem. Totaler<br />
Quatsch, uns nur mit diesen Metzgeraufnahmen loszuschicken.<br />
Die kann man doch niemanden zeigen. Den<br />
Leuten wird doch nur schlecht. Typisch Zefhahn. Hauptsache,<br />
er hat die Verantwortung abgeschoben!“ schnaubte<br />
Remke.<br />
„ Was soll er denn machen, sich Portraitaufnahmen aus<br />
dem Hut zaubern? Wir sollen doch rausfinden, wer die<br />
waren und mit wem sie verkehrten.“<br />
„ Aber wie, du Schlaumeier? Weisst du, wie viele Leute<br />
hier wohnen? Willst du die alle persönlich befragen? Ent-
schuldigen Sie bitte, kennen Sie zufällig zwei Nutten mit<br />
zermanschtem Gesicht? Willst du das?“<br />
„ Komm, komm, nicht auf die Tour. Ich hab uns die Suppe<br />
nicht eingebrockt. Du hättest halt Taxifahrer werden sollen.<br />
Da wären dir solche unappetitlichen Geschichten erspart<br />
geblieben. Zumindest hättest du dich nicht näher<br />
damit befassen müssen. Schätze, dass wird sowieso dein<br />
letzter Fall. Hab irgendwie so ein Gefühl, dass das eine<br />
längere Angelegenheit wird. Besonders der abgeschnittene<br />
Kopf macht mir zu schaffen. Das hat so was Perverses<br />
an sich. Und unten mit einem Mixer reingefahren. Also, ich<br />
weiß nicht, da steckt etwas anderes dahinter. Ich sehe nur<br />
noch nicht was.“<br />
Die Bedienung, die am Nachbartisch ein Kreuzworträtsel<br />
löste, wurde immer blasser. Die wenigen Gesprächsfetzen,<br />
die sie verstand, schienen ihr auf den Magen zu<br />
schlagen. Sie tippelte zornig hinter die Theke und genehmigte<br />
sich einen Underberg. Remke beobachtete sie<br />
amüsiert und orderte ebenfalls ein Verdauungsregulans,<br />
das die Angeschlagene mit spitzen Fingern servierte.<br />
„ Vielen Dank, schöne Frau. Du trinkst ja nicht vor Sonnenuntergang.<br />
Ist auch besser so, da bleibt mir mehr.“<br />
Remke kippte den Kräuterschnaps gekonnt mit einer eleganten<br />
Kieferbewegung ohne die Hände zu Hilfe zu nehmen<br />
und grunzte danach befriedigt.<br />
„ So, jetzt sehe ich gleich wieder viel klarer. Wir dürfen<br />
nicht so laut reden. Die Bedienung wäre beinah umgekippt.<br />
Ich sehe das so. Heutzutage ist alles möglich und
was heißt schon pervers. Da hat jemand unsauber gearbeitet<br />
oder für ein paar Augenblicke die Beherrschung verloren,<br />
mehr nicht. Außerdem wissen wir noch viel zu wenig,<br />
um großartig Schlüsse ziehen zu können. Lass uns<br />
gemütlich zu Ende essen und nachher gehen wir ein paar<br />
Häuser weiter ins Madonna. Vielleicht trifft sich da auch<br />
schon vormittags Gelichter unseren Zuschnitts. Ich meine,<br />
wie!s wir benötigen, um mit unserem Fall weiterzukommen.<br />
Lass uns bis dahin über etwas Netteres reden. Wie<br />
geht!s zu Hause, was machen die Kinder? Noch alles gesund<br />
und munter?“<br />
Kimrod holte tief Luft und zündete sich eine neue Zigarette<br />
an. Das war ein Reizthema. Besonders in Bezug auf<br />
die Kinder, Wolf und Ingrid.<br />
„ Ja, alles gesund. Ich bin noch verheiratet, die Kinder leben<br />
noch. Zufrieden?“<br />
„ Nein, nein, mein Lieber. So leicht lass ich mich nicht abspeisen.<br />
Ich kenne euch doch schon so lange. Die Kinder<br />
von klein auf, da kann ich doch ein bisschen mehr verlangen.<br />
Was treibt Wolf so? Mit der Schule ist er doch fertig?“<br />
„ Ja, Gott sei Dank. Ich weiß auch nicht genau, was der<br />
vorhat. Er treibt sich immer noch viel mit diesen Camos<br />
herum. Nichts Vernünftiges jedenfalls.“<br />
„ Totsch. Der Mann wird immer schlechter gemacht wie er<br />
in Wirklichkeit ist. Der holt die Kids von der Straße und<br />
gibt ihnen die Möglichkeit, so was wie Gemeinschaftsgefühl<br />
zu entwickeln. Wart nur ab, der Junge macht seinen<br />
Weg. Vielleicht schneller wie du denkst!“
Erich Totsch war der Anführer der Camos, einer paramilitärischen<br />
Organisation, die schon mehrere Tausend Mitglieder<br />
zählte. Nicht nur in der Hauptstadt, sondern in der<br />
ganzen Republik wurden Monat für Monat neue Filialen<br />
gegründet, die streng nach dem Vorbild der Mutterorganisation<br />
in Berlin aufgebaut waren. Die Unterführer wurden<br />
in speziellen Kursen auf ihre Aufgabe vorbereitet und auf<br />
Totsch persönlich eingeschworen, so dass die Durchsetzung<br />
seiner Prinzipien bis in die kleinste Zelle hinein reibungslos<br />
funktionierte.<br />
Mit der Kombination von modernster Kommunikations-<br />
und Computertechnologie war die ständige Kontrolle und<br />
Verbindung aller Kameraden, wie sich die Mitglieder untereinander<br />
anredeten, somit jederzeit gewährleistet. An<br />
den Wochenenden wurden Übungen abgehalten, die stark<br />
militärischen Manövern ähnelten. Es wurde dabei viel<br />
Wert auf Nahkampfausbildung gelegt. Man schlief im<br />
Freien oder in kärglichen Armeezelten. Alkohol war zwar<br />
nicht verboten, er wurde jedoch nur im geringen Ausmaß<br />
konsumiert. Die Kameradschaft entwickelte sich am Lagerfeuer<br />
auch ohne Drogen. Das bevorzugte Kleidungsstück<br />
der Camos war die Tarnjacke. Im Winter schwarzweiß<br />
gesprenkelt, in den anderen Jahreszeiten grünbraun.<br />
Auch Mädchen und junge Frauen verstärkten immer mehr<br />
die Reihen von Totschs Einheit, die auch Sicherungsaufgaben<br />
übernahm. Die soldatisch vorgebildeten Camos<br />
waren vorzüglich geeignet, um Banken- und Versiche-
ungskomplexe, U-Bahnanlagen und Einkaufszentren zu<br />
überwachen und vor Beschädigungen zu bewahren. Das<br />
wurde immer notwendiger, weil alles, was nach Geld roch,<br />
in den ärmeren Teilen der Bevölkerung immer verhasster<br />
wurde und die Polizei oft streikte oder wegschaute.<br />
Und Totschs Dienste waren nicht teuer. Viele Camos wurden<br />
noch im Schulalter angeworben und konnten noch mit<br />
einem Taschengeld abgespeist werden. Materialismus war<br />
unter ihnen streng verpönt. Auch die Regierung hatte<br />
Totsch bereits für kleinere Aufgaben engagiert. Bei Wahlveranstaltungen<br />
etwa zur Absicherung der Barrikaden und<br />
zur genauen Überwachung des Publikums. Die Politiker<br />
vertrauten ihren Leibwächtern nicht mehr bedingungslos.<br />
Man hatte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt.<br />
Viele Augen sehen mehr wie wenige und allein die Präsenz<br />
so vieler Uniformierter wirkte abschreckend. Die Motivation<br />
stimmte hundertprozentig, denn die Camos arbeiteten<br />
auch bei solchen Einsätzen ausschließlich für<br />
Totsch, der seine Schäflein durch eine geschickte Vorgehensweise<br />
eng an sich band. Wer nicht parierte, wurde<br />
von ihm persönlich degradiert, und seine Offiziere, meistens<br />
die über Zwanzigjährigen, wurden instruiert, alle Entgleisungen,<br />
aber auch besondere Leistungen der Kameraden,<br />
in ein streng abgeschirmtes Computernetz einzuspeisen,<br />
so dass beim so genannten Monatsrapport jedem<br />
Mitglied einzeln fundierte Noten erteilt werden konnten.<br />
Durch die kurzen Haarschnitte und die getarnten Jacken<br />
kamen die Camos rasch in Verdacht, rechtsradika-
lem und nationalsozialistischem Gedankengut verhaftet zu<br />
sein.<br />
Doch Totsch war apolitisch und ideologiefrei, zumindest<br />
gab er sich so. Man konnte natürlich sein Gebaren auch<br />
anders interpretieren. Die einzigen Schlagworte, die er<br />
seinen Anhängern predigte, waren Kameradschaft, Pflicht<br />
und Treue. Aber, wie gesagt, keine Politik. Das war in den<br />
Augen vieler freilich Politik genug. Man verglich ihn mit einer<br />
Größe des Dritten Reiches und bezeichnete ihn als<br />
üble Aaskrähe, die eine vorübergehende Schwäche der<br />
Nation schamlos ausnutzte und rücksichtslos, mit allen<br />
zur Verfügung stehenden Mitteln des demokratischen<br />
Rechtsstaates, bekämpft werden müsse.<br />
Nächstes Jahr im Frühjahr wurde gewählt und Remke hatte<br />
gehört, dass Totsch bei mehreren Wahlkampfhöhepunkten<br />
der CDU für den Personenschutz zuständig sein<br />
sollte. Wolf, Kimrods Sohn, war vor drei Monaten zum<br />
Leutnant befördert worden und würde deshalb bestimmt<br />
mit von der Partie sein. Für seinen Vater bedeutete dieses<br />
Engagement eine Katastrophe. Er hatte ihn beschworen<br />
zu studieren. Egal was, aber nach dem Ablehnungsbescheid<br />
von der Musterungskommission war das völlige<br />
Überwechseln Wolfs zu den Camos keine Frage mehr.<br />
Hier konnte er beweisen, was in ihm steckte.<br />
Totsch verlangte viel, doch er gab alles zurück, mit Zinsen.<br />
Bei ihm wusste man immer, dass man dem Vaterland<br />
diente und sein Leben nicht sinnlos verschleuderte. Wo
sonst wurde einem das heute noch geboten? Sogar in der<br />
Armee wurde man zusehends nur noch für fragwürdige<br />
Aktionen der UNO oder NATO missbraucht.<br />
Wolf bereute seine Entscheidung nicht im Geringsten.<br />
Wurde er doch von Totsch schon nach kurzer Dienstzeit<br />
mit verantwortungsvollen Aufgaben betraut. Und Geld gab<br />
es obendrein. Wer gut war und viel arbeitete, machte immer<br />
seinen Schnitt. Das galt freilich nur für die höheren<br />
Dienstränge. Nur denen wurden die einträglichen Wertkurierfahrten<br />
anvertraut. Man musste sich eben hochdienen.<br />
Aber, wie gesagt, Totsch gab jedem eine Chance. Wer willig<br />
war und die richtige Einstellung mitbrachte, konnte etwas<br />
werden. Und vielleicht reichte es bis ganz nach oben,<br />
in den engsten Vertrautenkreis um Totsch, der seine auserwählten<br />
Paladine gerne als Generäle titulierte und mit<br />
ihnen als Erster unter Gleichen die Geschicke der Truppe<br />
leitete.<br />
„ Ich kann diesen Kerl einfach nicht leiden. Die anderen<br />
geben wenigstens zu, woher bei ihnen der Wind weht,<br />
aber der tut immer so, als ob er für den Friedensnobelpreis<br />
in Frage käme. Möchte nicht wissen, was der so hinter<br />
verschlossenen Türen vom Stapel lässt. Da war Adolf<br />
noch ein Biedermann dagegen. Kommt Jahr und Tag nicht<br />
aus seiner Karnevalsuniform heraus. So was ist einfach<br />
abartig. Tut so, wie wenn wir schon seit zwanzig Jahren<br />
Krieg hätten. Und immer nur in Rudeln auftreten. Das hab<br />
ich am meisten gefressen. Allein den Schwanz einziehen
und dann zu zehnt den starken Mann markieren. Diese<br />
Idioten müssten wirklich mal ein halbes Jahr an der Front<br />
verbringen, aber dazu reicht es bei keinem“, sagte Kimrod<br />
verbittert und inhalierte tief.<br />
Wenn es um Totsch oder die Camos ging, musste er seine<br />
ganze Energie aufwenden, um sich zu beherrschen. Nicht<br />
nur weil ihm der Unsympathling seinen Sohn abspenstig<br />
gemacht hatte. Da war ein Geschwür am Wachsen, das<br />
den ganzen Organismus bedrohte.<br />
„ Du sprichst von deinem Sohn. Du wirst ihn doch nicht<br />
als Feigling bezeichnen, der sich nur gegen Schwächere<br />
traut. Außerdem ist das ganz normal in seinem Alter. Da<br />
sucht man sich andere Ideale. Wolf hat seins gefunden.<br />
Nicht das schlechteste, wenn du mich fragst.“<br />
„Tu ich aber nicht. Wenn du einen fahren lässt, müssen<br />
die Bauern drei Tage lang Ruß kutschieren, so schwarz<br />
bist du. Wenn dann noch einer sagt Deutschland ist prima,<br />
kann er deinetwegen auch seine Oma zu Chappi verarbeitet<br />
haben. Mir macht der nix vor. Das ist ein ganz übler<br />
Geselle, der unter dem Mäntelchen der Jugendarbeit antistaatliche<br />
Ziele verfolgt. Der wartet doch nur darauf, dass<br />
hier die Ordnung zusammenbricht und er den starken<br />
Mann spielen kann. Dieses Gesocks müsste man meiner<br />
Meinung nach alles rausschmeißen! Hinter den Ural oder<br />
so! Da können sie sich dann ausspinnen und ihr Viertes<br />
Reich gründen.“<br />
„ Jetzt verwechselst du aber ein paar Dinge, mein Lieber.<br />
Totsch ist für einen starken Staat und ist bereit, für diesen
etwas zu riskieren. So einer wie der hat seinen Krieg tagtäglich.<br />
Da brauchst du dich nicht drum zu kümmern. Ihr<br />
Linksmichel hockt doch in jeder Redaktion und in jedem<br />
Sendeturm an den Schalthebeln. Die Leute werden in<br />
Deutschland immer noch nur aus einer Richtung aufgehetzt.<br />
Wer Heimat und Vaterland sagt, ist schon ein Hakenkreuzler.<br />
Nein, mein Bester. Totsch springt da in eine<br />
Bresche, wo deine Gewerkschaft zugeschlagen hat. Immer<br />
kürzere Arbeitszeiten, immer mehr Feiertage, Streiks,<br />
keine Überstunden mehr. Immer mehr Verständnis für die<br />
Kriminellen. Wen wundert es da noch, wenn alle das Vertrauen<br />
in uns verlieren. Die Bullen kümmern sich eh um<br />
nix mehr. Los, lass uns einen Bruch machen...kam gestern<br />
Abend in so einer Fortsetzungsserie. Gespräch zweier<br />
Zwölfjähriger, am Puls der Zeit.“<br />
Ein gehetzt wirkender junger Mann betrat das Café und<br />
marschierte ohne sich umzusehen oder eine Bestellung<br />
aufzugeben in die Herrentoilette. Kimrod kannte ihn. Pillenfred.<br />
„Wenn das kein Dusel ist. Der versorgt auch Nutten mit<br />
seiner Medizin. Ich werde ihn mir mal ein bisschen vornehmen.<br />
Du hältst die Stellung.“<br />
Kimrod schlich sich vorsichtig in den Kloraum und konnte<br />
durch den Spiegel beobachten, wie sich der Dealer aus<br />
dem engen Lüftungsfenster beugte. Kimrod stellte sich<br />
breitbeinig in die Schwungtür und sagte:<br />
„ Komm Kleiner, bleib doch hier. Ich bin!s, der gute Onkel<br />
von der Schmiere. Na los, zeig mal, was du hast.“
Fred machte einen verzweifelten Satz nach oben und versuchte,<br />
sich durch den Rahmen zu zwängen. Kimrod zog<br />
ihn am Gürtel nach unten und begann, seine Taschen zu<br />
duchwühlen.<br />
„ Ah ja, da haben wir das Döschen für alle Fälle. Nicht<br />
schlecht für Sonnabend Vormittag.“<br />
Der Kommissar öffnete die gelbe Plastikdose, in der sich<br />
gut hundert dicke, rote Pillen befanden.<br />
„ Baldrianperlen. Oder Verdauungspillen, bestimmt nichts<br />
Verbotenes. Etwas anderes würde ich von dir gar nicht<br />
erwarten. Da ich weder unter nervösen Zuckungen leide<br />
und meine Gedärme zur Zeit vorzüglich arbeiten, will ich<br />
keine der Bomben verschwenden. Was ist das, Diabolos?“<br />
Der Chemotripmarkt boomte wie nie zuvor. Jahr für Jahr<br />
wurden in den Labors neue, noch stärker wirkende Drogen<br />
kreiert, die althergebrachte Substanzen wie Kokain<br />
und Heroin schon weitgehend verdrängt hatten. Man<br />
konnte alles vor Ort in kleinen mobilen Küchen produzieren<br />
und war nicht länger auf gefährdete Auslandstransporte<br />
angewiesen. Die Gewinnspannen waren auch hier<br />
enorm, da die Rohstoffe billig im Pharmaziegroßhandel<br />
bezogen werden konnten. Diabolos wurden aus einer<br />
LSD-Amphetaminverbindung hergestellt und waren seit<br />
Jahren der etablierte Renner fürs Wochenende. In den<br />
Diskotheken ging nichts mehr ohne. Wer keine einwarf,<br />
versuchte die enthemmten Dauertänzer zu imitieren, in<br />
deren Ohren meistens eine stark veränderte Musik dröhnte.<br />
Der Stoff war nicht immer clean. Pfuscher verwechsel-
ten die Reaktionsschritte oder wogen falsche Mengen ab,<br />
aber Abgänge blieben eher selten und waren zu verschmerzen.<br />
Kein Reiz ohne Gefahr, und da man mit dreißig<br />
eh schon alles hinter sich haben würde, schreckte die<br />
von den Ärzten prognostizierte vorzeitige Umnachtung<br />
auch niemand mehr.<br />
Die Justiz und ihre Vollstreckungsorgane waren machtloser<br />
denn je. Man kam nicht mehr mit, die Verbotsliste im<br />
Betäubungsmittelgesetz zu erweitern und den aktuellen<br />
Geschehnissen anzupassen. Von einem Grunddesign<br />
existierten hundert verschiedene Varianten, denen alle<br />
strafrechtlich nicht beizukommen war. Freds Karten standen<br />
gar nicht so schlecht.<br />
„ Nimm deine dreckigen Griffel von meiner Hose. Ich<br />
weiss zwar, dass ihr Idioten von der Kripo alle schwul<br />
seid, aber bespring bitte deinen fetten Freund. Vielleicht<br />
bläst er dir auch einen. Mich lass auf alle Fälle los“, keckerte<br />
Fred frech.<br />
Kimrod schubste den Dealer ziemlich kräftig gegen die<br />
Wand und steckte die Pillendose zurück in Fred!s Jackett.<br />
„ Will ich dir auch geraten haben. Das geht dich einen<br />
Dreck an. Ihr könnt mir nichts am Zeug flicken. Die Drops<br />
kannst du in jeder Höchstfiliale kaufen. Alles ganz legal.<br />
Mein Anwalt freut sich auf so ein Arschloch wie dich. Bedrohung,<br />
Freiheitsberaubung und Körperverletzung. Jetzt<br />
vergehen dir deine dummen Sprüche, was!“<br />
Der Kommissar drückte das Fliegengewicht mit aller Gewalt<br />
gegen die Kacheln.
„ So, du Klugscheißer. Von so einer kleinen Ratte wie dir<br />
lass ich mich nicht beleidigen. Noch ein Wort und ich breche<br />
dir sämtliche Rippen.“<br />
Fred wurde blass und nickte stumm. Kimrod ging wieder<br />
einen Schritt zurück.<br />
„ Gefällt mir schon besser. Ich weiß, dass ich dich für das<br />
Zeug festnageln kann. Das ist illegaler Drogenbesitz.<br />
Wärst sonst nicht erst hier reinmarschiert, um dir einen<br />
Fluchtweg zu sichern. Oder ist die Konkurrenz hinter dir<br />
her?“<br />
Fred schüttelte den Kopf. Er war noch schwer am Schlucken.<br />
„ Ist mir auch egal. Euch Giftmischer kann ich zwar am<br />
wenigsten leiden, aber du bist noch einer der angenehmsten,<br />
momentan wenigstens noch. Wenn du weiter im Geschäft<br />
bleiben willst, dann hör gut zu. Du hast heute deinen<br />
Glückstag. Ich lass dich wieder laufen, aber du musst<br />
was dafür tun. Heute Morgen wurden zwei Mädchen massakriert.<br />
Wahrscheinlich beide vom horizontalen Gewerbe.<br />
Und es sind Ausländerinnen, eventuell türkisch. Wir wissen,<br />
dass du auch Prostituierte belieferst. Also horch dich<br />
um, wir sind für jeden Hinweis dankbar. Und ich rate dir,<br />
bald was aufzuschnappen, sonst kannst du zwei Jahre in<br />
Moabit dealen. Ich hab dich sofort wieder, also lass dir<br />
schleunigst was einfallen.“<br />
Fred war sichtlich erleichtert. Der Kommissar hatte seine<br />
Pillen nicht beschlagnahmt und wollte nur eine belanglose<br />
Auskunft. Der Monat war gerettet.
„ Kannst dich auf mich verlassen, Kimrod. Fred weiß alles,<br />
Fred sieht alles, Fred hört alles. Wie heissen die beiden<br />
Ärmsten denn? Ich hab sie bestimmt gekannt. Wer was<br />
auf sich hält, deckt sich bei mir ein.“<br />
„Ja, ja, die Namen haben wir leider noch nicht. Ich kann<br />
dir nur ein paar schlechte Fotos von den Leichen anbieten.“<br />
Kimrod zog die Aufnahmen aus seiner Jackentasche und<br />
gab sie dem Dealer, der sie mit gespieltem Interesse studierte.<br />
„Tja, für die ist wohl der Zug endgültig abgefahren. Schade<br />
eigentlich, zwei so junge Dinger. Schlecht zu sagen,<br />
wenn nicht so viel Blut dran wäre, könnte man mehr erkennen.<br />
Und bei der anderen... nein, ohne Kopf, tut mir<br />
leid, da bin ich überfragt. Aber ich werde sehen, was sich<br />
machen lässt. Bin Ihnen auf alle Fälle schwer verbunden.<br />
Ich habe eben manchmal eine große Klappe, aber die<br />
braucht man eben in meiner Sparte. Ich weiß, wo ich Sie<br />
finden kann. War mir ein Vergnügen.“<br />
Fred schob sich sein Jackett zurecht und verließ eilig das<br />
Café. Kimrod erleichterte sich und überbrachte seinem<br />
Kollegen die freudige Nachricht.<br />
„ Hat einen ganz verschüchterten Eindruck gemacht, das<br />
kleine Schwein, aber erst nachdem ich ihm eine vor den<br />
Latz geknallt habe. Diese Typen werden immer unverschämter.<br />
Die glauben, weil sie fünfmal so viel verdienen<br />
wie unsereins, können sie sich aufführen wie die Wildsäue.<br />
Er hat eine ganze Büchse von seinem Dreck dabei-
gehabt und faselt dann noch was von Anwalt und Freiheitsberaubung.<br />
Ich hätte ihm ordentlich die Fresse polieren<br />
sollen. Jedenfalls haben wir schon einen Versuchsballon<br />
gestartet. Mal sehen, was er bringt.“<br />
„ Der ist hier raus wie eine Rakete und hat dabei von einem<br />
Ohr zum anderen gegrinst. Ich glaub, den können wir<br />
abschreiben. Hast du wenigstens die Drops behalten?<br />
Sonst sehen wir den nie wieder?“<br />
„ Nein, natürlich nicht. Sonst ist er sauer und macht<br />
nichts. Ist auch nicht gesagt, ob er wegen uns so nervös<br />
war. Vielleicht hat ihm sein Labor wieder was Neues zusammengeschneidert,<br />
das durch das Paragraphensieb<br />
rieselt. Ich hätte es höchstens beschlagnahmen<br />
können....bis dann die Untersuchung wieder fertig<br />
ist....nein, man muss eben auch was riskieren. Wenn er<br />
sich nicht meldet, ist auch nichts verloren. Höchstens für<br />
die Drogenfahndung, aber das ist nicht unser Problem.“<br />
„ Das ist eine Dienstauffassung, aber du hast wahrscheinlich<br />
recht. Anders werden wir in der Geschichte nicht vorankommen.<br />
In dem Milieu muss man immer erst investieren,<br />
bevor man einen Ertrag abschöpfen kann. Ich möchte<br />
nur wissen, wo sich die anderen rumtreiben. Es wäre<br />
ganz hilfreich zu wissen, was die bisher schon rausgebracht<br />
haben.“<br />
„ Bestimmt nicht mehr wie wir. Wollen wir wetten?“ schlug<br />
Kimrod vor.
„ Gut. Ich setze fünf Euro auf Maikovsky, dass er die Namen<br />
hat. Wir rufen im Präsidium an, nachdem wir uns im<br />
Madonna umgehört haben.“<br />
„ Meinetwegen. Das ist sicheres Geld. Maikovsky könnte<br />
in der Zwischenzeit genauso gut Miss America gevögelt<br />
haben. Das wäre ebenso wahrscheinlich. Die Türken sagen<br />
einem Deutschen gegenüber nichts. Besonders nicht<br />
in einem Mordfall.“<br />
„ Wir werden sehen. Der Junge ist auf jeden Fall immer<br />
für eine Überraschung gut. Wenn er die richtige Geschichte<br />
auftischt, hat er schon halb gewonnen. Die schwatzen<br />
doch für ihr Leben gern, diese Orientalen. Und Maikovsky<br />
auch. Da gibt sich eine Hand die andere.“<br />
„ Gut. Ich lade dich noch schnell auf einen Espresso ein<br />
und dann lass uns von hier verschwinden. Ich werde das<br />
Gefühl nicht los, dass wir irgendwas verschlafen. Die Typen,<br />
die die Mädchen umgelegt haben, wollten damit doch<br />
irgendwas bezwecken. Das war nicht die letzte Aktion in<br />
dieser Richtung. Wir müssen auf der Hut sein. Präsenz ist<br />
gefordert. Bedienung!“<br />
Die Kellnerin räumte die Reste der Frühstückstafel ab und<br />
verschwand kurz in einem Hinterzimmer. Anschließend<br />
kümmerte sie sich um die Espressomaschine, die bald<br />
fauchend und gurgelnd den Betrieb aufnahm. Die Frau<br />
stellte zwei Tassen bereit und füllte etwas Wasser nach.<br />
Sie beendete ihre Arbeit in erstaunlich kurzer Zeit. Der fül-
lige Besitzer des Lokals erschien hinter dem Tresen, servierte<br />
persönlich die Getränke und sagte:<br />
„ Hallo Otto! Was verschlägt dich hierher?“<br />
Dabei musterte er Kimrod eindringlich. Remke machte die<br />
beiden Männer miteinander bekannt.<br />
„ Dachte ich mir schon. Ihr seht alle gleich aus. Dieser<br />
prüfende Blick...na ja, kann eben niemand aus seiner<br />
Haut raus. Gab!s Ärger? Sind Sie belästigt worden, Herr<br />
Kommissar?“ forschte der Wirt weiter.<br />
Kimrod schüttelte den Kopf.<br />
„ Nein, nein, nur alte Kundschaft. Nichts von Belang. Ich<br />
konnte es nicht vermeiden. Der Kerl wurde pampig, aber<br />
der kommt so schnell nicht wieder.“<br />
„ Na da bin ich ja beruhigt. Ich mag solche Geschichten<br />
nicht hier drin. Wenn man das einmal einreißen lässt,<br />
kriegt man die Bullen nicht mehr vom Hals. Entschuldigung,<br />
seid ihr mir jetzt böse? Die zwei Kaffee gehen auf<br />
jeden Fall auf mich. Nicht nur deswegen, ihr erfüllt schon<br />
euren Zweck. Ich möchte nicht wissen, was hier los wäre<br />
ohne euch.“<br />
„ Vielen Dank, aber mit Bulle kann man leben. Wir werden<br />
Ihr Lokal nicht so schnell wieder beehren. Das, nach<br />
dem wir suchen, trifft sich eine Etage tiefer“, antwortete<br />
Kimrod und zeigte dem Kneipier die Tatfotos.<br />
„ Um Gottes Willen! Nein, ist ja scheußlich. Gott sei Dank<br />
habe ich damit nichts zu tun. Ich glaub, mir wird schlecht.<br />
Macht!s gut, tschüss.“
Der Gastronom verschwand hinter der Theke. Kimrod<br />
grinste schief.<br />
„ Du, unterschätz den nicht, der hat es faustdick hinter<br />
den Ohren. Gut, dass du ihm die Bilder gezeigt hast. Was<br />
meinst du wie der jetzt die Lauscher spitzt. Sozusagen der<br />
zweite Versuchsballon. Und kein schlechter dazu. In so<br />
einer Pinte kommt doch alles zusammen. Ein bisschen<br />
was wird auch für uns dabei sein. Hoffe ich wenigstens“,<br />
erklärte Remke befriedigt.<br />
„ Ist der eigentlich schwul?“ fragte Kimrod mit gedämpfter<br />
Stimme.<br />
Die Bedienung drehte ab und zu verräterisch den Kopf.<br />
„ Glaube ich nicht. Er war verheiratet und hat sogar Kinder.<br />
Vielleicht verkehren bei ihm so viel Warme. Das soll<br />
abfärben“, antwortete Remke.<br />
„ Tja, war wohl eine blöde Idee, aber er ist gar so affektiert<br />
erschrocken.“<br />
„ Der hat schon schlimmere Sachen erlebt. Der tut nur<br />
immer so. Fritz wollte sich nur davonschleichen. Draußen<br />
macht er jetzt bestimmt Brotzeit.“<br />
„ Prost Mahlzeit. Los, an die Tassen! Kalt wird das Zeug<br />
ungenießbar. Bedienung!“<br />
Kimrod leerte seine Tasse und winkte mit einem Zwanz-<br />
igeuroschein. Die Kellnerin brachte die Rechnung. Jeder<br />
zahlte einzeln. Kimrod verlangte eine zweite Ausfertigung<br />
der Kostenaufstellung.<br />
„Für unsere Buchführung. Die wollen es immer ganz genau<br />
wissen. Handschriftlich reicht auch.“
„ Das hätten sie gleich sagen müssen. Ich bin keine Hellseherin.<br />
Bei euch Beamten kennt sich keiner mehr aus.<br />
Können Sie nicht zu Hause frühstücken?“ fragte die Bedienung<br />
unwirsch.<br />
„ Hilde! Jetzt reicht! s. Das geht dich nichts an. Also gib<br />
ihnen ihre Zettel und wir reden nicht mehr davon.“<br />
Die Stimme des Wirtes war für einen kurzen Moment bedrohlich<br />
geworden. Wenn er wollte, konnte er bestimmt<br />
sehr unangenehm werden. Die Kellnerin warf die zweite<br />
Rechnung verachtungsvoll vor Kimrod auf den Tisch und<br />
tippelte zurück hinter die Theke, um die Spülmaschine fertig<br />
einzuräumen. Remke fing plötzlich an zu lachen.<br />
„ Mein Gott, jetzt war die ganze Aufregung umsonst. Eigentlich<br />
wollte ich dich einladen. Hab!s in der Aufregung<br />
ganz vergessen.“<br />
Fritz, der Wirt, war schon wieder verschwunden.<br />
„ Ist doch egal. Ich geb!s sowieso als Spesen an. Hab diesen<br />
Monat noch so gut wie nichts. Und wenn sie Schwierigkeiten<br />
machen, komm ich auf dich zurück“, bemerkte<br />
Kimrod gelassen.<br />
Die Polizisten bezahlten und marschierten los. Der Regen<br />
war feiner geworden, hatte jedoch an Intensität kaum<br />
nachgelassen, so dass Kimrod und Remke etwas durchnässt<br />
um halb elf im Madonna ankamen. Sie bereuten es<br />
fast, nicht den Wagen benutzt zu haben. Nur das leidige<br />
Parkplatzproblem hatte sie davon abgehalten. Das Madonna<br />
war etwas heruntergekommen. Das einstige Sze-
nelokal wurde vermehrt von halbseidenem Publikum frequentiert,<br />
das den Stadtteil immer stärker dominierte.<br />
Der Virus, der apokalyptische Schrecken des letzten<br />
Jahrhunderts, war besiegt und man begann wieder sich<br />
zu amüsieren. Die wenigen Siechenden, die die tödliche<br />
Krankheit noch in sich trugen, wurden von den Medien als<br />
Ikonen des Untergangs konserviert und den dankbaren<br />
Konsumenten als High-Tech-Pestweiblein einer fernen,<br />
maroden Epoche präsentiert. Zwischen und innerhalb der<br />
Geschlechter war wieder alles erlaubt. Die lächerliche Allianz<br />
von staatlichen Safer-Sex Programmen und<br />
Keuschheitsgeboten bigotter Moraltheologen war von der<br />
Tatkraft aufgeklärter Wissenschaft im Staub zertreten<br />
worden.<br />
Die gesetzlichen Zügel hingen lockerer denn je. Die<br />
Prostitution war nach wie vor erlaubt und blieb als<br />
boomender Wirtschaftszweig von kleinlichen Restriktionen<br />
verschont. Kneipen mutierten zu Bars, Eigentumswohnungen<br />
zu florierenden Privatbordellen, die häufig von<br />
einsamen Regierungsbeamten aufgesucht wurden. Studentinnen<br />
und Hausfrauen gründeten Einmannbetriebe,<br />
teilweise unter Mithilfe ihrer Lebensgefährten und Ehemänner,<br />
und schlugen der längst zur Depression gediehenen<br />
Wirtschaftsmisere ein Schnippchen. Menschenmaterial<br />
stand in Form mit Kurzzeitvisa ausgestatteten Polinnen<br />
und weiterer Bewohnerinnen der slawisch-asiatischen<br />
Siedlungsgebiete praktisch unbegrenzt zur Verfügung.
Wer mehr Exotik wollte, blieb ebenfalls nicht unbefriedigt.<br />
Großzügige Einreisebestimmungen für heiratswillige Mädchen<br />
aus der dritten und vierten Welt trugen dazu bei,<br />
auch diesen Markt abzudecken. Die unzähligen Banden,<br />
die um jede Straße und jedes Lokal kämpften, in dem sie<br />
die Kundschaft abzocken konnten, folgten dem Strich wie<br />
ein Schwanz dem Hund. Doch die moderne Hure wollte<br />
sich nicht mehr ohne weiteres von einem rudimentären<br />
Organ vereinnahmen lassen. Wer sich nicht selbst gegen<br />
Übergriffe arbeitsloser oder expansionsfreudiger Zuhälter<br />
wehren konnte, engagierte schlagkräftiges, vornehmlich<br />
ausländisches Personal, das sich gegen ein immer niedrigeres<br />
Entgelt immer blutiger, sprich wirksamer, in Szene<br />
setzte.<br />
Remke graute nicht zu unrecht vor diesem Fall. Wer in<br />
Verdacht geriet, mit der Polizei zu kooperieren, hatte sein<br />
Leben schnell verwirkt. Man regelte Streitigkeiten intern.<br />
Ein Übereinkommen, dass auch von den Behörden abgesegnet<br />
war, freilich nur inoffiziell. Wenn eine Leiche zu viel<br />
Wirbel machte und die Zeitungen Blut leckten, musste<br />
rasch und kompetent gehandelt werden. Bevorzugt wurde<br />
der Mörder, der sich nach der Tat selbst richtete, bevor<br />
das Vögelchen zwitschern konnte.<br />
Im Madonna waren drei Tische besetzt. Einer nur mit<br />
Frauen, einer von vier Männern und einer mit zwei Pärchen.<br />
Fast alle tranken Bier. Man war trotz des miesen<br />
Wetters bester Stimmung. Der Männertisch lachte bers-
tend als die Kommissare wie begossene Pudel ins Lokal<br />
trotteten und sich fröstelnd ihrer nassen Jacken entledigten.<br />
„ Ist doch weiter als man denkt“, sagte Remke trocken.<br />
„ Und der verdammte Regen. Erst glaubt man, dass nur<br />
ein bisschen Nebel herunterfällt und wenn man dann richtig<br />
draußen ist, schifft!s einem die Hucke voll. Aber das<br />
kenne ich von mir. Fast jedes Mal, wenn ich mich entschließe,<br />
ohne Schirm loszugehen, das gleiche Spiel. Auf<br />
halber Strecke werden die Schleusen geöffnet und man<br />
ärgert sich schwarz, weil man keine Vorkehrungen getroffen<br />
hat“, schimpfte Kimrod und hob grüßend die Hand in<br />
Richtung des Männertisches. Er nahm neben Remke<br />
Platz, der bereits die Speisekarte studierte.<br />
„ Kennst du diese Kanarienvögel etwa?“ fragte Remke.<br />
Kimrod legte den Zeigefinger auf den Mund.<br />
„ Leise, das ist einheimische Mafia. Da sind wir genau an<br />
der richtigen Adresse. Wir wollen uns doch nichts verscherzen.<br />
Und wie ich sehe, können wir in der illustren<br />
Damenrunde auch ein bisschen auf den Busch klopfen.<br />
Du hast den richtigen Riecher gehabt. Die Wasserstoffblonde<br />
hat früher selber angeschafft. Jetzt lässt sie anschaffen.<br />
Wir haben wirklich Glück heute.“<br />
„ Ach weißt du, hier in Kreuzberg ist nichts mehr so wie<br />
früher. Dieses ganze Gesocks findet man bald schon zu<br />
jeder Tages- und Nachtzeit an allen möglichen und unmöglichen<br />
Plätzen vor. Da gehört nicht mehr viel Spürsinn<br />
mit dazu, um hier fündig zu werden. Das ist so wie wenn
du mit einem Netz durch den Karpfenteich gehst. Da verfängt<br />
sich rein zwangsläufig was.“<br />
„ Aber auch Fischen will gelernt sein.“<br />
Die Bedienung brachte unaufgefordert zwei große Helle.<br />
„ Wer ist der edle Spender, wenn man fragen darf?“ erkundigte<br />
sich Kimrod.<br />
Die robust gebaute Kellnerin deutete auf den Männertisch.<br />
„ Einer von den Herren da war so frei. Zum Wohl.“<br />
Kimrod und Remke prosteten sich zu und nahmen tiefe<br />
Schlücke von dem etwas abgestanden aussehenden Bier.<br />
Ein grau melierter Herr im abgetragenen Lederanzug erhob<br />
sich von dem Nachbartisch, den Kimrod mit dem Prädikat<br />
organisiertes Verbrechen ausgezeichnet hatte, und<br />
bat die Polizisten höflich, an ihrem Tisch Platz nehmen zu<br />
dürfen. Kimrod rückte zuvorkommend einen Stuhl zurecht.<br />
„ Bitte, bitte. Wer uns ein Bier ausgibt, ist immer willkommen.<br />
Sie kennen doch die mickrigen Beamtengehälter. Da<br />
muss man heutzutage in so manchen sauren Apfel beißen.“<br />
Der Mann, der nach Kimrods Informationen hauptsächlich<br />
im Schutzgeldbereich tätig war, zuckte ein wenig mit der<br />
rechten Augenbraue, bot aber Kimrod trotzdem aus einem<br />
protzig wirkenden Etui eine Zigarette an.<br />
„ Der Kollege raucht ja nicht. Die Herren vom Mord müssen<br />
ihre Gesundheit schonen, das Leben ist hart genug.<br />
Was führt die Herren Kriminaler denn am Wochenende ins<br />
Revier? Doch nichts Dienstliches?“
Kimrod ließ sich auch noch Feuer geben und zog die Aufnahmen<br />
aus seiner Jacke, die er hinter sich auf die Stuhllehne<br />
gehängt hatte. Remke beobachtete interessiert das<br />
Minenspiel des Ganoven, das jedoch so ausdruckslos<br />
blieb, als ob er das Gesangsbuch in der Sonntagsmesse<br />
studieren würde.<br />
„ Mein Name ist übrigens Kroll, Jürgen Kroll. Meine<br />
Freunde dürfen mich Johnny nennen, aber das möchte<br />
ich Ihnen aus verständlichen Gründen nicht zumuten. Die<br />
Polizei hat nicht nur Freunde und man könnte versuchen,<br />
Ihnen daraus einen Strick zu drehen. Soll das hier in<br />
Kreuzberg passiert sein?“<br />
Remke, dem etwas Deftiges auf der Zunge lag, wurde von<br />
Kimrod mit einer beruhigenden Handbewegung an der<br />
Ausführung gehindert.<br />
„ In der Grenzallee. Gestern Nacht, so gegen zwei Uhr.<br />
Wir kennen bis jetzt noch nicht einmal die Namen. Vielleicht<br />
können Sie uns behilflich sein. Sie scheinen was für<br />
die Polizei übrig zu haben“, sagte Kimrod ironisch.<br />
„ Immer, es besteht doch ein allgemeines Interesse an der<br />
Aufklärung solcher Geschichten. Ich traue mich kaum<br />
mehr aus dem Haus, wenn solche Bestien frei herumlaufen.“<br />
„ Waren es denn mehrere?“ fragte Remke scharf.<br />
„ Bitte, woher soll ich das wissen? Aber die Frauen können<br />
doch alle Kampfsport. Da kann man schon auf mehrere<br />
Täter schließen. Wie geht es übrigens Polizeipräsident<br />
Wulke? Ist er immer noch so auf Draht?“
Remke zog die Hörner wieder ein. Der Typ schien jeden<br />
Berliner Polizisten mit Vornamen zu kennen. Kimrod blies<br />
Kroll etwas Rauch ins Gesicht.<br />
„ Wulke wird sich freuen, wenn ich Grüße bestelle. Er wird<br />
sich bestimmt an Sie erinnern können.“<br />
„ Gut. An Ihrer Stelle würde ich mich zu dem Damenkränzchen<br />
gesellen. Da gibt!s bestimmt mehr zu holen.<br />
Ich empfehle mich.“<br />
Kroll setzte sich wieder neben seine Kompagnons, die<br />
nach wenigen Minuten wieder in schallendes Gelächter<br />
ausbrachen. Krolls Bericht schien der guten Laune keinen<br />
Abbruch zu tun. Remke bat Kimrod um eine Zigarette.<br />
„ Jetzt weiß ich, was du gemeint hast, mit da wird sogar<br />
ein Klosterschüler zum Suchtbolzen. Sag mal, sind die<br />
wirklich so unangreifbar oder tun die nur so? Der hat doch<br />
seine Finger in jedem schmutzigen Geschäft, das hier<br />
über die Bühne geht. Ich würde einen Teil meiner Rente<br />
dafür geben, wenn man so eine Sau zur Strecke bringen<br />
könnte.“<br />
„ Lass nur. Die erfüllen irgendwie auch ihre Aufgabe. Damals<br />
im Dritten Reich wurden ebenfalls Kriminelle in den<br />
Konzentrationslagern mit der Aufrechterhaltung der Ordnung<br />
betraut und zur Disziplinierung der Mitgefangenen<br />
eingesetzt. Nur das Ergebnis zählt. Das alte Lied, der<br />
Zweck heiligt die Mittel. Je weniger die Polizei hier herumschnüffelt,<br />
desto lieber ist denen das. Deswegen haben<br />
sie ein Interesse daran, den Fall schnell aufzuklären.“
„ Aber Kreuzberg ist kein Konzentrationslager. Und was<br />
die unter Ordnung verstehen, ist doch nur ein möglichst<br />
reibungsloses Abwickeln ihrer kriminellen Geschäfte.<br />
Wenn man so denkt, kann man gleich die Gesetze abschaffen<br />
und alle Polizisten zu Parkplatzwächtern umschulen.<br />
Der Dschungel reguliert sich selber.“<br />
„ Sag ich doch. Manchmal jedenfalls, man muss da flexibel<br />
sein. Ich gehe jetzt zu Conny und ihren Schützlingen<br />
rüber. Vielleicht haben die schon was gehört. Du bleibst<br />
auf jeden Fall hier. Nicht dass du mir wieder die Pferde<br />
scheu machst.“<br />
„ Nur allzu gern. Zeig ihnen bloß nicht die Bilder. Das<br />
schreckt nur ab.“<br />
Kimrod begab sich an den Tisch, der mit drei reichlich geschminkten<br />
Frauen besetzt war und fragte, ob er sich für<br />
ein paar Minütchen dazusetzen dürfe. Conny, die Blondine,<br />
bejahte und machte ihn mit ihren beiden Begleiterinnen<br />
bekannt. Conny hatte vor Jahren ihrem Zuhälter eine<br />
Kugel in den Unterleib verpasst, weil er mit ihren Autonomiebestrebungen<br />
nicht einverstanden war und sie mehrmals<br />
grün und blau geschlagen hatte. Sie war von dem<br />
Luden angezeigt worden und konnte die Anklage wegen<br />
versuchten Mordes gerade noch abbiegen. Sie kam mit<br />
einer Bewährungsstrafe davon und blieb seitdem von allen<br />
weiteren Belästigungen verschont. Der Fall war von<br />
etlichen Illustrierten durchgehechelt worden, die immer zu<br />
ihren Gunsten berichteten. Der Lude kam weniger gut da-
von. Hämisch amüsierte sich die Öffentlichkeit über seine<br />
vorübergehend außer Funktion gesetzte Männlichkeit.<br />
Connys Tat war kein Einzelfall. Die Frauen setzten sich<br />
mit massiven Mitteln zur Wehr und wurden darin durch<br />
das sich wandelnde Rechtsempfinden bestärkt.<br />
„ Also, ich will nicht lange stören. Gestern Nacht ist eine<br />
scheußliche Geschichte passiert. In der Grenzallee hat<br />
man zwei schrecklich verstümmelte Frauenleichen aufgefunden.<br />
Sie müssten in eurer Branche tätig gewesen sein,<br />
der Kleidung und dem Fundort nach zu schließen. Habt<br />
ihr schon was gehört davon?“<br />
Kimrod kannte Conny so gut, dass er wusste, wie weit er<br />
gehen durfte. Sie würde ihm seine direkte Art nicht übel<br />
nehmen.<br />
„ In eurer Branche...wofür hält der uns denn. Wir sind<br />
doch nicht im Puff hier, oder Mädels?“<br />
Alle lachten und Kimrod spürte, dass das Eis gebrochen<br />
war. Er konnte auf weiteres Entgegenkommen hoffen.<br />
Conny wurde wieder ernst.<br />
„ 0.k., ist geschenkt, aber nur weil du es bist. Du hast mir<br />
in meinen Kampfjahren auch ab und zu geholfen. Aber<br />
Berlin ist groß und kein Dorf. Möchte nicht wissen, was da<br />
jede Nacht alles abläuft...Grenzallee, das ist Straßenstrich.<br />
Viel Ausländer, ficko facko fünf Marko. Da hab ich<br />
nicht so !nen Kontakt dazu. Wir sind gerade erst aufgestanden.<br />
Und in der Zeitung habe ich nichts gelesen. Also<br />
ich muss passen, keine Ahnung.“
„ Klar, es ist noch ein bisschen früh, aber wir stehen<br />
mächtig unter Zeitdruck und ich dachte mir, die Conny<br />
kennt hier alles und jeden. Vielleicht kann dir die weiterhelfen.<br />
Gut. Ja, Moment, das wollte ich dir noch sagen. Es<br />
waren zwei Ausländerinnen. Vielleicht hat man sie auch<br />
von woanders hergeschafft. Es ist alles möglich. Macht!s<br />
gut, Kinder. Ich will euch nicht länger stören.“<br />
„ Schöne Grüße an deine Frau. Sie soll gut auf dich aufpassen.<br />
Und Petri Heil oder wie man da sagt. Arrivederci!“<br />
Conny wollte ihn noch zu sich herabziehen und einen Abschiedskuss<br />
auf die Wange drücken, aber Kimrod entzog<br />
sich entschlossen ihren Bemühungen und ging zu Remke<br />
zurück.<br />
„ Bei der hast sogar du Chancen. Vielleicht kann man das<br />
auch über die Spesen absetzen. Wenn!s was bringt, warum<br />
nicht. Der Zweck heiligt die Mittel, wie du immer sagst.<br />
Emma würde das bestimmt verstehen...“, stichelte Remke<br />
hämisch grinsend.<br />
Kimrod nahm einen Schluck und sagte:<br />
„ Alte Männer, die vor Geilheit sabbern, sind einfach widerlich.<br />
Du müsstest dich mal im Spiegel sehen.“<br />
„ Ja, ja, schon gut. Ich halt schon die Fresse, sonst kehrst<br />
du wieder deinen Hauptkommissar raus. Was steht an?“<br />
„ Fehlanzeige, keine Ahnung. Du bist wieder dran.“<br />
„ Oder Maikovsky. Wir wollten doch im Präsidium anrufen,<br />
wenn wir hier fertig sind. Soll ich?“<br />
„ Ja, mach. Du kannst dich doch nicht beherrschen.<br />
Schließlich stehen fünf Euro auf dem Spiel.“
Remke ließ sich den Apparat zeigen und kam nach fünf<br />
Minuten wieder zurück. Er rückte an Kimrod heran und erstattete<br />
Bericht.<br />
„ Der Kopf ist gefunden worden. Der Kopf von der zweiten<br />
Tusnelda! Dreimal darfst du raten wo...“<br />
„ Sag schon, ich weiß es nicht.“<br />
„ In einer Plastiktüte, am Türknauf der Wohnung einer<br />
Tazredakteurin. Die Schreibliese hat einen Schock erlitten<br />
und ist ins Krankenhaus eingeliefert worden. Sie dachte<br />
wahrscheinlich, dass ihr jemand netterweise ein paar<br />
Brötchen vermacht hat. Das Gesicht hätte ich sehen mögen!“<br />
„ Und wo ist das? Wir fahren sofort hin. Bezahlt ist alles.“<br />
„ In Müggelheim. Der nächste Weg, ich weiß, aber da lassen<br />
sich gut verdienende Redakteure nun mal nieder. Hoffentlich<br />
schifft!s nicht noch immer.“<br />
Sie zogen ihre Jacken an, verabschiedeten sich und<br />
machten sich auf den Weg. Die Polizisten hatten Glück,<br />
es fiel nur noch leichter Sprühregen. Sie beschleunigten<br />
ihre Schritte trotzdem. Kimrod wollte keine Zeit mehr verlieren.<br />
Er löste ein Ticket, als sie die Tiefgarage erreicht<br />
hatten und hielt seinen Kollegen zu größerer Eile an, der<br />
sich an einem detailgetreuen weiblichen Akt erfreute, den<br />
ein unbekannter Künstler per Spraydose angefertigt hatte.<br />
„ Nun komm schon. Da draußen ist bestimmt noch mehr<br />
zu holen.“
„ Das sieht aber wirklich gut aus. Bald braucht man keine<br />
Museen mehr, weil jeder freie Quadratmeter zugepinselt<br />
ist. Und die Burschen werden immer besser.“<br />
Sie fuhren los und kamen gut voran. Der Verkehr war<br />
noch flüssig. Die Straßenerweiterungsmaßnahmen machten<br />
sich bezahlt. Es schien auch so, dass die vielen Tempolimits<br />
sich nicht nachteilig auf die Durchschnittsgeschwindigkeit<br />
auswirkten. Die Politik zu bauen, was das<br />
Zeug hält, hatte sich als richtig erwiesen. Nun, da kein<br />
Geld mehr vorhanden war und teure Verkehrsplanungen<br />
schon auf dem Reißbrett dem Rotstift zu Opfer fielen,<br />
wurde die in vergangenen Tagen kritisierte Asphaltierungsstrategie<br />
allgemein gelobt und als vorausschauend<br />
gepriesen.<br />
Die aggressive Benzinversteuerung der Regierung trug<br />
ebenfalls dazu bei, den Verkehrsfluss zu regulieren. Nur<br />
wer wirklich unbedingt selber fahren musste, machte nicht<br />
von den öffentlichen Verkehrsmitteln Gebrauch. Die Energiekonzerne,<br />
die das Rohöl zu Vorzugspreisen aus den<br />
Staaten der Panarabischen Liga importierten, begannen<br />
bereits unter empfindlichen Umsatzeinbußen zu leiden,<br />
obwohl das schwarze Gold reichlicher denn je floss. Der<br />
Staat unterstützte die radikalen Vertreter der arabischen<br />
Welt unverhohlen auch mit umfangreichen Waffenlieferungen.<br />
Einerseits um die einheimische Rüstungsindustrie<br />
zu fördern und um sich andererseits eine geostrategische<br />
Position im wichtigen Nahen Osten zu sichern, die dem<br />
wiedererlangten Großmachtstatus des Landes genügend
Rechnung trug. Verbilligte Rohstoffe gab es dafür obendrein.<br />
Remke kannte die Gegend um den Müggelsee von seinen<br />
Wochenendausflügen mit dem Paddelboot her recht gut<br />
und dirigierte Kimrod zielsicher an die angegebene Adresse<br />
in der Fischerheide. Die Wohnung befand sich in einem<br />
schmucken Mehrfamilienhaus, von dem aus man bis zur<br />
Großen Krampe, einem Nebenarm des Langen Sees, blicken<br />
konnte. Kimrod parkte den Wagen zur Hälfte auf<br />
dem Gehsteig und erntete dafür tadelnde Blicke seines<br />
Kollegen, der den Standpunkt vertrat, dass man sich besonders<br />
als Polizeibeamter peinlich genau an die Gesetze<br />
und Verordnungen halten musste.<br />
„ Wehret den Anfängen! Wer heute sein Auto falsch parkt,<br />
hinterzieht morgen die Steuer...“<br />
„ Und überfällt übermorgen die Deutsche Bank. Das wolltest<br />
du doch sagen. Wir sind im Einsatz, du Nussknacker.<br />
Soll ich dir die diesbezüglichen Dienstvorschriften runterbeten?<br />
Ich kann sie alle auswendig, auch rückwärts. Da<br />
bleibt dir die Spucke weg, Senior.“<br />
Remke unterbrach seinen Versuch, die Tür schlüssellos<br />
durch Herunterdrücken des Verriegelungsknopfes abzusperren.<br />
„ Sag das noch mal. Jetzt sind wir nicht mehr in deiner<br />
Scheißstadt, wo an jeder Ecke ein Schutzmann steht.<br />
Pass also auf, sonst schmeiß ich dich ins Wasser, du<br />
Grünschnabel.“
Remke beendete sein Vorhaben erfolgreich und schnellte<br />
mit einem mächtigen Satz über den rechten Kotflügel und<br />
die Hälfte der Kühlerhaube auf den Hauptkommissar zu,<br />
der in gespielter Angst in einen der winzigen Vorgärten<br />
flüchtete, die mit einem circa fünfzig Zentimeter hohen<br />
Maschendrahtzaun von dem Bürgersteig und den Nachbargrundstücken<br />
abgetrennt wurden. Remke hatte sich<br />
während der Fahrt Notizen gemacht und blätterte nach<br />
Abschluss seiner Turnübung in einem kleinen Block. Er<br />
fand, was er suchte und informierte seinen Kollegen.<br />
„ An der Krampe 12b. Frau Zollner, Ilona. Bei mir ist vierzehn.“<br />
Kimrod wechselte in den nächsten Vorgarten und entdeckte<br />
die Nummer.<br />
„ Hier, 12b. Hoffentlich ist jemand zu Hause.“<br />
Er drückte auf die Klingel und wartete. In einem durch einen<br />
weißen Vorhang geschützten Fenster wurde kurz der<br />
Kopf einer blassen, jungen Frau sichtbar. Kimrod hielt der<br />
ersten Inspektion offenbar stand. Wenige Augenblicke<br />
später wurde der Haustürschlüssel herumgedreht. Die<br />
Journalistin machte einen Spalt weit auf.<br />
„ Sie sind von der Polizei. Ich rieche das. Aber zeigen Sie<br />
mir bitte trotzdem Ihre Dienstmarke. Eine Überraschung<br />
am Tag ist genug.“<br />
Kimrod gab ihr seinen Ausweis und bat die Redakteurin,<br />
eintreten zu dürfen. Remke untersuchte den Türknauf mit<br />
einer Lupe und folgte anschließend Kimrod und der Redakteurin<br />
in die Wohnung. Frau Zollner entschuldigte sich
für ihr Misstrauen und bot den Beamten Kaffee an. Die<br />
Wohnung war mit vielen Pflanzen und schwarzen Ledermöbeln<br />
eingerichtet. Die Decken zierten edle Hölzer. Kimrod<br />
und Remke machten es sich im Esszimmer bequem,<br />
von dem aus man einen guten Blick zum Wasser hinunter<br />
hatte. Frau Zollner brachte ihnen einen Aschenbecher<br />
und zwei kleine Klare.<br />
„ Der hat mir heute Morgen sehr gut geholfen. Ich bin<br />
gleich so weit.“<br />
Sie verschwand wieder in der Küche. Die Männer zündeten<br />
sich Zigaretten an und bestaunten die Unmengen von<br />
Taschenbüchern, die in einfachen Metallregalen aufbewahrt<br />
wurden.<br />
„ Siehst du, Otto, das ist wahre Kultur. Es gibt sie doch<br />
noch, aber wir mussten dazu bis hier raus fahren. In der<br />
Stadt geht so was unter. Wenn du in der Rente bist, legst<br />
du dir auch eine Bibliothek an. Vielleicht ist noch was zu<br />
retten“, spottete Kimrod.<br />
Remke leerte sein Glas und antwortete geheimnisvoll:<br />
„ Du kennst mich zwar schon ziemlich lange, aber offensichtlich<br />
nicht gut genug. Auch ich habe mal davon geträumt<br />
zu studieren und all den Kram. Aber mir wurden<br />
Steine in den Weg gelegt und ich musste mich arrangieren.<br />
Aber vielleicht liegt in meinem Kopf trotzdem mehr<br />
begraben als in diesen zwanzig Meter Regal.“<br />
Frau Zollner brachte den Kaffee und schenkte den Beamten<br />
ein.
„ So, jetzt kann ich mich zu Ihnen setzen. Haben Sie den<br />
Täter schon?“<br />
„ Welchen? Den, der die Mädchen umgebracht hat oder<br />
den, der den Kopf an Ihre Tür hängte?“ fragte Kimrod.<br />
Die Journalistin wusste anscheinend noch nicht, dass es<br />
zwei Leichen gab.<br />
„ Tut mir leid, aber ich dachte...ein Kopf, eine Leiche?“<br />
Frau Zollner wurde wieder etwas blasser. Remke klärte<br />
sie auf.<br />
„ Heute Nacht sind in der Grenzallee zwei Leichen gefunden<br />
worden. Eine ohne Kopf. Jetzt sind wir wieder komplett.<br />
Ihr Kopf passt zu unserem. Haben Ihnen die Beamten,<br />
die den Fall hier untersucht haben, nichts davon gesagt?“<br />
„ Nein. Mir wurde gleich nachdem ich die Polizei verständigt<br />
hatte, schwindelig und schwarz vor den Augen. Dann<br />
hat man mich ins Krankenhaus gebracht. Aber es ging<br />
dann gleich wieder viel besser und ich bin mit einem Taxi<br />
nach Hause gefahren. Das ist alles.“<br />
„ Nun gut, wir wollten gerne noch ein paar Dinge wissen.<br />
Wenn es Ihnen zu viel wird, können wir die Sache natürlich<br />
auch verschieben. Es wäre nicht schlecht, wenn Sie<br />
uns sofort...“<br />
Kimrod setzte auf ihren beruflichen Jagdtrieb, der die<br />
Schwäche ihrer Konstitution aufwiegen sollte.<br />
„ Nein, nein, Sie brauchen sich nicht zu sorgen. Es war<br />
nur etwas zu viel auf einmal. Wer ist auch auf so was ge-
fasst, auf nüchternen Magen? Wo drückt der Schuh?“<br />
fragte die Journalistin im Geschäftston<br />
„ Haben Sie irgendwelche Feinde, die Ihnen einen Denkzettel<br />
verpassen wollen? Vielleicht haben Sie sich diese<br />
Feinde durch eine Reportage im Rotlichtmilieu verschafft.<br />
Wäre so etwas möglich?“ fragte Kimrod.<br />
„ Eigentlich nicht. Ich mache Tagespolitik. Rund ums Rathaus<br />
und den Reichstag, von Rotlicht keine Spur.<br />
Entstammen die Opfer etwa diesen Kreisen?“<br />
Frau Zollner begann, sich Notizen zu machen. Kimrod registrierte<br />
es mit einem lachenden und einem weinenden<br />
Auge.<br />
„ Ihre Zeitung ist der Polizei nicht gerade wohlgesonnen<br />
und hält mit ihrer Meinung nicht hinterm Berg, besonders<br />
wenn es uns um unsere angebliche Frauen- und Ausländerfeindlichkeit<br />
geht. Es handelt sich bei den Mädchen<br />
wahrscheinlich um Prostituierte, jedenfalls sprechen alle<br />
Anhaltspunkte dafür. Ihre Hautfarbe ist dunkler als beim<br />
mitteleuropäischen Normaltypus. Das bereitet uns die<br />
größten Sorgen. Sie kennen die hier ansässigen radikalen<br />
Gruppierungen sicherlich besser wie wir. Die Lage ist derzeit<br />
so angespannt, dass wir uns es absolut nicht leisten<br />
können, durch nachlässige Ermittlungsarbeit den Anschein<br />
von Desinteresse oder gar Ausländerfeindlichkeit<br />
zu erwecken. Ich bin jedoch auch dafür bekannt, zwar<br />
wahrscheinlich nur in polizeiinternen Kreisen, die Presse<br />
mit in die Fahndung einzubeziehen. Schon öfters hat eine<br />
Täterbeschreibung oder ein Foto maßgeblich zu der Er-
greifung von Verbrechern beigetragen. Ich weiß Ihre Tätigkeit<br />
also zu schätzen, doch mehr wissen wir im Augenblick<br />
selber nicht. Wenn sich weitere Tatsachen ergeben,<br />
die der breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden<br />
sollten, werde ich mich wieder an Sie wenden. Das verspreche<br />
ich Ihnen, ohne eine Gegenleistung zu erwarten.<br />
Ich will mir eine positivere Berichterstattung nicht erkaufen,<br />
wobei aber ein neuerliches Scharfmachen von Seiten<br />
der Medien eine Katastrophe heraufbeschwören könnte.“<br />
Die Journalistin wollte Kimrod mehrmals unterbrechen,<br />
schluckte ihre Einwände aber hinunter und äußerte ihre<br />
Meinung erst, nachdem der Kommissar fertig war.<br />
„ Eine Katastrophe, die von den Behörden bewusst in<br />
Kauf genommen wird. Eine Radikalisierung liegt doch<br />
heute im Interesse höchster Regierungskreise. Wenn die<br />
Tragödie da ist, wird der große Knüppel aus dem Sack<br />
geholt und dreingeschlagen. Unter dem Eindruck abscheulicher<br />
Bluttaten ist auch der liberalste Abgeordnete<br />
dazu bereit, die notwendigen Gesetze passieren zu lassen.<br />
Erzählen Sie mir nur nichts vom braven Bürger in<br />
Uniform! Ich könnte Dutzende von Beispielen anführen,<br />
welche die Minoritätendiskriminierung durch Staatsbeamte<br />
anschaulichst dokumentieren.“<br />
„ Schwarze Schafe gibt!s überall und wir können Kriminelle<br />
nicht deswegen laufen lassen, weil sie keinen deutschen<br />
Pass haben oder in ihrer Heimat politisch verfolgt
werden. Viele verwechseln die freie Marktwirtschaft mit<br />
absoluter Narrenfreiheit“, erwiderte Kimrod.<br />
Remke nickte beifällig.<br />
„ Großer Gott, jetzt bin ich schon wieder am Diskutieren.<br />
So als wenn nichts gewesen wäre. Man glaubt gar nicht,<br />
was der Mensch alles wegstecken kann. Ich danke Ihnen<br />
auf jeden Fall dafür, dass Sie vorbeigeschaut haben. Als<br />
alleinstehende Frau ist man doch in gewissen Momenten<br />
froh, wenn der starke Arm des Gesetzes präsent ist. Ich<br />
verspreche Ihnen, falls wir etwas Brisantes erfahren, werden<br />
Sie nicht erst in der Zeitung darüber stolpern“, erklärte<br />
die Journalistin abschließend.<br />
Die Polizisten verabschiedeten sich und verließen die<br />
Wohnung. Es war heller geworden und die Sonne begann,<br />
sich einen Weg durch die sich auflösenden Wolken zu<br />
bahnen. Remke schlug vor, am Müggelsee Mittag zu essen.<br />
Kimrod war einverstanden und sie fuhren los. Wetterbedingt<br />
herrschte kein zu großer Betrieb. Die Polizisten<br />
bekamen ohne Schwierigkeiten einen Platz auf der Terrasse<br />
eines grossen Restaurants, in dem während der<br />
Sommermonate täglich Hunderte von Gästen bewirtet<br />
wurden. Kimrod war noch satt vom Frühstück und begnügte<br />
sich mit einem Eisbecher, Remke bestellte Currywurst.<br />
Trotz der Flaute versuchten etliche Surfer, ihr Brett<br />
in Bewegung zu setzen. Nicht alle mit Erfolg, doch der<br />
See war noch warm. Es regnete erst seit Donnerstag.<br />
Remke musste sich Luft machen.
„ So eine blöde Ziege. Hockt hier draußen in einer Luxussuite<br />
und will uns erzählen, wie wir mit unseren Kunden<br />
umgehen sollen. Na Gott sei Dank hat sie jetzt mal wenigstens<br />
ein bisschen Ahnung von dem, was wir alles<br />
mitmachen. Minoritätendiskriminierung, dass ich nicht lache.<br />
Kinderschänder sind auch in der Minderheit und<br />
müssen deshalb besonders liebevoll behandelt werden.<br />
So weit kommt!s noch. Bloß gut, dass wir gleich wieder<br />
abgehauen sind. Ich kann diese besserwisserischen Moralapostel<br />
von eigenen Gnaden absolut nicht verputzen.“<br />
„ Ich auch nicht, aber diese Leute geben nun mal den Ton<br />
an. Vielleicht deswegen...<br />
Da will jemand, dass die Sache möglichst schnell die<br />
Runde macht. Ein weiteres Indiz dafür, dass es sich um<br />
keinen normalen Mord handelt. Der abartige Triebtäter will<br />
sich mit seiner Tat zwar auch artikulieren, aber nicht so<br />
unmittelbar und zielstrebig. Das macht keinen Sinn<br />
irgendwie...erst ein Schlachtfest veranstalten und dann<br />
den Kopf an die Klinke einer linken Redakteurin. Da will<br />
jemand einen möglichst großen Schaden anrichten. Vielleicht<br />
ist die Tat auch gefilmt worden und die Aufnahmen<br />
liegen schon beim Fernsehen.“<br />
„ Oder bei einem Pornoproduzenten. Wär nicht das erste<br />
Mal, dass solche Schweine damit auch noch Geld machen<br />
wollen.“<br />
„ Die hätten die Leichen aber nicht so offen liegen gelassen<br />
und auch nicht das mit dem Kopf riskiert. Leute die-
ses Schlages wollen tunlichst nicht erwischt werden. Verdammt,<br />
verdammt, da ist nichts Gutes zu erwarten.“<br />
„ Wie immer wenn!s politisch wird. Jetzt müssen wir halt<br />
warten. Vielleicht kommt aus dem Labor noch etwas. Wie<br />
geht!s eigentlich Ingrid?“ erkundigte sich Remke.<br />
Ingrid war Kimrods einundzwanzigjährige Tochter. Sie hatte<br />
sich einer Sekte, dem Feldzug Gottes, angeschlossen<br />
und studierte Pädagogik. Kimrod zündete sich eine Zigarette<br />
an und lehnte sich zurück. Beide Kinder, Wolf und<br />
Ingrid, beschritten Wege, die er absolut nicht für sie vorgesehen<br />
hatte. Er war zwar auch religiös, doch die Penetranz,<br />
mit der Reverend Stähler, der charismatische Führer<br />
der Sekte, das Evangelium predigte, fand er entwürdigend.<br />
Seine Anhänger verehrten ihn abgöttisch. Seine zwielichtige<br />
Vergangenheit in den Vereinigten Staaten, die ihn<br />
ausgewiesen hatten, nachdem seine Frau, eine gebürtige<br />
Texanerin, spurlos verschwunden war, wirkte sich nicht<br />
schädigend auf seine Popularität aus. Nach erbitterten<br />
Gerichtsfehden mit den Angehörigen, war ihm ein Großteil<br />
des von ihr eingebrachten Vermögens zugestanden worden.<br />
Der Verdacht, sie ermordet zu haben, war nach Ansicht<br />
seiner Gegner nie ausgeräumt worden. Stähler hatte<br />
sich auch nach der medienwirksam inszenierten Rückkehr<br />
in die Heimat eine gesunde Portion Materialismus bewahrt.<br />
Er gründete mit dem Erbe seiner Frau als Basis<br />
landwirtschaftliche Betriebe, Supermärkte, Wäschereien
und Verlage. Dabei profitierte er sowohl von den großzügigen<br />
Spenden seiner Jünger, als auch von den mit viel<br />
Idealismus und Begeisterung eingebrachten Arbeitsleistungen,<br />
die seine Geschäfte alsbald von der Konkurrenz<br />
abhoben. Die Kombination von preisgünstiger Qualität<br />
und freundlichem Personal garantierten ihm Erfolg in jeder<br />
Branche.<br />
Sein Konzern expandierte Jahr für Jahr um zweistellige<br />
Prozentpunkte. Der Preis, den die Anhänger Stählers bezahlen<br />
mussten, war freilich hoch. Sie wurden vollständig<br />
finanziell und psychisch abhängig von dem Guru, der keinerlei<br />
Privatbesitz duldete und Widerstand gegen sein diktatorisches<br />
Regime im Keim erstickte, indem er alle Kritiken<br />
als Fallstricke Satans brandmarkte, die in seinem<br />
Wirkungsbereich nicht geduldet und mit dem Entzug der<br />
Barmherzigkeit Gottes gesühnt wurden.<br />
Ingrid kam immer seltener nach Hause und hatte es zur<br />
Bedingung gemacht, das Thema Stähler auszuklammern.<br />
Sie würde sonst endgültig den Kontakt abbrechen. Kimrod<br />
wusste, dass sie einen großen Teil des Stipendiums, das<br />
man ihr nach zwei Semestern bewilligt hatte, an die Sekte<br />
abführte und unentgeltlich als Verkäuferin in einem von<br />
Stählers Märkten jobbte. Die freie Unterkunft und Verpflegung<br />
in einem überfüllten Massenquartier, die man ihr dafür<br />
gewährte, stellten nur einen unzureichenden Gegenwert<br />
für ihre Leistungen dar. Stähler nahm sie nach Strich<br />
und Faden aus, aber man konnte absolut nichts dagegen<br />
tun. Ingrid war längst volljährig und für ihr Leben selbst
verantwortlich. Gegen die Mauer, die Stähler in ihrem<br />
Kopf errichtet hatte, war kein Kraut gewachsen.<br />
„ Ingrid macht, glaube ich, gerade ihre Zwischenprüfung.<br />
Ich mache mir in der Beziehung keine Sorgen. Sie hat ein<br />
Hirn für zwei. Wo sie das bloß her hat?“ antwortete Kimrod<br />
gequält witzig.<br />
Remke wusste, wo der Schuh drückte.<br />
„ Na wart mal ab. Das ist die gleiche Geschichte wie bei<br />
Wolf und Totsch. Das ist so eine Art Sturm und Drangphase.<br />
Das renkt sich schon wieder ein.“<br />
„ Du hast leicht reden, weil du keine Bälger angeschafft<br />
hast. Ich war nicht so schlau. Jetzt weiß ich nicht mehr<br />
aus und ein vor lauter Sorgen. Aber lassen wir das. Ich<br />
will heute noch etwas erreichen in unserem Fall. Was<br />
schlägst du vor?“<br />
„ Immer soll ich die Ideen haben. Du bist doch der große<br />
Zampano.“<br />
„ Dann lass uns nach dem Essen sofort abhauen und zurück<br />
ins Zentrum eilen. Wie wär!s mit dem Maxim. Die haben<br />
doch ständig mit der Stadt Ärger. Wenn sie nichts<br />
rausrücken, machen wir die Bude dicht. Das wird ein Fest.<br />
Wer war eigentlich heute Nacht vor Ort? Härtlein?“<br />
„ Du hast es erraten. Es wird also nicht viel bringen, wenn<br />
wir da noch mal vorbeischauen. Die Körper sollen am<br />
Oberhafen gleich am Wasser gelegen haben. So gründlich<br />
wie der ist, macht die Arbeit gar keinen Spaß mehr.<br />
Man lebt doch immer von den Fehlern anderer.“
Ein Ober brachte das Eis und die Currywurst. Die Polizisten<br />
rauchten nach dem Essen noch eine Zigarette und<br />
fuhren anschließend los. Der Verkehr war dichter geworden,<br />
weil Hertha ein Heimspiel hatte. Kimrod und Remke<br />
analysierten die Fähigkeiten des prominenten Gegners<br />
Bayern München. München bezog seine Stärke noch immer<br />
aus den millionenschweren Beinen internationaler<br />
Starfußballer. Hertha, die seit vier Jahren wieder erstklassig<br />
war, musste mit Kampfkraft und Teamgeist dagegen<br />
halten, weil ein Sponsor abgesprungen war und Geld zum<br />
Ankauf von Verstärkung Mangelware war. Die Polizisten,<br />
die sich das Spiel gerne selber angeschaut hätten,<br />
schimpften wie die Rohrspatzen auf ihren Beruf, der einem<br />
nichts als Ärger einbrachte.<br />
Wenig später stellte Kimrod den Wagen in den für Gäste<br />
reservierten Parkplatz ab und befestigte an der Innenseite<br />
der Windschutzscheibe ein Polizeischild.<br />
„ So, jetzt können sie uns nicht mehr abschleppen lassen.<br />
Leider habe ich meine Knarre nicht dabei. Na ja, es wird<br />
auch so reichen.“<br />
Remke lüftete seinen Pullover. Eine kleine Automatik kam<br />
unter der linken Achsel zum Vorschein, die Kimrod nicht<br />
bemerkt hatte.<br />
„ Gut, noch besser. Los, da lang. Ich kenn da einen kleinen<br />
Privateingang. Wir wollen die Herren doch ein bisschen<br />
überraschen“, sagte Kimrod und stapelte einige leere<br />
Bierträger übereinander. Anschließend schob er den
Turm unter ein zugepinseltes Fenster. Kimrod testete seine<br />
Konstruktion auf Standfestigkeit und begann den Aufstieg.<br />
Das Fenster war nur angelehnt. Kimrod stieß es auf<br />
und winkte Remke heran, der mit eindrucksvoller Gestik<br />
andeutete, nicht schwindelfrei zu sein. Kimrod stützte sich<br />
mit den Unterarmen auf den Sims auf und zog sich ächzend<br />
durch den schmalen Rahmen.<br />
Das Fenster war hoch genug, um einem Mann in gebückter<br />
Stellung Platz zu bieten, so dass sich Kimrod umdrehen<br />
konnte. Der Boden war sehr viel höher als draußen<br />
und er konnte sich bald gefahrlos fallen lassen. Kimrod<br />
misstraute den Kletterkünsten Remkes und schlich sich<br />
lautlos aus der Toilette zum Lieferanteneingang, der mit<br />
schweren Riegeln gesichert war. Mit einem Einbrecher<br />
von innen hatten die Bordellbetreiber freilich nicht gerechnet.<br />
Kimrod hatte leichtes Spiel mit der Tür. Schließlich<br />
war er vor Jahren bei maßgeblichen Kapazitäten der<br />
Branche in die Lehre gegangen. Remke stand unglücklich<br />
vor den gestapelten Bierkästen. Er schien noch immer auf<br />
eine Strickleiter oder ein Seil zu warten.<br />
„ Psst, du Nachtwächter. Los, komm schnell. Wir sind hier<br />
nicht zu Hause“, raunzte ihn Kimrod an. Sie drangen tiefer<br />
ins Gebäude ein, ohne auf eine Menschenseele zu stoßen.<br />
Plötzlich drang aus einer Tür, die einen Privataufkleber<br />
trug, Lärm auf den Gang. Kimrod legte sein Ohr an die<br />
Tür und horchte. Seine Züge begannen sich aufzuhellen.
„ Die spielen Poker. Glaub mir, wir haben die ganze Bande<br />
im Sack. Bei drei machen wir reinen Tisch. Die Tür<br />
dürfte offen sein.“<br />
Remke nahm hinter Kimrod mit durchgeladener Waffe<br />
Aufstellung. Bereit auf alles zu schießen, was ihre Sicherheit<br />
gefährden konnte. Kimrod stieß die Tür auf und rief:<br />
„ Hände hoch und keine falsche Bewegung.“<br />
Die vier Männer, die an einem mit Geldscheinen aller<br />
Größe bedeckten Tisch saßen, dachten nicht daran, den<br />
lautstark vorgebrachten Befehl auszuführen. Ein Spieler<br />
mit Baseballmütze und dicker Zigarre im Mund gab grinsend<br />
Entwarnung.<br />
„ Keine Panik Leute. Die zwei Komiker sind von der Mordkommission.<br />
Und umgebracht haben wir bis jetzt noch<br />
keinen. Höchstens ruiniert.“<br />
Die Mienen der restlichen Zocker begannen sich ebenfalls<br />
zu entspannen. Mike, der Mann mit der Zigarre, musste<br />
es wissen. Er war der Pächter des Etablissements und<br />
veranstaltete die Pokerrunden seit Jahren zur vollsten Zufriedenheit<br />
aller Beteiligten. Bei ihm gab es kein Limit und<br />
Falschspieler mussten draußen bleiben. Wer verlor wusste<br />
zumindest, dass er nicht betrogen worden war. Und<br />
Glück konnte auch ein Anfänger haben, wobei sich Mikes<br />
Künste am Grünen Tisch bis dato noch gegen jeden Duselbruder<br />
durchgesetzt hatten. Egal ob der Heimweg mit<br />
vollen oder leeren Taschen angetreten wurde, der Poker<br />
im Maxim war ein Geheimtip und die meisten ließen es<br />
nicht bei einem einmaligen Besuch bewenden.
Einige Beamte von der zuständigen Polizeiinspektion<br />
wurden geschmiert und da von den Teilnehmern so gut<br />
wie keine Beschwerden kamen, war die Existenz der<br />
Spielhalle nur von einigen Verwaltungsmenschen bedroht,<br />
die bislang jeglicher pekuniärer Versuchung widerstanden<br />
hatten und Mikes Laden des Öfteren unliebsame Besuche<br />
abstatteten. Mike besaß zwar ein ausgeklügeltes<br />
Frühwarnsystem - die Bekannte seiner Freundin arbeitete<br />
in der zuständigen Abteilung - aber die permanenten Kontrollen<br />
begannen doch ihn nervös zu machen. Man war<br />
nicht mehr Herr im eigenen Haus und musste sich von<br />
spießigen Fuzzis Vorschriften machen lassen. Gott sei<br />
Dank wurde in ein paar Wochen gewählt und wenn man<br />
den richtigen Mann durchbrachte, sah die Sache schon<br />
anders aus. Mike war deshalb schwer erleichtert, dass er<br />
nur zwei harmlose Kriminalbeamte vor sich hatte, wobei<br />
er mit einem per Du war.<br />
Kimrod taxierte rasch den Wert des Geldes und bedeutete<br />
seinem Kollegen, die Waffe zu senken.<br />
„ Sonst passiert noch was, obwohl man hier keinen Verkehrten<br />
treffen kann. Was Mike, hast wieder ein paar<br />
Dumme gefunden.“<br />
Mike stand auf und gab Kimrod die Hand.<br />
„ Guten Tag, Herr Kriminaldirektor. Schön, dass Sie uns<br />
wieder mal beehren. Wen darf ich für Sie reservieren? Wir<br />
haben für den Herren etwas Handfestes aus der Inneren<br />
Mongolei auf Lager. Da stehen nicht nur die Augen<br />
schräg.“
Kimrod gab ihm einen freundschaftlichen Klaps auf den<br />
Bauch und zog ihm die Mütze ins Gesicht.<br />
„ So kennst du uns, was! Nichts hören, nichts sehen,<br />
nichts sagen. Mike, eins schwör ich dir. Bevor ich in Rente<br />
gehe, wirst du Ehrenkommissar bei der Berliner Kripo. So<br />
störungsfrei wie du deinen Laden organisierst, das schafft<br />
sonst keiner hier.“<br />
„ Da hab ich aber noch ein Wörtchen mitzureden. Ich werde<br />
nämlich demnächst pensioniert und hätte da ein paar<br />
ganz andere Kandidaten in Aussicht“, sagte Remke und<br />
musterte dabei die anderen Spieler unfreundlich. Er hatte<br />
sich vorgenommen, tabula rasa zu machen.<br />
„ Los, los, meine Herren! Aufstehen und Hände an die<br />
Wand. Wir wollen hier nicht fest wachsen.“<br />
Die Männer richteten fragende Blicke auf Mike, der seufzend<br />
die Schultern hochzog.<br />
„ Avanti, avanti, mir geht das nicht schnell genug.“<br />
Remke hob drohend seine Pistole, die Spieler setzten sich<br />
in Bewegung. Remke durchsuchte sie recht ruppig, wurde<br />
aber nicht fündig.<br />
„ Kein Ballermann, kein Solingen, nichts. Da stimmt doch<br />
was nicht. Max, wehe wenn du vorher Alarm geschlagen<br />
hast, während ich draußen gewartet habe. Mit mir nicht<br />
Freundchen, ich...“<br />
„ Das hab ich mir doch gedacht, dass ich wieder dran<br />
schuld bin, wenn sich der feine Herr bepinkelt, weil er seinen<br />
Arsch zwei Meter in die Höhe hieven muss. Wenn ich
sie gewarnt hätte, wäre wohl kaum noch Geld auf dem<br />
Tisch“, bellte Kimrod zurück.<br />
Remke nahm einen Fünfhunderter vom Tisch und führte<br />
ihn ganz nah an Kimrods Augen vorbei. Er lächelte dabei<br />
diabolisch.<br />
„ Oder...“<br />
„ Oder was?“ fragte Kimrod scharf.<br />
Mike versuchte zu schlichten.<br />
„ Hört doch auf, ihr beiden Supercops. Mir kommen gleich<br />
die Tränen, so was von sauber seid ihr. Und Sie, Meister<br />
Remke, wissen doch ganz genau, dass hier sehr oft um<br />
Geld gespielt wird. Egal ob mit oder ohne Polizei...“<br />
„ Das lass ich ...“<br />
Remke wurde immer ungehaltener. Von dieser Puffotter<br />
wollte er sich nicht beschmutzen lassen.<br />
„ Sie und Ihr dreckiges Geld. Sie glauben wohl, damit<br />
können Sie sich alles erlauben. Aber Sie sind es gar nicht<br />
wert, dass ich mich aufrege.“<br />
Remke ließ den Schein fallen. Kimrod fing ihn mit einer<br />
blitzartigen Handbewegung auf und steckte ihn dem<br />
Pächter ins Hemd.<br />
„ So, jetzt ist alles wieder an seinem Platz und wir können<br />
zur Sache kommen. Dabei hoffe ich insbesondere auf<br />
deine Mithilfe, Mike“, sagte Kimrod und informierte die<br />
Pokerrunde über den Mord an den beiden Mädchen. Da<br />
erwartungsgemäß niemand etwas zur Aufklärung beitragen<br />
konnte, bat Kimrod Mike, ihn mit seinen Untermiete-
innen reden zu lassen. Mike führte ihn nach oben in die<br />
Separees.<br />
„ Hier links, die erste Tür, das ist Renate und die dritte Tür<br />
rechts, Doris. Mehr sind heute nicht da. Aber mach nicht<br />
zu lange, sonst...“<br />
Er lachte dreckig und ging nach unten, um weiter zu spielen.<br />
Remke zog sich mit einer Illustrierten in eine Ecke zurück.<br />
Kimrod klopfte bei Renate. Man hörte wie Musik leiser<br />
gestellt wurde. Eine tiefe Frauenstimme meldete sich<br />
verschlafen.<br />
„ Hallo, Mike? Ich dachte, du machst erst um sechs auf.“<br />
Die Tür wurde einen Spalt weit geöffnet und sofort wieder<br />
zugeschlagen.<br />
„ Hauen Sie ab, wir haben noch geschlossen.“<br />
Kimrod zog seinen Ausweis aus dem Portemonnaie.<br />
„ Polizei! Ich komme rein dienstlich!“<br />
Renate machte nach einer Weile wieder auf, überprüfte<br />
kurz den Ausweis und empfing den Kommissar danach in<br />
einem weit geschnittenen Jogginganzug. Die Prostituierte<br />
war schlank, vielleicht Ende zwanzig und lud Kimrod ein,<br />
es sich bequem zu machen. Sie wies dabei auf ein rotes<br />
Sofa, neben dem ein breites Futonbett stand. An den<br />
Wänden hingen Reproduktionen später Helnweinwerke,<br />
die einen befremdenden Kontrast zum trivialen Verwendungszweck<br />
des Raumes bildeten.<br />
Kimrod zog seine Jacke aus, das Zimmer war stark beheizt.<br />
Renate nahm auf dem Sofa Platz und wiederholte<br />
ihre Aufforderung.
„ Setzen Sie sich doch. Ich weiß was Sie denken, aber nur<br />
weil man sein Geld damit verdient, bedeutet das noch<br />
lange nicht, dass man nur noch eins im Kopf hat. Außerdem<br />
hat mir Mike viel von Ihnen erzählt, eigentlich nur<br />
Positives. Ich will Sie also nicht bestechen...mit meinen<br />
Mitteln. So manch einer Ihrer Kollegen ist da empfänglicher.“<br />
Sie lächelte süffisant. Kimrod wusste nur zu gut, worauf<br />
sie anspielte.<br />
„ Mag sein, doch deswegen bin ich nicht hier. Zwei Ihrer<br />
Kolleginnen, es handelt sich bei den Opfern mit großer<br />
Wahrscheinlichkeit um Prostituierte, wurden gestern<br />
Nacht ermordet in der Grenzallee aufgefunden. Waren die<br />
Mädchen gestern hier? Oder hat sich einer der Gäste auffällig<br />
benommen, Drohungen ausgestoßen?“<br />
Renate konnte ihm nicht weiterhelfen. Ihr war nichts aufgefallen.<br />
Sie bestand darauf, die Bilder der Leichen zu<br />
sehen.<br />
„ Bitte, wenn Sie unbedingt wollen. Aber beklagen Sie sich<br />
nachher nicht, wenn Ihnen schlecht wird.“<br />
Kimrod setzte sich neben Sie und wartete auf ihre Reaktion.<br />
Renate hielt die Bilder sehr lange in ihren Händen und<br />
machte einen ziemlich betroffenen Eindruck. Kimrod<br />
steckte die Bilder schließlich wieder ein.<br />
„ Sie müssen sich nicht so quälen. Mir ging es genauso,<br />
als ich sie zum ersten Mal sah. Man zweifelt daran, dass<br />
ein Mensch der Täter sein kann. Viehische Grausamkeit,<br />
die einem monströsen Gehirn entsprungen sein muss. Wir
müssen den Täter zur Strecke bringen, bevor er wieder<br />
zuschlagen kann.“<br />
Renate hatte sich wieder gefasst.<br />
„ Darin stimme ich vollkommen mit Ihnen überein. Dieses<br />
Schwein gehört lebenslänglich hinter Gitter. Ich werde alles<br />
tun, um Sie zu unterstützen. Ich fürchte nur, dass ich<br />
Ihnen nur wenig behilflich sein kann. Ich bin zwar aktives<br />
Mitglied bei Hydra, einer Berufsgenossenschaft der Huren,<br />
aber die Mädchen kenne ich nicht. Wenn man so lange<br />
im Geschäft ist wie ich, kann man allerdings Ihre<br />
Skepsis bezüglich der Natur des Täters nicht mehr unbedingt<br />
teilen. Solche Monstren gibt es mehr, wie Sie sich<br />
vorstellen können. Bei den meisten kommt es nur nicht<br />
zum Ausbruch.“<br />
Kimrod erhob sich und dankte der Prostituierten für ihre<br />
Mitarbeit. Renate wünschte ihm viel Erfolg und verschloss<br />
hinter ihm die Tür. Kimrod versuchte sein Glück bei der<br />
nächsten Prostituierten. Doris weigerte sich hartnäckig<br />
aufzumachen und stieß nur wüste Beschimpfungen aus.<br />
Mit Scheißbullen wolle sie nichts zu tun haben. Kimrod<br />
beendete das sinnlose Unterfangen vorzeitig und ging<br />
wieder hinunter zu den Spielern. Remke hatte seinen<br />
Stolz inzwischen überwunden und kiebitzte bei einem Zocker<br />
über die Schulter. Kimrod sah auch bei zwei Runden<br />
zu und drängte anschließend zum Aufbruch. Remke bettelte<br />
nun förmlich darum, noch ein wenig bleiben zu dürfen.
„ Nein, jetzt ist Schluss. Wir gehen erst ins Mirage, dann<br />
zurück ins Präsidium und danach kannst du machen, was<br />
du willst. Voraussichtlich. Wenn uns Zefhahn schon gehen<br />
lässt.“<br />
Mike wieherte wieder los bei der Bekanntgabe des<br />
Schlachtplans. Die Anwesenheit der Polizisten schien sich<br />
paradoxerweise sehr positiv auf seine Stimmung auszuwirken.<br />
Remke konnte sich schließlich doch noch losreißen<br />
von der packenden Partie und die Beamten verließen<br />
das Bordell durch den Hintereingang. Mike verabschiedete<br />
sich mit ein paar kräftigen Lachern und vergaß nicht,<br />
auch das Toilettenfenster zu schließen.<br />
Nach einem kurzen Fußmarsch erreichten die Kommissare<br />
das Mirage, das eine Kategorie unter dem Maxim angesiedelt<br />
war. Berta, die Besitzern, ließ die Zügel nach ihrem<br />
ersten Herzinfarkt etwas schleifen. Die Mädchen wirkten<br />
nicht so gepflegt, die Zimmer waren schmuddelig und<br />
abgewetzt. Die Preise lagen dafür um einiges unter denen<br />
der Konkurrenz und Tante Berta, wie sie im Kiezjargon<br />
liebevoll, doch nicht ohne Respekt, genannt wurde, entging<br />
nichts, was sich im Milieu abspielte.<br />
Sie kannte alles und jeden. Die Mädchen kamen zu ihr,<br />
wenn sie Kummer hatten und die Zuhälter akzeptierten sie<br />
als Schlichterin in ihren Streitigkeiten untereinander. Die<br />
dem Bordellbetrieb angegliederte Bar war schon geöffnet.<br />
Kimrod und Remke ließen sich an der Theke nieder und<br />
bestellten zwei Pils. Berta machte sich am Zapfhahn zu<br />
schaffen und drückte auf einen Knopf neben der Regist-
ierkasse. Sofort erschienen drei Mädchen, die sich an die<br />
Theke zu den Kriminalbeamten gesellten. Berta litt unter<br />
grünem Star und hatte die Polizisten offensichtlich nicht<br />
erkannt. Erst als Remke die Animierdamen freundlich,<br />
aber bestimmt verscheuchte, begannen sich ihre Züge erkennend<br />
aufzuhellen.<br />
„ Mein Gott, bin ich ein altes Trampel. Ich hab doch gewusst,<br />
dass ich die Stimme schon mal gehört habe. Otto<br />
und, wenn mich nicht alles täuscht, Max. Was wollt ihr<br />
trinken?“<br />
„ Pils, Tante Berta. Du hast sie schon in Bearbeitung,<br />
glaube ich. Wie geht!s, du alte Bretterhütte? Wir haben<br />
uns schon seit einer Ewigkeit nicht mehr gesehen“, sagte<br />
Remke leutselig.<br />
Berta kam ganz nahe heran. Ihr noch immer stattlicher<br />
Busen ruhte schwer auf einer Lage gestapelter Biergläser.<br />
„ Man kann nicht klagen. Ich muss dafür dankbar sein,<br />
dass ich überhaupt noch hier stehen kann. Man wird halt<br />
alt.“<br />
Tante Berta seufzte und ging zurück zum Zapfhahn.<br />
„ Diesmal übernimmst du. An dir hat sie einen Narren gefressen“,<br />
sagte Kimrod leise zu seinem Kollegen.<br />
Berta schüttete das noch fehlende Bier aus einem als<br />
Tropfenfang dienenden Glas nach und stellte die zwei Pils<br />
vor die Polizisten auf den Tresen. Das Bier schmeckte<br />
nicht so schal wie es aussah. Kimrod zündete sich eine<br />
Zigarette an. Bei Tante Berta war es trotz allen Unzulänglichkeiten<br />
immer noch am gemütlichsten. Kimrod gab
Remke unauffällig einen Stoß in die Seite. Berta hatte sich<br />
eben den zweiten Schnaps eingeschenkt und wenn man<br />
von ihr noch etwas erfahren wollte, war Eile geboten. Zumal<br />
sie bei weitem nicht mehr so viel vertrug wie früher.<br />
Remke orderte eine Runde Southern Comfort. Berta folgte<br />
der Einladung nur zu gerne. Endlich kam wieder Schwung<br />
in die Bude, und das an einem Fußballnachmittag. Die<br />
Nachtclubbetreiberin leerte schnell ihren Korn und servierte<br />
den Whiskylikör auf ihrem besten Tablett. Die Jungs<br />
waren zwar von der Schmiere, aber doch so nette Kerle.<br />
Sie hatten es sich verdient. Berta kam um den Tresen herum<br />
und nahm gewichtig zwischen den Polizisten Platz.<br />
„ Wohl sein, die Herren. Ich habe nicht gedacht, dass ich<br />
das noch erlebe. Von zwei so schnieken jungen Kerlen<br />
eingeladen zu werden! Habt ihr denn was zu feiern?“<br />
Sie stürzte den Schnaps hinunter und stellte das Glas mit<br />
einer etwas zu heftigen Handbewegung auf die Theke zurück.<br />
Remke stoppte das abdriftende Teil elegant mit dem<br />
Ellbogen.<br />
„ Nun aber langsam, meine Gute. Nachher wirft man uns<br />
noch vor, dich mit Alkohol gefügig gemacht zu haben. Das<br />
wollen wir doch vermeiden.“<br />
Tante Berta rückte näher an Remke heran. Ihr gewaltiger<br />
Vorbau bebte eindrucksvoll.<br />
„ Du Schmeichler. Du willst dich doch bloß vor der nächsten<br />
Runde drücken. Dabei geht doch bei euch sowieso alles<br />
auf Spesen. Aber ich krieg dich schon noch rum. Auch
wenn ich schon siebzig bin und aussehe wie eine alte Vettel.“<br />
Remke nahm sie tröstend in den Arm.<br />
„ Na, so schlimm ist das nun auch nicht. Wenn ich nicht<br />
verheiratet wär...mein lieber Schwan, da könntest du heute<br />
Nacht was erleben. Das gäb einen harten Schlagabtausch“,<br />
prophezeite der Oberkommissar vollmundig und<br />
tätschelte dabei herzhaft ihren rechten Busen.<br />
Tante Berta gluckste vor Vergnügen.<br />
„ Mein Gott, das wäre die Nummer meines Lebens. Wir<br />
müssten das Bett nahe an die Stützwand rücken, damit<br />
wir nicht durchbrechen. Ich weiß aber genau, was du wirklich<br />
vor hast. Willst mich besoffen machen und dann soll<br />
ich dir wieder einen Verbrecher ans Messer liefern. Doch<br />
das kostet eine Kleinigkeit. Einen noch. Ich mache euch<br />
einen Vorzugspreis. Hau weg, das Zeug!“<br />
Kimrod machte gute Miene zum bösen Spiel. In seinen<br />
Augen war die Partie so gut wie verloren. Remke trug zu<br />
dick auf. Die Alte kam schon richtig ins Schwitzen, aber<br />
sie schien nicht auf den Kopf gefallen zu sein. Sie hatte<br />
sofort spitz bekommen, was ihr vermeintlicher Verehrer im<br />
Schilde führte. Tante Berta füllte mit überraschender Behändigkeit<br />
Whisky nach, stellte die halbvollen Gläser zurück<br />
auf die Theke und kramte aus einer Schublade eine<br />
angegilbte Zigarettenspitze hervor. Remke bot ihr eine<br />
Marlboro an.
„ Danke, der Herr. Jetzt bleib ich aber hier auf meinem<br />
Platz. Ihr wollt mich doch nur veräppeln. Was liegt nun<br />
an?“ fragte Berta nüchtern.<br />
Remke steckte sich auch eine Zigarette an und nahm<br />
noch einen Schluck, bevor er loslegte. Berta hörte sich<br />
seinen Bericht kommentarlos an. Sie wusste die Elfenbeinspitze<br />
stilvoll einzusetzen. Den Dreh wie man auf<br />
Männer wirkte, hatte sie noch immer heraus. Als Remke<br />
fertig war und sie die Tatfotos inspiziert hatte, blieb Berta<br />
mit der erkalteten Spitze im Mund wortlos stehen. Ganz<br />
so als wollte sie das berühmte Edgar Wallace Portrait in<br />
den uralten Krimibänden nachstellen. Es schien in ihr zu<br />
arbeiten, doch das Mahlen konnte von Außenstehenden<br />
nicht klassifiziert werden. Remke nickte verstehend, obgleich<br />
auch ihm selber nicht ganz klar war warum. Kimrod<br />
drückte seine Marlboro aus und beendete das Schweigen.<br />
„ Alles klar, keiner weiß Bescheid. Die zweite Runde übernehme<br />
ich.“<br />
„ Lass mal, das geht schon klar. Ich wollte dich doch heute<br />
noch einladen. Versprochen ist versprochen. Außerdem<br />
schulde ich dir noch fünf Euro“, sagte Remke langsam.<br />
Er schien noch auf etwas zu warten. Berta wurde wieder<br />
munter.<br />
„ Na, schlagt euch die Köpfe ein deswegen. Normalerweise<br />
geht!s anders herum. Sechs SC, macht dreißig Euro.<br />
Billiger kann ich!s nicht machen, auch nicht für euch. Und<br />
mit dieser Geschichte mit den Mädchen, da lasst euch<br />
noch mal sehen, wenn ihr wisst, wie die Häschen heißen.
Ich war früher selber eine große Bordsteinschwalbe, aber<br />
an so was kann ich mich beim besten Willen nicht erinnern.<br />
Aber könnt schon sein, dass ich sie kenne. Hier<br />
kommen auch viel selbständig arbeitende Pflänzchen hereinspaziert.<br />
Wenn sie vorher noch ordentlich Zeche machen,<br />
hab ich nix dagegen. Aber manche benehmen sich<br />
dann wie auf der Straße und machen mir die Kundschaft<br />
abspenstig. Ist eben alles nicht mehr so wie früher. Man<br />
muss es halt heutzutage nehmen wie es kommt. Wer groß<br />
pingelig ist, bleibt auf der Strecke. In unserem Metier sowieso.<br />
Aber schade um die jungen Dinger. Ich werde auf<br />
jeden Fall Augen und Ohren, besonders die Ohren, offen<br />
halten, weil sehen tu ich nicht mehr viel.“<br />
Remke gab ihr die geforderten Scheine und schaute auf<br />
die Uhr.<br />
„ Zwanzig nach zwei. Da kommen wir doch locker noch<br />
zum Spiel zurecht. Weiter kommen wir heute eh nicht<br />
mehr. Das ist doch alles nur verplemperte Zeit. Wenn Tante<br />
Berta nichts weiß, weiß niemand etwas. Komm, lass<br />
uns abhauen.“<br />
„ Eigentlich hast du recht, aber ich will mich noch vorher in<br />
der Zentrale erkundigen. Vielleicht ist wieder was aufgetaucht.“<br />
Kimrod ging zum Telefon, das hinter der Theke an der<br />
Wand hing und noch mit einem Zähler ausgestattet war.<br />
Er wählte und wartete lange, doch niemand ging ran. Erst<br />
als er im Begriff war aufzulegen, wurde abgehoben.<br />
„ Kriminalrat Zefhahn. Mit wem spreche ich?“
„ Hier Kimrod, Chef. Gibt es was Neues?“<br />
„ Das wollte ich eigentlich euch fragen. Die Leichen werden<br />
noch untersucht. Ich bin sicher, dass wir da mehr<br />
rausholen können. Ihr Standort?“<br />
„ Eisenbahnstraße, Mirage, bei Tante Berta. Hat aber auch<br />
nichts rausgerückt. Wundern Sie sich also nicht über ansteigende<br />
Spesenabrechnungen. Diese Art von Kneipen<br />
sind teuer, und wenn wir bloß Leitungswasser trinken,<br />
werden die Schweigsamen noch schweigsamer. Da muss<br />
man schon investieren, bevor die überhaupt mal mit einem<br />
reden. Wir waren noch bei der Journalistin, draußen<br />
in Müggelheim. Die ist schon wieder zu Hause und bereitet<br />
eine Story vor.“<br />
„ Das kann ich mir vorstellen. Ausgerechnet von diesem<br />
linken Kampfblatt. Dass ihr mir da nicht in die Quere<br />
kommt. Keine Insiderinformationen und keine privaten Interviews.<br />
Das geht alles seinen offiziellen Gang. Wir machen<br />
täglich unseren Pressebericht und das muss reichen.<br />
Ich lass mir von diesen Schmierfinken nicht vorschreiben,<br />
wie wir unsere Arbeit zu erledigen haben.“<br />
„ Und wie soll es weitergehen? Ich meine, was kommt als<br />
Nächstes dran? Ein weiteres Puff?“<br />
„ Mein Gott, lasst euch was einfallen. Ich bin doch nicht<br />
euer Kindermädchen. Tut, was ihr für richtig haltet und<br />
was zur Aufklärung der Tat beiträgt. Was zählt, sind<br />
brauchbare Ergebnisse, sonst nichts. Wie ihr weiterkommt,<br />
ist eure Sache. Ich hoffe, ich habe mich klar genug<br />
ausgedrückt.“
„ Wie immer, Chef, wie immer. Also dann, bis bald.“<br />
„ Nein, nicht bis bald, sondern spätestens bis achtzehn<br />
Uhr im Präsidium. Habe ich das nicht schon gesagt... also<br />
wirklich, muss man denn alles doppelt und dreifach...“<br />
„ Äh ja, ich habe verstanden. Bis achtzehn Uhr. Das<br />
passt, ich meine, bis dahin kann man schon noch was erreichen.“<br />
„ Apropos erreichen. Habt ihr diese beiden Komiker, Maikovsky<br />
und Herder, irgendwo vorgefunden? Die haben es<br />
nämlich nicht für nötig gehalten, sich zwischendurch zu<br />
melden. Na die können was erleben. Wenn ich Härtlein<br />
nicht hätte...“<br />
„ Gut Chef, beziehungsweise nein, haben wir nicht. Geht<br />
alles in Ordnung. Ich muss Schluss machen, wir werden<br />
belauscht. Ich lege auf. Bis später.“<br />
Kimrod wirkte sichtlich erleichtert, als er das Gespräch<br />
beendet hatte. Zefhahn hatte wieder einmal alle Klarheiten<br />
gründlich beseitigt. Das mit achtzehn Uhr traf sich jedoch<br />
gut. Sie konnten ungestört das Fußballspiel genießen.<br />
Der Tag war doch nicht ganz verloren. Und versäumen<br />
würde man auch nichts. Für tiefergehende Recherchen<br />
war es einfach noch zu früh. Remke hatte da recht.<br />
Woanders noch fündig zu werden, war vorerst unwahrscheinlich.<br />
Tante Berta hantierte schon wieder mit Hochprozentigem.<br />
Es wurde Zeit, Land zu gewinnen. Die gute Seele neigte<br />
dazu, nach reichlichem Alkoholkonsum ausfallend zu<br />
werden.
„ Komm Otto. Wir müssen weiter. Zefhahn will Ergebnisse<br />
sehen. Wir begeben uns an einen Ort, wo es immer welche<br />
gibt“, sagte Kimrod verheißungsvoll zu seinem Kollegen.<br />
Remke verstand die Andeutung und verabschiedete<br />
sich bei Berta, deren glasiger Blick in eine andere Welt<br />
gerichtet zu sein schien. Remke gab ihr noch einen Klaps<br />
auf den Hintern und folgte Kimrod auf die Straße. Berta<br />
gab keinen Mucks von sich. Sie registrierte den Aufbruch<br />
der Männer nicht mehr.<br />
„ Eigentlich schade. Wenn sie sich ein bisschen zusammenreißen<br />
würde, könnte sie das große Geld machen.<br />
Wenn sie nüchtern ist, verbreitet sie eine so anheimelnde<br />
Atmosphäre. Warum sich manche Menschen so mit Vorsatz<br />
ruinieren müssen?“ bemerkte Kimrod traurig.<br />
„ Ach weißt du, ob man das unbedingt ruinieren nennen<br />
soll? Sie ist ein sehr sentimentaler Mensch und hat ein<br />
großes Herz. So jemand muss eine Mauer aufbauen zwischen<br />
sich und der harten Realität. Sie macht das mit Alkohol.<br />
Das konserviert ihre Gutherzigkeit. Der Suff hat daher<br />
auch was Gutes. Man muss es nur erkennen können<br />
unter all dem Morast“, antwortete Remke optimistisch.<br />
„ Wahrscheinlich hast du recht. Bei solchen Leuten gehört<br />
das einfach mit dazu. Ohne solche Masken würde an deren<br />
Persönlichkeit ein wichtiges Teil fehlen. So wie Cowboystiefel<br />
erst recht wirken, wenn sie schön abgewetzt<br />
sind. Kein Glanz ohne Schatten.“
Als sie den Parkplatz im Hinterhof des Maxim erreichten,<br />
brausten zwei dicke Schlitten davon. Kimrod glaubte einen<br />
der Pokerspieler am Steuer zu erkennen. Die Partie<br />
schien vorzeitig beendet worden zu sein. Doch die Zocker<br />
hatten sich gerächt. Auf dem Dach des Dienstwagens lag<br />
ein fetter Haufen Hundescheiße. Hinter den Scheibenwischer<br />
war ein Pikass geklemmt. Auf Anonymität wurde<br />
anscheinend kein gesteigerter Wert gelegt.<br />
„ Sieh mal einer an. Unsere Kartenhaie haben ihre Visitenkarte<br />
hinterlassen. So eine Sauerei. Erst letzte Woche<br />
war ich in der Waschstraße mit dem Scheißkübel. Und<br />
jetzt das hier. Ich hätte nicht übel Lust, deinem Freund Mike<br />
einen zweiten Besuch abzustatten. Und diesmal durch<br />
die Vordertür, mit einem Zug Grenzschützer im Rücken.<br />
Dem würde das Lachen endgültig vergehen“, sagte Remke<br />
aufgebracht.<br />
Kimrod brach von einem dürren Holunderbusch einen Ast<br />
ab und wischte damit die Fäkalien vom Dach.<br />
„ Ach Gott, das sind halt die üblichen Lausbubenstreiche.<br />
Wenn man das alles an die große Glocke hängen würde“,<br />
sagte Kimrod beschwichtigend.<br />
Plötzlich rief eine Stimme von oben.<br />
„ Kann ich nix dafür. Die Hamburger Kollegen lassen sich<br />
halt nur ungern stören. Wenn ihr wollt, fahr ich euch die<br />
Kiste schnell zum Waschen.“<br />
Mikes Kopf ragte aus einer winzigen Dachluke hervor, von<br />
einem Ohr zum anderen grinsend. Remkes Drohung verfehlte<br />
ihre Wirkung offensichtlich vollständig oder Mike
hatte sie einfach nicht gehört. Remke bückte sich nach einer<br />
zerschlissenen Obsttüte und wickelte mit den Papierfetzen<br />
den übelriechenden Hundehaufen ein. Er ging näher<br />
an die Fassade heran, aus der Mikes Haupt lugte, und<br />
nahm Maß. Kimrod schüttelte den Kopf und parkte den<br />
Wagen aus. Da hatten sich zwei gefunden. In der Kinderstunde<br />
wurde Unterhaltung weitaus höheren Niveaus geboten.<br />
Remke warf endlich und wurde mit einem Guss kalten<br />
Wassers belohnt, das der findige Bordellpächter schnell<br />
beschafft hatte. Remke besudelte sich hauptsächlich selber<br />
und setzte sich schimpfend und stinkend in den Wagen.<br />
Kimrod nutzte die Gunst der Stunde und verließ eilends<br />
das umkämpfte Areal. In dieser Stimmung war dem<br />
Oberkommissar alles zuzutrauen. Es grenzte an ein Wunder,<br />
dass er seine Waffe nicht benutzt hatte.<br />
„ Weißt du, Otto, was mir heute den ganzen Tag über aufgefallen<br />
ist bei den Ermittlungen, die wir anzustellen versucht<br />
haben?“ fragte Kimrod, nachdem er demonstrativ<br />
das Fenster geöffnet hatte.<br />
Remke grummelte nur unwirsch vor sich hin. Ihm steckte<br />
die eben erlittene Niederlage noch gehörig in den Knochen.<br />
Kimrod gab so schnell nicht auf. Wahrscheinlich<br />
nagte derselbe Wurm in Remke und fand dort nur andere<br />
Nahrung vor. Man musste ihn packen und ans ungewohnte<br />
Tageslicht zerren. Nur so konnte der schleichenden<br />
Vergiftung zu Leibe gerückt werden.
„ Also gut. Wenn du nicht willst, dann mache ich eben den<br />
Anfang. Dass wir in gewissen Kreisen kein sehr hohes<br />
Ansehen genießen, ist ein alter Hut. Doch so wie man uns<br />
heute überall abgekanzelt hat, beginnt man sich zu fragen,<br />
ob uns überhaupt noch jemand ernst nimmt. Nicht<br />
mal bei so einem abscheulichen Fall, der nach Aufklärung<br />
schreit. Da denkt man sich doch, dass da so eine Art interfraktionelle<br />
Koalition entstehen müsste, um die Bestie zur<br />
Strecke zu bringen. Aber Schweigen im Walde. Bullen<br />
verpisst euch! Ihr korrupten Arschkriecher wollt bloß euer<br />
Gehalt aufbessern mit irgendeiner linken Tour. Die Mädchen<br />
sind doch für euch bloß Abfall, die ihre gerechte<br />
Strafe erhalten haben. Kleine, billige Nutten. Nicht wert,<br />
viel Aufhebens davon zu machen, auf der ihnen gebührenden<br />
Müllkippe endgelagert...noch ein paar Mal umgedreht,<br />
um die geifernde Blutgier der Massen zu befriedigen<br />
und dann endgültig verscharrt...meine Herren, der<br />
nächste Fall, aber bitte ohne störende Gefühlsduselei. Dafür<br />
werden Sie nicht bezahlt. Ein bisschen rumstochern<br />
und dann Schwamm drüber...“<br />
„ Nun hör schon auf. Kriegt er gleich wieder seinen Moralischen,<br />
bloß wegen der paar Weiber. Ja, ich weiß wovon<br />
ich rede. Die Leute sind nun mal so. Und dass wir überall<br />
wie die größten Hanskasper behandelt werden, liegt nicht<br />
nur an den Kollegen von der Schupo, die gerne mal das<br />
Händchen aufhalten. Der Fisch stinkt von oben her. Vom<br />
Kopf. Keine unnötigen Beschränkungen des Amüsierbetriebes.<br />
Die Stadt lebt von den Touristen, die ordentlich ei-
nen drauf machen wollen. Also Cops, lasst die Handschellen<br />
stecken und geht auf Verbrecherjagd. Nur nicht in unserer<br />
Nähe! Bürgerrechte haben Vorrang! Erledigen Sie<br />
Ihre Arbeit, aber ohne jemanden weh zu tun... und so weiter,<br />
und so fort.“<br />
„ Du kommst aber früh drauf, das predige ich schon seit<br />
Jahrzehnten. Jetzt weiß doch kein Schwanz mehr, wie er<br />
sich im Dienst verhalten soll. Da werden viele halt passiver,<br />
man holt sich dann weniger Schrammen. Zu viel Eifer<br />
bedeutet meist nur Ärger. Sich raushalten und durchschmuggeln,<br />
das ist die gängige Devise heutzutage. Nur<br />
nicht auffallen!“<br />
Remke klopfte Kimrod aufmunternd auf die Schulter. So<br />
schnell war Preußen noch nicht verloren. Je näher sie<br />
dem Stadion kamen, desto dichter wurde der Verkehr. In<br />
der Reichsstraße verursachten Dutzende von Bussen ein<br />
mittleres Verkehrschaos. Kimrod kam trotz Hupe und Kojaklampe<br />
nur noch im Schritttempo voran. Die Münchener<br />
Fans waren zu Zigtausenden angereist und ergriffen<br />
lautstark von dem Berliner Territorium Besitz. Wie üblich<br />
wurden schon während der Anfahrt Unmengen von Alkohol<br />
vertilgt, so dass die Begeisterung vieler Anhänger<br />
schon vor dem Anpfiff jegliches Maß verlor. Im Nu brannten<br />
die ersten Autos und die vereinzelt auftretenden Polizisten<br />
versuchten vergeblich, die randalierenden Hooligans<br />
zur Räson zu bringen.
Die Herthafrösche verbrüderten sich bereitwillig mit den<br />
Münchenern, wenn ein neues Fahrzeug gekippt oder ein<br />
Ordnungshüter attackiert wurde. Die ersten Warnschüsse<br />
peitschten auf, wie zur Begrüßung der Wasserwerfer, die<br />
auf der Rominter Allee heranrollten. Unmittelbar vor dem<br />
wieder abgerüsteten Ford, Kimrod hatte die Rundumleuchte<br />
sicherheitshalber vom Dach entfernt, wurde ein<br />
Wachtmeister von seinem Hengst herunter zu Boden gerissen.<br />
Sofort bildete sich über den Wehrlosen eine dichte<br />
Traube, die Kimrod und Remke mit wirbelnden Schlagstöcken<br />
zu zersprengen versuchten. Kimrod bewahrte die<br />
hilfreichen Accessoires immer griffbereit unter seinem Sitz<br />
auf, so dass die beiden Kommissare ihrem Kollegen<br />
schnell zur Hilfe kommen konnten. Mehrere Randalierer<br />
ließen schreiend vor ihrem Opfer ab.<br />
Kimrod und Remke verteilten platzierte Schläge auf essentielle<br />
Körperteile wie Kopf und Nieren, so dass den<br />
Getroffenen nachhaltig die Lust verging. Die Hartnäckigsten<br />
jedoch, die zu betrunken waren, um noch Schmerzen<br />
verspüren zu können, umringten bald den neuen Gegner<br />
und gingen mit aufgeschlagenen Bierflaschen auf die Beamten<br />
los. Remke griff sofort zur Pistole und wollte gerade<br />
den ersten Schuss abgeben, als sich eine Hundertschaft<br />
des Sonderkommandos mit wuchtigen Tritten und Schlägen<br />
den Weg zum Tatort bahnte. Die Angehörigen der<br />
Spezialtruppe waren am ganzen Körper mit Plastikprotektoren<br />
gepanzert und in allen Nahkampftechniken ausgebildet.<br />
Wenn einmal die Schilder und Knüppel nicht mehr
ausreichten, kamen mehrschüssige Schrotflinten zum<br />
Einsatz, die Gummigeschosse abfeuern konnten. Dabei<br />
wurden auch ernsthaftere Verletzungen in Kauf genommen.<br />
Die Flinten wurden aber nur benutzt, wenn Leib und<br />
Leben eines Beamten gefährdet waren. So viel geballte<br />
Staatsmacht nahm den Schlägern rasch den Mut. Sie<br />
suchten ihr Heil in der Flucht.<br />
Der vom Ross geholte Wachtmeister war noch am Leben,<br />
doch er benötigte rasch ärztliche Hilfe. Sein Gesicht war<br />
übel zugerichtet, er blutete stark aus tiefen Schnittwunden.<br />
Kimrod und Remke wiesen sich dem Kompanieführer<br />
gegenüber als Polizisten aus und nahmen die Verfolgung<br />
auf. Die Täter waren allerdings schon längst in der Masse<br />
untergetaucht. In den wogenden Horden Festnahmen<br />
vorzunehmen, war sowieso ein aussichtsloses Unterfangen.<br />
Es sei denn man war bereit, den Rest der Meute mit<br />
Maschinengewehren niederzumähen.<br />
Kimrod und Remke schlugen sich bis zum Haupteingang<br />
durch und zeigten ihre Ausweise vor. Erst nachdem sie<br />
ein bulliger Ordner überprüft hatte, wurden sie eingelassen.<br />
Sie suchten sich ganz unten einen Platz, unmittelbar<br />
unter den Trainerbänken. Remke besorgte zwei Bier und<br />
Wurstsemmeln. Es konnte losgehen. Doch bevor die Spieler<br />
aufliefen, wurde ein fahrbarer Ring auf den Rasen geschoben.<br />
Zwei Kickboxer traten in Aktion und lieferten sich<br />
einen sehenswerten Fight. Das Stadion war schon ziemlich<br />
voll, doch das Publikum spendete den Akteuren nicht<br />
den verdienten Beifall. Erst als zwanzig Cheerleadergirls
viel knuspriges Fleisch zeigten, kam Stimmung auf. Der<br />
Ring wurde wieder nach draußen geschoben und die<br />
Fußballer kamen endlich zu ihrem Recht. Die Bayern<br />
drängten von Anfang an vehement auf das Herthator und<br />
konnten mehrere gute Schüsse platzieren. Hertha brauchte<br />
eine knappe halbe Stunde, um zur ersten nennenswerten<br />
Chance zu kommen. Eine deftige Granate prallte von<br />
einem Abwehrspieler direkt vor die Füße der wieselflinken<br />
Sturmspitze, die jedoch knapp am linken Pfosten vorbeizog.<br />
Die Partie ging torlos in die Halbzeit. Die Veranstalter ließen<br />
nur noch die Cheerleader auftreten, die Kickboxer<br />
wurden nicht mehr bemüht. Nach dem Wechsel dominierte<br />
die Herthaelf. Der italienische Startrainer hatte einen<br />
Stürmer mehr aufs Feld geschickt. Etliche klare Torchancen<br />
wurden herausgearbeitet, die Bayern gerieten zusehends<br />
in Bedrängnis. Die Heimmannschaft versäumte es<br />
aber, die zahlreichen Möglichkeiten zu verwerten. Als sich<br />
wieder einmal alle Feldspieler in der Bayernhälfte aufhielten,<br />
nahm das Unglück seinen Lauf. Der erfahrene Libero<br />
der süddeutschen Millionenelf passte klug auf den zurückhängenden<br />
Mittelstürmer, der den Ball in einem sehenswerten<br />
Sololauf unbedrängt in den Berliner Sechzehnmeterraum<br />
trieb. Seine südamerikanische Schnelligkeit<br />
und Ballbeherrschung ließen den gegnerischen Abwehrspielern<br />
nicht den Hauch einer Chance und er kam<br />
vor dem Berliner Torwart frei zum Schuss. Der Ball landete<br />
unhaltbar im rechten Kreuzeck. Der Keeper war durch
eine geschickte Körpertäuschung kurz vor dem Abziehen<br />
verladen worden, so dass er auf die falsche Seite hechtete.<br />
Es blieben noch zwanzig Minuten, um den unverdienten<br />
Rückstand aufzuholen, doch nun machte sich die auf<br />
internationalen Parkett erworbene Routine und Cleverness<br />
der Bayern bezahlt. Man war nicht umsonst während<br />
der letzten Jahrzehnte in fast allen wichtigen europäischen<br />
Wettbewerben vertreten gewesen. Gekonnt ließ<br />
man die nassforschen Nachwuchstalente ins offene Messer<br />
laufen.<br />
Durch das Ausnutzen einer weiteren Konterchance erhöhte<br />
Bayern auf zwei zu null, und das fünf Minuten vor<br />
Schluss. Nun rasteten die aufgepeitschten Berliner Anhänger<br />
vollständig aus. Sie hatten den Außenstürmer der<br />
Bayern im Abseits gesehen. Erneut sollte die vom Pech<br />
verfolgte Elf trotz der überlegenen Spielleistung an dem<br />
Unvermögen eines Unparteiischen scheitern. Man war<br />
nicht gewillt, das tatenlos hinzunehmen. Feuerwerkskörper<br />
wurden in rauen Mengen gezündet und aufs Spielfeld<br />
befördert. Trotz dicker Rauchschwaden unterbrach der<br />
Referee die Partie nicht. Die Bayernspieler beschwerten<br />
sich vergeblich über die unzähligen Wurfgeschosse, die<br />
es von den Rängen hagelte. Der Schiedsrichter ließ die<br />
restlichen hundertzwanzig Sekunden ohne Rücksicht auf<br />
Verluste ablaufen. Die Anweisungen vom DFB waren eindeutig.<br />
Spielunterbrechungen oder gar vollständige Abbrüche<br />
waren tunlichst zu vermeiden. Die Hooligans waren<br />
danach umso schwerer unter Kontrolle zu bringen.
Obwohl gründliche Leibesvisitationen vorgenommen wurden,<br />
passierten bei jedem Spiel Unmassen von gefährlichen<br />
Gegenständen die Kontrollen. So wurden Messer,<br />
Blechdosen, Gasrevolver und selbstgebastelte Sprengkörper<br />
von harmlos aussehenden Zuschauern in die Stadien<br />
geschmuggelt und dort an die Randalierer verteilt.<br />
Vom Alkoholverbot war man wieder abgekommen, da die<br />
Fans sich bei verhängter Prohibition vor den Spielen umso<br />
heftiger betranken, so dass es noch vor dem Anpfiff zu<br />
wüsten Ausschreitungen kam.<br />
Die ersten Hooligans begannen die meterhohen Absperrgitter<br />
zu überklettern. Die Stadionleitung hielt es für angebracht<br />
die fest installierten Wasserkanonen einzusetzen.<br />
Diese Hochdruckwerfer bestrichen die untere Hälfte der<br />
Ränge mit einem gebündelten, eisigen Strahl und kühlten<br />
zuverlässig die Gemüter der tobenden Rowdies. Insgesamt<br />
kamen drei Kanonen zum Einsatz. Das Spiel endete<br />
fast unbemerkt während der ernüchternden Gemeinschaftsdusche.<br />
Kimrod hatte das Stadion zehn Minuten<br />
vor dem Ende der Partie verlassen. Er wollte den Ford vor<br />
dem allgemeinen Aufbruch in die gesperrte Rominter Allee<br />
retten. Remke, der seit anno Tobak für Hertha schwärmte,<br />
hielt die Stellung bis zum Schluss. Er geriet mitten ins<br />
Gewühl und benötigte deshalb eine halbe Stunde, um den<br />
vereinbarten Treffpunkt an der Einmündung der Hanns<br />
Braun Straße zu erreichen.
Kimrod unterhielt sich mit einem Wasserwerferfahrer, der<br />
sich über die hohe Ausfallquote in seinem Ausbildungsjahrgang<br />
beklagte.<br />
„ Nur vier von sieben sind noch dabei, der Rest abgenibbelt.<br />
Dem Stress nicht gewachsen. Vor dem Spiel, zum<br />
Beispiel, hat es drüben am Reiterstadion einen Toten gegeben.<br />
Angeblich Herzstillstand. Man will die Bilanz so eines<br />
Tages nicht verfärben. Für mich war das Mord, oder<br />
zumindest Totschlag. Den haben die Sanis bloß so schnell<br />
verfrachtet, damit nichts aufkommt. Der hatte einfach das<br />
verkehrte Trikot an. Rot-weiß unter lauter Fröschen, das<br />
konnte nicht gutgehen. Den haben sie so lange an seinem<br />
Schal gezupft bis die Pumpe streikte. Eine saubere und<br />
schnelle Sache. Das können nicht alle ab. Ich hier in meinem<br />
Tank muss mir auch vorstellen, dass ich im Krieg bin<br />
und durch die feindlichen Linien rolle. Anders kommst du<br />
nicht klar damit. Immer drauf aufs Gas und nicht links oder<br />
rechts schauen. Was bei drei nicht aus dem Weg ist, wird<br />
plattgemacht. Klotzen, nicht kleckern...das ist so ein<br />
Spruch von meinem Kommandanten. Soll irgend so ein<br />
Heini von der Wehrmacht erfunden haben, der mit seinen<br />
Tanks, also richtigen Panzern mit Kanonenrohr und allem<br />
drum und dran, durch ganz Europa gebrettert ist. Find ich<br />
absolut o.k. so. Wenn dann volle Kanne. Was anderes<br />
zieht doch bei diesen Knallköpfen nicht mehr. Die wollen<br />
einzig und allein Rabatz und den sollen sie haben. Ich<br />
lass mir nix mehr gefallen. Wenn man Kommandant sagt<br />
Volle Fahrt Geradeaus, dann gibt!s kein Halten mehr!
Rumms und durch. Alles andere ist Käse, das kapieren<br />
viele bloß nicht. Die meinen hier kann man auch was mit<br />
dem Gebetbuch erreichen. Aber das ist nicht. Gerade vorhin<br />
haben sie einen von uns vom Pferd geholt und halb tot<br />
geprügelt. Hier herrscht Krieg. Da kann mir einer erzählen,<br />
was er will. Ohne Knute läuft da gar nix mehr.“<br />
Remke, der inzwischen zu ihnen gestoßen war, nickte beifällig.<br />
„ So ist! s recht, junger Mann. Nur ordentlich draufhalten<br />
und durchdrücken. Diese Scheißliberalen sollen sich ihren<br />
Psychologiefirlefanz an den Hut stecken. Hier an der Basis<br />
sind andere Qualitäten gefragt. Recht so. Sie werden<br />
Ihren Weg machen.“<br />
Kimrod bugsierte Remke ins Auto. Es war schon viertel<br />
vor sechs und Zefhahn liebte keine Verspätungen. Remke<br />
hatte mit dem schneidigen Werferfahrer ein Exemplar<br />
nach seinem Geschmack gefunden. Der war aus dem<br />
richtigen Holz geschnitzt, so musste der zukünftige deutsche<br />
Polizeibeamte aussehen. Es gab also doch noch<br />
Hoffnung.<br />
Im Präsidium waren die zwei anderen Teams schon eingetroffen.<br />
Kimrod und Remke stürzten in letzter Minute in<br />
das Büro, das ihnen heute Morgen als Hauptquartier gedient<br />
hatte. Kriminalrat Zefhahn klopfte unwirsch auf die<br />
kleine Tafel, auf der er neue Fakten festgehalten hatte.<br />
„ Bitte, meine Herren, wir wollen doch nicht die ganze<br />
Nacht hier verbringen. Wenn Sie schon zu spät kommen<br />
müssen, kann ich wohl verlangen, dass Sie meine Ausfüh-
ungen nicht ständig unterbrechen. Jetzt muss ich schon<br />
wieder von vorne anfangen. Wie ist übrigens das Spiel<br />
ausgegangen?“<br />
Der Kriminalrat durchbohrte Remke mit strafenden Blicken.<br />
Er wusste instinktiv, wo sich die beiden Nachzügler<br />
so lange herumgetrieben hatten. Und dann beichten, dass<br />
sie nichts in Erfahrung bringen konnten. Wenn das Labor<br />
nicht so gute Arbeit geleistet hätte, würde man mal wieder<br />
völlig im Dunkeln tappen. Die Männer in den weißen Kitteln<br />
machten sich immer unentbehrlicher. Die Mehrzahl<br />
der Fälle wurde inzwischen mit Hilfe des Mikroskops und<br />
des Reagenzglases aufgeklärt. Viele Kriminologen promovierten<br />
erst in naturwissenschaftlichen Fächern wie<br />
Chemie und Biologie, bevor sie in den Polizeidienst eintraten.<br />
Männer wie Remke waren nur mit der Waffe schnell und<br />
versuchten, ihre mangelnde Fachkompetenz durch tumbes<br />
Drauflospoltern zu kaschieren. Freilich, ab und zu<br />
verfing sich noch ein Fisch in diesem grobmaschigen<br />
Netz, doch der Großteil des Fangs wurde schon lange von<br />
allen neuen Techniken gegenüber aufgeschlossenen Beamten<br />
wie Härtlein eingeholt, die ruhig und methodisch<br />
vorgingen und noch aus dem feinsten Härchen Schlüsse<br />
ziehen konnten, die oftmals zur Ergreifung der Täter führten.<br />
Und jetzt wollte dieser ungehobelte Klotz auch noch<br />
frech werden. Zefhahn hatte das Datum seiner Pensionierung<br />
schon mit roter Farbe in sein Notizbuch eingetragen.
Hoffentlich fand sich rasch ein geeigneter Nachfolger für<br />
diese Dreingabe.<br />
Remke wölbte unbeeindruckt die Brust.<br />
„ Erstens, Herr Kriminalrat, sind wir nicht zu spät, sondern<br />
gerade noch rechtzeitig gekommen. Just in time, um mich<br />
an den von Ihnen bevorzugten Jargon anzupassen. Es<br />
muss alles nach Ausland oder lateinisch klingen. Deutsch<br />
ist was für derbe Bauern. Zweitens kommen wir deshalb<br />
so spät, weil Sie uns mit leeren Händen losgeschickt haben.<br />
Und nun sollen wir was aus dem Hut zaubern. Aber<br />
das kennt man ja. Hauptsache, dass im Zweifelsfall die<br />
Verantwortung nach unten abgeschoben werden kann.<br />
Wir sind dann wieder die Blöden. Fahndungspannen,<br />
schlampige Ermittlungen, immer die Schwierigkeiten mit<br />
dem Personal. Ich sehe Ihr nettes Köpfchen schon wieder<br />
im Fernsehen. Der große Matador weiß, wie man sich in<br />
Szene setzt.“<br />
Zefhahn bedeckte angesichts dieser Tirade die Augen.<br />
Und das noch an seinem Golfnachmittag. Als ob er seine<br />
Männer nicht immer vor den giftigen Attacken der Medien<br />
in Schutz genommen hätte und dabei seine eigene Reputation<br />
aufs Spiel setzte, selbstlos und alle Konsequenzen<br />
in Kauf nehmend. Ohne diese Kamikazetaktik säße man<br />
doch schon längst im Innenministerium, fern aller Widrigkeiten<br />
einer kleinkarierten Polizeiadministration. Bereit für<br />
strategische Weichenstellungen in der Sicherheitspolitik.<br />
Sich nicht mehr sich mit diesen Flegeln herumschlagen
auchen, die immer glaubten, ihre Gossenmanieren an<br />
ihm erproben zu müssen.<br />
„ Ich weiß, Remke, mit Ihnen wurde vierzig Jahre lang<br />
Schlitten gefahren. Ihre Vorgesetzten haben Sie nur ausgenutzt<br />
und drangsaliert. Die Öffentlichkeit weiß Ihre verdienstvolle<br />
Tätigkeit auch nicht zu würdigen und bei den<br />
Verbrechern sind Sie von Haus auf in Verschiss, da Sie<br />
kein Pardon kennen und vor keinem Delikt die Augen verschließen.<br />
Ich weiß, Sie haben tausendmal Recht und alles<br />
hat sich gegen Sie verschworen, doch versuchen Sie<br />
doch einmal, sich in meine Lage zu versetzen. Ich stehe<br />
doch unter einem viel größeren Druck wie Sie. Wenn was<br />
schief läuft, heißt es doch nicht Remke und seine Kommission<br />
haben versagt, sondern Zefhahn oder Wulke sind<br />
unfähig und müssen ersetzt werden.<br />
Ihre Arbeit ist nicht leicht, aber da sind Sie doch nicht der<br />
Einzige. Wir alle müssen tagtäglich unseren Mann stehen.<br />
Und wenn wir untereinander nicht zusammenhalten, können<br />
wir den Laden gleich dicht machen. Stellen Sie bitte<br />
für die wenigen Monate, die Sie noch bei uns verbringen,<br />
alle Animositäten zurück und versuchen Sie zu kooperieren,<br />
in unser aller Interesse. Wir sind auch bloß Menschen!“<br />
Zefhan bat Maikovsky um seinen Bericht. Die Frohnatur<br />
stand auf und warf sich in Pose. Er wollte dem Kriminalrat<br />
und Remke in nichts nachstehen.<br />
„ Nachdem wir uns mit anatolischen Spezialitäten und<br />
würzigem Kaffee gestärkt hatten, widmete ich mich aus-
giebig der gebräuchlichen Morgenlektüre. Herder schäkerte<br />
trotz meiner Warnungen mit der properen Bedienung.<br />
Doch Kemal, der Wirt, ließ fünf gerade sein und beendete<br />
das Techtelmechtel nicht unsanft mit seinem Krummsäbel<br />
und beschränkte sich darauf, uns mit Köstlichkeiten seiner<br />
Heimat zu versorgen. Es gab frische Datteln, Oliven in Öl,<br />
Oliven in Essig, Oliven mit Füllung, Oliven...“<br />
Zefhahn unterbrach die Litanei unwirsch.<br />
„ Ich weiß, Maikovsky, Sie sind der führende Orientexperte<br />
in Deutschland und Sie könnten uns noch tagelang irgendwelche<br />
Rezepte oder Aussprachevorschriften durchdeklinieren,<br />
aber kommen Sie jetzt endlich zur Sache. Wir<br />
sind doch hier nicht auf einer Laienspielbühne, auf der<br />
sich jeder möglichst effektvoll in Szene setzen muss! Hat<br />
sich die Tat in Kreuzberg schon herumgesprochen, wusste<br />
jemand Näheres? Nur das interessiert mich, sonst nichts.<br />
Bitte.“<br />
Maikovsky sank etwas in sich zusammen. Er wollte seiner<br />
Schilderung doch nur etwas Lokalkolorit angedeihen lassen,<br />
die Atmosphäre greifbarer machen.<br />
„ Na gut, komme wir also zur Sache. Über die Morde habe<br />
ich nichts erfahren. Es wusste auch niemand etwas darüber.<br />
Nicht verwunderlich, wenn es sich um Nutten handelt.<br />
Das sind Unpersonen, noch viel schlimmer als bei uns.<br />
Bei den Radikalen auf alle Fälle ist das so. Man macht<br />
das zumindest nicht so öffentlich. Die Schriftgelehrten haben<br />
übrigens eine Lücke im Koran ausfindig gemacht. Ein
Mann kann da auch mit einer Frau eine Ehe auf Zeit eingehen,<br />
wenn sie geschieden oder verwitwet ist. Ganz legal<br />
und mit Absegnung der Pfaffen. Diese Frauen auf Zeit<br />
sind dann halt früher vielfach als Ersatzprostituierte verwendet<br />
worden und haben ein sehr ausschweifendes Leben<br />
geführt. Die Stimmung im Allgemeinen ist nach wie<br />
vor schlecht. Die Kurden planen Attentate gegen die Türken,<br />
die Türken gegen die Deutschen. Insbesondere die<br />
Söhne Allahs, die gegen die deutsche Unterstützung des<br />
Regimes in Ankara protestieren, die Kurden aus dem gleichen<br />
Grund gegen die Deutschen. Beide zusammen,<br />
Kurden und Türken, gegen die deutsche Regierung, die<br />
zu lasch gegen Hakenkreuzier vorgeht. Und so weiter,<br />
und so weiter. Wir haben viel Kaffee getrunken und geschwätzt.<br />
Es war ein gelungener Tag. So was geht halt<br />
nicht von heute auf morgen.“<br />
Zefhahn forderte Härtlein auf, seine Ergebnisse zu präsentieren.<br />
„ Tja Chef, wir haben auch nicht allzu viel vorzuweisen.<br />
Am Oberhafen wird gebaut. Da steht eine große Containersiedlung.<br />
Nachts treten die Prostituierten sich auf die<br />
Zehen. Aber ohne vernünftige Bilder und Namen war da<br />
nichts zu machen. Man kam sich direkt hilflos vor. Nur<br />
dieses blutverschmierte Gesicht in der Hand und die Kleidungsfetzen,<br />
da wollte sich natürlich niemand festlegen.<br />
Wir haben bei mindestens fünfzig Anwohnern geklingelt,<br />
aber auch da Fehlanzeige. Am Wochenende geht!s bei
den Bauarbeitern immer ein bisschen lustiger zu. Da hat<br />
keine Schreie oder Kampfgeräusche gehört.“<br />
Kriminaloberkommissar Bullrich gab dem Vortragenden<br />
ein Zeichen. Härtlein überlegte kurz und nickte dann verstehend.<br />
„ Ach ja, ehe ich es vergesse. Da draußen sind des Öfteren<br />
schwere Daimlerlimousinen gesehen worden; dem<br />
Typ nach zu schließen Regierungskarossen. Aber außer<br />
den Chauffeuren war nie jemand zu erkennen. Da ist hinten<br />
meistens alles abgedunkelt, mit Spezialglas. Herren<br />
dieser Preisklasse suchen sich ihre Gespielinnen normalerweise<br />
nicht auf dem Straßenstrich. Also irgendwie hat<br />
mich das stutzig gemacht. Mehr war nicht.“<br />
Kriminalrat Zefhahn bezog mit einem triumphierenden Lächeln<br />
im Gesicht neben der Tafel Stellung.<br />
„ So, und jetzt kommen wir zu meinen Ergebnissen, beziehungsweise<br />
zu denen von HASSSO. Ich will mich nicht<br />
mit fremden Federn schmücken. HASSSO steht für Hard<br />
and Software Security Services Organisation, aber das<br />
dürfte allgemein bekannt sein oder sollte es zumindest.<br />
Gut, gehen wir gleich medias in res oder wie auch immer<br />
das heißen mag. Ich meine ganz schlicht und einfach:<br />
Lasst uns zur Sache kommen.“<br />
Zefhahn unterstrich zwei Namen.<br />
„ Claudia Luper, fünfundzwanzig Jahre, ledig und Susanne<br />
Roschmann, siebenundzwanzig Jahre, ebenfalls ledig.<br />
Beide wohnhaft in Neukölln, Siegfriedstraße 33b. Na, jetzt<br />
sind die Herren aber baff. Ein Polizeihund sticht sechs
meiner besten Beamten aus. Ein kurzer Pfiff, HASSSO<br />
fass und der Täter wird apportiert. Streifenweise, wenn es<br />
sein muss.“<br />
Niemand lachte. Die Polizisten waren wirklich verblüfft und<br />
warteten gespannt auf die Auflösung des Rätsels. Zefhahn<br />
genoss die Situation sichtlich. Da fiel den sonst nicht<br />
auf den Mund Gefallenen nichts mehr ein.<br />
„ Ja, meine Herren, das ist Polizeiarbeit der Zukunft. Modernste<br />
Technologie gepaart mit der Scharfsinnigkeit geschulter<br />
Gehirne. Aber ich will Sie nicht länger auf die Folter<br />
spannen, die Sache ist ganz banal zustande gekommen.<br />
Ein aufmerksamer Assistent in der Gerichtsmedizin,<br />
so was gibt es auch noch, ist aber bestimmt ein absterbender<br />
Ast, hat...äh, hat festgestellt, dass bei beiden<br />
Mädchen neuartige Füllungen, ich meine Zahnfüllungen,<br />
installiert sind. Füllungen die erst seit ein paar Monaten<br />
auf dem Markt sind und wegen des hohen Preises auch<br />
nicht weiter verbreitet sein dürften. Der Rest war ein Kinderspiel.<br />
Wir haben einen dentalen Fingerabdruck genommen,<br />
wenn ich mich so salopp ausdrücken darf und<br />
diesen dann in HASSS0 eingespeist. Es gibt in ganz Berlin<br />
eben nur drei Zahnärzte, die mit diesem neuartigen<br />
Material arbeiten. Und schwuppdiwupp, HASSSO such,<br />
hatten wir die Identifizierung. Das ist der Vorteil der modernen<br />
Datenvernetzung. Auch am Wochenende ist mit<br />
den richtiges Kodes alles jederzeit abrufbar. Wir sparen<br />
uns Zeit, Geld und jede Menge Nerven.“
Kriminalhauptkommissar Härtlein wollte es genauer wissen.<br />
„ Da tippt praktisch jede Sprechstundenhilfe in ihren Computer<br />
ein, wie die Zähne repariert worden sind. Aber wie<br />
kommen wir da ran? Ärzte hüten ihre Karteien wie ihre<br />
Augäpfel.“<br />
„ Das läuft dann über die Krankenkasse, glaube ich. Ein<br />
Teil davon jedenfalls. Aber das ist eben HASSSO. Der<br />
weiß genau, wo er suchen muss, und vor allem nach was.<br />
Bei Kapitalverbrechen haben die Anwender, also wir, große<br />
Vollmachten und auf eine ungeheure Datenflut Zugriff.<br />
Da kann so ein spezielles Programm schon sehr von Nutzen<br />
sein. Ich bin natürlich kein EDV-Experte, aber praktisch<br />
ist so was schon. Innerhalb von wenigen Stunden<br />
mit Erfolg abgeschlossen, die Aktion. Jetzt stehe ich auch<br />
der Presse gegenüber nicht mehr mit leeren Händen da.<br />
Ein kurzer Zwischenbericht ist schon über die Fernschreiber<br />
getickert. Die wollen was für ihre Sonntagsausgabe<br />
haben. Ich lass mir in der Beziehung nichts mehr nachsagen.<br />
Wer die Mediendiktatur haben will, soll sie bekommen“,<br />
äußerte Zefhan überschwänglich.<br />
Remke wurde hellhörig.<br />
„ Sie haben das hier alles den Pressefritzen zugänglich<br />
gemacht? Und uns total übergangen? Ha, warum gehen<br />
Sie nicht gleich zum Abendblatt? Da könnten Sie ihre Profilneurose<br />
wenigstens ausgiebig auskurieren. Aber das ist<br />
wieder typisch für unsere Abteilung. Die Männer werden<br />
zu Bauern auf dem Schachbrett der leitenden Herren de-
gradiert und nur noch sporadisch als Lückenbüßer eingesetzt.“<br />
Zefhahn wurde energischer. Sein Bariton dröhnte durch<br />
den kleinen Raum.<br />
„ Ich erfülle nur meine Pflicht. Der Innensenator hat eindeutige<br />
Anweisungen gegeben in dieser Richtung. Glasnost<br />
ist angesagt, meine Herren. Auch wenn es einige von<br />
Ihnen damit übertreiben zuweilen. Außerdem verstehen<br />
Sie nichts von Schach, Remke. Die Bauern sind zentrale<br />
Figuren, besonders im Endspiel. Ohne sie wäre der König<br />
verloren, ohne Bauern keine neue Dame. Ich weiß also<br />
gar nicht, was Sie immer wollen. Wenn Sie sich während<br />
der Dienstzeit nicht nur in Fußballarenen herumtreiben<br />
würden, wären wir nämlich schon längst fertig. Ich muss<br />
Ihnen nämlich noch was unter die Nase reiben. Das...“<br />
Kriminalrat Zefhahn kritzelte eine Darstellung an die Tafel,<br />
die entfernt an einen Hundekopf erinnerte.<br />
„ Das, meine Herren, hat die Gerichtsmedizin auf den Innenseiten<br />
der Schenkel der Mädchen gefunden. Ein<br />
Wolfsrachen, das Erkennungszeichen der Nazipartisanen<br />
nach Kriegsende. Die wurden von den Alliierten sehr gefürchtet,<br />
traten aber eigentlich nie in Erscheinung. Eine<br />
Geisterbrigade, die den Besatzungsmächten dann später<br />
dazu diente, harte Auflagen durchzusetzen, da die Hakenkreuzler<br />
sich angeblich noch nicht geschlagen gaben.<br />
Dieser Wolfsrachen wurde den Mädchen eingebrannt, wie<br />
bei einem Stück Vieh. Wo müssen wir also die Täter suchen?“
Zefhahn ließ den Kommissaren keine Zeit, die Frage zu<br />
beantworten. Er hörte sich selbst am liebsten reden.<br />
„ Wissen Sie, wie viele Rechtsradikale es in Berlin gibt,<br />
polizeilich erfasste? Eben! Das wird eine Schlacht! Von<br />
Degradierung keine Spur, meine Herren. Ihr Betätigungsfeld<br />
wächst ins Unendliche.“<br />
„ HASSSO wird!s schon richten“, bellte Maikovsky nach<br />
vorne.<br />
Auch er war mit Zefhahns Vortrag nicht ganz einverstanden.<br />
Man war bereit, große Opfer zu bringen und wurde<br />
dafür abgekanzelt wie ein Schuljunge, dessen Hausaufgaben<br />
vor Fehlern strotzte. Zefhahn nahm wieder etwas<br />
Tempo raus. Seine Rhetorikkurse machten sich bezahlt.<br />
„ Sie haben durchaus recht, mein Lieber. Das Programm<br />
stöbert schon durch diesen braunen Sumpf. Ab Montag<br />
können Sie unseren vierbeinigen Mitarbeiter an die Leine<br />
nehmen und an Ort und Stelle testen. Das ist übrigens<br />
nicht nur sinnbildlich gemeint. Ein elektronisches Notebook<br />
kann mit Festplattenmunition, die von HASSSO geliefert<br />
wird, bestückt werden. Sie sind also immer bestens<br />
im Bilde. Passen Sie nur auf, dass Ihnen das Untier nicht<br />
an die Kehle geht. Bei zu vielen Daten einfach abschalten.“<br />
Remke reagierte prompt.<br />
„ Schade, dass wir das nicht auch bei den Menschen einführen<br />
können. Das wäre ein revolutionärer Fortschritt,<br />
der das Leben ungemein erleichtern würde. Ich war vorhin<br />
noch nicht ganz fertig. Hertha hat zwei zu null verloren.
Der Schiedsrichter war gekauft, aber was will man machen.<br />
Geld regiert die Welt. Wir haben übrigens unsere<br />
Zeit nicht ganz nutzlos verplempert. Es gab wieder dicke<br />
Keilereien und wir konnten einen arg in Bedrängnis geratenen<br />
Kollegen raushauen. Na ja, eine Orden werden sie<br />
uns dafür nicht an die Brust heften. Dafür passiert so was<br />
zu oft. Aber trotzdem war es ein schönes Gefühl irgendwie.<br />
Mal wieder was richtig Handfestes zur Abwechslung.<br />
Wär ich doch nur beim Grenzschutz geblieben. Da kann<br />
man sich noch so richtig austoben.“<br />
Der Kriminalrat hatte sich schon längst ostentativ umgedreht<br />
und war zum Waschbecken gegangen. Diesen Kerlen<br />
musste man schon zeigen, wer Herr im Haus war.<br />
Was zu weit geht, geht zu weit. Und immer wurde einem<br />
dieselbe abgestandene Brühe aufgetischt. Diese Miesmacher<br />
sollten nur spüren, wie unwichtig sie eigentlich waren.<br />
Remke lag jedoch noch mehr auf dem Herzen. Der große<br />
Meister hatte das Wichtigste wieder einmal vergessen.<br />
Aber Hygiene und Sauberkeit gingen vor. Man musste<br />
sich einem akribischen Reinigungsritual unterziehen,<br />
wenn man mit dem gemeinen Pöbel in Kontakt geraten<br />
war. Dieser Fatzke.<br />
„ Chef! Was ist nun, sind es Nutten oder nicht?“<br />
Zefhahn befeuchtete seine Haare und drehte sich kurz<br />
um.
„ Ja, aber das habe ich doch schon zwanzigmal erzählt.<br />
Warum sind Sie eigentlich immer so unaufmerksam? Bei<br />
den anderen geht!s ja auch. Dabei wollte ich Sie noch zur<br />
Beförderung vorschlagen. Das wäre eine hübsche Aufbesserung<br />
Ihrer Rente gewesen. Ob ich das noch vor<br />
Wulke vertreten kann? Sie wissen wie er ist. Der deutsche<br />
Beamte ist ordentlich, ehrlich und bescheiden. Punktum,<br />
was will man da machen. Da müssen Sie schon den Bundespräsidenten<br />
vor einem Sprengstoffattentat bewahren<br />
oder so was Ähnliches. Na ja, Sie werden schon durchkommen.“<br />
Rache ist süß. Zefhahn kämmte sich befriedigt. Kimrod<br />
hatte auch noch ein Anliegen.<br />
„ Herr Kriminalrat, ein zentraler Punkt ist immer noch nicht<br />
geklärt. Wie passt der südländische Typus zu diesem<br />
Namen? Ich meine deutscher geht!s doch nicht?“<br />
Zefhahn strich die letzten Strähnen glatt. Ab einem gewissen<br />
Alter konnte man gar nicht genug auf sein Äußeres<br />
achten. Ein bisschen Eitelkeit war da nur von Vorteil. Zefhahn<br />
klopfte Kimrod wohlmeinend auf die Schulter.<br />
„ Sie haben natürlich Recht. Den Punkt muss ich wirklich<br />
übersehen haben in der Hektik der Konferenz. Die Geschichte<br />
ist ein bisschen kompliziert. Wir, beziehungsweise<br />
HASSSO, haben ein wenig Genealogie betreiben müssen.<br />
Diese Luper, die jüngere der beiden Callgirls...also<br />
das darf ich schon schnell erklären. Sie sind beide registriert,<br />
mit Finanzamt und allem drum und dran. Gott sei<br />
Dank hat der Gesetzgeber da jetzt auch endlich Nägel mit
Köpfen gemacht und diesen Erwerbszweig mit allen Konsequenzen<br />
als Beruf anerkannt. Da hat man nun in so<br />
mancher Beziehung tieferen Einblick und kann da auch<br />
teilweise besser zupacken.<br />
Gut. Was ich sagen wollte, diese Wohnung in Neukölln<br />
wurde auch richtig gewerbsmäßig genutzt. Die Spurensicherung<br />
war schon dort und hat, na ja, ihre Arbeit gemacht.<br />
Fingerabdrücke, Kleidung, Haare, Fussel, das<br />
komplette Programm. Bevor ihr Elefanten dort rumtrampelt,<br />
muss da alles vor Ort sauber und gewissenhaft untersucht<br />
werden. Die Einteilung für morgen und Montag<br />
mache ich gleich anschließend. Also Geduld. Je länger<br />
Sie mich reden lassen, desto schneller können Sie ins<br />
Wochenende starten. Auch wenn das paradox klingen<br />
mag. Also, der Vater von der Luper ist Türke. Ein Lehrer,<br />
der eine Deutsche geheiratet hat. Das Kind, diese Claudia,<br />
hat später den Namen ihrer Mutter angenommen. Die<br />
Eltern leben in Ankara, nur ein Bruder lebt noch hier in<br />
Berlin. Eine ziemlich finstere Type. Ja HASSSO, brav!<br />
Wer sich einmal bei uns verfangen hat, den lassen wir so<br />
schnell nicht mehr los. Wäre auch noch schöner. Also,<br />
Punkt eins geklärt. Punkt zwei verhält sich ebenso, nur<br />
umgekehrt.<br />
Familie Roschmann: Vater Deutscher, Mutter Türkin. Kind<br />
nimmt Namen des Vaters an, logischerweise, weil das halt<br />
hier in Deutschland praktischer ist. Ich meine, einen deutschen<br />
Namen zu haben, hat viele Vorteile. Der Vater, dieser<br />
Roschmann, ist schon verstorben. Krebs, mit Anfang
vierzig. Die Mutter ist wieder verheiratet, wieder mit einem<br />
Deutschen. Das erklärt die Namen, das Aussehen, einfach<br />
alles. Also, so weit, so gut. Wir haben schon einen<br />
guten Teil unserer Arbeit erledigt. Deshalb können wir unsere<br />
Truppen, glaube ich, etwas reduzieren. Härtlein und<br />
Bullrich scheiden aus der SOKO Spreetöchter aus. Passt<br />
doch ganz gut, oder? Spreetöchter, das reduziert sich jetzt<br />
auf vier Mann, aber das dürfte locker reichen. Die Presse<br />
wird zwar noch etwas Wind machen, zwei geschändete<br />
Huren, die eine sogar ohne Kopf. Da steigt die Auflage,<br />
da lacht das Leserherz, aber sonst, nein...übrigens, man<br />
muss die armen Dinger mit einer Bohrmaschine vergewaltigt<br />
haben. Der Tod trat wahrscheinlich jeweils durch Messerstiche<br />
ins Herz ein, bei der Kleinen jedenfalls. Die<br />
Roschmann, die ohne Kopf, woran die gestorben ist ursächlich,<br />
kann man wahrscheinlich nie mehr genau sagen.<br />
Hoffentlich hat man sie erstochen bevor...ich meine<br />
so unmenschlich und brutal kann ja niemand, außer...<br />
womit wir beim nächsten Punkt wären....wenn es sich um<br />
krankhafte Sexualtäter handelt. Leute diese Schlages, die<br />
dafür in Frage kämen, sollten alle hinter Schloss und Riegel<br />
sitzen, für alle Zeit. Die Praxis sieht leider Gottes anders<br />
aus. Nach ein paar Jahren in der Anstalt als geheilt<br />
hinterlassen, Rückfälle ausgeschlossen. Laut psychologischem<br />
Gutachten, die oft nicht das Papier wert sind, auf<br />
dem sie geschrieben werden. Diesen Täterkreis müssen<br />
wir natürlich auch berücksichtigen.
Aber zunächst, und damit zur Einteilung, wollen wir in der<br />
Ecke suchen, die sich besonders aufdrängt. Der Wolfsrachen<br />
nämlich. Das wird übermorgen das Erste sein. Das<br />
übernehmen die altbewährten Fahrensmänner Kimrod<br />
und Remke. Gleich für morgen stände noch ein Besuch<br />
bei Mustafa an, dem Bruder der Luper. Wenn ihr den nicht<br />
erwischt, büchst der womöglich für die ganze Woche aus.<br />
Und das wollen wir doch vermeiden, nicht? Wir wissen natürlich<br />
nicht, ob die Kleine noch mit ihrem Bruder in Kontakt<br />
gestanden ist, aber etwas Besseres fällt mir im Augenblick<br />
nicht ein. Wir werden auch versuchen, die Eltern<br />
zu erreichen. Das kann sich jedoch in die Länge ziehen.<br />
Dort unten weiß man nie.<br />
Ja, gut. Und Maikovsky und Herder versuchen ihr Glück<br />
zunächst mal bei der Mutter der Roschmann. Die wohnt in<br />
der Marienburger Straße, Prenzlauer Berg. Vielleicht ist<br />
da was zu holen. Ist immer schwierig mit den Angehörigen<br />
der Prostituierten. Da will keiner mehr was damit zu tun<br />
haben. Gut, dann bis Montag. Moment, diesen Mustafa<br />
könnt ihr in der Prinzenstraße 21 ausfindig machen. Ihr<br />
kennt euch da aus, aber möglichst morgen. Tut mir leid,<br />
aber ein bisschen müssen wir schon noch ranklotzen. Wir<br />
dürfen uns nichts nachsagen lassen. Von wegen auf dem<br />
rechten Auge blind oder so. Ihr kennt das ja. Da muss<br />
man vorbauen. Gut, dann ein schönes Wochenende. Bis<br />
Montag.“
Die Polizisten zündeten sich Zigaretten an. Zefhahn verließ<br />
mit Bullrich und Härtlein das Büro. Remke klatschte<br />
mit der flachen Hand gegen die Tafel.<br />
„ Dieses Schwein. Er weiß genau, dass ich meine Beförderung<br />
schon längst in den Wind geschrieben habe. Aber<br />
immer wieder muss er davon anfangen. Als ob Wulke daran<br />
schuld wäre! Eines Tages ist er fällig. Ich lasse ihn<br />
zwanzig seiner Golfbälle schlucken. Die kann er dann<br />
hübsch der Reihe nach versenken. Mit seinem Arsch.“<br />
Kimrod winkte ab.<br />
„ Du und deine leeren Versprechungen. Außerdem hast<br />
du das selber verbockt. So wie du den behandelst. Das<br />
würde sich keiner so mir nichts dir nichts gefallen lassen.<br />
Wenn du so weiter machst, schickt er dich bis zur Rente in<br />
den Urlaub. Wahrscheinlich arbeitest du auf das hin.“<br />
Auch Maikovsky musste seinen Frust loswerden.<br />
„ Der mit seinem HASSO kann mir den Buckel runterrutschen.<br />
Soll er doch das Ding auf einen Sackkarren verfrachten<br />
und durch Berlin schippern. Vielleicht könnte er<br />
mit diesem Wandofen ein paar alte Steckdosen verhaften<br />
oder weiß der Teufel was. Was erwartet er denn, wenn er<br />
uns mit leeren Taschen losschickt? Wir haben uns den<br />
Samstag doch völlig umsonst um die Ohren geschlagen.<br />
Ihr wart wenigstens so schlau und habt euch das Spiel<br />
reingezogen. Dabei hat Hertha doch in den letzten drei<br />
Spielen sieben Punkte geholt. Und jetzt gegen diese abgehalfterten<br />
Großkotze zwei zu null. Da ist doch was nicht<br />
mit rechten Dingen zugegangen. Aber einmal stärkt man
diesen Pfeifen nicht persönlich den Rücken, schon geht!s<br />
den Bach runter.“<br />
Remke setzte ihm genauestens auseinander, wie es zur<br />
schmachvollen Niederlage gekommen war. Auch wenn<br />
Maikovsky sonst ein ziemlicher Sprücheklopfer war, vom<br />
Fußball verstand er etwas. Er hatte stets den aktuellen<br />
Tabellenstand parat und wusste mit fachmännischen Analysen<br />
zu glänzen. Einer sachverständigen Diskussion<br />
stand also nichts im Wege.<br />
Kimrod rauchte nachdenklich zu Ende. Er war mit dem<br />
Verlauf des Tages eigentlich zufrieden. Zefhahn und die<br />
Medizinmänner hatten gute Arbeit geleistet. Die Jagd<br />
konnte jetzt richtig losgehen. Die Beute war identifiziert<br />
und die Räuber wenigstens ansatzweise markiert worden.<br />
Als Täter kamen Rechtsradikale, Zuhälter, durchgeknallte<br />
Freier, die vielleicht erpresst worden waren und krankhafte<br />
Sexualverbrecher vom Schlage eines Jack the Ripper<br />
in Frage. Keine kleine Auswahl. Der Schlüssel zu diesem<br />
Fall lag vielleicht im Milieu. Insofern war ihre heutige Tour<br />
nicht umsonst gewesen. Wer kannte die Mädchen näher,<br />
wer hatte sie vermittelt und angelernt? Mit welchen Freiern<br />
hatten sie es hauptsächlich zu tun gehabt?<br />
Tante Berta! Sie hatte schon vorhin ein so betretenes Gesicht<br />
gemacht. Das war ein Ansatzpunkt. Man musste sie<br />
nur aus der Reserve locken, ihr klar machen, dass nur die<br />
Polizei den Täter überführen und seiner gerechten Bestrafung<br />
zuführen konnte. Das war freilich leichter gesagt als<br />
getan. Die Polizei und die Justiz besaßen in dieser Bran-
che traditionell kein großes Ansehen. Die Bestechlichkeit<br />
einiger Vollstreckungsbeamten und die Gleichgültigkeit<br />
der Gerichte waren denkbar schlecht dazu geeignet, diesen<br />
Zustand zu verändern. Und Leute wie Berta konnten<br />
einen vielleicht als Mensch gut leiden, vergaßen aber bestimmt<br />
nie, dass man sich in zwei strikt getrennten Lagern<br />
befand.<br />
Die Sache würde also viel Zeit und Überredungskunst erfordern.<br />
Ersteres war nach Kimrod Einschätzung nur bedingt<br />
vorhanden. Man würde der Öffentlichkeit schnell einen<br />
Schuldigen präsentieren müssen. Die Wahlen standen<br />
bevor und die Senatoren der Justiz und des Inneren<br />
standen dementsprechend unter Druck. Der Bürger maß<br />
die Effizienz seiner Repräsentanten gern an der Auflösung<br />
solch blutgeschwängerter Trivialtragödien aus den Niederungen<br />
des horizontalen Gewerbes, mit dem zwar schon<br />
fast jeder Vertreter des männlichen Geschlechts im Rahmen<br />
von Initationsriten in Berührung gekommen war, das<br />
aber noch immer himmelweit davon entfernt war, gesellschaftlich<br />
anerkannt oder zumindest akzeptiert zu werden.<br />
Das Stückchen Normalität, das durch die formale Einordnung<br />
in die Selbständigensparte und die Gründung eines<br />
offiziellen Berufsverbandes erreicht worden war, verblasste<br />
angesichts der generellen Diskriminierung und Verachtung,<br />
die den Prostituierten weiter unverhohlen ins Gesicht<br />
schlug.<br />
Kimrod drückte seine Zigarette aus und verabschiedete<br />
sich von den Kollegen. Er vereinbarte mit Remke einen
Treffpunkt für morgen Mitttag und fuhr mit dem Dienstwagen<br />
nach Hause. Emma, seine Frau, hatte sich bereits<br />
Sorgen gemacht.<br />
„Ich dachte mir schon, dass was passiert sei. Du hättest<br />
dich aber auch mal melden können zwischendurch. Wo es<br />
doch wieder solche Krawalle gab im Stadion. Hat deine<br />
Verspätung damit zu tun?“<br />
Kimrod schlüpfte aus den Schuhen und ging neben seiner<br />
Frau vorbei in die Küche. Er hatte Hunger, außerdem wollte<br />
er erst einmal nichts mehr von den Ereignissen des Tages<br />
wissen.<br />
„ Im Kühlschrank sind Schnitten. Bier müsste auch noch<br />
da sein“, rief ihm Emma hinterher.<br />
Kimrod machte es sich gemütlich. Die Brote schmeckten<br />
herrlich, das Bier war erfrischend kühl. So ließ es sich leben.<br />
Emma wartete bis er fertig gegessen hatte und sich<br />
eine Zigarette anzündete.<br />
„ Also, was war denn heute so großartig los, an einem<br />
Samstag?“<br />
Kimrod stieß genüsslich kleine Rauchringe aus, nachdem<br />
er inhaliert hatte. Das war typisch. Sie ließ nicht locker bis<br />
er nachgab und ihr genauen Bericht erstattete. Er gab<br />
sich gerne geschlagen, denn ihre Anteilnahme war aufrichtig<br />
und manchmal auch hilfreich. Schon mehrmals hatte<br />
sich ihr gesunder Menschenverstand als nützlich erwiesen,<br />
wenn er in einem verzwickten Fall nicht weiterkam.<br />
Kimrod nannte sie deshalb in solchen Momenten scherz-
haft Watson, auch wenn sie sonst eigentlich gar nichts mit<br />
dem schrulligen Wald und Wiesendoktor gemeinsam hatte,<br />
der Sherlock Holmes bisweilen assistierte.<br />
Emma hatte Kimrod noch während ihrer Schulzeit kennen<br />
gelernt. Es war nicht einfach gewesen, den etwas scheuen<br />
jungen Mann zu erobern, der aus einfachen Verhältnissen<br />
stammte und es lange nicht glauben wollte, dass<br />
die piekfeine Professorentochter sich ernsthaft in ihn verknallt<br />
hatte. Doch Emma war hartnäckig und gab ihn auch<br />
dann nicht auf, als er Polizist wurde. Sie wurde mit dreiundzwanzig<br />
schwanger und beendete trotzdem erfolgreich<br />
ihr Biologiestudium. Sie hatten inzwischen geheiratet<br />
und sich eine kleine Wohnung genommen, wobei ihnen<br />
die finanzielle Unterstützung von Emmas Vater sehr gelegen<br />
kam, auch wenn Kimrod die pekuniäre Großzügigkeit<br />
des Gelehrten nur zähneknirschend akzeptierte. Aber als<br />
Polizeifachschüler durfte man nicht sehr wählerisch sein,<br />
besonders wenn man Frau und Kind zu versorgen hatte.<br />
Kimrod überwand den verbissenen Stolz des Proletariersprösslings<br />
und arrangierte sich schließlich mit der kosmopolitischen<br />
Bildungsbürgerfamilie seiner Frau, deren<br />
Mutter gebürtige Brasilianerin war und ebenfalls Vorlesungen<br />
an der Freien Universität hielt. Nachdem er zum<br />
Kommissar befördert worden war und sie die größten<br />
Geldsorgen hinter sich gelassen hatten, kam man sich<br />
auch menschlich näher und Kimrod wurde voll und ganz<br />
aufgenommen in den Klub der Intelligenzbestien, wie sein
Sohn Wolf diesen Teil des Stammbaums despektierlich titulierte.<br />
Der alte Professor, Emmas Vater, war ein wandelndes Lexikon<br />
und Kimrod hatte auch auf diesen Fundus schon öfters<br />
zurückgegriffen bei seinen kriminologischen Recherchen.<br />
Auch Emma war ihm intellektuell überlegen. Kimrod<br />
gestand sich das neidlos und ohne Groll ein, doch ab und<br />
an brachte sie ihre Herkunft zu penetrant ins Spiel. Sie<br />
entwickelte dann seines Erachtens nach richtigen Standesdünkel,<br />
dem er ebenfalls nur aus einer unterlegenen<br />
Position entgegentreten konnte. Doch in diesem Fall verstand<br />
er keinen Spaß. Auch wenn ihn mit seinen Eltern<br />
Zeit seines Lebens eher wenig verbunden hatte, brachte<br />
er ihnen heute mehr denn je ungeheuren Respekt entgegen.<br />
Trotz geringer Mittel allen Kindern eine hochwertige<br />
Bildung angedeihen zu lassen, war keine geringe Leistung.<br />
Kimrod wusste das spätestens seit der Einschulung<br />
seiner Kinder.<br />
Bücher, Taschenrechner, der oft nicht mehr den Anforderungen<br />
der Mathematiklehrer genügte, es sollte schon ein<br />
kleiner PC sein, Fahrkarten und Klassenausflüge. Überall<br />
wurde die staatliche Subventionierung zusammengestutzt<br />
und eingestellt. Wer dennoch in den Genuss öffentlicher<br />
Beihilfe kommen wollte, musste Bedürftigkeit nachweisen.<br />
Kimrod fiel das bei seinem Gehalt nicht schwer, auch<br />
wenn Emma durch ihr gelegentliches Jobben in einem Institut<br />
zu einer Verbesserung des Familieneinkommens<br />
beitrug. Unterm Strich blieb monatlich nur wenig übrig. Ein
Glück, dass Ingrid, die Tochter des Hauses, sich ein Stipendium<br />
erarbeitet hatte. Um so bitterer stieß es ihrem<br />
Vater auf, dass sie alles Stähler, diesem hanebüchenen<br />
Scharlatan, in den Rachen warf.<br />
Die Aussicht auf einen Sitz im Abgeordnetenhaus für<br />
Emma war auch für die Familie verlockend, nicht nur aus<br />
finanziellen Gründen. Kimrod brachte immer häufiger das<br />
geringe Prestige seines Berufes mit der exotischen Lebensgestaltung<br />
seiner Kinder in Verbindung. Er hatte ihnen<br />
anscheinend durch sein Beispiel wenig geistigen<br />
Rückhalt und Orientierung bieten können. Beide gingen<br />
abgefeimten Bauernfängern auf den Leim, trotz des akademischen<br />
Blutes in ihren Adern, das, Ingrid hatte es bestätigt,<br />
noch immer heftig pulsierte. Wenn Emma den großen<br />
Sprung schaffte, ihre Erfolge auf kommunaler Ebene<br />
gaben Anlass zu berechtigten Hoffnungen, konnte sie sicherlich<br />
zur Reintegration der Kinder beitragen.<br />
Emma etablierte sich in der Partei immer stärker als Fachfrau<br />
für Wissenschaft und Forschung. Wenn die Wende<br />
endlich gelang und der angefaulte schwarze Moloch aus<br />
den Ämtern gejagt werden konnte, winkte vielleicht sogar<br />
ein Senatorenstuhl. Da die absolute Mehrheit höchstwahrscheinlich<br />
nicht erreichbar war, musste die SPD-<br />
Fraktion zwangsläufig in den sauren Apfel beißen und sich<br />
nach anderen kompromissfähigen Koalitionspartnern umsehen.<br />
Doch die waren rar. Die Ehe mit den Grünen war<br />
schon mehrmals gescheitert, doch alte Liebe rostet nicht.
Die Stimmen häuften sich, die empfahlen, in dieser Richtung<br />
verstärkt vorzufühlen.<br />
Die andere Alternative, die Sozialisten, war kaum verlockender.<br />
Die Nachfolgepartei der kommunistischen<br />
Staatsbankrotteure gewann jedoch zusehends an Profil,<br />
besonders bei den Jungwählern. Bei einigen Genossen<br />
stieg die pepige Linksaußenpartei immer mehr im Ansehen,<br />
schließlich hatte man bei allen divergierenden Entwicklungen<br />
gemeinsame Wurzeln. Und die Probleme des<br />
einfachen Mannes waren aktueller denn je.<br />
Die schweigende Mehrheit der Sozialdemokraten tendierte<br />
weder in die eine noch in die andere Richtung. Die radikalen<br />
Randparteien waren in den Augen vieler nicht<br />
bündnisfähig. Eine Zusammenarbeit machte keinen Sinn,<br />
da bei vielen essentiellen Themen von vornherein kein<br />
Grundkonsens bestand, zumindest in Berlin. Was blieb,<br />
waren die Rechtsextremen, die als Partner zwar noch<br />
immer indiskutabel waren, inzwischen aber über ein stabiles<br />
Stammwählerkontingent verfügten, das sie zu einem<br />
ernstzunehmenden Gegner machte.<br />
Insgesamt profitierten die Zwergparteien von ihrem Bürgerschreckimage.<br />
Die Protestwähler konnten den Herrschenden<br />
saftig eins auswischen, wenn sie ins extreme<br />
Lager abwanderten. Die Altparteien im Bundestag waren<br />
durch die langwährende Regierungskoexistenz stärker<br />
zusammengewachsen als beabsichtigt, konstruktive Opposition<br />
wurde nur noch von Außenseitern betrieben. Die<br />
Wahlen wurden deshalb sehnsüchtiger denn je erwartet.
Endlich mussten wieder demokratische Verhältnisse einkehren,<br />
die verfilzten Cliquen im Reichstag an die frische<br />
Luft gesetzt werden. Alle Umfragen bestätigten diesen<br />
Trend, so dass die Parteistrategen nicht umhinkamen, einer<br />
Fortsetzung und Neuauflage der Großen Koalition im<br />
Bundestag und den Länderparlamenten eine klare Absage<br />
zu erteilen.<br />
Kimrod war zwar im Grunde seines Wesens ein apolitischer<br />
Mensch, doch wenn er sich zum Urnengang aufraffen<br />
konnte, meistens brachte ihn Emma so weit, machte<br />
er bei der Union sein Kreuzchen. Die Innensenatoren<br />
wechselten häufig und der CDU-Kandidat war nicht immer<br />
der bessere, aber insgesamt lag die sicherheitspolitische<br />
Auslegung dieser Partei am ehesten auf seiner Linie, von<br />
den polternden law and order Sprüchen der Rechten einmal<br />
abgesehen, bei denen so manch frustrierter Kollege<br />
Zuflucht gesucht hatte. Auch Kimrod liebäugelte ab und<br />
an mit den braun angehauchten Rechtsauslegern, doch<br />
die oft mangelhaft ausgeprägte Integrität deren Propagandisten<br />
verhinderte bislang eine engere Anbindung an<br />
Personen und Programm der Blut und Bodenparteien. Er<br />
stieß sich ebenfalls an der aufgesetzt wirkenden Schlagwortpolitik<br />
der Ultrarechten, auch wenn die Regierungskoalition<br />
vieler ihrer Forderungen erfüllt hatte und eine<br />
Aufnahme aller Staaten des ehemaligen Ostblocks in die<br />
EU und NATO verhindert worden war.
In diesem Spektrum dominierte dumpfe Ausländerfeindlichkeit<br />
und Sündenbockabstempelungen, da war nichts<br />
gewachsen und tiefer begründet. Die Industrie und das<br />
Handwerk hatten zwar durchgesetzt, dass mehr billige Arbeitskräfte<br />
aus dem Osten und den Entwicklungsländern<br />
mit befristeten Aufenthaltsgenehmigungen ausgestattet<br />
wurden und dadurch das Lohnniveau gedrückt werden<br />
konnte, doch den Beweis, dass die drückende Arbeitslosenquote<br />
ursächlich allein mit dem Ausländeranteil in Verbindung<br />
stand, hatte noch niemand erbracht. Die Fremdenfeindlichkeit<br />
wurde von der scheinheiligen Boulevardpresse<br />
geschürt, die bestehende Missstände plakativ anprangerte<br />
und mit fetten Lettern ins Volksbewusstsein<br />
einbrannte. Wenn die so produzierte Gewalt wieder einmal<br />
eskalierte, war man mit Schuldzuweisungen schnell<br />
bei der Hand. Der autoritäre Staat schüre diese Konflikte,<br />
die Polizei habe nicht angemessen reagiert oder war gar<br />
der Bürger noch nicht reif für das toleranzerfordernde Zusammenleben<br />
in der multikulturellen Gesellschaft des einundzwanzigsten<br />
Jahrhunderts?<br />
Nichts haftete so sehr wie das gedruckte Wort, und Verbrechen<br />
wurden gerne nachgeahmt, aus welchen Gründen<br />
auch immer, so dass das potenzierende Element<br />
der Medien nicht hoch genug bewertet werden konnte.<br />
Die bluttriefenden Fernsehreportagen verleiteten leicht<br />
beeinflussbare Gemüter zur Folgetat. Anlässe zur enthemmenden<br />
Frustration gab es ebenfalls mehr als genug.
Die Politik spielte also auf mannigfache Weise in den<br />
Mordfall hinein. Es konnte also bestimmt nicht schaden,<br />
von berufener Seite eine Stellungnahme einzuholen. Emma<br />
setzte sich neben ihren Mann an den Küchentisch.<br />
„ Du rauchst wieder. War es wirklich so schlimm?“<br />
Kimrod drückte die Zigarette aus.<br />
„ Es geht. Zwar kein normaler Fall, aber wir sind schon ein<br />
gutes Stück vorangekommen. Dank HASSSO.“<br />
„ Wer ist das, euer neuer Hund?“<br />
„ Genau. Der alte Bullenbeißer geht in Pension und der<br />
amerikanische Bärenhund aus dem Siliconvalley tritt die<br />
Nachfolge an. Ein sehr gescheites Tier. Es ist eine wahre<br />
Freude, mit ihm zusammenzuarbeiten.“<br />
„ Du willst mich auf den Arm nehmen. Hat Zefhahn mal<br />
wieder seinen Computer durch die Datenbanken gehetzt?<br />
Ich möchte nicht wissen, wo ihr eure Nase überall reinsteckt.<br />
Mit oder ohne Erlaubnis.“<br />
„ Ich auch nicht, ist mir aber egal. Der moderne Mensch<br />
lebt so, dass er nichts zu verbergen hat. Dann können einem<br />
sämtliche Datenschutzbeauftragte gestohlen bleiben.<br />
Die wahren Verbrechen finden im Kopf statt, dort wo keiner<br />
hinsehen kann. Was ich mir da manchmal ausmale...“<br />
Kimrod dachte an seine jungfräuliche Liaison mit den<br />
Rechten. Emma würde ihn aus dem ehelichen Schlafzimmer<br />
verweisen, wenn sie etwas davon wüsste. Gegen<br />
alles, was nach braun roch, entschieden auf die Barrikaden<br />
zugehen, war den Linken noch immer oberstes Pfadfindergebot.<br />
Emma bat ihn um eine Zigarette.
„ Das ist unfair. Nur weil du dich am Samstag mit einem<br />
stressigen Fall herumschlagen musst, fange ich wieder<br />
mit dieser Scheißqualmerei an. Führe mich nicht in Versuchung...“<br />
„ Psst, wenn das Ingrid hören würde. Die kann doch bestimmt<br />
schon alle Bibelsprüche rückwärts hersagen.“<br />
„ Nicht so laut. Deine religiöse Töchter liegt in der Wanne,<br />
in unserem Badezimmer.“<br />
„ Aber hallo. Ist ihrem Stähler das Manna ausgegangen<br />
oder was? Sie war doch bestimmt seit einem viertel Jahr<br />
nicht mehr hier.“<br />
„ Weil du sie immer wie eine Zehnjährige behandelst, die<br />
sich auf dem Rummelplatz in der Geisterbahn verirrt hat.“<br />
„ Ein treffender Vergleich. Stähler und Jahrmarkt, dort hat<br />
er bestimmt seine Karriere gestartet...in irgendeinem Nest<br />
in Texas oder Neumexico, in dem der Wüstenwind diese<br />
runden Büsche durch die Straßen treibt. Stähler steht in<br />
einem zerschlissenen Zirkuszelt auf dem obligatorischen<br />
durchlöcherten Whiskyfass und sabbelt vor einer Handvoll<br />
altersschwacher Zuhörer vor sich hin...<br />
lasst ab von eurem lästerlichen Treiben. Der Tag des<br />
Herrn naht und er wird furchtbares Strafgericht halten.<br />
Noch ist Umkehr möglich auf dem Pfad der Verdammnis.<br />
Der Herr wird die Seinen vor dem Zorn der Racheengel<br />
beschützen, doch wer sich von ihm abkehrt, fällt Satan<br />
anheim. Ich bin der Verkünder des Schicksals, nur wer mir<br />
spendet...Kasse links, Kasse rechts.
Emma klatschte amüsiert Beifall. Heute konnte er sich sogar<br />
einmal lustig machen über die Sektierer, die auch aus<br />
Parteikreisen regen Zulauf hatten.<br />
„ Bravo! Ich wusste schon immer, dass in dir ein Schauspieler<br />
steckt. Mein Gott, das war wirklich eine Nummer!<br />
Dass uns nur das Kind nicht hört, sonst sind wir sie endgültig<br />
los. Sie wollte etwas besprechen mit uns, mit uns<br />
beiden. Sie legt also noch Wert auf deine Anwesenheit. Es<br />
ist noch nicht alles verloren. Da kommt mir eine Idee. Wir<br />
könnten doch alle zusammen zum Essen gehen, zur Feier<br />
des Tages. Wär doch schön, nicht? Vielleicht kann ich<br />
Wolf noch erreichen. Der steckt natürlich schon wieder bei<br />
seinem Haufen, anstatt dass er sich mal nach einer<br />
Freundin umsehen würde. Aber was willst du machen? Ich<br />
rufe schnell in ihrem Hauptquartier an und danach erzählst<br />
du mir alles. Ich platze schon vor Neugier.“<br />
Emma verschwand im Flur um zu telefonieren. Aus dem<br />
Bad war gedämpftes plantschen zu hören. Wie oft war<br />
diese Reinigungsstätte heiß umkämpft gewesen, als die<br />
Kinder noch zur Schule gingen? Besonders kritisch war<br />
die Lage geworden, nachdem Ingrid ihr elftes Lebensjahr<br />
vollendet hatte und beschloss, eine Dame zu werden, die<br />
sich schminken musste und sehr viel Wert auf ihr Äußeres<br />
legte. Es war nicht leicht gewesen, sie davon zu überzeugen,<br />
dass es auch noch andere Personen im Haushalt<br />
gab, die sich frühmorgens waschen und Zähne putzen<br />
mussten. Sie stand danach tatsächlich für ein paar Wochen<br />
um fünf Uhr auf, um ihr Programm störungsfrei ab-
solvieren zu können. Ein Dickkopf, der es gewohnt war,<br />
bei der Verwirklichung seiner Pläne auch dornenreiche<br />
Pfade einzuschlagen.<br />
Emma hatte ihr Gespräch beendet.<br />
„ Ich habe nichts anderes erwartet. Dein Sohn ist unabkömmlich.<br />
Sie feiern den Abschluss der Freiluftsaison auf<br />
dem Dachsberg. Anwesenheit ist Pflicht. Weißt du übrigens,<br />
dass dein Sohn den Waffenschein beantragt hat?<br />
Totschs Offiziere haben alle einen. Ich mache mir Sorgen,<br />
jetzt werden sie ihn mit immer gefährlicheren Aufgaben<br />
betrauen. Kann man denn so was nicht verhindern? Ich<br />
meine, bevor es zu spät ist und man sich hinterher Vorwürfe<br />
machen muss, weil man nicht rechtzeitig eingeschritten<br />
ist.“<br />
Kimrod schüttelte seufzend den Kopf.<br />
„ Totsch ist ein Mann der Regierung, mit sehr guten Verbindungen<br />
nach oben. Er kann sich rausnehmen, was er<br />
will. Die Polizei ist ja unfähig, korrupt und streikt ständig.<br />
Also muss man sich jemand anders suchen, der für Ordnung<br />
und Sicherheit sorgt. Jeder Vorstadtschläger wird<br />
mit einer scharfen Waffe ausgestattet und darf ungestraft<br />
durch die Gegend ballern. Der Bürger will es so. Gegen<br />
die Kriminellen und Asozialen, die auf der Straße herumlungern,<br />
ist nun mal kein anderes Kraut gewachsen. Sollen<br />
sie doch! Mir können schon langsam alle gestohlen<br />
bleiben!“<br />
„ Aber Wolf ist doch kein Vorstadtschläger. Mir gefällt dieser<br />
Totsch zwar auch nicht, aber der Junge sieht das als
Chance, etwas aus sich zu machen. Es kann nicht jeder<br />
ein Einstein werden. Diesen Drang zum Ordnungshüter<br />
hat er vielleicht von dir geerbt. Und irgendwas muss er<br />
machen, um ein selbständiges Leben zu führen. Mir gefällt<br />
dieser martialische Aufzug auch nicht. Das militärische<br />
Gehabe und die kindische Geheimniskrämerei<br />
ebenso wenig, aber das gehört bei solchen Organisationen<br />
einfach mit dazu. Und nützlich sind sie doch in mancher<br />
Beziehung. Die Polizei kann doch schlecht für alles<br />
und jeden den Bodyguard spielen. Die Camos können in<br />
dieser Richtung viel flexibler vorgehen. Sie sind neutral<br />
und keiner Partei und keinem Politiker verpflichtet. Sie<br />
machten es sich zur Aufgabe, das Land vor Störenfrieden<br />
zu schützen und dem Bürger wieder ein ausreichendes<br />
Maß an Sicherheit zu verschaffen. Jetzt der Wahlkampf.<br />
In der ganzen Hektik und leider Gottes auch Brutalität der<br />
Veranstaltungen würde die freie Meinungsäußerung, ein<br />
elementarisches demokratisches Grundrecht, doch ohne<br />
die Camos nicht mehr möglich sein. Die Störer und Provokateure,<br />
wer sonst würde sie zur Räson bringen und an<br />
der Durchführung ihrer Vorhaben hindern? Von den verkappten<br />
und tatsächlichen Attentätern ganz zu schweigen.<br />
Ich meine, es kommt doch genug vor. Die Polizei allein ist<br />
den sehr rauen klimatischen Bedingungen nicht mehr gewachsen.<br />
Entweder wird überreagiert oder überhaupt<br />
nicht. Bei Totsch und seiner Truppe wissen die Chaoten,<br />
was sie zu erwarten haben. Die sind kampfsportmäßig
ausgebildet und wirken allein schon durch ihre Anwesenheit.“<br />
„ Deswegen braucht dein Sohn auch einen Waffenschein.<br />
Er darf deine Chaoten und Provokateure ruhig durchlöchern.<br />
Von ihm hat keiner etwas anderes erwartet. Ich<br />
dachte, Totsch wäre nur bei den Rechten so beliebt. So<br />
kann man sich täuschen. Mit Totsch und seiner Truppe<br />
werdet ihr euch noch sauber ins eigene Fleisch schneiden.<br />
Der stürzt sich doch wie ein Vampir auf jeden Blutstropfen,<br />
der in Deutschland vergossen wird, um ihn für<br />
seine Zwecke eiskalt und berechnend auszuschlachten.<br />
Das Einzige, wem sich der verpflichtet fühlt, ist seine<br />
Geldbörse. Sonst interessiert den nichts. Vielleicht noch<br />
die Befriedigung seiner Machtgelüste. Wahrscheinlich findest<br />
du ihn deshalb so sympathisch. Dein Drang in die<br />
große Politik erklärt da vieles. Ihr Sozis seid für mich auf<br />
jeden Fall gestorben. Wieder eine Stimme weniger.“<br />
Kimrod griente. Seltsam, sein Gehirn schien außergewöhnlich<br />
viele Glückshormone zu produzieren. Bei dem<br />
ganzen Müll, den er sich heute anhören musste, verlor er<br />
partout nicht seine gute Laune.<br />
„ Ja, ja, du und deine Rechten. Die musst du wählen,<br />
sonst wirst du nie Zefhahns Nachfolger“, konterte Emma<br />
trocken.<br />
„ Es würde auch kaum einen Unterschied machen, wenn<br />
man dich so reden hört. Aber ihr Sozialdemokraten zeichnet<br />
euch traditionell durch einen strammen innenpoliti-
schen Kurs aus, wenn ihr tatsächlich in der Regierungsverantwortung<br />
steht. Und Zefhahns Stuhl ist schon lange<br />
vergeben. Härtlein ist bereits heute wieder von unserem<br />
Fall abgezogen worden. Der Gute soll sich wohl nicht die<br />
Hände schmutzig machen. Fürs Grobe gibt es so nützliche<br />
Idioten wie mich. Soko Spreetöchter wurde auf vier<br />
Mann reduziert. Noch bevor wir richtig zu arbeiten angefangen<br />
haben. Nur noch Maikovsky, Herder, Remke und<br />
ich.“<br />
„ Eine starke Truppe, in der Tat. Auf wen werdet ihr losgelassen?<br />
Spreetöchter, das hört sich so romantisch an.“<br />
„ Ist es aber leider Gottes nicht. Zwei Callgirls wurden<br />
grausam ins Jenseits befördert. Deutschtürkinnen oder<br />
Türkischdeutsche, ich weiß nicht, wie man das nennt. Auf<br />
alle Fälle eine sehr unsaubere Angelegenheit. Ich will jetzt<br />
nach dem Essen nicht näher ins Detail gehen. Die Tat wird<br />
eine Menge Staub aufwirbeln. Zefhahn hat die Herren von<br />
der Presse bereits eingehend informiert. Wir werden uns<br />
also sputen müssen. Sogar morgen wird malocht. Zefhahn<br />
will mal wieder nach oben glänzen.“<br />
„ Und wo hat sich das Ganze ereignet?“<br />
„ Die Leichen wurden in der Grenzallee gefunden. In der<br />
Nähe von so einer Containersiedlung mit Bauarbeitern.<br />
Auf den Schenkeln der Mädchen wurden Wolfsrachen<br />
eingebrannt. Weißt du, wofür das steht?“<br />
„ Nein, keine Ahnung. Vielleicht hat sich da einer zu viele<br />
alte Gruselfilme reingezogen.“
„ Du liegst gar nicht so verkehrt. Dieser Wolfsrachen ist<br />
laut Zefhahn das Erkennungszeichen einer Nazipartisanentruppe,<br />
die am Ende des dritten Reiches in Erscheinung<br />
getreten ist.“<br />
„ Und so viele Jahre später soll sie wieder mit einem Doppelmord<br />
auf sich aufmerksam machen, deutsches Blut<br />
vergießen?“<br />
„ Wirkt reichlich konstruiert, das Ganze. Da hast du recht.<br />
Deutsch sind beide zur Hälfte. Das schließt doch einen<br />
aus rein rassischen Motiven, oder wie man das auch immer<br />
nennen soll, handelnden Mörder aus. Wenn man mit<br />
halb, viertel und achteldeutsch anfängt, kann man ganz<br />
Berlin zur ethnischen Säuberung freigeben.“<br />
„ Eigentlich die ganze Welt...“<br />
„ Und den ganzen Kosmos. Alles hat einen gemeinsamen<br />
Ursprung.“<br />
Diese Sentenz wurde von Ingrid beigesteuert, die in einen<br />
engen Bademantel gehüllt in der Tür erschienen war. Von<br />
ihrer Mutter hatte die sehr energisch wirkende Studentin<br />
die langen blonden Haare und von ihrem Vater die kräftige,<br />
doch sportlich wirkende Nase geerbt. Kimrod stand<br />
auf und begrüßte sie mit zwei Küssen auf die Wangen.<br />
„ Na, du lässt dich auch mal wieder blicken. Ich dachte<br />
schon, du weißt gar nicht mehr, wo deine Heimat ist. Du<br />
siehst gut aus, mein Prachtmädel.“<br />
„ Du auch, Paps. Wie geht!s denn so? Wie ich höre, bist<br />
du schon wieder fleißig am Arbeiten. Das bedeutet bei dir
nichts Gutes. Ich meine, wenn du aktiv wirst, tragen andere<br />
Trauer.“<br />
„ Na, na. Der Sensenmann bin ich aber nicht. Wir räumen<br />
nur die Reste weg und wollen verhindern, dass die bösen<br />
Buben ein zweites Mal zuschlagen.“<br />
„ Bei Claudia kamt ihr aber zu spät. Sie war eine Bekehrte,<br />
ein Mitglied unserer Gemeinde. Ich hoffe, das wird sich<br />
auf das Aufklärungstempo nicht nachteilig auswirken.“<br />
Kimrod war verblüfft. Seine Tochter war über die Tragödie<br />
bereits informiert.<br />
„ Woher weißt du, dass das Mädchen ermordet wurde?<br />
Sie hat doch hier keine Angehörigen, nur einen Bruder,<br />
den wir erst morgen benachrichtigen wollten.“<br />
„ Vielleicht hat sie keine Angehörigen, aber sie hat uns,<br />
die Gemeinde. Jemand von euch hat unsere Verwaltung<br />
verständigt und da ich einige Meditationskurse leite, die<br />
Claudia teilweise besuchte, hat man mich eingeschaltet,<br />
um die Umstände ihres Todes zu klären. Die Gemeinde<br />
lässt niemanden im Stich.“<br />
„ Moment. Ich denke, das ist meine Aufgabe. Davon lässt<br />
du lieber die Finger. Du könntest sie dir ordentlich verbrennen.<br />
Das werde ich zu verhindern wissen. Schließlich<br />
bist du meine geliebte Tochter, die ich nicht so einfach<br />
gemeingefährlichen Kriminellen ausliefere. Du kannst dir<br />
die Leichen gerne ansehen in der Gerichtsmedizin. Glaube<br />
kaum, dass du danach noch großartig Lust verspürst,<br />
dich mit der Sache näher zu beschäftigen.“
„ Du unterschätzt mich, Vater. So schnell bin ich nicht<br />
kleinzukriegen. Zuallererst muss für eine ordnungsgemäße<br />
Beerdigung gesorgt werden. Die Leiche wird verbrannt<br />
und die Urne von ausgewählten Bekehrten mit unserem<br />
Ritus bestattet. Dazu bräuchten wir noch ein paar persönliche<br />
Gegenstände von ihr: Kleidung, Schuhe etc. Das<br />
lässt sich doch sicher bis zum Dienstag oder Mittwoch der<br />
kommenden Woche bewerkstelligen, oder?“<br />
„ Moment, meine Liebe. Wann die Leichen freigegeben<br />
werden, entscheidet die Staatsanwaltschaft. Und in die<br />
Wohnung dürfen später vielleicht die Eltern oder der Bruder.<br />
Ihr jedoch mit Sicherheit nicht. Ich würde mir die Behausung<br />
gerne zuerst selber ansehen. Irgendwas findet<br />
man immer. Aber ich werde dir bestimmt nichts<br />
mitbringen...du musst gar nicht so beleidigt dreinschauen.<br />
Wir sind doch nicht mehr im Mittelalter. Oder macht Stähler<br />
jetzt auch noch auf Voodoo? Sonst hat er doch schon<br />
alle möglichen und unmöglichen Glaubensrichtungen und<br />
Kulte abgegrast.“<br />
Emma versuchte, ihren Gatten zu bremsen.<br />
„ Max, fangt doch nicht schon wieder zum Streiten an. Es<br />
muss doch nicht immer in der gleichen Schiene verlaufen.<br />
Spätestens nach fünf Minuten kriegt ihr euch in die Haare.<br />
Immer wegen diesem Stähler. Dabei habt ihr euch früher<br />
so gut verstanden. Nun bleibt mal hübsch friedlich, alle<br />
beide.“<br />
Ingrid hob trotzig den Kopf.
„ Lass nur, Mutti. Er kann James nicht beleidigen. Dazu<br />
steht James zu weit über...“<br />
Ingrid zögerte. Die Formulierung geriet ihr etwas zu<br />
scharf.<br />
„ Ja komm, sprich es nur aus. Ich, der kleine Polizist, bin<br />
der letzte Trottel im Land. An mir darf jeder das Bein heben,<br />
besonders dein James. Wenn ich das bloß höre...<br />
James...der Kerl heißt doch Johannes oder Hans mit Vornamen.<br />
Wenn er den Amis nicht so viel Ärger bereitet hätte,<br />
säße er doch heute noch. Vielleicht sogar in der Todeszelle.<br />
Der Hund hatte sich nur zu gut abgesichert. Die<br />
oberen Zehntausend gaben sich in seinen Séancen die<br />
Türklinke in die Hand. Möchte nicht wissen, was die ihm<br />
alles gebeichtet haben, die Herren Senatoren und Manager.<br />
Da kann unsereins natürlich nicht mithalten.<br />
Max...Max und Moritz, das ist das Einzige, was den Leuten<br />
dazu einfällt.“<br />
Kimrods Empörung war nur teilweise gespielt.<br />
„ Du Armer. So, und jetzt vertragt ihr euch wieder. Schluss<br />
mit Stähler und Morden. Da vergeht einem doch der ganze<br />
Appetit. Paps will uns nämlich zum Essen einladen.<br />
Mach einen Vorschlag, Ingrid.“<br />
Emma ließ wie üblich keine Zweifel darüber aufkommen,<br />
wer zu Hause den Ton angab.<br />
„ Ist mir egal. Hauptsache, man kann gut essen. Wir sind<br />
fast alle Vegetarier. Da verlässt man sich lieber auf die eigenen<br />
Kochkünste“, erklärte Ingrid desinteressiert.
Kimrod zündete sich wieder eine Zigarette an. Auch daheim<br />
musste man sich noch auf strapaziöse Diskussionen<br />
einlassen. Dieser verfluchte Doppelmord verfolgte ihn<br />
noch bis ins Schlafzimmer. Es fehlte nur noch, dass die<br />
andere, diese Roschmann, SPD-Frauenbeauftragte gewesen<br />
war oder so was Ähnliches.<br />
Kimrod musterte seine stramm gebaute Tochter prüfend.<br />
„ Bist du schwanger, Herzchen oder ist dir nur der Bademantel<br />
deiner Mutter zu klein?“<br />
Ingrid lächelte verschmitzt<br />
„ Willst du auch wissen, wer sich an deiner Tochter vergangen<br />
hat? Dreimal darfst du raten...“<br />
„ Der gute alte James womöglich. Na dann sind wir unsere<br />
Sorgen endgültig los. Deine Mutter wird Wissenschaftssenatorin,<br />
du heiratest einen zigmillionenschweren<br />
Seelenbaron und unser Sohn wird Leibwächter vom Bundespräsidenten.<br />
Da kann man sich so zum Vergnügen<br />
auch noch einen Kriminalkommissar halten. Eine tolle<br />
Familie, wirklich! Wir sollten uns beim Fernsehen bewerben.“<br />
Kimrods Stirn warf erneut Falten. Wenn das mehr als nur<br />
ein schlechter Witz war...<br />
,,Das kommt noch früh genug. Jetzt wissen wir aber immer<br />
noch nicht, wo es hingehen soll. Max bitte, zur Abwechslung<br />
etwas Konstruktives. Schließlich bist du der<br />
edle Spender“, sagte Emma bestimmt.<br />
Kimrod hatte sich bereits entschieden.
„ Also wenn ich bezahlen soll, kommt nur die Frittenbude<br />
um die Ecke in Frage.“<br />
„ Jetzt drückt er sich. Außerdem habe ich nur zugenommen,<br />
weil ich mich nicht mehr so anstrengen muss an der<br />
Uni. Mein Stipendium habe ich sicher in der Tasche, die<br />
Zwischenprüfung ist im Kasten...“<br />
Ingrid wurde von ihrem Vater unterbrochen.<br />
„ Und jetzt kommt das dolce vita. Aber steht dir gut, im<br />
Ernst. Wenn ich nicht dein Vater wäre... ich werde euch<br />
doch ins Naxos entführen müssen, die griechische Kaschemme<br />
gleich am Branitzer Platz. Da sind wir in zehn<br />
Minuten vor Ort, zu Fuß natürlich. Ich bin heute schon genug<br />
durch die Gegend gegondelt.“<br />
„ Hast du gehört, Ingrid. Dein Vater lädt dich zum Griechen<br />
ein, in seiner unverwechselbar nonchalanten Art. Also<br />
manchmal, mein Lieber, wenn ich dich nicht schon so<br />
lange kennen würde...“<br />
„ Gottverdammte Weiber! Euch kann man wirklich nichts<br />
recht machen. Und Wolf klemmt den Schwanz ein und<br />
lässt mich mit der Horde allein. Vielleicht wäre es am besten,<br />
wenn ich euch fünfzig Euro gebe und zu Hause bleibe.<br />
Ich hol mir an der Tankstelle ein paar Bier und ihr seid<br />
mich los.“<br />
„ Warum klemmt Wolf den Schwanz ein, wie du dich so<br />
treffend ausdrückst? Feigheit konnte man ihm doch noch<br />
nie nachsagen“, wollte Ingrid von ihrem Vater wissen.<br />
„ Ich bin nun mal ein einfaches Proletariergewächs, mit<br />
dem deine Mutter übrigens sehr erfolgreich vor ihren Ge-
nossen angibt. Wir aus den unteren Klassen pflegen uns<br />
nicht so gewählt wie ihr, die kultivierte Elite, auszudrücken.<br />
Ich wollte damit nur sagen, dass dein Bruder wieder<br />
einmal eine familiäre Diskussion mit ziemlich konträren<br />
Standpunkten scheut. Zu so was wird doch der Abend bestimmt<br />
ausarten. Eine Frage zu vorhin hätte ich noch, als<br />
du an der Tür gehorcht hast. Woher wusstest du, dass ich<br />
mit der Aufklärung des Falls betraut wurde?“<br />
„ Ich habe nicht gehorcht. Ihr schreit nur so laut, dass ich<br />
sogar unterm Föhnen alles mitbekommen habe. Unser<br />
Büro hatte sich bereits mit euch in Verbindung gesetzt,<br />
das ist alles. Wir sind nicht überall so schlecht angesehen<br />
wie bei dir. Der Senator für kulturelle Angelegenheiten<br />
bescheinigte dem Feldzug Gottes kürzlich eine soziologisch<br />
wertvolle Ausrichtung. Das Christentum erhält durch<br />
Reverend Stähler endlich wieder dynamische Impulse, die<br />
sich durchaus mit den Zielen der beiden Altreligionen vereinbaren<br />
lassen. Eine Mehrung des positiven Einflusses<br />
unserer Gemeinde wird auch von maßgeblichen Teilen der<br />
Regierung gewünscht. Deshalb weiß ich so gut Bescheid,<br />
weil man auch am Fehrbelliner Platz der Auffassung ist,<br />
dass die Gemeinde durchaus in die Arbeit der Polizei mit<br />
einbezogen werden sollte.“<br />
„ Schön langsam wäre mir das auch lieber. Die Angelegenheit<br />
wir immer verwickelter. Jetzt ist die Luper, oder<br />
besser gesagt war sie, auch noch Mitglied in einer großen<br />
Sekte. Wie viele Bekehrte gibt es denn überhaupt in Berlin?“<br />
fragte Kimrod seine Tochter.
„ An die zehntausend. Auf Bundesebene sind wir schon<br />
seit längerem sechsstellig. Genaue Zahlen habe ich nicht<br />
im Kopf. Claudia hat übrigens ein Testament hinterlassen.<br />
Ihr Vermögen hat sie der Gemeinde vermacht, wie alle<br />
von uns. Die Eltern und ihr Bruder sollen nur ein paar persönliche<br />
Gegenstände erhalten. Der Täterkreis ist also<br />
enorm gewachsen.“<br />
„ Eigentlich nur um einen Mann: Hänschen Stähler. Die<br />
dicken Brocken reserviert er doch für sich selber. Seine<br />
Bekehrten dürfen sich um die Brosamen balgen.“<br />
„ Ach ja, und warum und womit hat er unsere Supermärkte<br />
und Bauernhöfe gekauft, mit Hosenknöpfen vielleicht?<br />
Das sind nur die Vorurteile der Missgünstigen und Neider.<br />
Materieller Besitz hat bei uns keinen so großen Stellenwert<br />
wie in euren Köpfen. Die Gemeinde lebt hauptsächlich<br />
vom Zusammenhalt und dem Enthusiasmus der Bekehrten.“<br />
„ Und vom schnöden Mammon! Fliehet die Unzucht. Alle<br />
Sünden, die der Mensch tut, sind außer seinem Leibe;<br />
wer aber Unzucht treibt, der sündigt an seinem eigenen<br />
Leibe, Korinther, Kapitel sechs, Vers 18; Haben die Taler<br />
deiner Claudia nicht ein paar unschöne Flecken abbekommen?<br />
Flecken, die stören auf dem schlichten, doch<br />
reinen Gewande des großen Meisters?“<br />
„ Richtet nicht, auf dass ihr nicht gerichtet werdet, Matthäus,<br />
Kapitel sieben,Vers 1 und Du Heuchler, zieh erst<br />
den Balken aus deinem Auge, danach sieh zu wie du den<br />
Splitter aus deines Bruders Auge ziehest, ebenfalls Kapi-
tel sieben,Vers 5; Viele sind berufen, aber wenige sind<br />
auserwählt, Matthäus zwanzig, Vers 16; so viel zu Claudia<br />
und James. Ich weiß übrigens überhaupt nicht, ob überhaupt<br />
ein Vermögen da ist. Sie war doch noch so jung,<br />
kaum älter als ich.“<br />
Emma seufzte schwer. Jetzt beharkten sie sich auch<br />
noch mit Bibelzitaten.<br />
„ Kinder, das wird mir zu anstrengend mit euch. Ich lege<br />
mich noch für eine halbe Stunde aufs Ohr. Bis dahin dürftet<br />
ihr euren Disput schon ausgefochten haben. Also bis<br />
gleich.“<br />
Emma ließ die Tür hinter sich demonstrativ aussperrend<br />
ins Schloss fallen. Sie war die häuslichen Debatten nicht<br />
mehr gewohnt und musste sich etwas Distanz verschaffen.<br />
„ Noch ein Wunder. Deine Mutter verlässt die Runde ohne<br />
das letzte Wort gehabt zu haben. Mein Kalender quillt<br />
heute über vor dicken Eintragungen. Du tust gut daran,<br />
dich an die Vorgabe deiner Mutter zu halten. Abmarsch in<br />
einer halben Stunde. Eine Verspätung wird als Insubordination<br />
gewertet und streng bestraft. Entschuldigungen<br />
sind nur mit Beifügung eines ärztlichen Attests gültig.<br />
Nichtachtung wird mit Zwangsvorführung vor den Fraktionsausschuss<br />
geahndet, Verweildauer nicht unter zwei<br />
Stunden. Das Urteil kann auch durch den Strang vollstreckt<br />
werden“, bemerkte Kimrod amüsiert.
„ Na wenigstens hast du dir deine gute Laune nicht verderben<br />
lassen. Mir war heute gar nicht zu lachen zumute.<br />
Die armen Mädchen..“<br />
„ Ja, ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Wahrscheinlich<br />
bin ich wieder jenseits von Gut und Böse angelangt.<br />
Ich werde jetzt auf jeden Fall erst einmal die Fische füttern.<br />
Oder hast du schon?“<br />
„ Nein. Ich bin doch hier bloß noch so was wie ein Gast.<br />
Ein Fisch ist glaube ich hinüber. Er schwamm jedenfalls<br />
mit dem Rücken nach unten.“<br />
„ Und mit dem Bauch nach oben. Das ist meistens ein untrügliches<br />
Zeichen. Ich werde mir die Sache selber ansehen.“<br />
Kimrod stand auf und ging ins Wohnzimmer. Das dicht<br />
bepflanzte Becken versteckte sich verschämt neben dem<br />
imposanten Bücherregal in der Ecke. Auch dieser Platz<br />
war nicht einfach zu ergattern gewesen. Emma hielt Aquarien<br />
grundsätzlich für spießig und traute der Technik nicht<br />
über den Weg. Die Scheibe könnte doch platzen und die<br />
glibberigen Fische wurden nachts aus ihrem Verließ kriechen.<br />
Kurzum, die sündteure Wohnzimmereinrichtung<br />
schwebte ihrer Meinung nach seit der Anschaffung der<br />
putzigen Haustiere in höchster Gefahr. Erst als der Verkäufer<br />
eine zehnjährige Garantie auf das Glas und den<br />
Rahmen gab, zerstreuten sich ihre Bedenken ein wenig<br />
und die Fischlein durften einziehen in den hehren Hort<br />
deutscher Bürgerlichkeit.
Denn die Spießige war eigentlich sie. Nur Kleingeister<br />
zeichneten sich doch durch sterile Tierfeindlichkeit aus.<br />
Bloß kein Dreck und die ganzen feinen Bleisatzausgaben<br />
der Memoiren und Reflektionen einstiger und heutiger bedeutender<br />
Sozialdemokraten wie Wehner, Brandt,<br />
Schmidt und Kolz immer auf Hochglanz poliert. Kolz galt<br />
als genialer Baumeister der großen Koalition, der die Maschinerie<br />
am Laufen hielt und mit schöner Regelmäßigkeit<br />
seine Gedanken zu den Themen der Zeit zu Bestsellern<br />
verarbeitete. Damit leistete er keinen unwesentlichen Beitrag<br />
zur Popularität der Regierung, deren Stern jedoch<br />
schon lange am Verblassen war, denn zu viele Versprechen<br />
blieben unerfüllt. Im Licht der kalten Realität entpuppten<br />
sich verheißungsvolle Formulierungen als abgedroschene<br />
Phrasen, die auch nicht durch mehrmaliges<br />
Wiederkäuen an Überzeugungskraft gewannen.<br />
Ingrid hatte recht gehabt. Einer der grünlich phosphoreszierenden<br />
Guppys war schon in Auflösung begriffen. Eine<br />
fette Schnecke hatte es durch ein unbegreifliches Manöver<br />
geschafft, sich an den Kadaver zu heften. Das hatte<br />
man davon, wenn man zu sehr mit dem Auge kaufte. Die<br />
geselligen Fische schimmerten zwar schön in dem etwas<br />
mystischen UV-Licht, doch sie schienen nicht sehr robust<br />
zu sein. Drei Abgänge innerhalb von zwei Wochen. Da<br />
war das Ende abzusehen. Oder wurde diese Empfindlichkeit<br />
absichtlich mit angezüchtet, um den Kunden zu<br />
Nachkäufen zu veranlassen und die durch Sonderangebo-
te bedrohte Kalkulation so wieder in den Plusbereich zu<br />
bringen? Zehn Fische dreißig Euro. Nach fünf Wochen<br />
noch einmal dreißig Euro, um allen Eventualitäten vorzubeugen.<br />
Vielleicht lag es wirklich nur am Futter. Macht<br />
insgesamt sechzig Euro. Da kamen Groß- und Einzelhandel<br />
schon wieder eher auf ihre Kosten. Wurde man<br />
denn wirklich nur noch hereingelegt, sogar bei einer solch<br />
harmlosen Transaktion wie dieser?<br />
Kimrod überließ der Schnecke gerne den Festschmaus.<br />
Ihr Einsatz als Gesundheitspolizei war von der Natur so<br />
vorgesehen und hatte sich in Jahrmillionen bestens bewährt.<br />
Blieb nur die Frage, wie es das gewitzte Weichtier<br />
bewerkstelligt hatte, an die Wasserleiche anzudocken.<br />
Wenn die Viecher an der Scheibe nach oben glitten bis<br />
zur Oberfläche, konnten sie dort Luft tanken und mit diesen<br />
Gaseinlagerungen ihren Auftrieb erhöhen, so dass einer<br />
zeitlich begrenzten Schwimmrunde nichts mehr im<br />
Weg stand. Aber wie den Guppy anpeilen, die Strömung<br />
berechnen, die durch den Filter erzeugt wurde?<br />
Hatte die Schnecke vom Boden aus den Zahnkarpfen erspechtet<br />
und dann eine gezielte nautische Aktion eingeleitet,<br />
die jedem Korvettenkapitän zur Ehre gereicht hätte?<br />
Oder war alles nur Zufall? Ein hirnloser, bedeckelter Muskel<br />
erreichte durch Planlosigkeit, die mathematisch prognostizierbar<br />
war, das angepeilte Ergebnis. Zehn Versuche,<br />
neun Fehlschläge, ein Treffer.<br />
Ob Emma etwas zur Lösung des Problems beitragen<br />
konnte? Sie hatte doch studiert und alles. Vielleicht, sie
war Molekularbiologin und hatte sich noch nie für sein<br />
Steckenpferd interessiert. Was nicht unters Mikroskop<br />
passte, war nicht erforschenswert. Zu handgreiflich, um<br />
ihren Akademikerverstand zu reizen. Die Spezialisierung,<br />
die in allen Berufen erforderlich war, brachte viele Nachteile<br />
mit sich. Das große Ganze, der Gesamtzusammenhang<br />
und das Wissen um die Vernetzung alles Gewachsenen<br />
und Lebendigen, das besonders in den Naturwissenschaften<br />
wichtig war, verschwanden aus dem Blickfeld.<br />
Wichtige Tatsachen wurden unterschlagen oder an<br />
den Rand gedrängt. Ein elementares Stück der Wirklichkeit<br />
kam abhanden. Wie die Zunge funktionierte, mit der<br />
die Schnecke die Gräten des Guppys so hurtig freilegte,<br />
konnte sie ihm wahrscheinlich beschreiben. Ebenso die<br />
Zusammensetzung des Gehäuses, doch wie intelligent<br />
war das Tier, gab es noch andere, höhere Kommandostrukturen<br />
als die angeborenen Instinkte?<br />
Wusste sie, die Schnecke, das sie gerade eine Leiche<br />
fledderte oder war das nur ein einfach erreichbarer<br />
Fleischbrocken, der schön weich und leicht verdaulich<br />
war. Irgendwie kamen ihm diese Beobachtungen bekannt<br />
vor. Eine Schnecke, die auf der Schneide eines Rasiermessers<br />
entlanggleitet. Dazu das anschwellende Dröhnen<br />
von Helikopterrotoren, Napalmabwürfe, die Musik der<br />
Doors, Marlon Brando, Martin Sheen. Die Bilder nahmen<br />
deutlichere Formen an. Genau, ein alter Kriegsfilm, Coppolas<br />
Apocalypse Now. Erst vor zwei Jahren war er doch<br />
in einem alten, schäbigen Programmkino gelaufen, zu-
sammen mit anderen Oldies aus Hollywoods glorreicher<br />
Vergangenheit. Eine Retrospektive auf die Siebziger und<br />
Achtziger des vergangenen Jahrhunderts, oder Jahrtausends...<br />
aber hatte sich wirklich schon so viel geändert,<br />
eine neue Epoche?<br />
Ein Colonel, der über die von ihm und seinen Feinden<br />
verübten Untaten den Verstand verliert, zur bluttrinkenden<br />
Dschungelgottheit mutiert und von einem Kameraden, einem<br />
Hauptmann, der ebenfalls vom Krieg zerbrochen<br />
wurde, ins ersehnte Jenseits befördert werden muss.<br />
Würde das heutzutage noch ein Regisseur auf die Leinwand<br />
bannen?<br />
Wohl kaum. Kriege gab es nach wie vor, genauso wie Filme<br />
darüber, doch die Distanz war gewachsen. Das Publikum<br />
war abgehärtet, teils durch entsetzliche Fernsehbilder,<br />
teils durch eigene Erfahrung. Die Bundeswehr unterhielt<br />
eine hochmobile Einsatzreserve, die im Bedarfsfall<br />
auf drei Divisionen aufgestockt werden konnte und von<br />
der UNO gerne und häufig angefordert wurde. Auch<br />
Wehrpflichtige wurden in Dritte Weltländern und anderswo<br />
als angebliche Friedenswächter und Deeskalationskatalysatoren<br />
eingesetzt. Die schwelenden Bürgerkriege begannen<br />
oft noch während der Anwesenheit der UNO-<br />
Truppen zu lodern und lichterloh zu brennen. Aufständische<br />
mussten mit Waffengewalt befriedet und an den Verhandlungstisch<br />
gezwungen werden. Der Tod wurde deshalb<br />
auch schon manchmal Zwanzigjährigen zum vertrauten<br />
Weggefährten. Die Nation schloss auf und bildete
gleichfalls einen robusten Panzer aus, der unangebrachte<br />
Gefühlsduselei erst gar nicht aufkommen ließ. Man war<br />
wieder wer und man war imstande und gewillt, die damit<br />
verbundenen Konsequenzen zu tragen. Nicht alle Teile<br />
der Bevölkerung natürlich. Opposition gegen diese Auffassung<br />
kam sowohl von links als auch von rechts.<br />
Der Pazifismus der Arbeiterschaft war seit ihrer Politisierung<br />
und Bewusstseinsbildung vorhanden. Eine Tradition,<br />
die leider vor den beiden Weltkriegen zugunsten effekthaschendem<br />
und ängstlichem Opportunismus vernachlässigt<br />
wurde. Doch der Widerstand aus der anderen Ecke,<br />
der radikal nationalen und rassistisch gesinnten, verblüffte<br />
angesichts des martialischen Auftretens der Anführer und<br />
Vorsitzenden der in Dutzende von Splittergruppen und<br />
-parteien zerfallenen Bewegung. Man wollte wahrscheinlich<br />
kein Blut für die schwarzen Affen lassen, sich gar einem<br />
indischen General unterordnen müssen...nein, nicht<br />
mit uns, aber Deutschland marschiert, am liebsten nach<br />
dem zehnten Bier auf einer Kirmes gegen einen altersschwachen<br />
Asiaten, der seine Glücksröllchen feilhält.<br />
Aber irgendwie war Kimrod doch froh, dass sich sein<br />
Sohn nicht bei den Soldaten verdingt hatte. Wie wäre er<br />
nach Hause gekommen, nach seinem Einsatz als Kampfbeobachter<br />
in einem Hubschrauber, der mit einer Salve<br />
fünfzig oder mehr Menschenleben auslöschen konnte?<br />
Nach dem Gefecht, nach Betätigen der Auslöser, als Held<br />
oder Krüppel?
Etliche waren zurück gekommen. Angeblich als Soldaten,<br />
die nur ihren Auftrag erfüllt hatten. Nicht mehr und nicht<br />
weniger. Aber konnte man das wirklich so einfach wegstecken,<br />
schnell den Job erledigen und ein paar Dutzend<br />
über die Klinge springen lassen? Anschließend einen zivilen<br />
Beruf ergreifen, als Anstreicher oder Krankenpfleger?<br />
Kimrod war während seiner Zeit im Einbruchsdezernat ein<br />
einziges Mal in eine Schießerei mit Todesfolge für einen<br />
Gangster verwickelt worden. Die Banditen hatten zuerst<br />
gefeuert. An der Berechtigung der Notwehr war auch von<br />
Seiten der Öffentlichkeit nie gezweifelt worden, doch der<br />
Beamte, der den tödlichen Schuss mit größter Wahrscheinlichkeit<br />
abgegeben hatte, die Ballistiker konnten<br />
sich auch hier zu keinem endgültigen Urteil durchringen,<br />
quittierte wenig später den Dienst. Das hatte man ihm<br />
dann doch angekreidet im Kollegenkreis, trotz dürftiger<br />
Anhaltspunkte aus dem Labor, einfach so das Handtuch<br />
zu werfen, quasi als Schuldeingeständnis. Da blieb auch<br />
was an den anderen hängen.<br />
Und das war nicht fair. Man tat doch nur das, was von einem<br />
verlangt wurde. Damit mussten solch schwer bewaffneten<br />
Gangster nun einmal rechnen. Sie taten es auch,<br />
doch auch bei Kimrod hatte sich damals ein flaues Gefühl<br />
in der Magengegend bemerkbar gemacht. Unter anderem<br />
wegen dieser nie ausgeräumten Zweifel. Hatten sich die<br />
Diebe nicht gegenseitig abgeknallt, hatten sich nicht alle<br />
ziemlich wahllos abgefeuerten Polizeikugeln verirrt, das<br />
heißt, alle gingen fehl, oder war da was getürkt worden,
im Labor, von den per Schulterschluss zusammengerückten<br />
Kriminalbeamten?<br />
Man tat tatsächlich gut daran, solche Überlegungen weit<br />
beiseite zu schieben oder sie als Spitzfindigkeiten zu betrachten,<br />
die es nicht wert waren, näher erörtert zu werden.<br />
Schlug man diesen Weg nicht ein, drohte einem wohl<br />
kaum das Schicksal des Colonels aus Apocalypse Now,<br />
das Militär plante und operierte in anderen Größenordnungen,<br />
eher schon eine schleichende Zermürbung wie<br />
sie sich bei Remke bemerkbar machte, der nur halb so<br />
hart war wie er sich gab und bei scharfen Verhören immer<br />
als erster Zigaretten anbot, wenn er nicht gleich auf eine<br />
baldige Beendigung drängte.<br />
Denn der Polizei wurde im Gegensatz zur Armee nicht<br />
durch einen breiten Grundkonsens der Rücken gestärkt.<br />
Als Bulle war man kein Hoffnungsträger, dessen Ankunft<br />
medizinische Versorgung, Nahrungsmittel und vielleicht<br />
sogar einen Waffenstillstand verhieß. Der hohe technische<br />
Standard und das reibungslose Funktionieren der Anlagen<br />
und Einheiten, die die Bundeswehr der Völkergemeinschaft<br />
zur Verfügung stellte, wurde immer wieder hervorgehoben<br />
und lobend erwähnt. Vor allem im Ausland, wo<br />
man schon bald registriert hatte, dass üppig verteilte<br />
Streicheleinheiten für die Nachfolger der einst so verhassten<br />
Wehrmacht, beinahe ohne Diskussion und Debatte,<br />
den Weg für neue, großzügig bemessene Mittel freimachten.<br />
Auch wenn manchmal Unschuldige ihr Leben lassen
mussten. Die Absicht war gut und moralisch nicht anfechtbar.<br />
Die Starken bedürfen des Arztes nicht, sondern die Kranken,<br />
Matthäus, Kapitel neun, Vers 12; Weil du aber lau<br />
bist...werde ich dich ausspeien aus meinem Munde, Offenbarung,<br />
Kapitel drei, Vers 16; Kriegsdienst ist das Leben<br />
des Menschen, Hiob, Kapitel sieben, Vers 1. Stähler<br />
lässt grüßen. Die Bibel erfreute sich wieder eines großen<br />
Zuspruchs. Man musste sich wappnen.<br />
Der Polizist hingegen bedrohte den Freiraum des Individuums.<br />
Er drang nur in den kärglichen Rest der Privatsphäre<br />
ein, um Gerichtsbeschlüsse, Bußgeldbescheide,<br />
Haftbefehle und dergleichen zu überbringen. Da halfen<br />
auch keine Weisheiten aus den Testamenten. Bulle bleibt<br />
Bulle. Das Gesetz nimmt man am besten selber in die<br />
Hand. Der Staat stört da nur.<br />
Einen Strick über den nächsten Ast und hoch mit dem<br />
Galgenvogel. Der greift meiner Tochter nie wieder untern<br />
Rock. Herr Wachtmeister, das geht Sie gar nichts an! Wen<br />
ich widerrechtlich auf meinem Grund und Boden erwische,<br />
gehört mir. Bei dieser Visage muss man doch auf alles gefasst<br />
sein. Wie der schon schaut! Und stinken tun sie alle,<br />
nach Knoblauch oder weiß der Teufel was. Dem werde<br />
ich Mores lehren. Sehen Sie, wie er sich duckt. Der weiß<br />
genau, was die Stunde geschlagen hat. Mit mir nicht, in<br />
diesem Land herrschen bald wieder Recht und Ordnung.
Wenn ich mit ihm fertig bin, können Sie mit ihm machen,<br />
was Sie wollen. Und jetzt aus dem Weg...<br />
Das war die Schizophrenie des Otto Normalverbrauchers,<br />
der nur dem totalitären Regime zutraute, hart genug gegen<br />
die Verbrecher und das ganze andere Geschmeiß<br />
vorzugehen und hier dafür die Freiheit zu opfern bereit<br />
war...<br />
aber aufgeräumt hat er, dieser Hitler, das muss man ihm<br />
lassen. Da kam keiner ungeschoren davon so wie heute.<br />
Ab ins Lager und erst mal richtig arbeiten. Das hat noch<br />
keinem geschadet und diesen Parasiten gleich zweimal<br />
nicht. Damals hat!s schon die Richtigen erwischt, was<br />
man so hört...<br />
Gott sei Dank gab es kaum noch Überlebende, die diese<br />
turbulenten Zeiten selbst durchlitten oder umschifft hatten.<br />
Je nachdem, mochte man fast sagen. Doch das war nur<br />
ein Trugschluss. Mit den Akteuren wurde nicht der Ungeist<br />
beerdigt, der keimte auch schon wieder in den neuen, frischen<br />
Generationen, die mit einer Zwei vor dem Geburtsjahr<br />
das dritte Jahrtausend anzählten, das eigentlich noch<br />
unschuldig in den Wehen liegen musste.<br />
Das schien die schwerste Prüfung zu sein, die der<br />
Menschheit auferlegt worden war. Eine praktikable, für<br />
die Mehrheit tragbare und für Minderheiten erträgliche<br />
Staatsform zu finden, die am besten von allen zusammen<br />
getragen wurde. Am Rande dieses Weges lauerten Wegelagerer<br />
und großsprecherische Verführer. Die Paradiese
und Lustgärten, die sie priesen, waren hinlänglich ergründet<br />
und auf ihre Schwachstellen abgeklopft worden, die<br />
ertragreichen Böden ebenfalls entdeckt und bekannt.<br />
Doch deren Bewirtschaftung war mühselig und mit harter<br />
Fron verbunden. Erfolge stellten sich mitunter erst nach<br />
langer Hege und Pflege ein. Missernten mussten billigend<br />
in Kauf genommen werden. War die Demokratie schon<br />
wieder in Gefahr? Ein Kerl wie Totsch der neue Verführer?<br />
Wohl kaum, zumindest was Totsch anbelangte. Politische<br />
Ambitionen hatte dieser bislang nicht artikuliert, doch seine<br />
Mannschaft war ein Werkzeug, das in den falschen<br />
Händen großen Schaden anrichten konnte. Totsch wurde<br />
von vielen begrüßt. Endlich mal wieder einer, der zuhaut,<br />
zeigt, was Sache ist. Eine urdeutsche Tugend, die so lange<br />
von linker Larmoyanz geknechtet worden war. Wo der<br />
hinlangt, wächst kein Gras mehr. Die schlappe Polizei<br />
wird von umstürzlerischen Gewerkschaftlern unterminiert<br />
und in eine Clownstruppe verwandelt, die man allenthalben<br />
noch als Aufsicht im Altersheim einsetzen kann.<br />
Wo war man überhaupt noch erwünscht, angesagt? Hier<br />
bei diesen blutrünstigen Morden, wünschte die Volksseele<br />
den oder die Täter aufs Schafott? Vielleicht nicht einmal<br />
ins Gefängnis.<br />
Diese türkischen Metzen, deutscher Blutanteil hin oder<br />
her, hatten doch nichts Besseres verdient. Wer sich mit so<br />
etwas sein Brot verdient, braucht sich über nichts zu wundern.<br />
Eine Strafe Gottes, die vielleicht in ihrer Ausformung<br />
etwas überzogen ausgefallen, aber letztendlich doch be-
echtigt ist. Wahrscheinlich auch nur wieder eine interne<br />
Abrechnung, dieses Volk ist schnell mit dem Messer zur<br />
Hand. Da stochert man lieber nicht drin herum, da kommt<br />
bloß mehr Dreck hoch. Im Grunde ist es doch keinen Euro<br />
deutschen Steuergeldes wert, großartig nachzuforschen.<br />
Wenn die Presse befriedigt ist, einstellen. Wie schon so<br />
vieles aus dieser Richtung, das alles im Sand verlaufen<br />
ist. Hinter diesen orientalischen Ränken verbirgt sich<br />
nichts, was für unsereins von Belang sein könnte. Punkt,<br />
Schluss, Ende.<br />
Herder und Maikovsky würden sich im Milieu verlieren, irgendeiner<br />
abstrusen Spur nachhecheln und unterwegs<br />
Verdächtige en masse markieren. Zefhahn förderte diese<br />
Taktik durch ermunternden Zuspruch. Wichtig war, dass<br />
man nach außen etwas vorzeigen konnte, Betriebsamkeit<br />
sichtbar wurde. Dieses billige Streben nach Effekt und<br />
nicht nach Effizienz war eine bedauernswerte Erscheinung<br />
der Zeit. Schnell, schnell, anstatt langsam und<br />
gründlich. Wen man mit dem Kalender stoppen konnte,<br />
wurde geschasst, versetzt und degradiert.<br />
Schlechte Zeiten für Schnecken, die auch ans Ziel kommen<br />
und dabei keinen Quadratmillimeter unerforscht lassen.<br />
Remke konnte die Prostitution und den daran hängenden<br />
Rattenschwanz an Personal- und Postierungsproblemchen<br />
(wer darf wo stehen und seinem Gewerbe nachgehen)<br />
nicht verputzen. Außerdem stand er schon mit einem
Bein in der Rente. Seine Attacken gegen Zefhahn hatten<br />
es eindrucksvoll bewiesen.<br />
Das wird dein Fall, sollte diese Prophezeiung des Seniors<br />
schon jetzt, nach einem Tag, Wirklichkeit werden? Assistierte<br />
nur HASSSO? Konnte man diesem Köter auch das<br />
Apportieren beibringen oder lag der fette Knochen schon<br />
längst im Körbchen. Wurde von oben nur mal wieder ein<br />
großes Kesseltreiben veranstaltet, um die Erwartungen<br />
des Publikums zu befriedigen? Wie oft waren schon überführte<br />
Mörder und Terroristen abgeschoben und ausgeliefert<br />
worden? Wenn die Politik die Regie übernahm, blieb<br />
oftmals die Gerechtigkeit auf der Strecke. Natürlich nur im<br />
Namen der Staatsräson.<br />
Auch mit solchen Inszenierungen verdarb man es sich mit<br />
dem Bürger, der nicht mehr einsah, dass Kapitalverbrecher<br />
aus beispielsweise den arabischen Ländern, die tonnenweise<br />
Rauschgift schmuggelten und dabei über Leichen<br />
gingen, bevorzugt behandelt wurden, nur weil dadurch<br />
vielleicht eine vorsorglich genommene Geisel befreit<br />
oder eine Waffenlieferung an blutrünstige Revolutionäre<br />
verhindert werden konnte.<br />
Die Schnecke war satt. Sie löste sich vom Kadaver und<br />
flutete ihre Tanks. Drei, vier kleine Luftbläschen entwichen<br />
noch auf dem Weg nach unten. Das Gehäuse bohrte sich<br />
knirschend in den feinen Kies. Fertig machen zum Anblasen,<br />
Seerohrtiefe, Rohr eins bewässern...
Nein, das war ein anderer Film. Kimrod musste lachen.<br />
Auch in seinen Gehirnwindungen beanspruchte das High<br />
Definition Medienzeitalter seinen ihm gebührenden Platz.<br />
Man konnte sich drehen und wenden wie man wollte, es<br />
blieb immer jede Menge hängen, wenn man nicht gänzlich<br />
zum zeitgeistfeindlichen Laumeier degenerieren wollte.<br />
Das Buch zum Film, die Serie zum Buch, verfilmte Stories<br />
erstmals als Taschenbuch. Auch die Flucht in die Welt der<br />
Lettern war nur bedingt von Erfolg gekrönt. Die Überschneidungen<br />
mit Film und Fernsehen waren zu häufig<br />
und generalstabsmäßig geplant. Da wurde nichts dem Zufall<br />
überlassen. Das große Geld wurde doch nur noch im<br />
Kino und mit der Glotze verdient, von den Computerverwertungen<br />
einmal abgesehen.<br />
Wer sein Manuskript nur als Buch plante, war von gestern<br />
und hatte sich den Misserfolg selbst zuzuschreiben. Die<br />
alten Klassiker waren ganz nett, rein vom Sprachlichen<br />
her gesehen, aber als zeitgemäße up to date Unterhaltung<br />
nicht mehr zu gebrauchen. Die Welt von heute fesselnd<br />
auf Papier zu bannen und konsumierbar aufzubereiten,<br />
das gelang nur noch wenigen. Und die mussten<br />
schrille Aufhänger benutzen, um ihre Abnehmer zu interessieren<br />
oder überhaupt erst zu erreichen.<br />
Ingrids elegante Finger strichen Kimrod kurz zärtlich über<br />
den rasierten Nacken.<br />
„ Na, übst du dich ausnahmsweise in fernöstlicher Kontemplation?<br />
Der Fisch, der Mensch und die Kunst ein
Aquarium zu warten. Haben deine Schützlinge auch<br />
schön brav aufgegessen?“<br />
Ingrid ließ sich in die mit rotem Tuch bespannte Sitzgruppe<br />
fallen. Ihr Vater öffnete hastig die Futterluke in der Abdeckung<br />
des Beckens, in die drei Leuchtstoffröhren integriert<br />
waren. Jede produzierte Licht von unterschiedlicher<br />
Wellenlänge, da die Pflanzen in verschiedenen Abschnitten<br />
des Spektrums am effektivsten arbeiteten. Die Absorptionsspitzen<br />
des Chlorophylls lagen im violett-blauen und<br />
orange-roten Bereich. Zwei Röhren waren entsprechend<br />
gefärbt, eine weiße komplettierte das Assemble.<br />
Vielleicht sollten die Fische wenigstens einen Hauch von<br />
Tageslicht verspüren bei ihren kurzen, abrupt gestoppten<br />
Ausflügen. Schließlich war doch diese Welt für sie errichtet<br />
worden und nicht für das wuchernde Kraut. Die Fische<br />
stürzten sich gierig auf die bunten Flocken, die Kimrod<br />
sorgfältig unter die getrockneten Mückenlarven mischte.<br />
Besonders im Winter gab ihm dieser kleine Kosmos eine<br />
Menge ab. Draußen hingen dicke Nebel in den grauen<br />
Häuserfluchten. Die Bäume waren längst kahl und oft floh<br />
alle Freundlichkeit aus den Gesichtern. Da war man für<br />
jedes Stück Grün und Lebendigkeit dankbar und die Fische<br />
litten bei artgerechter Pflege wohl kaum mehr als ihre<br />
Brüder in den Strömen Asiens, Afrikas und Südamerikas.<br />
Ein Hobby war doch für jeden Deutschen Pflicht. Wer kein<br />
Steckenpferd ritt, galt als suspekt und tüftelte nachts sicherlich<br />
an Mordmaschinen herum. Wie der deutsche
Verbrecher, der was auf sich hielt, und sich grundsätzlich<br />
durch große Technikverliebtheit auszeichnete. Ferngelenkte<br />
Kleinstuboote, die Erpressungsgelder abholten,<br />
Falschgeld aus den Hochleistungskopierern, Kreditkartenreproduzierer<br />
und Automarder, die jede Alarmanlage und<br />
Wegfahrsperre überwanden. Man lag zumindest gleichauf<br />
mit den Kollegen aus anderen Ländern, die in international<br />
berüchtigten Ballungszentren und Schmelztiegeln<br />
agierten.<br />
Man hörte förmlich die Kiefer krachen, so herzhaft knusperten<br />
die Guppys an den Mückenlarven, die nach kürzester<br />
Bearbeitung in den Schlünden verschwanden. Da<br />
war es praktisch, im Wasser zu leben. Man brauchte nur<br />
den Mund aufzumachen und schon konnte man den Durst<br />
aus einem unerschöpflichen Reservoir löschen. Prost, die<br />
Herren.<br />
„ Paps, gehen wir jetzt oder was? In meinen Innereien<br />
rumort es schon so. Kein Wunder, ihr habt mir den Mund<br />
wässrig gemacht mit eurem Griechen und jetzt trödelt ihr<br />
wieder. Macht da drin vielleicht eine Miniaturnixe einen<br />
heißen Strip oder warum glotzt du so vertieft in deinen<br />
Westentaschenzoo?“<br />
Kimrod zerbröselte den letzten Rest Flocken zwischen<br />
den Fingern und schloss die Klappe.<br />
„ Wo ist deine Mutter? Die schmeißt hier den Betrieb. Ich<br />
bin nur Staffage, nicht maßgeblich“, sagte Kimrod verärgert.
Als ob er keine anderen Sorgen hatte! Strippende Meerjungfrauen<br />
im Aquarium...wo sie das nur immer herholten?<br />
Seine Mädels waren wirklich eine Klasse für sich.<br />
Er ging ans Fenster und schaute nach unten auf die Straße.<br />
Eichen-allee, der blanke Hohn. Die mickrigen Büsche,<br />
die verschämt auf einigen Begrünungsinseln vor sich hinvegetierten,<br />
hatten so gar nichts von der würdevollen Majestät<br />
der Gewächse, die der Straße vor langer Zeit den<br />
Namen gegeben haben. Die Sozialhilfeemfänger, die diese<br />
Restbiotope im Frühjahr und Herbst beackerten, dieser<br />
Ausdruck umschrieb die lieblos vorgenommenen Pflegemaßnahmen<br />
am treffendsten, hätten das verwahrloste<br />
Gestrüpp mit ein bisschen mehr Sorgfalt und Anleitung,<br />
gut ausgebildete Gärtner waren leider rarer denn je, locker<br />
in blühende Oasen verwandeln können. Doch auch<br />
hier erstickte das zwanghaft Angeordnete jegliches Bemühen.<br />
Für den Staat tat man nur das absolut Notwendige.<br />
Wer mehr Initiative zeigte, war doch krank und vergeudete<br />
seine Energien. Man konnte den armen Teufeln<br />
auch keinen Strick daraus drehen. Die Wohlfahrtsbezüge<br />
deckten kaum das Existenzminimum, und sich für ein paar<br />
Euro abzuschinden und auf den Knien herumzurutschen,<br />
war fast schon unzumutbar. Auch wenn es für viele die<br />
einzige Möglichkeit war, etwas nebenbei zu verdienen.<br />
Es schien nicht zu regnen. Das Trottoir wirkte immer leicht<br />
schmierig, auch bei schönem Wetter. Ingrid rief nach ihrer<br />
Mutter, die in der Garderobe in ihren Mantel schlüpfte.
„ Moment Kinders. Ich muss mir nur noch die Mütze aufsetzen.<br />
Seit ihr schon fertig?“ schmetterte Emma zurück.<br />
Ihre Stimme war volltönend und gut ausgebildet, eine<br />
Grundvoraussetzung für den Erfolg in der Politik. Emma<br />
hatte bei einer Studentin Unterricht genommen, auch<br />
wenn ihr Gatte damit gar nicht einverstanden gewesen<br />
war. Er gab an, diese Kasernenhofbeschallung zu hassen<br />
und hatte eines Tages sogar von seinem Schießstand Ohrenstöpsel<br />
mitgebracht, weil er dieses Geplärre nicht mehr<br />
aushielt, angeblich.<br />
Max wurde mit den Jahren immer empfindlicher, besonders<br />
seitdem Emma wieder arbeitete und eine steile Karriere<br />
in der Politik gemacht hatte. Männer waren da sowieso<br />
voreingenommen. Eine Frau, die sich selbstständig<br />
in der Gesellschaft verwirklichte, war mit Vorsicht zu genießen.<br />
Es konnte sein, dass man von so einer Amazone<br />
rechts überholt wurde und das letzte Stückchen Männerherrlichkeit<br />
unter diesem femininen Gestirn dahinschmolz.<br />
Oder war er nur eifersüchtig, weil es jetzt auch wieder<br />
andere Dinge in ihrem Leben gab, außer der Familie, die<br />
wichtig waren?<br />
Kimrod holte seine Zigaretten in der Küche und schlüpfte<br />
anschließend im Flur in seine Schuhe. Emma stand immer<br />
noch vor dem Spiegel und überprüfte den Sitz ihrer<br />
Baskenmütze. Ingrid lüftete in der Küche und leerte den<br />
Aschenbecher. Was waren Raucher doch für Ferkel. Nicht<br />
nur dass sie die Luft aufs Abscheulichste verpesteten,
nein, es wurden auch noch Langzeitstinkbomben hinterlassen.<br />
Schließlich hatten alle ihre Vorbereitungen abgeschlossen<br />
und es konnte losgehen.<br />
„ Fahren wir mit dem Lift oder gehen wir die Treppe runter?“<br />
fragte Ingrid.<br />
„ Eines ist mir so angenehm wie das andere. Der Aufzug<br />
streikt periodisch und das Treppenhaus ist dreckig“, erklärte<br />
Kimrod verdrossen. Sie entschieden sich für die<br />
Treppe, auch wenn es eine Menge teilweise rutschiger<br />
Stufen zu bewältigen gab. Die Wohnung lag im vierten<br />
Stock.<br />
„ Ich mag auch keine Fahrstühle. Da bekommen manche<br />
immer so einen merkwürdigen Ausdruck im Gesicht. Ich<br />
möchte nicht wissen, was da alles abgeht, wenn man mal<br />
wirklich stehen bleibt für längere Zeit. Das ganze Abteil<br />
prallvoll, vielleicht noch mitten im Sommer, bei dreißig<br />
Grad im Schatten“, sagte Ingrid, die die letzten Stufen mit<br />
einem großen Satz nahm.<br />
„ Da bist du hier ganz richtig. Mein Rekord liegt bei einer<br />
halben Stunde, alleine. Irgendwann könnt ihr mich unten<br />
im Schacht mit der Spachtel aufkratzen, wenn das Ding<br />
endgültig seinen Geist aufgibt und die Seile reißen. Ihr<br />
müsst mir allerdings versprechen, dass ihr dann den Vermieter<br />
lyncht. Dieser Drecksack drückt eine Erhöhung<br />
nach der anderen durch und investiert keinen Pfennig.<br />
Wahrscheinlich ist er auch ein großer Sozialdemokrat und
darf sich deswegen alles erlauben“, sagte Kimrod herausfordernd.<br />
Als sie das Haus verließen, wollte sich Kimrod bei seiner<br />
Frau unterhaken, doch Emma wehrte ihn ab.<br />
„ Du bist mir zu langsam. Wir gehen rechts, oder?“<br />
„ Ja, wenn während der letzten halben Stunde kein Polsprung<br />
stattgefunden hat, müsste das die Richtung sein.<br />
Branitzer Platz, Naxos, rechter Hand, marsch, marsch,<br />
auch wenn dir diese Order zutiefst widerstrebt. Oder wir<br />
gehen links und machen einen kleinen Umweg. Probier<br />
mal aus wie deine Füße reagieren, wenn!s wirklich nicht<br />
geht...“<br />
Kimrod gluckste. Seine Frau geriet tatsächlich ins Stolpern<br />
wegen einem prächtigen Loch im Asphalt.<br />
„ Mein Gott, bin ich ein Trampel. Jetzt hättest du wirklich<br />
fast einen Grund zum Lachen gehabt.“<br />
Emma strich sich über den Mantel, obwohl sie gar nicht<br />
gestürzt war. Warum ging sie auch immer auf diese Frotzeleien<br />
ein? Am besten gar nicht hinhören, der war doch<br />
nur neidisch.<br />
„ Eines lasst uns vorab klären: keine Politik, keine Kriminalgeschichten<br />
und kein Stähler. Wer dagegen verstößt,<br />
muss eine Runde ausgeben“, schlug Emma vor.<br />
„ Das finde ich gar nicht gut, denn über was sollen wir uns<br />
sonst unterhalten? Außerdem sind wir dann binnen kürzester<br />
Zeit stockbetrunken, weil sich keiner an diese Regel<br />
halten kann“, gab Kimrod zu bedenken.
Ingrid schüttelte nur den Kopf. Das konnte lustig werden.<br />
Die Eltern schienen sich seit ihrem Auszug nicht wesentlich<br />
weiter entwickelt zu haben.<br />
Die Familie erreichte das im Tavernenstil eingerichtet<br />
Restaurant nach wenigen Minuten. Costa, der grimmig<br />
dreinblickende Besitzer und Chefkoch, führte die Kimrods<br />
an seinen besten Tisch und brachte ihnen die Speisekarten.<br />
Er kannte und schätzte Kimrod, weil er sich in seiner<br />
Jugend selbst einmal als Polizist versucht hatte. Nur noch<br />
zwei andere Tische waren belegt. Keine gute Quote für<br />
einen Samstagabend. Dabei waren die Preise moderat<br />
angesetzt. Costa bezog alles frisch vom Großmarkt und<br />
auch die Portionen fielen nicht zu knapp aus. Doch die<br />
Leute, die jetzt noch häufig zum Essen gingen, liebten es<br />
protziger. Die gute, nahrhafte Kost war was für die Zukurzgekommenen,<br />
die schon froh waren, wenn sie zur<br />
Suppe zwei Scheiben Brot bekamen anstatt einer. Gerade<br />
jetzt in den schlechten Zeiten wollte man es den Proleten<br />
so richtig zeigen. Alles nur vom Feinsten, früher konnte<br />
jeder. Der einzige Zweig der Gastronomie, der sonst noch<br />
von der Wirtschaftsmisere profitierte, waren die alteingesessenen<br />
Bierkneipen, die mit abgenutztem Mobiliar den<br />
Verzweifelten und Hoffnungslosen ein adäquates Ambiente<br />
boten.<br />
Costa brachte drei Gratisschnäpse und nahm die Bestellungen<br />
auf. Die Kimrods hatten sich einfachheitshalber<br />
geschlossen für die Poseidonplatte entschieden, die ihnen<br />
Costa auch noch einmal besonders empfahl.
„ Das ist eine sehr gute Idee. Kommt alles direkt aus meiner<br />
Heimat. Fisch und Calamari, frisches Gemüse und<br />
zarte Kartoffeln. Was darf ich zu trinken bringen?“<br />
Emma schlug eine große Karaffe Landwein vor. Max war<br />
einverstanden, Ingrid ließ sich zusätzlich ein Glas Mineralwasser<br />
kommen. Sie war Alkohol nicht mehr gewohnt<br />
und befürchtete, betrunken zu werden.<br />
Der Grieche servierte die Getränke und man stieß aufeinander<br />
an.<br />
„ Ingrid, zum Wohl. Es soll dir weiterhin so gut gehen mit<br />
deinem Studium. Viel Erfolg“, wünschte Emma ihrer Tochter<br />
von ganzem Herzen.<br />
Sie wusste, dass es nicht leicht war, sich erfolgreich an<br />
einer Universität zu behaupten, besonders wenn man den<br />
Ehrgeiz besaß, den Abschluss möglichst schnell und mit<br />
besten Noten zu machen. Neben den notwendigen geistigen<br />
Voraussetzungen musste man dazu eine große Portion<br />
Disziplin und Beharrungsvermögen mitbringen, um an<br />
den aufgeblähten, bestreikten und überfüllten Bildungsstätten<br />
bestehen zu können.<br />
„ Ich kann mich da nur anschließen, auch wenn ich weiß,<br />
dass du dein Diplom schon so gut wie in der Tasche hast.<br />
Deine Mutter hat mir verraten, dass du etwas Besonderes<br />
mit uns zu besprechen hast. Also, was hast du auf dem<br />
Herzen? Ich als dein Vater habe für deine Sorgen immer<br />
ein offenes Ohr.“<br />
Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Irgendwie ahnte er<br />
schon, woher der Wind wehte.
„ Das weiß ich doch, Paps. Es ist ja auch gar nichts Großartiges.<br />
Ich ziehe um, in die Villa Schönborn, unser Gemeindezentrum<br />
für Berlin und eigentlich ganz Deutschland.<br />
Ich werde James persönliche Assistentin, die unter<br />
anderem die Ausbildung der Kursleiter koordiniert und ihm<br />
möglichst viel Verwaltungskram abnehmen wird. Er will<br />
sich ganz auf seine spirituelle Arbeit beschränken und nur<br />
noch zu speziellen Anlässen sprechen. Es wird demnächst<br />
kein Mangel bestehen an öffentlichen Kundgebungen<br />
und James will sich da nicht verausgaben oder gar<br />
missbrauchen lassen. Die Politiker schrecken doch vor<br />
nichts zurück...oh, Entschuldigung, Mutti.“<br />
Kimrod feixte, doch er wurde sofort wieder ernst. Wollte<br />
ihm da seine Tochter eine Verbindung unterjubeln, die weit<br />
über das Berufliche hinausging, eine Affäre mit Stähler?<br />
„ Tja, du bist lustig. Gerade beglückwünschen wir dich zu<br />
deiner Zwischenprüfung und jetzt willst du alles über Bord<br />
werfen, um ausschließlich im Kielwasser dieses Wanderpredigers<br />
zu dümpeln. Das wirst du uns doch nicht antun?“<br />
sagte Kimrod eindringlich.<br />
Ingrid blieb sachlich.<br />
„ Davon kann doch überhaupt keine Rede sein. Ich habe<br />
jetzt ein bisschen mehr Luft und wechsle nur meinen Arbeitsplatz.<br />
Da waren auch finanzielle Überlegungen ausschlaggebend.<br />
Warum auch nicht. James sagt immer, wer<br />
nach den Geboten Gottes lebt, kann nicht Schiffbruch erleiden<br />
und wird es zu was bringen. Mein Studium verläuft<br />
ganz normal weiter.“
Zwei Jugendliche mit glattrasierten Schädeln, die bunt<br />
bemalt und beklebt waren, stürmten ins Lokal und ließen<br />
sich am Nachbartisch nieder. Costa brachte ihnen zwei<br />
Dosen Bier und bedachte sie mit einigen griechischen<br />
Kraftausdrücken. Als Costa wieder verschwunden war,<br />
flogen die ersten Bierdeckel, einer auch an Emmas Hinterkopf.<br />
Die Biologin beförderte die Brauereipappe resolut<br />
zurück und begann zu schimpfen.<br />
„ Ihr kleinen Flegel. Der Sandkasten ist draußen. Hier drin<br />
ist nur für Erwachsene.“<br />
Einer der Paintos, so wurden diese Vertreter der aktiven<br />
Teenagerszene wegen der Kopfbemalungen genannt, die<br />
oft tagtäglich in stundenlanger Feinarbeit erneuert wurden,<br />
langte mit seiner Zigarette herüber und klopfte die<br />
Asche über Ingrids Schulter ab. Emma schüttete dem<br />
Rohling sofort ihren Wein ins Gesicht. Sie hatte während<br />
ihrer Studentenzeit so manchen Kampf mit den Faschos<br />
und der Staatsmacht ausgefochten. Da lief einer ins offene<br />
Messer. Sie war schon aufgesprungen und wollte ihren<br />
Angriff mit der Karaffe fortfahren, als Costa mit einer Bratpfanne<br />
bewaffnet den Schauplatz betrat und dem Spektakel<br />
ein rasches Ende bereitete. Seine wuchtige Statur<br />
verhinderte ein weiteres Aufflackern der Feindseligkeiten<br />
von Seiten der Paintos und wirkte sich auch abkühlend<br />
auf Emma aus, die die Karaffe auf den Tisch sinken ließ<br />
und sich setzte. Die kunstfreudigen Teenies suchten lachend<br />
das Weite. Der Knofelfresser war um einen Mo-
ment zu früh gekommen, vielleicht beim nächsten Mal.<br />
Der Grieche brachte noch einmal drei Schnäpse.<br />
„ Tut mir leid. Die sind so und machen sich einen Spaß<br />
daraus, die Leute anzupöbeln. Aber ich bin darauf angewiesen.<br />
Die kommen fast jeden Tag und verputzen eine<br />
Dose nach der anderen. Natürlich vergraule ich dadurch<br />
meine letzten Gäste. Was soll man machen? Schmeiß ich<br />
sie zu oft raus, kommen die nicht mehr und dann kann ich<br />
an fünf Tagen zusperren. Essen kommt gleich.“<br />
Costa stapfte zurück in seine Küche. Diese Sauhunde<br />
brachten ihn noch ins Grab. Kimrod klopfte seiner Gattin<br />
lachend auf die Schulter.<br />
„ Mein Schatz, du bist großartig. Heute Nachmittag beim<br />
Herthaspiel, wärst du voll auf deine Kosten gekommen.<br />
Da lebe ich ja direkt gefährlich, wenn ich dich immer so<br />
hoch nehme.“<br />
Emma zündete sich eine Zigarette an und inhalierte tief,<br />
um sich zu beruhigen.<br />
„ Ist doch auch wahr. Ausgerechnet das arme Kind, das<br />
sich nicht wehren kann. Am liebsten hätte ich die an die<br />
Wand geklatscht.“<br />
„ Aber Mutti, das sind doch Kinder. Außerdem bin ich gar<br />
nicht so wehrlos. Wolf hat mir ein paar Kniffe beigebracht,<br />
mit denen ich auch einen Gorilla beeindrucken kann.<br />
Prost.“<br />
Bald nachdem sie die Schnäpse vertilgt hatten, trug Costa<br />
die Meeresfrüchteplatte auf. Die Calamari waren zwar
etwas labbrig und die Kartoffeln zerkocht, doch im Großen<br />
und Ganzen war das Menü genießbar. Der vorzügliche<br />
Salat mit Oliven und Schafskäse entschädigte für einiges.<br />
Der Wein mundete ebenfalls. Was wollte man für die paar<br />
Euro mehr.<br />
Kimrod war als erster fertig und steckte sich dreist eine<br />
Marlboro an, die vorletzte.<br />
„ Denk doch an das Kind. Du weißt doch, wie empfindlich<br />
sie ist. Dass man bei euch Männern um jeden Zoll Anstand<br />
und Höflichkeit kämpfen muss“, wies ihn Emma zurecht.<br />
Kimrod hob kurz die Hand in Richtung Theke, hinter der<br />
Costa Gläser polierte. Wenig später stellte der thessalische<br />
Bär ein Tässchen Espresso vor Kimrod auf den<br />
Tisch. Das filigrane Porzellangefäß verlor sich beinahe in<br />
Costas Pranke, so dicht wölbten die schwarzen Büschel<br />
und knotigen Muskeln sich auf den Knochen.<br />
„ So, hat!s geschmeckt, Chef? Sind Sie mir bitte nicht böse<br />
wegen vorhin.“<br />
Kimrod bedeutete dem Griechen, sich auch etwas Hochprozentiges<br />
einzuverleiben.<br />
„ Keine Bange, Costa. In meinem Beruf verzieht man wegen<br />
so was keine Miene mehr. Mach doch dann bitte die<br />
Rechnung fertig. Ich hab den ganzen Tag geschafft.“<br />
Costa verschwand wieder hinter der Theke und begann,<br />
einen Block zu suchen.
„ Nicht sehr freundlich von dir, Max. Deine Tochter und ich<br />
sind doch noch gar nicht fertig. Außerdem ist der Wein<br />
noch halb voll“, sagte Emma vorwurfsvoll.<br />
Kimrod leerte sein Glas in einem Zug und schenkte sich<br />
sofort nach. Er hatte für heute genug von Bars, Nachtklubs<br />
und Kneipen. Dieser entnervende Konsumzwang<br />
und das ständig sinkende Niveau dieser Einrichtungen übten<br />
keine anziehende Wirkung mehr aus auf einen Mann<br />
in seinem Alter. Es sei denn, er wäre Alkoholiker oder<br />
sexsüchtig. Die Jahre, in denen Kimrod viel und gerne<br />
ausgegangen war, lagen weit zurück. Diese Einsicht bedurfte<br />
keiner weiteren Bestätigung. Da war der kleine Zwischenfall<br />
nur von marginaler Bedeutung. Costa hatte es<br />
schon ausgesprochen. Wer in diesen Zeiten überleben<br />
wollte, konnte sich seine Gäste nicht aussuchen. Man erstand<br />
billiges Dosenbier und verhökerte es unter der Woche<br />
an die Halbstarken, die es sicherlich ganz abwechslungsreich<br />
fanden, einen Abend oder zwei einmal nicht<br />
auf der Straße oder im Park zu verbringen.<br />
Wie Emma aufgeflattert war und die rasende Glucke gemimt<br />
hatte...ein Bild für Götter, auch wenn Ingrid dabei<br />
etwas in Mitleidenschaft gezogen wurde. Sie hätte es<br />
wohl auch mit einem Dutzend dieser Milchbärte aufgenommen.<br />
Wirklich, eine Prachtfrau.<br />
Auch die SPD begeht schlagkräftig ihren Wahlkampfauftakt:<br />
Ihre Stimme für Emma Kimrod, die beweist, dass<br />
auch bei den Roten Recht und Ordnung Priorität haben.
Oder sollte sie sich vielleicht sogar umtaufen lassen in<br />
Emma Peel, die rächende Genossin, die den Hooligans<br />
zeigt, wo es langgeht.<br />
Endlich hatten die beiden Damen ihr Dinner beendet.<br />
Costa war nicht fündig geworden und hatte die Beiträge<br />
auf einem Bierdeckel addiert. Der Grieche bewies Geschicklichkeit<br />
und platzierte die Kostenaufstellung mit einem<br />
Weitwurf auf den Tisch der Kimrods. Vielleicht hatten<br />
ihm die zwei Schnäpse, die er sich auf Kosten des Kommissars<br />
genehmigt hatte, den Rest gegeben. Kimrod<br />
wusste, dass er spielend zwei Flaschen Wodka wegstecken<br />
konnte, doch er wurde dann etwas schluderig und<br />
seine Küche verwegen. Kimrod sah den Betrag und nickte.<br />
Er hatte mit mehr gerechnet. Gut dreißig Euro, für ein<br />
Fischgericht nicht zu viel.<br />
„ Jetzt weiß ich, wer diese Burschen angelernt hat. Der<br />
Meister persönlich, aber bring trotzdem noch zwei. Meine<br />
Mädels sind noch am Mampfen.“<br />
Costa brachte die Spirituosen und die beiden Männer<br />
prosteten sich zu.<br />
„ Auf dein Wohl, du altes Schlitzohr. Eins musst du mir<br />
noch sagen. Wie viel Prozent hat dieses Gebräu? Dass<br />
du es selber brennst, weiß ich.“<br />
„ Herr Kommissar, das ist ein Betriebsgeheimnis und wird<br />
nicht verraten.“<br />
„ In erster Linie für deinen Betrieb, ich weiß. Ohne kannst<br />
du nicht mal mehr eine Uhr aufziehen.“
Kimrod zahlte und gab ihm noch ein paar Euro Trinkgeld.<br />
Dem zähen Hund war immer noch nichts anzumerken.<br />
Costa räumte die restlichen Teller ab und trällerte zurück<br />
hinter seinen Tresen.<br />
„ So, jetzt reicht!s aber. Ich will hier keine Säufer heranziehen.<br />
Dass ihr euch nicht schämt, besonders du. Du<br />
hattest nämlich schon eine Fahne, als du nach Hause<br />
kamst. Ich wollte bloß nichts sagen, weil dass angeblich<br />
mit zu deiner Arbeit gehört. Den Wein überlässt du jetzt<br />
besser mir, sonst müssen wir dich nach Hause tragen“,<br />
sagte Emma und blähte drohend die Nüstern.<br />
Für Kimrod ein untrügliches Zeichen, dass sie keinen Widerspruch<br />
duldete. Sie schenkte Ingrid nach und goss den<br />
Rest bei sich ein, nachdem sie mit kräftigen Schlücken<br />
Platz geschaffen hatte. Kimrod lächelte. Costas Hausmarke<br />
zeigte Wirkung. Ob sich das alles vertrug, der Fisch,<br />
das Gemüse, alles mit viel Fett zubereitet und der ölige<br />
Wein, der gut rutschte, aber bestimmt nicht leicht verdaulich<br />
war? Kimrod erhob sich schnell und ging nach draußen.<br />
„ Bezahlt ist alles, ich brauche dringend frische Luft.“<br />
Er eilte vor die Tür und füllte erwartungsvoll die Lungen.<br />
Doch die erhoffte Wirkung blieb aus. Das schale Gasgemisch,<br />
das sich durch seine angeteerten Bronchien<br />
zwängte, war nur sehr beschränkt dazu geeignet, etwas<br />
zur Regeneration seiner angeschlagenen Konstitution<br />
beizutragen. Gott sei Dank war es wenigstens deutlich<br />
kühler als drinnen. Das half ein wenig. Er hätte sich nicht
vorstellen sollen, welchen Weg die Zutaten vom Erzeuger<br />
bis zum Endverbraucher zurücklegten.<br />
„ Du lebst aber auch zu ungesund, Paps, das würde ich<br />
auch nicht aushalten. Mutti musste noch mal schnell auf<br />
die Toilette.“<br />
„ Die wird sich wundern. Costa ist berühmt für seine Kakerlaken.“<br />
„ Bloß weil er kein Deutscher ist. Das ist unfair!“<br />
Ingrid stampfte dabei etwas auf den Boden mit ihren kleinen<br />
Lederschühchen. Das sah süß aus. Kimrod hatte vergessen,<br />
dass sie eine Gerechtigkeitsfanatikerin war und<br />
alles immer so schrecklich wörtlich nahm. Dabei hätte<br />
Costa selber drüber gelacht. Bei ihm kämen halt internationale<br />
Delikatessen auf den Tisch.<br />
Emma ließ noch eine Weile auf sich warten. Vielleicht<br />
musste sie sich erst den Sitz freikämpfen. Oh, das war<br />
wieder eine Prüfung. Kimrod wollte sich gerade verabschieden,<br />
als Emma aus dem Lokal geschossen kam.<br />
„ Dein Freund ist mir der Richtige. Erst klatscht er uns die<br />
Rechnung auf den Tisch wie bei seinen Fratzen und dann<br />
wurde er auch noch anzüglich. Ob ich überall so temperamentvoll<br />
wäre und was weiß ich noch alles. Also ich bin<br />
bedient für heute. Los kommt, bevor da noch was lauert in<br />
dieser Bruthöhle.“<br />
„ Das ist das südländische Blut, das gehört bei denen mit<br />
dazu. Wichtig ist, dass wir satt geworden sind für wenig<br />
Geld“, erklärte Kimrod beschwichtigend.
Sie gingen los und erreichten die Wohnung ohne weitere<br />
Zwischenfälle. Ingrid zog sich in ihr altes Zimmer zurück<br />
und die Eltern machten es sich vor dem Fernseher bequem.<br />
Emma herrschte wie üblich über die Fernbedienung<br />
und blieb bei einer ihrer geliebten Talkshows hängen.<br />
Vielleicht gehörte sie bald selbst zu den gefragten<br />
Gästen, den Top Ten, oder waren es gar nur fünf, die ewig<br />
die gleichen abgestandenen Themen walkten und von einer<br />
Quasselrunde in die nächste hechelten.<br />
Heute ging es um die Renten. Wie hoch, wie sicher, wie<br />
lange noch? Emma war sofort Feuer und Flamme für den<br />
Kandidaten der Sozis, einen zweitrangigen Sozialministers<br />
eines drittklassigen Bundeslandes, der eine offensichtlich<br />
auswendig gelernte Sentenz immer wieder in die<br />
Mikrofone blökte und alle anderen Protagonisten der Unsachlichkeit<br />
zieh. Emma würzte die drögen Duelle mit bissigen<br />
Kommentaren, wobei sie sogar ab und zu aus der<br />
Fraktionsdisziplin ausscherte und die Forderung der Grünen<br />
nach einer weiteren, größtenteils von den Arbeitgebern<br />
getragenen Senkung der Rentenversicherungsbeiträge<br />
unterstützte.<br />
Verarmter Adel, dachte sich Kimrod abgeklärt und schlief<br />
darüber ein. Als er die Augen wieder öffnete, lag er noch<br />
immer im Wohnzimmer, in voller Montur. Emma war wohl<br />
wieder einmal an seinem narkotischen Tiefschlaf gescheitert,<br />
der, wenn er durch Alkohol gefördert wurde, nur durch<br />
rabiateste Mittel gestört werden konnte.
Es war kurz nach halb sechs. Kimrod entschloss sich liegenzubleiben.<br />
Seine Frau beklagte sich immer furchtbar<br />
über sein Schnarchen und hatte ihn wahrscheinlich auch<br />
deswegen auf diese diskrete Art und Weise aus dem ehelichen<br />
Schlafgemach verbannt. Sie würde sich zwar nachher<br />
wieder beschweren, weil er nicht einmal mehr am Wochenende<br />
Zeit für Zärtlichkeiten aufbrachte, aber das war<br />
nichts Neues. Kimrod musste sich ungefähr seit seinem<br />
vierzigsten Geburtstag eingestehen, potenzmäßig nicht<br />
mehr ganz auf der Höhe zu sein. Was früher fast zu viel<br />
vorhanden war, gleich zu Anfang ihrer Ehe hatte er nur mit<br />
Mühe und Not den Verführungskünsten einiger Kolleginnen<br />
widerstanden, wallte jetzt nur noch selten in ihm auf.<br />
Auch andere Frauen interessierten ihn nicht mehr sonderlich.<br />
Vielleicht war er auch schwul. Ein spätes coming out,<br />
warum nicht.<br />
Emmas Libido ging mit ihren sonstigen Aktivitäten konform.<br />
Politik fand nicht nur im Kopf statt. Ob sie sich bereits<br />
nach Ersatz umgesehen hatte, einem jungen, feurigen<br />
Sozialisten etwa, der sich gerne von einer erfahrenen<br />
Praktikerin anlernen ließ? Sie war attraktiver denn je und<br />
die moderne Frau war für Triebsublimierungen wie Verseschmieden<br />
und Klavierspielen nicht mehr zu haben.<br />
Handfeste Lösungen waren angesagt. Ob sie sich mit einem<br />
detailgetreuen Vibrator anfreunden konnte, den viele<br />
ihrer aufgeklärten Schwestern dem schlappen Original<br />
vorzogen? Gesunde zwanzig Zentimeter, die nicht beim<br />
ersten Windstoß in sich zusammen sanken, mit spritz-
freudigem Ejakulationssimulator. Der treue Begleiter für<br />
die Frau, die schon alles gehabt hat.<br />
Kimrod dämmerte wieder hinüber in die barmherzigen<br />
Gefilde des Vergessens, fern von männermordenden<br />
Walküren, die ihre verschreckten Schlaffis höchstens noch<br />
zum Batterien besorgen benötigten.<br />
11.10 Sonntag<br />
Um acht Uhr schlug Kimrod wieder die Augen auf. Die<br />
Vorhänge waren schon zurückgezogen und verführerischere<br />
Düfte drangen aus der Küche herüber. Er duschte<br />
kurz und schlüpfte in seinen pepigen Trainingsanzug.<br />
Emma war schon am Frühstücken. Es gab Müsli, Cornflakes<br />
und kerniges Schwarzbrot mit Marmelade. Nimrod<br />
schenkte sich Kaffee ein und füllte eine Schüssel mit den<br />
Schokoflocken und Milch.<br />
„ Wie ein Mensch so schnarchen kann. Ich habe zweimal<br />
die Lautstärke nachregulieren müssen. Und an wach kriegen<br />
war eh nicht zu denken. Manchmal beneide ich dich<br />
direkt.“<br />
Emma wartete vergeblich auf eine Antwort. Kimrod verdrückte<br />
hastig seinen Brei und nippte ein bisschen am
Kaffee, bevor er sich den Kellerschlüssel schnappte und<br />
seiner besseren Hälfte einen Kuss auf die Wange drückte.<br />
„ Ich fahre ein paar Meter spazieren. Bis Mittag bin ich<br />
spätestens wieder da. Du brauchst aber nicht großartig zu<br />
kochen. Bis gleich.“<br />
Emma blickte ihm staunend nach. So früh schon fit, das<br />
passte gar nicht zu ihm. Vielleicht die Zigaretten. Die<br />
Schachtel war leer. Ohne war kein Frühstück komplett.<br />
Kimrod benutzte den Lift, der polternd seine Fracht nach<br />
unten beförderte. Er stieg aus, ging über die Treppe zu<br />
den Kellerabteilen hinunter und sperrte den Raum auf,<br />
der neben etlichen alten Möbeln auch sein Mountainbike<br />
beherbergte. Der Kommissar überprüfte den Luftdruck<br />
und schob das Sportgerät nach draußen. Er verriegelte<br />
hinter sich die Tür und schulterte den massiv gebauten<br />
Drahtesel. Carbonrahmen waren immer noch teuer, Kimrod<br />
hatte sich deshalb mit einem schwereren Stahlchassis<br />
beschieden. Er trug das Bike auf die Straße und trat in die<br />
Pedale. Am ersten Automaten zog Kimrod eine Schachtel<br />
Lights und setzte die Fahrt anschließend fort, allerdings<br />
ohne Glimmstängel im Mund. Er fuhr Richtung Grunewald.<br />
Dort gab es schöne Radwege und man lief nicht<br />
ständig Gefahr, von einem geifernden Automobilisten vom<br />
Sattel geholt zu werden. Als er die letzten großen Vorfahrtsstraßen<br />
hinter sich gelassen hatten, begann sich die<br />
Sonne auf dem vom Hochnebel verhangenen Firmament<br />
als weiße Scheibe abzuzeichnen. Der Kommissar bog in
die Teufelstraße und überholte munter andere Ausflügler,<br />
die in den Forst radelten.<br />
Wenig später hatte Kimrod den Teufelsberg erreicht. Er<br />
ließ sich in der Nähe der Rodelbahn auf einem großen<br />
Findling nieder und genoss seine erste Zigarette. Dabei<br />
beobachtete er einen Penner, der auf einer umgedrehten<br />
Gemüsekiste stehend Volksreden hielt. Kimrod rauchte<br />
fertig und mischte sich unter ein paar Dutzend Schaulustige,<br />
die den geifernden Alten umringten. Etwas abseits<br />
dieser Versammlung hielt sich ein Trupp Camos auf, etwa<br />
zehn Mann stark. Einer der selbsternannten Hilfssheriffs<br />
trug einen schweren Revolver an der Hüfte, vermutlich ein<br />
Offizier. Die obligatorischen Tarnjacken, schwarze, auf<br />
Hochglanz gewichste Schnürstiefel, Bürstenschnitte und<br />
enge Bluejeans vervollständigten das gewollt martialische<br />
Outfit der Schmalspurkämpen, die sich betont lässig gaben<br />
und in kurzen Abständen gemeinsam ablachten. Der<br />
in Lumpen gehüllte Prediger wurde lauter.<br />
„ Und somit ist es an der Zeit, die Schaumschläger und<br />
Rattenfänger im Reichstag auszuräuchern. Das Feuer der<br />
Reinigung wird genährt vom Hass der Besitzlosen und<br />
Entrechteten. Dieses Natterngezücht, das schon so lange<br />
auf unserer Würde herumtrampelt, muss endlich zerschmettert<br />
werden. Wer sich noch einen Funken Anstand<br />
bewahrt hat, schließt sich mir an. Auf dass ein neues Fanal<br />
über der Hauptstadt leuchtet und die Funken aus dem<br />
Gebälk dieser unsäglichen Schwatzbude stieben. Heute<br />
ist der Tag der Abrechnung. Kommt her Ihr Opfer der in-
ternationalen Verschwörung, die euch in Armut knechtet<br />
und fern von den Krippen der Reichen und Mächtigen<br />
darben lässt. Wer noch aufrecht gehen kann, folget mir<br />
nach. Wir werden die Wurzeln des Übels herausreißen<br />
und der versengenden Flamme der Vergeltung anheim<br />
fallen lassen.“<br />
Der Rhetoriker im Büßergewand, sein struppiger Mantel<br />
verlieh ihm tatsächlich ein wenig das Aussehen eines biblischen<br />
Propheten, stieg von seinem Podest herunter und<br />
versuchte mit wirren Gesten, hinter sich eine Prozession<br />
zu sammeln. Sein Pech war, genau auf die Camos zuzuhalten,<br />
die ihn prompt niederschlugen, als er einen von<br />
ihnen in seiner Trance anrempelte. Die rabiaten Kerle<br />
schleiften den Wehrlosen hinter ein nahes Gebüsch und<br />
setzten dort die Sonderbehandlung fort. Kimrod war nahe<br />
daran einzugreifen, doch da er seine Hundemarke nicht<br />
eingesteckt hatte und sich nicht ausweisen konnte, setzte<br />
er sein Vorhaben nicht in die Tat um. Diese Brüder würden<br />
wohl nicht zögern, ihm die gleiche Abreibung zu verpassen.<br />
Bei dem Kräfteverhältnis war eine Rettungsaktion<br />
glatter Selbstmord. Die restlichen Zuschauer zerstreuten<br />
sich bereits. Vielleicht war dieser Irre doch gefährlich. Die<br />
Jungs sollten ruhig tüchtig hinlangen. In diesen Zeiten<br />
musste man die Demokratie mit Händen und Füßen verteidigen.<br />
Mitleid war da fehl am Platze, besonders mit diesen<br />
Parasiten, die ihren unverdienten Anteil am Volksvermögen<br />
immer unverschämter einforderten.
Kimrod wusste, dass viele so dachten, auch wenn die<br />
Grenzen zwischen Armut und Verelendung immer fließender<br />
wurden und sich so mancher biedere Bürger über<br />
Nacht auf der Straße wiederfand, weil seine Arbeitslosenbezüge<br />
storniert wurden und die Sozialhilfe nicht mehr die<br />
Kosten für die Wohnung abdeckte. Die Clochards wurden<br />
tatsächlich immer dreister und organisierten sich in Banden.<br />
Da wurden Bezirke wie im Drogenhandel abgesteckt<br />
und wehe dem, der im Nachbarrevier wilderte und dort<br />
den Hut aufhielt. Es existierten regelrechte Krüppelakademien,<br />
an denen jeder Defekt von der Blindheit bis zur<br />
Querschnittslähmung zum Schein oder auch in Wirklichkeit<br />
erworben werden konnte. Alte Hasen brachen Arme<br />
und Beine und sorgten dafür, dass die Knochen nicht<br />
mehr richtig zusammenwuchsen und die Auszubildenden<br />
lebenslänglich versehrt blieben. Dass ab und zu ein Patient<br />
das Zeitliche segnete, tat der Popularität dieser Rosskuren<br />
keinen Abbruch. Schließlich schuf man sich dadurch<br />
eine Existenz, die ein bescheidenes, doch regelmäßiges<br />
Einkommen sicherte.<br />
Die mickrigen Krümel vom großen Kuchen waren also<br />
umkämpfter denn je. Da kam es schon vor, dass der Bitte<br />
um eine milde Gabe mit forschen Mitteln Nachdruck verliehen<br />
wurde oder man sich aufs Börse ziehen verlegte.<br />
Wer in der Gosse landete, war deshalb eine Sozialleiche<br />
und wurde wie störender Abfall behandelt, wahrscheinlich<br />
auch weil die Penner einem so anschaulich die Kehrseite<br />
der freien Marktwirtschaft präsentierten.
Da Camos hatten genug und preschten mit einem pechschwarzen<br />
Kleinbus davon. Kimrod kümmerte sich um<br />
das Opfer, das mit aufgeplatzten Lippen, aber lächelnd einen<br />
unverständlichen Singsang von sich gab. Kimrod half<br />
ihm aufzustehen. Der Stadtstreicher stank wie die Pest<br />
und grinste noch immer breit. Kimrod verstand. Die<br />
Schergen der Machthaber hatten sich nicht als Schimären<br />
entpuppt, sondern übten ihr grausames Handwerk in der<br />
Realität aus. Der Kampf war noch nicht verloren.<br />
Wahrscheinlich war der Mann krank und gehörte in ein<br />
Sanatorium, doch der Staat hatte die öffentlichen Nervenkliniken<br />
teilweise aufgelöst und die armen Teufel im Stich<br />
gelassen, die nicht mehr arbeiten konnten und keine Unterstützung<br />
von den Angehörigen erfuhren. Jetzt weinte er<br />
doch. Kimrod drückte ihm zwei Euro in die Hand und ging<br />
zurück zu seinem Fahrrad, bei dem ein grau melierter,<br />
drahtiger Mann stand. Der Jogger, seiner Kleidung nach<br />
zu schließen, winkte Kimrod heran. Kimrod kam das Gesicht<br />
bekannt vor. Vielleicht ein Schauspieler, die wirkten<br />
alle so aalglatt. Der Mann schüttelte Kimrod als erstes die<br />
Hand.<br />
„ Guten Morgen. Ich heiße Schneider, Burkhard Schneider,<br />
Staatssekretär im Kanzleramt.“<br />
Kimrod stellte sich ebenfalls vor.<br />
„ Schau an, ein Kommissar. Aber ich habe schon von Ihnen<br />
gehört, mein Lieber. Sie haben den Würger von Wilmersdorf<br />
zur Strecke gebracht und den Pornormörder
überführt, der seine Kundinnen mit einem Dildo abmurkste.<br />
Patenter Mann, das merkt man sofort. Schöne Luft<br />
heute, nicht wahr?“<br />
Die Tragödie, die sich gerade abgespielt hatte, schien den<br />
Politiker nicht im Geringsten zu interessieren. Kimrod<br />
blieb stumm.<br />
„ Ah, Sie sind noch ganz gedankenverloren wegen den<br />
Camos. Ich bitte Sie, wo kämen wir da hin, wenn jeder die<br />
Regierung und das Parlament zum Abschuss freigeben<br />
dürfte. An ein paar Spielregeln muss man sich schon halten,<br />
auch als Obdachloser, der nichts mehr zu verlieren<br />
hat außer seiner Weinbuddel.“<br />
Die gleichen Symptome wie bei Emma. Totsch hatte alle<br />
Volksvertreter infiziert. Kimrod schluckte einen Großteil<br />
seiner Empörung wieder hinunter. Hier war Hopfen und<br />
Malz verloren.<br />
„ Also ich sehe das ein bisschen anders. Was haben die<br />
Typen hier überhaupt zu suchen? Das ist doch kein Privatgrundstück,<br />
sondern ein Naherholungsgebiet, das jedem<br />
Bürger offen steht. Auch dieser armen Kreatur. Der<br />
wusste doch gar nicht, was er sagt.“<br />
„ Und wenn schon. Sie müssten es doch eigentlich besser<br />
wissen. Oder können Sie bei Ihrer Arbeit immer buchstabengetreu<br />
die Gesetze einhalten? Na also, außerdem hat<br />
dieser Clown provoziert und einen der Tarnjacken angepöbelt.<br />
Wir sind doch nicht in London.“<br />
„ Aber sie haben ihn grundlos zusammengeschlagen. Ich<br />
komme damit als einziger Augenzeuge vor Gericht nicht
durch. Da gebe ich mich keinen Illusionen hin, aber das<br />
sind Tatsachen, auch wenn es sonst niemanden interessiert.“<br />
„ Ach was. Hier nehmen Sie zwanzig Euro, das wird als<br />
Schmerzensgeld reichen. Da kann sich Ihr Schützling ein<br />
paar Tage lang zutrinken. Wahrscheinlich hat er es nur darauf<br />
angelegt.“<br />
Kimrod steckte den Schein ein und wollte dem verhinderten<br />
Umstürzler nachfahren, der in Richtung Teufelssee<br />
losgezogen war. Schneider drückte auf die Vorderradbremse.<br />
„ Eine Frage hätte ich noch. Wie kommt ihr denn voran mit<br />
diesem Nuttengemetzel? Ein interessanter Fall. Ihr Vorgesetzter,<br />
dieser Zefhahn hat mich kurz eingewiesen.“<br />
„ Ach Gott, was soll man schon auf die Beine bringen innerhalb<br />
von vierundzwanzig Stunden. Das wird eine verzwickte<br />
Sache. Hunderte von potentiellen Tätern, keine<br />
Zeugen bis jetzt. Da bleibt nur die Hoffnung auf unsere<br />
Spezialisten. Vielleicht ist doch was an den Leichen hängen<br />
geblieben. Speichel, Haut oder Fussel von Textilien<br />
etwa.“<br />
„ Na, ich werde mich auf dem Laufenden halten. Das wird<br />
man alles wieder uns ankreiden, wenn da geschludert<br />
wird. Jetzt fahren Sie schon los, sonst entfleucht er Ihnen<br />
noch. Bis bald.“<br />
Kimrod nickte kurz und schwang sich in den Sattel. Der<br />
Stadtstreicher war bereits hinter einer Biegung verschwunden.<br />
Kimrod holte ihn kurz vor einem fahrbaren
Imbissstand ein. Es war nicht schwer zu erraten, was den<br />
Clochard so magisch anzog. Kimrod stopfte ihm den<br />
Schein in die Manteltasche und wünschte ihm einen<br />
schönen Tag. Der Penner prüfte den Zwanziger kurz und<br />
trottete selig weiter, dem Lockruf des Alkohols folgend.<br />
Die Sonne war wieder hinter einem grauen Schleier verschwunden.<br />
Kimrod begann zu frieren. Sein Sportdress<br />
machte zwar optisch viel her, ließ einen aber bei tieferen<br />
Temperaturen im Stich. Für kühle Witterung gab es spezielle<br />
Monturen, die der vorausschauende Verbraucher<br />
längst erstanden hatte. Die Freizeitindustrie hielt für jeden<br />
erdenklichen Anlass die maßgeschneiderte Ausrüstung<br />
parat. Mit der Laufgarnitur zum Parkplatz, zum Tennisplatz<br />
weiter mit dem Cabriokäppi, dort ins Dress des Wimbledonsiegers<br />
oder bei Bedarf in den Allwetteranzug. Anschließend<br />
ein paar Drinks in der Lounge. Natürlich im<br />
englischen Zwirn. Die Liste ließ sich fast endlos fortsetzen.<br />
Besonders wenn man Kinder hatte, ging dieser<br />
Kostümierungszwang schwer ins Geld. Man will bei den<br />
Nachbarn nicht auffallen und als arm gelten.<br />
Der Kommissar strengte sich an und war in fünfzehn Minuten<br />
zu Hause. Die Schenkel schmerzten und seine Atmung<br />
begann zu rasseln. Da kam einem jede Zigarette<br />
hoch. Oder war er einfach schon zu alt für solche Extratouren,<br />
kam er gar in die Wechseljahre? Kimrod verstaute<br />
sein Rad und wagte den Aufstieg trotz allem über die
Treppe. Er hatte keinen Schlüssel dabei und läutete. Ingrid<br />
linste kurz durch den Spion und sperrte auf.<br />
„ Mutti hatte einen Anruf bekommen und musste weg. Irgendeine<br />
dringende Besprechung. Du weißt, wie nötig es<br />
die Parteifritzen zur Zeit haben.“<br />
Kimrod nickte und ging in die Küche. Im Kühlschrank<br />
stand eine schöne, große Flasche Mineralwasser, die laut<br />
Hersteller mit regenerierenden Substanzen versetzt war.<br />
Das staatliche Drogenveto wurde eigentlich immer lächerlicher.<br />
Viele Lebensmittel prahlten mit aufputschenden Ingredienzien,<br />
die auf dem Index stehenden Stoffen an<br />
Wirksamkeit und Gefährlichkeit oft nicht nachstanden.<br />
Kimrod hatte kein Chemiestudium absolviert und schluckte<br />
die erfrischende Mixtur ohne weiteres Nachdenken. Der<br />
kleine Ausflug war nicht ohne gewesen. Er nahm sich vor,<br />
wieder mehr für seine Fitness zu tun. Wenn er so weiter<br />
machte, konnte ihn jeder Eierdieb auf fünfzig Meter abhängen.<br />
Kimrod aß noch ein paar Brote und trank dazu Kaffee. Ingrid<br />
leistete ihm Gesellschaft. Er überlegte, ob er ihr von<br />
dem Vorfall im Park erzählen sollte. Besser nicht, dass<br />
würde sie nur ihrem Bruder vorwerfen und er wollte keinen<br />
Keil zwischen die Kinder treiben. Vielleicht wusste sie<br />
noch etwas über diese Claudia. Um zwölf traf er sich mit<br />
Remke am Steubenplatz. Je mehr er von dem Mädchen<br />
wusste, desto zielstrebiger konnte er ihrem Bruder gegenüber<br />
auftreten, der für nassforsch und blindlings fragende<br />
Polizisten bestimmt kein offenes Ohr hatte. Zef-
hahn hatte eine Andeutung gemacht, dass Mustafa kein<br />
unbeschriebenes Blatt mehr wäre. Vielleicht wusste Remke<br />
mehr. Kimrod zündete sich eine Zigarette an. Wahrscheinlich<br />
ächzte seine Lunge auch nur vom Verfolgen.<br />
„ Du hast doch gesagt, dass du Claudia näher kanntest.<br />
War sie alleinstehend oder gab es einen Freund?“ fragte<br />
er seine Tochter.<br />
Ingrid biss sich auf die Fingernägel. Irgendwas ging in ihr<br />
vor, das sie nervös machte. Sein Instinkt sagte ihm, woher<br />
diese Unruhe kam.<br />
„ Hat das irgendwas mit eurer Gemeinde zu tun? Du<br />
kannst mir das ruhig erzählen, weil wir es sowieso herausfinden<br />
werden. Es passiert nicht zum ersten Mal,<br />
dass Sektenmitglieder unter mysteriösen Umständen in<br />
die ewigen Jagdgründe eingehen.“<br />
Kimrod schien den richtigen Ton gefunden zu haben. Seine<br />
Tochter hob trotzig den Kopf.<br />
„ Das sind Schauermärchen aus der Regenbogenpresse.<br />
Wir sind keine Sekte, sondern eine christliche Gemeinschaft.<br />
Eine der letzten intakten. Vielleicht diffamiert man<br />
uns deswegen unentwegt. Kann sein, dass du vielleicht<br />
Recht hast. Bevor dauernd deine Grützköpfe auf unseren<br />
Grundstücken herumschleichen, sage ich es dir lieber<br />
selbst. Claudia hatte einen Freund, der die Toten Brigaden<br />
unterstützte und deswegen im Untergrund lebt. Mehr weiß<br />
ich auch nicht. Das hat sie Stähler offenbart, bei einer Sitzung.“
„ Das fällt quasi unters Beichtgeheimnis. Wenn er im Untergrund<br />
lebt, dürfte es keine große Kunst sein, mehr über<br />
ihn in Erfahrung zu bringen. Das Bundeskriminalamt und<br />
der Verfassungsschutz verfügen über sehr umfangreiche<br />
Datenbanken. Aber jetzt geht es quer durch den Gemüsegarten:<br />
von ganz links nach rechts außen. Der Fall artet<br />
jetzt schon aus. Bin gespannt, wie das weitergeht.“<br />
„ Ich nicht.“<br />
Ingrid zog sich beleidigt in ihr Zimmer zurück. Die Toten<br />
Brigaden waren eine der Nachfolgegenerationen der Roten<br />
Armee Fraktion. Wer der legitime Erbe dieser legendären<br />
Truppe war, blieb umstritten. Die Toten Brigaden<br />
machten jedenfalls ihrem Namen alle Ehre. Wo Politiker<br />
und Industriegrößen um die Ecke gebracht wurden, waren<br />
die Brigaden nicht weit. Sprengungen aller Art und<br />
spektakuläre Entführungen komplettierten das Repertoire<br />
der Terroreinheit, die auch auf internationaler Ebene aktiv<br />
wurde und Kontakte zu befreundeten Bombenlegern<br />
pflegte.<br />
Zefhahn hatte wieder einmal geschlafen. Vielleicht war die<br />
Luper tiefer in diese Geschichte verstrickt gewesen und<br />
einem Femegericht zu Opfer gefallen. Bei diesen Fanatikern<br />
genügte oft schon der kleinste Verdacht und die Rübe<br />
rollte. Ihr Freund musste damit gar nichts zu tun haben.<br />
Die Kommandoebene scherte sich nicht um die Belange<br />
des Fußvolks. Sein Pech, wenn er sich mit einer<br />
Verräterin eingelassen hatte. Das war keine abwegige
Idee. Eine Nutte, die hochrangige Volksvertreter zu ihren<br />
Kunden zählte, musste für die Umsturzstrategen eine willkommene<br />
Informationsquelle gewesen sein. Was wurde<br />
doch nicht alles auf der Matratze geplaudert. Die frigiden<br />
Gattinnen interessierten sich doch längst nicht mehr für<br />
die Sorgen und Nöte des gestressten Führungspersonals.<br />
Da kam so ein kleines Kätzchen gerade recht. Endlich jemand,<br />
der zuhörte. Und irgendwann regte sich das Gewissen<br />
bei der Kleinen. Ein kleiner Tip an die richtige Adresse<br />
und schon kamen die Kameraden schwer in die<br />
Bredouille und wurden verklappt. Ein gefährliches Spiel,<br />
auf das sich wirklich nur abgebrühte Profis einlassen sollten.<br />
Amateure kamen nur allzu oft unter die Räder.<br />
Kimrod drückte die Zigarette aus und ging ins Wohnzimmer.<br />
Die Beleuchtung war immer noch nicht eingeschaltet.<br />
Aber recht viel konnten die Fische nicht versäumt haben.<br />
Ihr Umfeld bot selten etwas anderes als die öde Monotonie<br />
ihrer beengten Unterwasserwelt. Zweimal am Tag Futter,<br />
der Rest stupides Treiben in der Strömung der Kreiselpumpe.<br />
Und das bis zur Stunde Null. Die Menschen<br />
mussten ziemliche Sadisten sein.<br />
Kimrod versorgte die Guppies und legte sich aufs Sofa. Er<br />
stellte seinen Armbanduhrwecker auf zwanzig vor zwölf.<br />
Das war kein leichtes Unterfangen. Sein Chronometer war<br />
mit x-Knöpfen gespickt, die teilweise mit mehreren Funktionen<br />
belegt waren: Luftfeuchtigkeit, Temperatur, Smogalarm,<br />
Stoppuhr, da fehlte nur noch der Geigerzähler.<br />
Kimrod hatte es bis dato noch nicht geschafft, alle mögli-
chen Operationen ohne Bedienungsanleitung durchzuführen,<br />
obwohl das hochbauende Gerät schon seit zwei Jahren<br />
sein linkes Handgelenk zierte.<br />
Gegen die These mit den Terroristen sprach Folgendes:<br />
Warum wurde auch Susanne Roschmann exekutiert? Zur<br />
Tarnung oder hatte sie ebenfalls für die Brigaden gearbeitet<br />
und zu viel gewusst? Und noch etwas passte nicht ins<br />
Bild. Die Reebokerevoluzzer, die sich gerne mit den Fetischen<br />
ihrer Yuppiealtersgenossen ausstatteten, hinterließen<br />
ihre Visitenkarte am Tatort oder schickten hölzerne<br />
Bekennerschreiben an Redaktionen und Behörden. Wollte<br />
man hier eine falsche Fährte legen, weil noch andere<br />
Gunstgewerblerinnen im Sold der Killer standen und noch<br />
arbeiteten?<br />
Alles nur Spekulationen, die einen scheinbar nicht weiterbrachten.<br />
Aber es war wichtig, alle Untiefen auszuloten.<br />
Jetzt gab es nämlich viele Bluthunde auf der Spur der<br />
Mörder außer der lächerlichen Soko Spreetöchter. Beispielsweise<br />
die Geheimdienste, die Sektierer mit Ingrid an<br />
der Spitze, die sensationsgeilen Journalisten, Mustafa,<br />
den Bruder der Luper. Vielleicht Mafiabanden, die es nicht<br />
gerne sahen, wenn in ihrem Bezirk ohne ihre Erlaubnis<br />
gemordet wurde, und so weiter und so fort.<br />
Was Emma wohl gerade treiben mochte? Lernte sie einem<br />
Jungfalken das Fliegen auf einer in Schweinsleber<br />
gebundenen Sonderausgabe des Kapitals? Die gegerbte<br />
Tierhaut wurde so schön glibberig von den Brunstsekreten
und schmatzte rhythmisch im Takt der Kopulierenden.<br />
Marx selig soll auch kein Kostverächter gewesen sein.<br />
Man konnte es ihr fast nicht verdenken. Verheiratet mit einem<br />
kleinen impotenten Schnüffler, eine Frau mit ihren<br />
Fähigkeiten. Hochintelligent, tatendurstig, von allen umschwärmt.<br />
Das musste doch schiefgehen. Siehe Wolf,<br />
siehe Ingrid. Ohne diese Flasche von Vater wären sie<br />
doch nicht ihren Rattenfängern in die Falle gegangen.<br />
Kimrod drehte sich um. Das sonore Brummen des Filters<br />
ließ ihn einnicken. Endlich vergessen, nicht mehr grübeln.<br />
Sanftes Schweben in den unergründlichen Sümpfen des<br />
Unterbewusstseins. Einfach herrlich.<br />
Später. Was bimmelte da nur so penetrant, eine riesige<br />
Glocke im Turm einer Kathedrale? Kimrod versuchte, sich<br />
die Ohren zuzuhalten, doch seine Arme bewegten sich<br />
nicht. Nein, nicht schon wieder. Der Glöckner springt in<br />
die Seile, aufhören! Er schlug die Augen auf. Sanft erklang<br />
die kleine Melodie, komm wach auf. Der Wecker,<br />
keine Glocke, das hatte ihn so gebeutelt. Musste sich<br />
auch noch im Schlaf alles ins Abstruse, Monströse verkehren?<br />
Er drückte wahllos auf ein paar Knöpfe und das<br />
Piepsen erlosch endlich. Kimrod ging ins Bad und wusch<br />
sich das Gesicht. Gott sei Dank bekam er noch keine<br />
Glatze. Das hätte aber auch an ein Wunder gegrenzt. Nur<br />
Männer mit zu viel Testosteron mussten doch um ihren<br />
Kopfschmuck bangen. Und von einem Hormonüberschuss<br />
konnte bei ihm wirklich nicht die Rede sein. Er schlüpfte<br />
in die Jacke und zog seine ausgelatschten Cowboystiefel
an. Wenigstens dieses Utensil hatte er aus seiner wilden<br />
Zeit herüberretten können. Da fühlte man sich gleich um<br />
zwanzig Jahre jünger.<br />
Er klopfte bei Ingrid, doch die Tür blieb verschlossen. Der<br />
Vogel war ausgeflogen, ohne sich zu verabschieden.<br />
Mussten denn alle Familienzusammenkünfte so abrupt<br />
und unfreundlich enden? Er überprüfte seine Taschen.<br />
Schlüssel, Portemonnaie, Papiere, alles da. Aber keine<br />
Zigaretten. Die lagen in der Küche. Kimrod holte sie und<br />
verließ die Wohnung. Der Wagen stand auf einem Grundstück,<br />
das bald wieder bebaut werden würde. Der zuständige<br />
Makler hatte Kimrod, dem gefürchteten Kommissar,<br />
gerne einen Stellplatz zur Verfügung gestellt. Kostenlos<br />
selbstverständlich. Jetzt würden es sich alle Ganoven<br />
zweimal überlegen. Ein Träumer. Kimrod wusste, dass es<br />
sich nur eine sichere Methode gab, die Autoknacker abzuschrecken:<br />
Einen möglichst heruntergekommenen<br />
Rostkübel, in dem ein auf das Armaturenbrett geklebtes<br />
Transistorradio für zehn Euro für die musikalische Untermalung<br />
sorgte. Aber man kam vom Regen in die Traufe.<br />
Die Schrotthaie witterten Bares und umkreisten gierig die<br />
Beute. Die fackelten nicht lange und verfrachteten die altersschwachen<br />
Mühlen in die Recyclingbetriebe. Ein Hunderter<br />
sprang dabei allemal heraus. Der Besitzer konnte<br />
sich dann mit seiner Versicherung herumschlagen, die<br />
überhaupt nur noch selten Teilkasko für Blechgreise anbot.
Kimrod startete und parkte den Wagen vorsichtig aus.<br />
Schräg hinter ihm stand ein dicker Daimler, dessen<br />
Alarmanlage bei der kleinsten Berührung ausgelöst werden<br />
würde. Also Vorsicht. Das Manöver gelang und Kimrod<br />
fuhr los. Es waren relativ wenige Autos unterwegs. Sie<br />
würden gut vorankommen. Remke wartete schon. Auf die<br />
U-bahn war noch Verlass. Kimrod bremste ab und entriegelte<br />
die Tür.<br />
„Tag Chef. Du bist ausnahmsweise mal pünktlich. Ich hatte<br />
mich schon auf einen kleinen Fußmarsch eingestellt,<br />
um dich aus den Federn zu werfen.“<br />
Remke grinste breit. Das war ein Sonntag nach seinem<br />
Geschmack. Sein junger Kollege hatte den Nachmittag<br />
bestimmt schon verplant gehabt und war genauso auf die<br />
Nase gefallen wie er selber. Kimrod erzählte von dem Auftritt<br />
der Camos am Teufelsberg.<br />
„ Sieh einer an. Die Herren von der Konkurrenz. Aber ich<br />
hätte mich auch nicht eingemischt ohne Marke und Pistole.<br />
So was schmeckt mir natürlich auch nicht. Zu zweit<br />
hätten wir mehr ausrichten können. Fahr nicht wie ein<br />
Henker. Ich habe gerade erst gegessen“, sagte Remke,<br />
der sich immer noch an seinem Gurtschloss zu schaffen<br />
machte. Das Ding wollte einfach nicht einrasten. Er gab<br />
es schließlich auf und lehnte sich fluchend zurück. Dann<br />
eben nicht.<br />
„ Wenn was passiert, zahlt der Staat. Also keine Bange.<br />
Außerdem kann ich mir schwer vorstellen, dass es hier
ein Teil gibt, das härter ist wie deine Birne. Zigarette?“<br />
fragte Kimrod.<br />
Remke nahm sich eine und drückte den Anzünder. Wieder<br />
Fehlanzeige. Kimrod gab ihm grinsend sein Feuerzeug,<br />
das auch erst nach etlichen Versuchen zu überreden war.<br />
„ Hast du schon Zeitung gelesen?“ fragte Remke.<br />
„ Nein. Ich darf doch zu Hause außer dem sozialistischen<br />
Gemeindeboten nichts lesen. Wie war denn das Echo?“<br />
Remke hatte einen Artikel ausgeschnitten.<br />
„ BamS. Soll ich dir vorlesen?“<br />
„ Nein, verschone mich. Fasse das Wichtigste zusammen.“<br />
„ Jawoll, Herr Lehrer.“<br />
Remke berichtete kurz und steckte den Artikel wieder ein.<br />
Sie hatten sogar die Fotos von den Leichen mit drin. Die<br />
Gerüchte schossen wild ins Kraut, aber irgendeinen konkreten<br />
Anhaltspunkt konnten auch die Redakteure nicht<br />
vorweisen. Man versprach, den Lesern täglich die neuesten<br />
Fakten zu liefern. Sie waren dabei sich festzubeißen,<br />
zweifellos.<br />
„ Wenigstens waren wir nicht auf dem Titel. Zu viel Werbung<br />
ist auch nicht gesund. Wie war!s denn in der Ubahn?<br />
Gestern ging dir doch die Muffe bis zum Anschlag.“<br />
Remke konnte nicht ganz folgen.<br />
„ Ich, warum? Ich fahr doch immer mit der U-bahn. Wieso<br />
Muffe?“<br />
„ Egal. Gestern hast du jedenfalls noch behauptet, man<br />
sticht dich ab im Gedränge, aber du lebst noch. Wenn wir
doch nicht immer quer durch die Stadt tigern müssten.<br />
Das nervt unheimlich.“<br />
Remke nickte mehrmals.<br />
„ Wem sagst du das. Ich habe heute Morgen schon wieder<br />
eine Kerze gestiftet.“<br />
Sie bogen um halb eins in die Prinzenstraße ein. Remke<br />
machte die Nummer ausfindig und Kimrod parkte den<br />
Wagen kurzerhand auf dem Gehsteig. Die Verkehrswachteln<br />
konnten sich ihre Verwarnungen sonst wo hinstecken.<br />
Sogar Remke hatte nichts einzuwenden. Die Wohnung<br />
lag im Keller eines dreistöckigen Mietshauses neuerer<br />
Bauart. Gar keine so schlechte Adresse. Dekorativer Efeu<br />
verlieh dem Gebäude einen gemütlichen Anstrich. Hier<br />
konnte man sich zu Hause fühlen.<br />
„ Dieser Mustafa muss ganz schön Kohle stecken haben.<br />
Ich könnte mir das nicht leisten“, sagte Remke und klopfte<br />
anerkennend auf die kupferne Dachrinne.<br />
„ Stimmt, aber lass uns mal machen. Ich will keine Wurzeln<br />
schlagen“, erklärte Kimrod. Sein Kollege drückte auf<br />
die Klingel. Es führte zwar nur eine schmale Steige hinunter<br />
ins Souterrain, doch alles war picobello sauber. Keine<br />
Schmierereien, kein Abfall, nichts. Remke donnerte mit<br />
der flachen Hand gegen die Tür. Wieder keine Reaktion.<br />
Jetzt wurde Remke laut.<br />
„ Aufmachen, Polizei! Bei drei schieß ich das Schloss auf.“<br />
Er griff tatsächlich nach seiner Pistole und spannte sie<br />
nachdrücklich. Nach einer Weile wurden Schritte hörbar.<br />
Eine verschlafene Stimme meldete sich gedämpft.
„ Was wollt ihr? Ich bin längst raus aus dem Geschäft.<br />
Heute ist Sonntag und ich habe keine Lust, mir irgendwelchen<br />
Quatsch anzuhören.“<br />
„ Wir sind wegen Ihrer Schwester hier. Sie wissen doch,<br />
was passiert ist!“ schrie Kimrod und bedeutete Remke, die<br />
Waffe verschwinden zu lassen.<br />
Mustafa ließ die Polizisten eintreten.<br />
„ Eine geschmackvoll eingerichtete Wohnung. Muss ein<br />
hübsches Sümmchen gekostet haben.“<br />
Mustafa ging nicht auf Remkes Bemerkung ein und bat<br />
die Beamten, Platz zu nehmen. Sie lehnten dankend ab.<br />
„ Whisky, Wodka oder ein Bier?“ fragte der Hausherr anschließend.<br />
„ Für mich Whisky. Mit Eis, wenn!s geht“, gab Kimrod an.<br />
„Dasselbe“, knurrte Remke kurz.<br />
Hier stimmte doch was nicht. Von seiner Schwester hatte<br />
der Kerl noch kein Wort gesagt. Als ob sein Goldfisch eingegangen<br />
wäre. Kimrod stand interessiert vor dem riesigen<br />
Kaltwasserbecken, das vor Leben nur so wimmelte.<br />
„ Ich handle nicht mehr mit Rauschgift. Sie können sich<br />
die Mühe sparen. Einmal Knast hat mir gereicht“, sagte<br />
Mustafa gelangweilt. Kimrod drehte sich um.<br />
„ lhre Schwester wurde ermordet. Interessiert Sie das<br />
nicht?“<br />
„ Ich bin im Bilde, keine Sorge. Was wollen Sie von mir?<br />
Sie müssen sich an diesen Stähler wenden, nicht an mich.<br />
Der hat sie auf die Straße geschickt, nicht ich.“
Mustafa goss sich nach. Er trank seinen Whisky ohne Eis.<br />
Diese Bullen waren wie üblich Bauern und checkten<br />
nichts.<br />
„ Wo sind Sie beschäftigt?“ fragte Kimrod und widmete<br />
sich wieder dem Treiben der variantenreichen Gold-<br />
fischmutationen.<br />
„ Mal hier, mal da. Import-Export. Ich habe den zweier<br />
Schein. Da kommt man gut durch, wenn man bis in den<br />
Irak runter blockert.“<br />
„ Haben Sie eine Idee, wer Ihre Schwester ermordet haben<br />
könnte? Hatte sie Feinde? Zuhälter?“<br />
Kimrod musterte den jungen Mann eindringlich. Aber da<br />
passierte nichts, kein Zucken, null Gefühl.<br />
„ Woher soll ich das wissen. Ich sah sie zum letzten Mal<br />
vor zwei Jahren. Diese Schlampe, mit der sie immer zusammen<br />
war, ist Gott sei Dank auch mit drauf gegangen.<br />
Ein Glück, sonst hätte ich sie erledigen müssen. Die hat<br />
das alles ausgeheckt. Eine richtige Drecksau.“<br />
Er leerte hastig sein Glas und schenkte sich nach. Remke<br />
hatte sich inzwischen im Bücherregal umgesehen. Mehrere<br />
Koranausgaben, auch im arabischen Original. Philosophische<br />
Texte, offensichtlich ein aufgewecktes Bürschchen.<br />
„ Sind Sie sehr religiös und wollen vielleicht deswegen<br />
nichts mehr mit ihrer Schwester zu tun haben“, fragte<br />
Remke Mustafa.<br />
„ Das geht Sie nichts an. Für Frauen wie meine Schwester<br />
gibt!s eigentlich nur eine Strafe. Die hat sie bekommen.
Mehr habe ich dazu nicht zu sagen“, antwortete Mustafa<br />
und zündete sich eine Zigarette an.<br />
„ Ein guter Moslem trinkt doch keinen Alkohol und handelt<br />
nicht mit Drogen. So weit kann es mit Ihrer Lauterkeit also<br />
nicht her sein“, sagte Remke provozierend.<br />
Mustafa stieß einen unverständlichen Fluch aus und<br />
nahm noch einen Schluck.<br />
„ Aber für die Ungläubigen sind Kleider aus Feuer geschnitten;<br />
gegossen wird siedendes Wasser über ihre<br />
Häupter, das ihre Eingeweide und ihre Haut schmilzt. Und<br />
eiserne Keulen sind für sie bestimmt (Koran, Sure 22 ). Ihr<br />
könnt euch also auf einiges gefasst machen. Und nicht<br />
erst im Jenseits. Der Kampf wird auch hier ausgefochten.<br />
Ihr seid Dschahannams Brennstoff (Sure 21), mehr nicht.“<br />
Mustafas Stimme war schneidend geworden. Man merkte,<br />
dass ihm die Koranzitate sehr viel bedeuteten.<br />
„ Was für Brennstoff bitte? Ich kenne nur Koks und Kohlen.“<br />
Remkes Kommentar war nicht sehr gelungen. Auch Kimrod<br />
schüttelte den Kopf.<br />
„ Wir wollen uns hier nicht mit Zitaten bewerfen. Das ist<br />
ein Sport für alte Männer. Ich dachte mir einfach, Sie<br />
könnten uns behilflich sein. Es kann doch nicht in Ihrem<br />
Interesse liegen, dass der Mörder unbescholten durch die<br />
Gegend läuft.“<br />
„ Allah wird ihn richten. Eure Strafen kenne ich. Zehn Jahre<br />
auf Staatskosten. Dreimal täglich warm essen, im Winter<br />
Heizung und ein Dach über dem Kopf. Wie viele auf
dieser Erde wären froh darüber? Aber diese Sache wird<br />
nicht hingenommen. Diese Hakenkreuzler, die eure Regierung<br />
unterstützt, sind dafür verantwortlich. Und jetzt<br />
gehen Sie. Ich will alleine sein.“<br />
Mustafa drückte die Zigarette auf seinem Handrücken<br />
aus, ohne einen Laut von sich zu geben. Kimrod führte ihn<br />
in die Küche und hielt ihm die Hand unters fließende<br />
Wasser.<br />
„ Allah kennt bestimmt auch die Worte vergeben und verzeihen.“<br />
Mustafa zog seine Hand zurück.<br />
„ Sie hat nie bereut. Jetzt ist es zu spät dafür. Nun gehen<br />
Sie schon.“<br />
„ Falls Sie es sich noch anders überlegen. Hier ist meine<br />
Nummer.“<br />
Kimrod gab ihm einen vorbereiteten Zettel und verließ mit<br />
seinem Kollegen die Wohnung. Mustafa hatte das Wasser<br />
schon wieder abgestellt. Allah ist mit den Standhaften.<br />
Der Ford war noch da. Nur der Außenspiegel fehlte und<br />
die hintere Stoßstange hing etwas weiter herunter als vorhin.<br />
Kimrod stieg ein und ließ den Motor an. Remke hatte<br />
vergessen, seine Tür zu verriegeln.<br />
„ Hast du ein Glück. Wenn man uns das Funkgerät ausgebaut<br />
hätte, säßest du jetzt schön in der Scheiße. Du<br />
wärst einen halben Monatslohn losgeworden. Und Zefhahn<br />
hätte dich mit Katzenkacke erschossen“, sagte Kimrod<br />
schadenfroh.<br />
Remke klopfte verächtlich gegen die veraltete Anlage.
„ Dieses Teil gibt es in jedem Supermarkt gratis, wenn<br />
man zehn Schachteln Waschpulver gekauft hat. Außerdem<br />
bist der Fahrer und für den Wagen verantwortlich.<br />
Dein Zefhahn besteht übrigens ausschließlich aus Katzenscheiße,<br />
auch wenn er in letzter Zeit auf den Hund gekommen<br />
ist. Wieso hat sich dieser Vogel eigentlich die Zigarette<br />
auf der Hand ausgedrückt? Der Aschenbecher<br />
stand doch gleich daneben. Wollte er testen, ob er für seine<br />
Tschanahama als Brennstoff geeignet ist? Du bist doch<br />
unser großer Bibelforscher. Was hatte das zu bedeuten?“<br />
„ Wenn du erfahren würdest, dass deine Schwester gerade<br />
in der Hölle gelandet ist, würdest du vielleicht auch etwas<br />
die Kontrolle verlieren. Claudia war schon länger für<br />
ihn gestorben, nun ist auch ihre Seele den Bach runter<br />
gegangen. Den Ungläubigen die Hölle.“<br />
Kimrod fuhr ein paar Meter auf dem Trottoir entlang und<br />
fädelte dann in den Verkehr ein. Remke legte seine Stirn<br />
in Falten.<br />
„ Als Moslem darf man also mit Drogen handeln, mit allem<br />
was dazugehört, aber nicht auf den Strich gehen, und<br />
muss teuflische Christen in den siebten Himmel befördern.<br />
Das ist eine Logik, der ich nicht ganz folgen kann.“<br />
„ Weil du eben ein Ungläubiger bist. Mit Logik hat das<br />
nichts zu tun. Ich stelle mir das so vor: Er handelt mit Drogen<br />
und erzielt damit enorme Gewinne. Wenn er wenigstens<br />
einen Teil davon für den heiligen Krieg opfert, ist die<br />
Sache wieder geritzt. Die Welt des Islams besteht aus<br />
zwei Etagen. Oben die Moslems, unten die Ungläubigen.
Bis alle Ungläubigen vernichtet oder bekehrt sind,<br />
herrscht Krieg. Zumindest für die Fundamentalisten. Und<br />
im Krieg sind bekanntlich alle Mittel erlaubt, auch wenn<br />
das der Koran nicht eindeutig regelt. Claudia gab ihr Gehalt<br />
Stähler, der dadurch zu ihrem Zuhälter wurde. Da lag<br />
der Gute vielleicht gar nicht so daneben. Wenn man bedenkt,<br />
für null Leistung von einer Nutte Geld kassieren,<br />
das ist Förderung der Prostitution. Vielleicht kann man ihn<br />
damit endlich festnageln. Jedenfalls ist Stähler kein Mullah,<br />
sondern ein Mann, der Irrlehren propagiert. Das Geld<br />
wurde für eine dem Islam zuwiderhandelnde Geschichte<br />
investiert. Alles war folglich verdammenswert. Capito?“<br />
„ Na ja, man kann!s immer hinbiegen wie man es gerade<br />
braucht. Das hat unser Mustafa doch vorhin angedeutet.<br />
Er verdiene sich seine Kröten mit Fahrten in den Irak, beispielsweise.<br />
Was mag der unseren speziellen Freunden<br />
so liefern? Drogen sind passe.“<br />
„ Was der transportiert? Waffen vielleicht, wenn sie nicht<br />
schon alles haben. Wäre fast mal wieder Zeit für einen<br />
neuen Schlagabtausch. Um einen Überblick zu gewinnen,<br />
was es Neues auf dem Markt gibt.“<br />
Kimrod schaltete das Radio ein. Deutsche Schlager. Das<br />
war auch Remke recht. Ein Programm für die ganze Familie.<br />
Der Verkehr war immer noch ruhig, nur wenig Sonntagsfahrer,<br />
die die Überholspuren blockierten. Am Sockel<br />
der Siegessäule kreisten circa dreißig schwarz gekleidete<br />
Männer um das Denkmal. Sie schwangen ihre Fahnen
und schmetterten großdeutsche Lieder. Ein rühriger Anblick.<br />
Kimrod ließ sein Fenster herunter und drehte eine<br />
Ehrenrunde. Die Hakenkreuzler grüßten unablässig und<br />
richteten ihre Blicke in den Himmel. Vielleicht wurden ihre<br />
Gebete erhört und der Führer inkarnierte. So inbrünstig<br />
wie seine Jünger hier ihre Freiluftmessen zelebrierten,<br />
wäre das kein Wunder gewesen; Heimkehr in sein Germania.<br />
Nicht nur böswillige Journalisten hatten sich schon<br />
gefragt, ob die Baupläne für das neue Berlin nicht doch<br />
von Hitler stammten. Oder zumindest von Speer. Zwei<br />
Größen der Gestaltung, die leider von den Wirrnissen der<br />
Zeit an der Verwirklichung ihrer architektonischen Vorhaben<br />
gehindert wurden. Bauherren, die zu Meistern der<br />
Zerstörung pervertierten. Ein schöner Gedanke.<br />
„ Na grüße doch deine Freunde schön. Du brauchst dich<br />
vor mir nicht zu genieren. Nur hoch die Flosse“, sagte<br />
Kimrod und griff Remke unter die Achsel.<br />
Remke kurbelte die Scheibe herunter und winkte freundlich.<br />
Die entrückten Recken würdigten ihn keines Blickes.<br />
Der Staat übersah inzwischen die ehemals streng verbotenen<br />
Insignien der Ultrarechten. Die lausbübisch veränderten<br />
Hakenkreuze, silbrig glänzenden Runen am Kragenspiegel...<br />
sollten sie doch. Man war eine gefestigte<br />
Demokratie und hatte derlei Spitzfindigkeiten nicht mehr<br />
nötig. Schließlich rührten auch die Antipoden mit Hammer<br />
und Sichel auf der Standarte ihre verrostete Werbetrommel.
Remke ging bereitwillig auf den Scherz seines Kollegen<br />
ein. Der kam ihm gerade recht.<br />
„ Sieh dir diese hochgeschossenen Heroen des Abendlandes<br />
an. Blond, blauäugig, bebend vor Kraft und zupackender<br />
Stärke. Das wäre doch schönes Wachpersonal.<br />
Gefeit gegen unmännliche Gefühle wie Mitleid und Barmherzigkeit,<br />
gesintert von der hehren Flamme des arischen<br />
Nordens...“<br />
„ Ja, ja, ich weiß schon, auf was du hinaus willst. Ganz so<br />
wie Wolf, der Fenriswolf, der am Tag der Götterdämm-<br />
erung seine Kette zerreißt und mit der Mitgardschlange<br />
die Welt verwüstet. Mein Wolf, du wolltest...“<br />
„ Nein, das ist dein Komplex. An den Jungen dachte ich<br />
nicht, bewusst jedenfalls. Aber wer ist jetzt der Hakenkreuzler?<br />
Fenriskette, Mitgardschlange, das sind böhmische<br />
Dörfer für mich. Da kann ich dir nicht das Wasser<br />
reichen. Kommst du noch mit auf ein Bier?“<br />
„ Danke, mir reicht!s noch von gestern. So blau war ich<br />
schon lange nicht mehr. Ein anderes Mal gern.“<br />
Sie erreichten den Steubenplatz gegen halb zwei. Remke<br />
stieg aus und Kimrod machte sich auf Parkplatzsuche.<br />
Sein Platz war belegt. Widerrechtlich abgestellte Fahrzeuge<br />
wurden zwar laut Schild kostenpflichtig entfernt,<br />
aber das lohnte die Mühe nicht. Nachher stellte sich heraus,<br />
dass kein Auto widerrechtlich parkte und er konnte<br />
die Kosten für die An- und Abfahrt des Abschleppdienstes<br />
berappen. Vielleicht hatte dieser Makler noch mehr<br />
Freunde, die er mit denselben Quadratmetern bedacht
hatte. Kimrod fuhr so lange um den Block bis etwas frei<br />
wurde. Endlich kam eine junge Mutti mit zwei Kleinkindern<br />
und räumte nach langem Rangieren das Territorium. Kimrod<br />
zwängte sich in die Lücke und stellte die Parkuhr ein.<br />
Zwei Stunden waren erlaubt, ein Ticket war ihm fast sicher.<br />
Doch bei einem Dienstwagen konnte man sich immer<br />
herausreden. Die Verwarnungsgebühren übernahm<br />
im Zweifelsfall der Staat. Man berief sich darauf, in der Eile<br />
des Gefechts vergessen zu haben, wer am Steuer gesessen<br />
hatte. Kimrod machte sich auf den Heimweg. Es<br />
war doch noch ein schönes Stück zu laufen.<br />
Emma war noch nicht zu Hause. Er ging in die Küche und<br />
schlug drei Eier in die Pfanne. Neben dem Brotkasten lag<br />
eine Notiz von Ingrid.<br />
Habe noch viel zu tun mit dem Umzug und schleiche mich<br />
deshalb davon. Du hast so schön geschnarcht. Alles Gute,<br />
Paps, deine Maus.<br />
Lieb, immerhin war sie nicht mehr böse auf ihn. Er zerkleinerte<br />
eine Zwiebel und hob die entstandenen Ringe<br />
unter die Eier. Im Kühlschrank lag eine welke Gurke. Die<br />
schlappe Frucht erinnerte ihn an ein gewisses Körperteil.<br />
Das grenzte schon an Verfolgungswahn....Das Kübisgewächs<br />
ließ sich gut schälen und lag satt in der Hand, ein<br />
ordentlicher Brocken. Es musste nicht immer alles bis in<br />
die letzte Faser steif sein. Der wahre Könner liebte doch<br />
mit lässiger Eleganz und glich mangelnde Härte mit<br />
Durchhaltevermögen aus. Diese schnellen, steil aufgerichteten<br />
Hundsruten standen einem Pubertierenden besser
zu Gesicht als dem reifen Lover. Aber wenn sich gar<br />
nichts mehr rührte? Dann eben nicht.<br />
Er hobelte die Scheiben mit Verve in eine kleine Schüssel<br />
und vervollständigte den Salat mit Essig und Öl. Ein bisschen<br />
zu viel Essig, doch das passte fast wieder zu dem<br />
abgelederten Schniepel, den er sich da zubereitet hatte.<br />
Die Eier waren auch so weit. Er aß gleich aus der Pfanne.<br />
Eine Scheibe Schwarzbrot mit Butter dazu und ein kerniges<br />
Menü war fertig. Moment, die Krönung, ein gekühltes<br />
Helles. Fast hätte er es vergessen. Nachdem er die Pfanne<br />
leer geräumt hatte, vertilgte er den Rest des Salats.<br />
So, noch einen kurzen Schluck zum Runterspülen und ab<br />
mit dem Geschirr in die Pfanne. Die Arbeit war getan, das<br />
Verlangen gestillt. Man konnte zum gemütlichen Teil übergehen.<br />
Er zündete sich eine Zigarette an und genoss die<br />
Friedlichkeit der Stunde. Sonntagnachmittage im Herbst<br />
hatten auch was für sich. Man saß da und ließ die Zeit<br />
verstreichen. Warum nicht?<br />
Nachdem er die Kippe ausgedrückt hatte, legte er sich im<br />
Wohnzimmer aufs Sofa und widmete sich seiner Lektüre,<br />
einem Buch über die aufstrebenden Staaten Afrikas. Der<br />
Autor zeigte auf, was wo ging, hütete sich vor Verallgemeinerungen<br />
und hielt keine billigen Patentrezepte parat.<br />
Er erwies sich dabei als profunder Kenner der afrikanischen<br />
Geschichte, die bei ihm nicht erst mit dem Hissen<br />
der Kolonialflagge begann. Einige Grundmuster traten dabei<br />
öfters in Erscheinung: konkurrenzfähige Landwirtschaft,<br />
solides Handwerk und eine arbeitsplatzsichernde
Kleinindustrie, die einheimische Rohstoffe verarbeitete.<br />
Das waren die Faktoren, die den Schwellenländern zwar<br />
nicht gleich zum Großmachtstatus auf dem Weltmarkt<br />
verhalfen, doch die sie zu ernstzunehmenden Partnern in<br />
der Region avancieren ließen. Wenn man sie ließ.<br />
Von den ehemaligen Kolonialherren konnten folgende Errungenschaften<br />
übernommen werden: reger Austausch<br />
zwischen den Ökonomien, Abbau der Handelshemmnisse<br />
und Zölle, Freizügigkeit für Personen und Sachen und<br />
Beilegung aller Feindseligkeiten zwischen und innerhalb<br />
der Nationen. Das war natürlich leichter gesagt als getan.<br />
Wie lange und erbittert hatten die Europäer gerungen, um<br />
zu diesen Einsichten zu gelangen? Doch während etlicher<br />
Jahrhunderte und unter größten Opfern hatte man sie gezeugt<br />
und hochgepäppelt, diese Prämissen für das Prosperieren<br />
einer Gesellschaft. Nun sollte der schwarze<br />
Kontinent über Nacht dieselben Schritte vollziehen, unter<br />
denkbar ungünstigen Voraussetzungen.<br />
Die Werkzeuge des modernen Imperialismus waren nicht<br />
mehr nur Kanonenboot und Nilpferdpeitsche, sondern<br />
auch Rohstoffpreise und Zinsschraube. Die Direktiven<br />
wurden nicht im Weißen Haus oder im Kreml, sondern an<br />
den Börsenplätzen und in den Vorstandsetagen der<br />
Großbanken ausgegeben. Zwei- bis dreistellige Außenstände,<br />
in Milliarden Dollar, waren die Regel und nicht die<br />
Ausnahme, die Rückzahlung fast immer Utopie. Doch darum<br />
ging es gar nicht. Praktisch und erwünscht war das<br />
Abhängigkeitsverhältnis, das sich daraus ergab. Wer nicht
tilgen wollte, vorzugsweise in Naturalien, sprich Rohstoffe<br />
wurde vom Finanztropf abgehängt und boykottiert. Der<br />
Technologietransfer kam zu Erliegen. Die verkleidete Art<br />
von Sklaverei, die daraus erwuchs, konnte laut Verfasser<br />
nur durch Zusammenarbeit vor Ort abgeschafft werden.<br />
Erst wenn sich die Schuldner untereinander einig wurden,<br />
geschlossen Verhandlungen führten und Forderungen<br />
stellten, konnten sie ihr beklagenswertes Schicksal überwinden.<br />
Kriege, Seuchen, Hungersnöte, das waren die Resultate<br />
dieser verfehlten Strategie, bei der die Afrikaner nur vorläufig<br />
die Hauptleidtragenden waren. Die Kassenbons, die<br />
den Industrieländern auf den Tisch flatterten, hießen ökologische<br />
Katastrophen, Migrationswellen, die gegen die<br />
durchlässigen Tore der Ersten Welt brandeten und Radikalisierung<br />
der unterentwickelten Staaten, die ihre Waffen<br />
immer unverhohlener gen Norden richteten.<br />
Auch wenn nach dem Abholzen des Amazonasregenwaldes<br />
bis auf einen kläglichen Rest von zwanzig Prozent<br />
des ursprünglichen Bestandes noch keine neue Warmzeit<br />
begonnen hatte, kristallisierte es sich doch heraus, dass<br />
die Kapitäne des Kontors denkbar ungeeignet waren, die<br />
Geschicke so großer Gebiete von globaler Bedeutung zu<br />
bestimmen. Wer nur von Quartal zu Quartal dachte und<br />
arbeitete und Ökologie für eine lästige Erfindung verkrachter<br />
Spinner hielt, war überfordert bei der Entwicklung von<br />
Überlebensstrategien und misstraute jedem, dem nicht<br />
hauptsächlich Bilanzen zwischen den Ohren rotierten. Der
Autor schlug sogar die Etablierung eines allmächtigen<br />
Kontrollrats vor, in dem wenige Experten wie auf einem<br />
Kriegsschiff die absolute Kommandogewalt inne hatten<br />
und den havarierten Riesen mit präzisen Anweisungen<br />
aus der Gefahrenzone bugsieren sollten. Ein Organ, dessen<br />
Skelett schon in Form der UNO vorhanden war. Man<br />
musste es nur noch mit Leben, sprich allgemein akzeptierter<br />
Autorität, ausfüllen.<br />
Doch welcher Staat und welche Konföderation war bereit,<br />
zusätzliche Souveränität aufzugeben, auch wenn dies<br />
zum Wohle der Menschheit geschah? Und Sinn machte<br />
eine solche Institution auch nur, wenn sie von einem breiten<br />
Konsens getragen wurde. Und der war augenblicklich<br />
dank der weltweiten Wirtschaftskrise weiter entfernt denn<br />
je.<br />
Die Erschöpfbarkeit der natürlichen Ressourcen, dieser<br />
Begriff fehlte noch in der Fibel der Ökonomen, die oft noch<br />
mit den Vokabeln des zwanzigsten Jahrhunderts hantierten.<br />
Wieder einer jener apokalyptischen Untergangsreißer,<br />
die auf die latenten Ängste der Wohlstandsbürger spekulierten<br />
und einem altbekannten Zustand einen effektvollen<br />
Horroranstrich verliehen? Kimrod wollte sich noch kein Urteil<br />
erlauben. Er hatte bislang kaum ein Drittel der Abhandlung<br />
bewältigt. Er wurde müde, legte das Buch beiseite<br />
und döste bis um halb vier vor sich hin. Keine Verpflichtungen,<br />
keine Bedürfnisse, nur passives sich treiben<br />
lassen. Fernöstliche Kontemplation. Praktisch, wenn man<br />
so gescheite Kinder hatte.
Kimrod rauchte später in der Küche eine Zigarette und<br />
studierte dabei den Programmkompass. Strahl Drei, sein<br />
Lieblingssender, brachte den ersten Teil einer australischen<br />
Endzeittrilogie. Er hatte den Film schon mehrmals<br />
genossen. Das war keine vergeudete Zeit, sondern Unterhaltung<br />
vom Feinsten. Handlung: Polizisten im faschistoiden<br />
schwarzen Lederdress bekriegten sich mit einer<br />
Motorradgang; Moral: Gegen Gewalt hilft nur Gewalt und<br />
Gewissensbisse sind nur dazu da, um überwunden zu<br />
werden; Sehenswert: die Weite und Teilnahmslosigkeit der<br />
australischen Steppe, die den stimmungsvollen Hintergrund<br />
für die Asphaltmassaker fernab europäischer Enge<br />
und Begrenztheit lieferte; Nachschlag: Die Desperados<br />
gerieten fast sympathischer als der einsame Held mit stierem<br />
Blick, weil sie konsequent die Arbeit ihrer Väter vollendeten,<br />
die ihnen nur Ruinen hinterlassen hatten. Die<br />
Polizei kämpfte für eine Ordnung, die schon längst nicht<br />
mehr existierte. Die Vollstrecker des Gesetzes verwandelten<br />
sich selbst in Höllenjockeys; Lieblingssätze: Für die<br />
Bullen sind wir nur Menschenmüll und Du hängst am Haken,<br />
Max und du weißt es.<br />
Hing er tatsächlich am Haken? Zumindest finanziell , aber<br />
sonst, war der Beruf die einzige Erfüllung seines Daseins,<br />
konnte er ohne ihn nicht mehr weitermachen?<br />
Die <strong>Kopie</strong> war alt und abgewetzt, das verlieh dem Spektakel<br />
zusätzliche Authentizität. Schrott, Sand, Gewalt, sah<br />
so die Zukunft aus? Nach dem Film ging er draußen noch<br />
ein paar Schritte. Es wurde abends zusehends frischer,
der Sommer war unwiderruflich vorbei. Na ja, dann kam<br />
der Winter, das Frühjahr, immer dieselbe Leier, aber bald<br />
würde er es überstanden haben. Noch zwanzig, fünfundzwanzig<br />
Jährchen, eigentlich lächerlich wenig.<br />
Er ging wieder ins Haus und las weiter. Um sechs kam<br />
Emma. Sie stellte sich sofort unter die Dusche und brauste<br />
ausgiebig. Diese harten Sitzungen... ob sie es mit mehreren<br />
getrieben hatte? Kimrod zwang sich, an etwas anderes<br />
zu denken. Sie würde stutzig werden, wenn er<br />
ständig vor sich hingrinste. Sie aß etwas anschließend<br />
und fragte von der Küche aus, ob er noch ein Bier wolle.<br />
Warum nicht, ein bisschen Dröhnung konnte nicht schaden.<br />
Den Rest des Abends verbrachte das Ehepaar wie<br />
üblich vor dem sündteuren TV-Gerät. Was blieb einem<br />
auch sonst übrig? Lesen war anstrengend und quatschen<br />
nervig. Kimrod ging um halb zehn ins Bett. Emma kam um<br />
elf nach. Sie war nackt und drängte sich gleich an ihn. Er<br />
hatte so etwas schon befürchtet, weil sie auf dem Sofa so<br />
verliebt getan hatte. Der wöchentliche Spießrutenlauf war<br />
fällig. Er entledigte sich seines Pyjamas und ließ sie gewähren.<br />
Schon lag sie auf ihm und kreiste mit dem Becken<br />
über seiner ungeladenen Kanone. Ihre Brüste tanzten<br />
einladend vor seiner Nase, doch es war sinnlos. Auch<br />
als ihr drahtiges Schamhaar immer fordernder gegen sein<br />
Geschlecht scheuerte, erfolgte keine Reaktion. Es war<br />
zum Verzweifeln. Jeder andere wäre allein beim Anblick<br />
dieses Körpers gekommen. Saftige Knospen auf vollen<br />
Titten, ein Arsch so rund und formvollendet wie zwei Fuß-
älle, eine Wespentaille, die Beine einer Ballerina und nirgends<br />
Fett oder Wabbel. Alles straff und glatt. Das schrie<br />
förmlich nach der Verschmelzung mit einem potenten<br />
Stier. Und dann das, tote Hose, nichts.<br />
Sie rutschte von ihm herunter und ging ins Bad. Es war<br />
überstanden, die versuchte Vergewaltigung abgewehrt.<br />
Vielleicht wartete schon ein strammer Gummimax in ihrem<br />
Kosmetikschrank auf seinen Einsatz. Sie kam aber bald<br />
wieder zurück. Ging es ohne ihn schneller, war er nur<br />
noch ein Klotz an ihrem Bein?<br />
„ Du solltest dich endlich einmal in Behandlung begeben.<br />
Dieser Zustand muss einen doch ganz krank machen.“<br />
Sie war immer noch erregt, ein leichtes Tremolo lag in ihrer<br />
Stimme. Hoffentlich war der Vulkan schon ausgebrochen.<br />
Noch so eine Prozedur würde er nicht überleben.<br />
Angriff ist die beste Verteidigung.<br />
„ Oder im Sexshop eine Salbe kaufen. Nach drei Tagen<br />
fault dir dann die Kappe weg. Nein danke. Ich kann mir<br />
keinen Seelenklempner leisten. Meine Kasse zahlt nicht<br />
einmal für Knoblauchdragees. Außerdem ist das alles<br />
Humbug. Wenn es nicht mehr geht, geht!s eben nicht<br />
mehr. Dem Nachwuchs eine Chance“, sagte Kimrod sarkastisch.<br />
„ Wie soll ich denn das verstehen? Meinst du, ich habe<br />
mich schon nach einem Nachfolger umgesehen, einem<br />
der sich mehr Mühe gibt? Du weißt genau, dass ich mir<br />
das so kurz vor den Wahlen nicht leisten kann. Man legt<br />
heute wieder Wert auf geordnete Verhältnisse. Aber du
könntest es doch mal mit einer Professionellen versuchen.<br />
Vielleicht fehlt dir dieser Zug ins Vulgäre.“<br />
Dass sie immer noch so sauer wurde. Diese Übung wiederholten<br />
sie schon zum x-ten Male, mit dem altbekannten<br />
Ergebnis. Er hatte doch Grund zum frustriert sein,<br />
nicht sie.<br />
„ Gelegenheit hatte ich gestern mehrmals. Ich setze dein<br />
Einverständnis in Zukunft also voraus. Und jetzt lass mich<br />
bitte schlafen. Ich habe einen harten Tag vor mir.“<br />
Emma knipste das Licht aus und rückte ihrem Gemahl<br />
nicht mehr auf den Leib. Zum Schluss organisierte er sich<br />
noch in einer Männergruppe.<br />
12.10 MONTAG<br />
Die Woche begann vielversprechend. Auf das Hauptquartier<br />
der Camos war um fünf Uhr fünfundvierzig ein<br />
Sprengstoffattentat verübt worden. Maikovsky hatte sich<br />
schon vor Ort informiert und erstattete in seinem Büro vor<br />
versammelter Mannschaft Bericht.<br />
„ Zwei Zimmer brannten komplett aus, etliche weitere<br />
Räume wurden schwer beschädigt. Es ist noch unklar, wie<br />
die Sprengsätze ins Haus gelangten. Man fand keine Spuren<br />
an den Türen. Die Täter müssen also aus dem Profi-
lager kommen. Oder sie hatten Nachschlüssel. Gott sei<br />
Dank war das Haus noch leer, die Putzfrauen kommen<br />
erst eine Stunde später. Der Sachschaden dürfte beträchtlich<br />
sein. Mehrere Computer zerschmolzen, Videoeinrichtungen<br />
gingen hops. Hoffentlich sind die Jungs gut versichert.“<br />
„ Eine warme Sanierung, das liegt doch auf der Hand.<br />
Wenn denen die Kohle ausgeht, fackeln sie ab.“<br />
Zefhahn löste sich aus dem Gewimmel. Er ließ Kimrods<br />
Verdacht nicht gelten.<br />
„ Nein, nein, das sind doch keine Bauern. Da steckt eher<br />
euer Mustafa dahinter. Was habt ihr denn erreicht?“<br />
Zefhahn schob Kimrod auf den Gang hinaus. Die Luft<br />
wurde bedeutend besser. Bullrichs Zigarillos stanken bestialisch.<br />
Direktimport aus Weißrussland.<br />
„Tja Chef, da war nicht viel. Der lässt sich nicht viel anmerken.<br />
Er sagte nur, dass der Tod seiner Schwester nicht<br />
ungesühnt bleiben würde. Sollen wir vorbei fahren und<br />
fragen, wo er die Nacht verbracht hat?“<br />
„ Nein, da kommen wir nur vom Hundertsten ins Tausendste.<br />
Ihr konzentriert euch auf die beiden Mädchen.<br />
Da müssen wir möglichst bald auf eine Goldader stoßen<br />
oder wie man da sagt. Sie wissen jedenfalls, was ich meine.<br />
Unseren Kritikern den Wind aus den Segeln nehmen.<br />
Dann kommt alles andere von ganz allein. Konkret gesprochen<br />
heißt das Folgendes: Ihr knöpft euch jetzt sofort<br />
einen dieser Hakenkreuzler vor. Er heißt Sven Ohlins und<br />
wohnt in der Jungfernheide, Geitelsteig 30. Eine lange
Latte von Vorstrafen. Körperverletzung, Landfriedensbruch,<br />
Bildung verfassungsfeindlicher Vereinigungen. Ein<br />
ganz übler Bursche. Dem wäre so ein Ritualmord ohne<br />
weiteres zuzutrauen. Er arbeitet im Flughafen. Wenn er<br />
nicht zu Hause ist, schnappt ihr ihn euch dort. Falls er<br />
kein Alibi hat, nehmt ihr ihn euch vor. Er hat noch Bewährung.<br />
Wenn er nicht kuscht, durch den Wolf drehen. Ich<br />
gebe euch volle Rückendeckung. Diese Bande ist lange<br />
genug mit Samthandschuhen angefasst worden. Remke<br />
hat alles in seinem Notebook. Und jetzt los, diese Kerle<br />
dürfen nicht mehr zur Ruhe kommen. Wäre doch gelacht,<br />
wenn wir mit denen nicht fertig werden.“<br />
Zefhahn verschwand im Fahrstuhl. Wulke verlangte nach<br />
ihm. Ja, es brannte an allen Ecken und Enden. Die Stunde<br />
der Bewährung war gekommen. Kimrod schloss sich<br />
wieder seinen Kollegen an, die Maikovskys Vortrag über<br />
sich ergehen ließen. Dieser referierte inzwischen über die<br />
neuen Dienstfahrzeuge der Camos.<br />
„ Zwanzig pechschwarze Audi Quattros. Keiner unter hundertfünfzig<br />
PS. Hinter den Sitzen Gewehrhalter für die<br />
Mossbergs. Sicherheitsverglasung rundum, schusssichere<br />
Reifen. Sie steigen jetzt verstärkt in den VIP-Transport<br />
ein. Vielleicht könnt ihr mich eines Tages auch im Fond<br />
von so !ner Karre vorfinden, nach meiner längst überfälligen<br />
Entdeckung.“<br />
Endlich ging ihm die Luft aus. Wenn man ihn nicht ausreden<br />
ließ, brachte er es fertig, seinen Sermon über den<br />
Computer auf alle Schreibtische zu verteilen. Er war ein
egnadeter Hacker und man tat deshalb gut daran, es<br />
nicht darauf ankommen zu lassen.<br />
Kimrod und Remke zogen sich in ihr bescheidenes Domizil<br />
zurück, von allen treffend Besenkammer genannt, da<br />
sein Fassungsvermögen mit zwei Schreibtischen erschöpft<br />
war. Kimrod schenkte sich eine Tasse Kaffee ein<br />
und zündete sich eine Zigarette an. Das war wirklich mal<br />
eine erfreuliche Nachricht. Endlich bekam dieser Totsch<br />
sein Fett ab. Wenn dieser Mustafa auch mit drinsteckte,<br />
dann alle Achtung. Remke wusste seine gute Laune zu<br />
deuten.<br />
„ Da grinst sich einer einen ab. Du bist mir ja wirklich ein<br />
feiner Polizist. Und wenn deinem Sohn was passiert wär?<br />
Komm, lass uns abhauen, sonst fällt diesem Komiker wieder<br />
was Neues ein.“<br />
Er ließ es offen, ob er damit Maikovsky oder Zefhahn<br />
meinte.<br />
Über Nacht war ein kalter Ostwind aufgekommen. Dichte<br />
Wolken verdrängten den Hochnebel. Sie erreichten die<br />
Wohnung von Ohlins um zehn Minuten nach acht. Vielleicht<br />
schlummerte der braune Dreckspatz noch im Nest.<br />
Kimrod machte sich keine großen Hoffnungen. Ein kleiner<br />
Schläger, der sich mit aufgeschnappten Parolen wichtig<br />
machte, mehr nicht.<br />
Remke klingelte. Das war seine Domäne. Er würde auch<br />
nicht vor einer hochgezogenen Zugbrücke kapitulieren.<br />
Das Gebäude, ein schmaler, hoher Block, wirkte wenig<br />
einladend. Bei den permanenten Anwaltskosten und
Geldstrafen war wohl nicht mehr drin. Anstatt des rauflustigen<br />
SA-Verschnitts erschien die Hausmeisterin. Sie baute<br />
sich stilgerecht mit Putzeimer und Lockenwicklern im<br />
Treppenhaus auf. Die Polizisten brauchten sich nicht vorzustellen.<br />
„ Ich rieche euch fünf Kilometer gegen den Wind. Immer<br />
hacken sie auf dem Jungen herum. Dabei ist das ein anständiger<br />
Kerl, der dafür gerade steht, was er denkt. Und<br />
das schmeckt dieser Bagage nicht, diesem ganzen<br />
Zeugs, das unser schönes Deutschland ständig in den<br />
Dreck zieht. Sie können gleich wieder kehrt machen. Der<br />
Junge ist nicht da. Und ich werde mich hüten, ihm euch<br />
Bluthunde auf den Hals zu hetzen.“<br />
„ Sie werden doch. Wir haben einen Durchsuchungsbefehl.<br />
Wir stellen die Hütte so lange auf den Kopf, bis er auf<br />
der Matte steht. Sie können Ihren Ruhestand glatt um<br />
zwei Jahre verschieben, so sieht!s danach hier aus.“<br />
Remkes Bluff zeigte Wirkung. Die Concierge ließ ihren<br />
Lappen auf die Fliesen klatschen.<br />
„ Er ist im Park, am Wildgehege. Wenn er Spätschicht hat,<br />
macht er da immer seine Übungen. Ein großer Kerl. Kurze,<br />
braune Locken und breite Schultern mit diesen Tätowierungen<br />
drauf.“<br />
„ Danke, wir kennen ihn. Wollen Sie ein Bild von ihm haben?“<br />
Remke klappte vorfreudig seine elektronische Spickkladde<br />
auf. Die Hausmeisterin wich einen Schritt zurück.
„ Ich kenne den Jungen. Wehe Sie fassen ihn mir wieder<br />
an. Er ist doch noch ein halbes Kind.“<br />
Remke bückte sich und drückte ihr den Putzlumpen in die<br />
Hand. Ihr mit Gold gespickter Mund öffnete sich immer<br />
weiter. Die Kommissare machten sich zu Fuß auf den<br />
Weg. Die Luft war seit langem endlich wieder erfrischend<br />
und bekömmlich.<br />
„ Das bewundere ich an dir so, Otto. Du weißt unsere Institutionen<br />
immer mit Respekt zu behandeln. Bis auf Zefhahn<br />
vielleicht, aber das ist nur ein Schönheitsfehler“,<br />
bemerkte Kimrod.<br />
„ Die deutsche Hausmeisterin waltet sein Generationen<br />
treu über den ihr anvertrauten Bereich. Unzählige Mieter<br />
hat sie an ihren großherzigen Busen gedrückt und vor den<br />
Unbilden der Straße bewahrt. Ihrer Umsicht und Fürsorglichkeit<br />
ist es zu verdanken, dass die Keimzelle unseres<br />
Volkes von Anfang an auf fruchtbarem Nährboden gedeihen<br />
kann.“<br />
„ Schon gut, Herr Reichsherdbuchwart. Sven Ohlins, das<br />
ist doch kein deutscher Name. Hat er sich den zugelegt<br />
oder ist er ihm verliehen worden? Was sagt denn HASS-<br />
SO dazu?“<br />
„ Ach weißt du, heutzutage mit dem neuen Namensrecht<br />
kann doch jeder heißen wie er will. HASSSO hat übrigens<br />
ein paar hundert Namen ausgespuckt, allein unter der<br />
Rubrik rechts außen. Da wirst sogar du zum Opa drüber,<br />
bis die alle abgehakt sind. Und das alles mit vier Mann.<br />
Ich weiß nicht, wie sich das unsere Oberpfeife, wieder
vorgestellt hat. Ohlins, unser Däne, soll Chef der Kampfgruppe<br />
Frundsberg sein. Kannst du damit was anfangen?“<br />
„ Nein, das ist aber wahrscheinlich so alter Nazikram. Wir<br />
können ihn ja fragen“, schlug Kimrod vor.<br />
Ohlins befand sich an dem von der Hausmeisterin angegebenen<br />
Platz. Er hing an einer Reckstange und machte<br />
Klimmzüge. Ohlins war nur mit einem Unterhemd und<br />
kurzen Hosen bekleidet. In der Tat ein kerniger Bursche.<br />
Seine Arme und Schultern waren reich bebildert. Panzer,<br />
Totenköpfe, Blutschwälle, Stacheldraht, Runen, ein wahres<br />
Schlachtfeld. Die Tätowierungen waren mehrfarbig<br />
und von hoher Qualität, keine billigen Knaststiche. Vor<br />
dem Turner wachte ein schwerer Molosser. Die Kriminalbeamten<br />
identifizierten ihr Opfer schon aus der Ferne.<br />
Remke brauchte keine Reproduktion auf dem Display abzurufen.<br />
Der Hund witterte die Gefahr instinktiv. Seine Nackenhaare<br />
sträubten sich und ein tiefes Grollen entwich<br />
seiner Kehle. Heute hatte auch Kimrod seine SIG eingesteckt.<br />
Eine Vorsichtsmaßnahme, die sich bereits bezahlt<br />
machte. Ohlins gab seinem vierbeinigen Bodyguard ein<br />
kurzes Kommando und winkte die sich vorsichtig nähernden<br />
Gestalten heran.<br />
Schon wieder Staatsbesuch. Ohlins zog sich nach oben.<br />
Nur nicht aufregen. Zweiundzwanzig, dreiundzwanzig. Eichmann<br />
blieb misstrauisch. Wehe wenn die seinem<br />
Herrchen zu nahe kamen. Vierundzwanzig, fünfundzwanzig,<br />
einen noch, sechsundzwanzig. Ah, das tat gut. Ohlins
löste seinen Griff und stellte sich neben Eichmann, der<br />
sprungbereit auf seinem Hinterteil Platz genommen hatte.<br />
So, jetzt konnten sie kommen. Der Hund bewies einmal<br />
mehr seinen Wert.<br />
„ Los, mach schon, Otto. Darauf wartet der doch nur, dass<br />
wir uns wegen dem Köter bepinkeln“, sagte Kimrod mit<br />
gedämpfter hervor und ging mit gutem Beispiel voran. Er<br />
näherte sich dem imposanten Duo bis auf ein halbes Dutzend<br />
Schritte.<br />
„ Der tut nix, wenn ihr schön brav bleibt.“<br />
Ohlins legte seine Hand auf Eichmanns imposanten<br />
Schädel und grinste frech. Remke zog seine Pistole und<br />
lud durch.<br />
„ Platz Eichmann!“<br />
Der Hund befolgte den Befehl seines Herrchens augenblicklich<br />
und legte sich auf den Bauch. Seine Augen folgten<br />
weiterhin jeder Bewegung der Störenfriede.<br />
„ Wenn ihr auf meinen Hund schießt, erlebt Berlin noch<br />
heute einen Aufstand. Und euch beide verfüttere ich an<br />
die Wildschweine. Wenn sie Bullenfleisch überhaupt annehmen.“<br />
Kimrod ging nicht auf die Provokation des Rechtsradikalen<br />
ein. Er überwand sich und trat dem Schläger direkt<br />
gegenüber, um ihm seinen Ausweis zu zeigen. Eichmann<br />
konzentrierte sich auf Remke, der so vorsichtig heranschlich,<br />
als ob er ein Minenfeld zu überqueren hätte. Seine<br />
Waffe hielt er schussbereit in der rechten Jackenta-
sche verborgen. Ohlins überflog das Dokument kurz und<br />
nickte.<br />
„ Sie sind Wolfs Vater. Freut mich, er ist ein guter Bekannter<br />
von mir. Was habt ihr denn auf dem Herzen? Mir wird<br />
schon langsam kalt, ich brauche Bewegung.“<br />
„ Meinen Sohn lassen wir heute ausnahmsweise aus dem<br />
Spiel. Ich will nur eins wissen. Wo waren Sie in der Nacht<br />
von Freitag auf Samstag?“<br />
„ Erst auf ein paar Bierchen in der Kneipe und dann zu<br />
Hause. Leider alleine, meine Freundin macht gerade Urlaub.“<br />
„ In der JVA höchstwahrscheinlich!“<br />
Auf Remkes Bemerkung reagierte nicht nur Ohlins verärgert.<br />
Auch Eichmann liftete seine fleischigen Lefzen. Dieser<br />
Mann mit der Hand in der Tasche wollte seinem<br />
Herrchen nichts Gutes, das war klar. Und er roch auch so<br />
komisch. Irgendein chemisches Zeug, das einem die Nase<br />
verbog.<br />
„ Was ist das denn für eine Knallcharge? Euer Mann fürs<br />
Grobe? Bloß weil es bei ihm nur für eine aufblasbare Gespielin<br />
gereicht hat, glaubt er, meine Lebensgefährtin<br />
durch den Dreck ziehen zu dürfen. Ich muss mir so was<br />
nicht bieten lassen!“<br />
Ohlins fing an, auf der Stelle zu laufen. Für ihn war das<br />
Gespräch beendet.<br />
„ Warum wollen Sie eigentlich gar nicht wissen, weshalb<br />
wir Sie um diese kleine Auskunft gebeten haben? Gehört<br />
der Umgang mit der Polizei schon so zu Ihrem Alltag?“
Kimrod ahnte zwar, dass hier nichts mehr zu holen war,<br />
doch was blieb ihm schon anderes übrig. Solche Typen<br />
waren auch durch kein mehrstündiges Verhör einzuschüchtern.<br />
Entweder es kam gleich was oder es kam<br />
nichts.<br />
„ Vielleicht ist am Wochenende eine Brücke in Hinterindien<br />
eingestürzt. Wir hatten da natürlich unsere Hände mit<br />
im Spiel. Soll ich das Geständnis gleich unterschreiben?<br />
Was weiß denn ich, was ihr uns andauernd anhängen<br />
wollt? Wahrscheinlich bald auch noch, dass wir nicht SPD<br />
wählen gehen“, antwortete Ohlins und drehte eine kleine<br />
Runde um die Polizisten herum. Eichmann blieb brav liegen.<br />
„ Da könnt ihr schon recht haben. Viel trauere ich denen<br />
bestimmt nicht nach. Nicht nur weil sie türkisches Blut in<br />
sich haben. Aber alles zu seiner Zeit. Erst muss die Macht<br />
erobert werden. Dann kommt die Nacht der langen Messer.<br />
Wir haben Zeit. Ist aber schön, wenn sich so etwas<br />
von allein erledigt. Wie gesagt, ich war zu Hause. Fragen<br />
Sie nur Klärchen, die Hausmeisterin. Die hält rund um die<br />
Uhr Wache. Da schlüpft keiner durch.“<br />
„ Lass dich doch von dieser Vorstadtvisage nicht verarschen.<br />
Wir werden seine Angaben genauestens überprüfen.<br />
Vielleicht langt!s auch für einen Durchsuchungsbefehl.<br />
Dann kipp ich seinen ganzen Mist auf die Straße und<br />
gieße Benzin drüber. Und seinem Köter stecke ich eine<br />
Dynamitstange in den Arsch.“
Remke ließ seinen Worten Taten folgen. Er versetzte Ohlins<br />
einen mittelprächtigen Stoß vor die Brust. Ohlins wollte<br />
sofort zum Gegenschlag ausholen, doch Kimrod ging<br />
dazwischen. Remke war dem Hünen nicht ansatzweise<br />
gewachsen und würde bald seine Pistole einsetzen müssen.<br />
Das bedeutete nur einen Haufen Ärger und musste<br />
unbedingt verhindert werden, auch wenn diesem Dumpfmichel<br />
ein Denkzettel nicht geschadet hätte. Ohlins steckte<br />
schnell zurück.<br />
„ Aber nur weil du Wolfs Vater bist. Erst dumme Fragen<br />
stellen und dann auch noch handgreiflich werden. Nur<br />
weil ihr wisst, dass ich noch Bewährung habe.“<br />
Eichmann sprang kläffend um die Streitenden herum.<br />
Wenn ihm sein Herrchen doch nur erlaubte, an dem<br />
Handgemenge teilzunehmen. Ein kurzer Wink und diese<br />
Kameraden würden ihr blaues Wunder erleben.<br />
„ So, Otto, das reicht schon. Wir verabschieden uns. Viel<br />
Spaß noch.“<br />
Kimrod zerrte seinen Kollegen von Ohlins weg und achtete<br />
darauf, dass dessen Hand in der Tasche blieb. Ohlins<br />
setzte seine Boxübungen verbissen fort. Wieder einmal<br />
typisch, wegen zweier Kanakenschnallen Steuergeld verpulvern.<br />
Aber nicht mehr lange. Der Tag der Abrechnung<br />
nahte unaufhaltsam.<br />
Erst als die Polizisten wieder auf der Straße angelangt<br />
waren, gab Kimrod Remke frei.<br />
„ Nun lass doch! Ich bin doch kein Berserker, den man nur<br />
in der Zwangsjacke unter die Leute lassen darf. Schön
langsam verstehe ich dich. Wenn sich die Camos mit diesem<br />
Gesindel einlassen, dann Gute Nacht“, schimpfte<br />
Remke weiter.<br />
Sie gingen zurück zum Wagen und hielten eine Lagebesprechung<br />
ab.<br />
„ Ein paar hundert Pappenheimer von rechts. Da muss es<br />
doch ein Raster geben, das man auf diesen Wust legen<br />
kann und dadurch neunzig Prozent wegfallen. Dieser<br />
HASSSO muss das doch draufhaben. Sonst wäre das<br />
keine Hilfe, sondern nur eine Arbeitserschwernis“, meinte<br />
Kimrod etwas verzweifelt.<br />
Er hatte von diesen computergestützten Fahndungsmethoden<br />
nie viel gehalten. Schließlich wurden doch keine<br />
Viren, sondern Wesen aus Fleisch und Blut gejagt. Und<br />
einem Rechner auszudeutschen, was mit psychologischem<br />
Moment gemeint war, hatte noch niemand fertiggebracht.<br />
Remke klappte den Datenträger auf und gab eine Zahlenkombination<br />
ein.<br />
„ Der Schlüssel. Wenn das Ding einmal in falsche Hände<br />
gerät. Wird dreimal hintereinander der verkehrte Code<br />
eingetippt, ist Sense. Nur der Speicher bleibt erhalten,<br />
aber man kann nichts abrufen bis vom Fachmann ein<br />
neuer Code programmiert wird. Das Beste an dem Ding<br />
ist das hier.“<br />
Remke zog eine Teleskopantenne aus dem Gehäuse und<br />
hielt sie aus dem Wagen.
„ Wenn es blinkt, sind Neuigkeiten unterwegs. Per Funk.<br />
Man ist damit also immer up to date. Was HASSSO erschnüffelt,<br />
bekommen wir postwendend nachgeschickt.<br />
Da nichts blinkt, ist auch nichts unterwegs. Wir müssen<br />
praktisch nie mehr zurück ins Präsidium.“<br />
„ Das hört sich nicht schlecht an. Ich kann mit diesem<br />
Mäusekino jedoch nicht viel anfangen. Da bekommt man<br />
Kopfschmerzen allein vom Hinsehen. Kann man das nicht<br />
ausdrucken? Das wäre doch ganz was anderes als dieses<br />
Geflimmer.“<br />
„ Na hör mal, das ist ein Hochleistungsmonitor mit was<br />
weiß ich wie vielen Millionen von Pixeln. Du brauchst<br />
wahrscheinlich eine Brille. Das Alter dazu hättest du ja.<br />
Drucken kann man nur zu Hause. Sonst könnte man das<br />
Ding schlecht überallhin mitnehmen. So weit sind die noch<br />
nicht. Also was ist, wollen wir Klärchen noch einmal interviewen?<br />
Ob dieser Idiot wirklich die Nacht im Bett verbracht<br />
hat?“<br />
Kimrod schüttelte den Kopf.<br />
„ Die stecken doch alle unter einer Decke. Wahrscheinlich<br />
darf ihm diese Vettel einmal im Monat den Schwanz abstauben<br />
und tut deshalb alles für ihn. So kommen wir<br />
nicht weiter. Am liebsten würde ich in die Zentrale zurück<br />
fahren und alles noch einmal durchackern. Mit meinem<br />
Gehirn als Sieb und nicht mit supraleitenden Windungen,<br />
die so viel anhäufen, dass man den Wald vor lauter Bäumen<br />
nicht mehr sieht.“
„ Das dauert aber, mein lieber Schwan. Ich will nicht mit<br />
leeren Händen heimkommen. Wo wir schon mal entronnen<br />
sind. Nein, ich habe eine Idee. Wir hüpfen einfach eine<br />
Sparte weiter...hier, prima, Olaf Bremser, Gorgasring<br />
siebzehn. Das ist hier gleich in der Nähe, Haselhorst.“<br />
„ Und was haben wir bei dem zu erwarten? Auch ein Hakenkreuzler?“<br />
„ Nein. Zweimal schwere Körperverletzung, einmal mit Todesfolge.<br />
Bekam acht Jahre und saß insgesamt zwölf.<br />
Exhibitionismus, Kinderpornographie, versuchte Vergewaltigung.<br />
Der hat schon alles durchprobiert. Vielleicht<br />
erwischen wir ihn dabei, wie er sich gerade von seinem<br />
Cockerspaniel einen blasen lässt.“<br />
„ Wieso, hat er einen?“ hakte Kimrod amüsiert nach.<br />
„ Einen Spaniel oder einen Wurmfortsatz? Nein, war nur<br />
ein Scherz. Ich wollte dich nur vorbereiten.“<br />
„ Irgendwie kommt mir der Name auch bekannt vor. Wäre<br />
möglich, dass ich schon einmal das Vergnügen hatte.<br />
Aber den nehmen wir auf alle Fälle. Hat wohl schon öfters<br />
mit Nutten zu tun gehabt?“<br />
„ Fast ausschließlich. Darum kam er immer so billig davon.<br />
Vielleicht ist er jetzt endgültig durchgeknallt und hat<br />
in der Grenzallee Nägel mit Köpfen gemacht.“<br />
„ Na denn los.“<br />
Kimrod schnallte sich an und startete. Wenig später stoppte<br />
er vor einem Kiosk in der Nonnendammallee. Remke<br />
stieg aus und besorgte die Taz und Proviant. Kimrod hatte<br />
ihn mit dem Erwerb des Blattes beauftragt, weil die Re-
daktion nicht vor hohen Tieren Halt machte und natürlich<br />
wegen der Zollner, die so unliebsam am Sonntag Morgen<br />
überrascht worden war.<br />
Kimrod parkte auf einer Bushaltestelle und wurde prompt<br />
von einem BVG-Chauffeur angehupt, der auf seine älteren<br />
Rechte pochte. Und Remke tauchte einfach nicht wieder<br />
auf. Kimrod schlich ein paar Meter weiter. Der nachfolgende<br />
Verkehr war sehr dicht und staute sich augenblicklich<br />
hinter dem Hindernis. Lange würde er sich nicht halten<br />
können. Fast jeder, der sich vorbeigequetscht hatte,<br />
grüßte ihn mit eindeutigen Gesten. Endlich kam Remke<br />
um die Ecke gerannt. Wenigstens hatte er zwei Bier untergeklemmt.<br />
Das war zumindest eine Teilwiedergutmachung.<br />
Kimrod nahm den Fuß von der Kupplung, noch<br />
während Remke am Einsteigen war. Remke verlor eine<br />
Büchse.<br />
„ Jetzt halt an, du Pistenschreck. Die werden dich schon<br />
nicht gleich einen Kopf kürzer machen. Wenn man keine<br />
Nerven dazu hat, sollte man nicht Auto fahren. Das schöne<br />
Bier“, jammerte Remke.<br />
Kimrod ging kurz auf die Bremse. Remke ließ nun alles<br />
kurzerhand auf die Bodenwanne fallen und griff sich mit<br />
einer flinken Handbewegung die davonrollende Dose.<br />
Kimrod scherte überhastet ein und wäre beinahe von einem<br />
Mercedes gerammt worden, der gerade im Begriff<br />
war, vorbeizuziehen. Der Daimlerpilot blieb für mindestens<br />
zehn Sekunden auf seiner Doppelfanfare. Kimrod wurde<br />
tatsächlich etwas nervös und fand den ersten Gang nicht
auf Anhieb, den er einlegen wollte, weil er erneut abgebremst<br />
hatte.<br />
Remke stellte das richtige Übersetzungsverhältnis mit einem<br />
gekonnten Handkantenschlag her und drohte, die unter<br />
Druck stehende Bierbüchse im Wageninneren zu öffnen,<br />
wenn sie nicht schleunigst diesen Ort des Unglücks<br />
verließen. Doch Kimrod war schon wieder die Ruhe<br />
selbst. Er fuhr an und beachtete die Gestalt in der schwäbischen<br />
Nobelkarosse nicht weiter, die noch immer wild<br />
mit den Armen gestikulierte und inzwischen dunkelrot angelaufen<br />
war.<br />
„ Na Gott sei Dank. Ich kam mir schon vor wie in der<br />
Fahrschule. Dabei wolltest du doch Rennfahrer werden“,<br />
sagte Remke und riss seine Dose auf. Nachdem er einen<br />
tüchtigen Schluck genommen hatte, schüttelte er die havarierte<br />
Büchse noch einmal und hielt sie Kimrod unter die<br />
Nase.<br />
„ Was gibt es denn zu mampfen? Doch hoffentlich keine<br />
Fischsemmeln?“ äußerte der Kriminalhauptkommissar<br />
abweisend.<br />
Kimrod konnte dieses Produkt deutscher Esskultur nicht<br />
ausstehen, weil er von seiner Frau mit Insiderberichten<br />
aus den Lebensmittelinstituten eingedeckt wurde. Wenn<br />
man zu genau wusste, was wo drin war, konnte einem<br />
schnell der Appetit vergehen. Nur schade, dass die Wissenschaftler<br />
so gut wie nie Alternativen anboten. Von irgendwas<br />
musste man sich schließlich ernähren. Das war<br />
auch Remkes Standpunkt. Er biss kraftvoll in sein He-
ingsbrötchen und verteilte dabei die anfallenden Brösel<br />
nicht ohne Vorsatz bis zum Armaturenbrett vor.<br />
Punkt neun Uhr erreichten sie den Gorgasring. Sie machten<br />
die Adresse ausfindig und parkten. Remke ließ sein<br />
Fenster herunter und bat Kimrod um eine Zigarette.<br />
„ Dein Bier dürfte sich inzwischen auch wieder beruhigt<br />
haben. Hier ist deine Wurstsemmel. Ich habe da übrigens<br />
eine nette Sendung gesehen neulich. Du weißt schon, die<br />
immer so Skandale aufdecken. Bei einer bekannten deutschen<br />
Firma haben die da Mäuschen gespielt, so mit versteckter<br />
Kamera. Uralte Rinderfüße, Häute, Sehnen,<br />
Fischmehl, abgestandene Marinaden, jede Menge Parasiten.<br />
Alles in einen Topf und Volldampf. Markenqualität aus<br />
deutschen Landen. Da ist sogar mir der Hunger vergangen.“<br />
Kimrod öffnete die Dose ganz vorsichtig. Nur noch eine<br />
kleine Schaumkrone blubberte aus der Öffnung. Die Operation<br />
war gelungen. Er gab Remke die Lightsschachtel<br />
und nahm einen tiefen Schluck. Mann, das war gut. Kein<br />
Wunder, dass es so viele Alkoholiker gab.<br />
„ Nun rück schon das Blättle raus. Wetten, dass mein<br />
Name fällt in einem der Berichte?“<br />
Remke ging nicht auf den Vorschlag Kimrods ein. Er<br />
steckte sich eine Zigarette an und reichte seinem Chef<br />
wortlos die Zeitung rüber. So nannte er ihn zumindest immer,<br />
wenn Kimrod einen Bock geschossen hatte. Die Taz<br />
trumpfte mit einer Titelstory auf. Dieser Bremser lief ihnen<br />
nicht davon. Kimrod las laut vor: Überschrift:
Wer Gewalt sät.<br />
Dieselben Instanzen, die sich heute heuchlerisch in den<br />
Mantel der Trauer hüllen, haben noch gestern vor einer<br />
Überfremdung der Gesellschaft gewarnt und zur Diffamierung<br />
von Minoritäten aufgerufen. Die zu erwartenden Stellungnahmen<br />
des Regierenden Bürgermeisters und seines<br />
Innensenators können vor so viel falschem Mitleid triefen<br />
wie sie wollen. Wer ihre Äußerungen zu den jüngsten Unruhen<br />
im August im Gedächtnis behalten hat, weiß woher<br />
der Wind weht. Wer der Ghettobildung den Weg bereitet<br />
und die ausländischen Mitbürger vom öffentlichen Leben<br />
ausschließt, braucht sich nicht zu wundern, wenn auf den<br />
Straßen Blut fließt und bürgerkriegsähnliche Zustände<br />
herrschen. Die Abscheu erregende Doppelzüngigkeit der<br />
Kollegen von der Boulevardpresse muss in diesem Zusammenhang<br />
nicht eigens erwähnt werden. Monotone,<br />
auf die niedrigsten Instinkte abzielende Propaganda, ruft<br />
Elemente auf den Plan, die am besten hinter dicken Anstaltsmauern<br />
aufgehoben wären. Der Terror hat Dimensionen<br />
angenommen, die vielleicht nur noch mit den Verhältnissen<br />
im Hakenkreuzdeutschland vergleichbar sind.<br />
Das abgetrennte Haupt eines bedauernswerten Geschöpfes<br />
wird dazu benutzt, eine Kämpferin für Freiheit und<br />
volksnahe Demokratie mundtot zu machen. Wir lassen<br />
uns aber nicht einmal mit solchen Mitteln an der Ausübung<br />
unseres Berufes hindern. Die Pressefreiheit ist in<br />
einem Staat, den die beiden Mammutparteien monopolartig<br />
beherrschen, unverzichtbarer denn je. Jetzt erst recht...
Remke flüchtete ins Freie. Der brachte es fertig, den ganzen<br />
Sermon herunterzubeten. Remke ließ den Blick über<br />
die tristen Häuserzeilen schweifen. Zweistöckige Reihenhäuser<br />
in Fertigbetonbauweise. Jedes Abteil vielleicht vier<br />
Meter breit. Sporadisch eingestreutes Grün in Form kümmernder<br />
Koniferen. Sogar die robusten Weißdornbüsche<br />
schafften es nicht über ihr Bonsaimaß hinauszuwachsen.<br />
Bei dem gelblichen Schutt kein Wunder, in den die Pflanzen<br />
ihre Wurzeln treiben mussten. Die ganze Gegend<br />
wirkte lebensfeindlich, marode, obwohl die Gebäude bestimmt<br />
noch keine zehn Jahren zählten. War da nicht<br />
doch etwas dran, dass kranke Verhältnisse kranke Charaktere<br />
produzierten? Ein Schwein wie Bremser nur ein<br />
Opfer seiner Umwelt? Nein, man musste sich auch zusammenreißen<br />
können. Irgendeine Ausrede ließ sich<br />
sonst fast immer finden.<br />
Remke drückte den Klingelknopf. Kimrod genoss inzwischen<br />
seine Lektüre. Auf der dritten Seite fand sich ein<br />
schönes Foto von Günter Loschmitz, dem Oppositionsführer<br />
im Abgeordnetenhaus und Aspiranten auf den Sessel<br />
des Regierenden. Hand in Hand mit Kai Dorn, dem berühmt<br />
berüchtigten Halbweltkönig. Aufgenommen in einem<br />
von Dorns Läden. Loschmitz war zwar laut Presseberichten<br />
glücklich verheiratet, doch er tauchte des Öfteren<br />
ins Milieu ab, um sich ganze Wochenende zu besaufen<br />
und mit den Kiezgrößen zu renommieren. Seiner Popularität<br />
tat das keinen Abbruch. Ein leutseliger Volksver-
treter, der Manns genug war, auch auf diesem Parkett zu<br />
bestehen. Wer sich nur mit Bachkantaten vergnügte, war<br />
suspekt und wusste nichts von den Sorgen des kleinen<br />
Mannes.<br />
In dem Artikel wurde die Verflechtung von Politik und organisierter<br />
Kriminalität angedeutet. Sehr gut auf jeden<br />
Fall, dass auch die Sozis mit drin steckten. Vielleicht hatte<br />
der joviale SPD-Kapitän auch schon auf der Matratze mit<br />
den beiden Mordopfern Bekanntschaft gemacht. Ein entgleister<br />
Herrenabend, warum nicht? Bei den Genossen<br />
schien das ja gang und gäbe zu sein. Hatte ihm nicht<br />
auch Emma vorgeschlagen, eine anerkannte Samentherapeutin<br />
zu konsultieren? Das konnte in der Tat lustig<br />
werden. Ingrid durch Stähler, Wolf durch Totsch, Emma<br />
über Loschmitz und er selbst mit der Soko. Die ganze<br />
Familie in einem Boot und mittendrin in einem brisanten<br />
Kriminalfall. Manchmal passte aber auch alles. Aber dieser<br />
Loschmitz war die Prise, die die Suppe wieder<br />
schmackhaft machte. Vielleicht konnte man auch einmal<br />
so einen Zwölfender erlegen und in die Trophäensammlung<br />
einreihen.<br />
Remke kam zurück. Er schnippte seine Kippe in den<br />
Rinnstein und öffnete die Tür.<br />
„ Fehlanzeige. Der Bruder hat sich verdünnisiert. Seine Alte<br />
hat keine Ahnung, wann er wiederkommt.“<br />
„ Wir warten“, antwortete Kimrod knapp.<br />
Remke begann, draußen auf und ab zu gehen. Kimrod las<br />
weiter. Um zwanzig nach neun kam eine Gestalt im flecki-
gen Jogginganzug anmarschiert. Er zog einen Handwagen<br />
hinter sich her, in dem sich ein Kasten Bier und zwei<br />
Kanten Toastbrot befanden. Remke nahm ihn in Empfang.<br />
„ Na Meister, gibt! s wieder Nachschub? Hauptsache, es<br />
schmeckt noch.“<br />
Er zeigte dem Verblüfften seine Polizeimarke auf fragte,<br />
ob er für die Nacht von Freitag auf Samstag ein Alibi habe.<br />
Bremser begann, etwas nervös zu werden.<br />
„ Woher kennen Sie mich überhaupt? Ich meine, ich bin<br />
doch nicht bei allen Bullen...“<br />
Remke legte sich warnend den Zeigefinger auf den<br />
Mund.<br />
„ Ich habe bereits mit Ihrer Bekannten... nein, nur ein paar<br />
Worte gewechselt. Sie sagte mir, dass Sie beim Einkaufen<br />
wären. Ihr Alibi hat sie auch bestätigt. Ich will es nur noch<br />
einmal von Ihnen hören. Also?“<br />
Bremser nahm wieder etwas Farbe an.<br />
„ Ich war zu Hause. Meine Frau kann es bestätigen. Ich<br />
war schon seit zwei Jahren in keiner Kneipe mehr. Wenn<br />
ich lüge, soll mir die Hand abfaulen.“<br />
Remke musterte schelmisch seine vergilbten Finger, die<br />
vom Halten des Handwagens noch leicht verkrümmt waren.<br />
„ Viel geht nicht ab, aber jetzt brauchst du nicht mehr deine<br />
Tentakel bemühen, wenn Not am Mann ist. So eine<br />
Muschi hat schon was für sich, auch wenn sie in so einem<br />
Gestell wie bei deiner Alten eingebaut ist.“
Kimrod drückte auf die Hupe. Er war der Unterhaltung mit<br />
einem Ohr durch sein geöffnetes Fenster gefolgt. Remke<br />
überspannte den Bogen wieder mal ein bisschen.<br />
„ Na gut, Meister. Für heute lassen wir es gut sein. Aber<br />
wir behalten dich im Auge. Viel Spaß noch“, sagte Remke<br />
zum Abschied.<br />
Er konnte der Versuchung nicht widerstehen und griff sich<br />
eine Flasche Bier aus dem Träger. Bremser senkte den<br />
Kopf und zog den Wagen vor die Haustür. Alles runterschlucken,<br />
auf nichts einlassen. Er hatte seine Lektion<br />
zweifellos gelernt.<br />
Remke nahm das Notebook aus seiner Tasche und tippte<br />
ein paar Bemerkungen ein. Kandidat zwo erledigt. Über<br />
Funk gab!s auch keine Neuigkeiten. Jetzt war wieder der<br />
Chef am Zug. Remke stieg ein und präsentierte stolz die<br />
Konterbande.<br />
„ Sonst säuft mir der zu viel. So was zementiert doch alte<br />
Freundschaften. Die ehemaligen Gegner trinken aus<br />
demselben Pott. Schwamm drüber, Genosse. Trink.“<br />
Kimrod hatte zwar seine Dose noch nicht leer, aber er<br />
nahm trotzdem einen Schluck. Süffiges Pils, von Bier<br />
schien Bremser etwas zu verstehen. Von Polizeiarbeit<br />
weniger, sonst hätte er sich von Remke nicht so einschüchtern<br />
lassen. Das gehörte mit zum Spiel. Ein paar<br />
Tiefschläge anbringen und die Reaktionen des Probanden<br />
abwarten. Manchmal kam etwas dabei heraus, manchmal<br />
auch nicht. Bremser hatte im Knast nur kuschen gelernt.<br />
Diese Staatsfritzen saßen immer am längeren Hebel.
Wenn der wüsste. Ein guter Anwalt konnte ein Anklage<br />
abbiegen, nur weil sich die ermittelnden Beamten unkorrekt<br />
verhalten hatten. Man musste vorsichtig sein. Die<br />
Presse stürzte sich ebenfalls mit Vorliebe auf zu grob vorgehende<br />
Polizisten.<br />
Dieser Ohlins schien da besser informiert zu sein. Er hätte<br />
Remke glatt vermöbelt, weil er ihm dumm gekommen war.<br />
Nicht vorzustellen, wenn ihm Remke eine Kugel ins Knie<br />
verpasst hätte. Man musste dem Guten Zügel anlegen.<br />
„ Otto, bei aller Liebe, du darfst nicht so rangehen. Erst<br />
die Keilerei mit diesem Rabauken, jetzt die Attacken unter<br />
die Gürtellinie bei diesem Schwachkopf. Ab und zu mag<br />
das die richtige Taktik sein, und, nebenbei gesagt, mich<br />
kotzen diese Typen genauso an, doch ich habe keine Lust<br />
jede Befragung mit entsicherter Maschinenpistole vorzunehmen,<br />
weil du die Kunden mit Beleidigungen bis zur<br />
Weißglut reizt. Ein bisschen mehr piano bitte. Ruhig mal<br />
ab und zu eine vor den Latz knallen, aber auch zurückhalten,<br />
wenn es die Lage erfordert.“<br />
„ Ich bin ein paar Jährchen länger im Geschäft wie du.<br />
Auch wenn du einen höheren Rang hast, ich weiß sehr<br />
genau was ich tue und ich werde meine Methoden bestimmt<br />
nicht mehr ändern. Einmal hü, dann wieder hott.<br />
Mach ihn fertig, aber nicht zu flott. Da soll sich noch einer<br />
auskennen. Soll ich den Nächsten rauspicken?“ fragte<br />
Remke unwirsch und klappte das Notebook auf.<br />
Kimrod schaltete das Radio ein. Es war gleich halb. Zeit<br />
für die Kurznachrichten.
„ Lass deinen Gameboy nur mal stecken. Nur immer das<br />
präsentiert zu bekommen, was dieser HASSSO hervorgewürgt<br />
hat, geht mir gegen den Strich. Irgendwer muss<br />
das Zeug auch eingeben. Das ist auch eine Art Zensur.<br />
Und das ist das Letzte, was wir gebrauchen können. Wäre<br />
nicht zum ersten Mal, dass uns die Redakteure um eine<br />
Nasenlänge voraus sind“, sagte Kimrod.<br />
Remke steckte den elektronischen Gehilfen wieder weg.<br />
Na gut, dann eben nur noch Dienst nach Vorschrift. Den<br />
Anweisungen der höheren Dienstgrade ist immer Folge zu<br />
leisten, Eigenmächtigkeiten sind zu unterlassen. Das<br />
konnte er haben. Die Nachrichtenfanfare ertönte. Kimrod<br />
hatte den richtigen Sender erwischt.<br />
„ Soeben wurde gemeldet, dass in den Räumen des Sicherheitsunternehmens,<br />
die heute Morgen teilweise durch<br />
einen Anschlag verwüstet worden sind, ein Bekennerschreiben<br />
der Toten Brigaden aufgefunden wurde. Der<br />
Brief befand sich in einem feuerfesten Stahlzylinder und<br />
entging dadurch der Vernichtungskraft der Feuersbrunst,<br />
die erst durch den Einsatz mehrerer Löschfahrzeuge eingedämmt<br />
werden konnte. Die Toten Brigaden waren zuletzt<br />
vor achtzehn Monaten in Erscheinung getreten, als<br />
sie vergeblich versuchten, den Industriellensohn Horst<br />
Köplich zu entführen. Nach dem Scheitern dieses Verbrechens<br />
war man von einer entscheidenden Schwächung<br />
der Terrororganisationen ausgegangen, da zwei zum Führungskader<br />
gehörende Bandenmitglieder durch den heldenhaften<br />
Einsatz der Grenzschutzsondertruppe GSG 9
überwältigt und verhaftet werden konnten. Über den Inhalt<br />
des Schreibens ist zur Zeit der Ausstrahlung noch nichts<br />
bekannt. In Tokio fragten gestern...“<br />
Kimrod schaltete das Gerät ab.<br />
„ Gut, jetzt kann es losgehen. Ich weiß, warum die Brigaden<br />
gegen Totsch losgeschlagen haben.“<br />
Remke zeigte sich nicht überrascht von dieser Erklärung<br />
seines Kollegen.<br />
„ Und, wer weiß das nicht? Die Linken bezeichnen Totsch<br />
als Hakenkreuzler, der eine Gefahr für die Demokratie ist.<br />
Ist doch nicht zum ersten Mal, dass es deswegen zu Auseinandersetzungen<br />
gekommen ist.“<br />
„ Aber nicht von Seiten der Brigaden. Claudia Luper hatte<br />
einen Freund, der die Brigaden unterstützte. Habe ich dir<br />
davon nicht schon gestern erzählt?“<br />
„ Nicht dass ich wüsste. Wir waren nur schnell bei diesem<br />
Mustafa. Du hast mir nur von den Camos am Teufelsberg<br />
erzählt, glaube ich zumindest. Woher hast du denn diese<br />
Neuigkeiten?“<br />
„ Von Ingrid. Claudia soll das Stähler offenbart haben, bei<br />
einer Art Beichte. Sieh mal nach, ob das dein HASSSO<br />
auch intus hat?“<br />
„ Da brauche ich nicht nachzusehen. Ich habe doch heute<br />
Morgen noch mal alles überprüft. Von Toten Brigaden<br />
keine Spur.“<br />
Kimrod fuhr los. Die verwüsteten Büros interessierten ihn<br />
sowieso. Jetzt hatte er einen Grund dafür, sich zum<br />
Schauplatz des Attentats zu begeben.
„ Terroristen et cetera, das läuft über das BKA und den<br />
Verfassungsschutz. Die wollen sich nicht gerne in die Karten<br />
schauen lassen und hüten eifersüchtig ihre Geheimnisse.<br />
Da beißt sich sogar dein HASSO die Zähne aus.“<br />
„ Mein HASSSO? Als ob ich den Quark erfunden hätte.<br />
Aber eins musst du mir noch erklären. Warum bekommt<br />
Totsch die Bomben ab? Er hat doch die Mädchen nicht<br />
ermordet.“<br />
„ Bist du sicher? Jetzt ist alles möglich.“<br />
Remke nahm einen tiefen Schluck und tippte sich unauffällig<br />
an die Stirn. Manchmal konnte er seinem Juniorpartner<br />
wirklich nicht mehr folgen.<br />
Kimrod gab Gas. Er wollte möglichst schnell den Stadtring<br />
erreichen. Wie hieß doch die alte Bauernregel: Der Täter<br />
kehrt fast immer zum Tatort zurück. Er hätte sich gleich<br />
auf seine Nase verlassen sollen, die ihm sagte, dass die<br />
Prostituiertenmorde nur die Spitze des Eisbergs waren<br />
und ein Paukenschlag dem nächsten folgen würde. Dieses<br />
sture Vorgehen nach Schema F war Zeitverschwendung.<br />
Nur wer flexibel auf die veränderten Umstände reagierte,<br />
konnte am Ball bleiben und Licht ins Dunkel bringen.<br />
Kimrods Eile war umsonst. Kurz nachdem sie in den<br />
Stadtring eingebogen waren, blockierte ein endloser Militärkonvoi<br />
die Fahrspuren. Ein MAN-Dreiachser hinter dem<br />
anderen. Ungefähr nach jedem zehnten Lastwagen gepanzerte<br />
Manschaftstransportfahrzeuge. Eine ganze Division<br />
schien verlegt zu werden. An ein Überholen der oliv-
grünen Trucks war nicht zu denken, da sich die Allradlaster<br />
untereinander Wettrennen lieferten und ohne Vorwarnung<br />
auf die linke Spur ausscherten. Immer wieder kam<br />
es zu abrupten Stopps. Man konnte dann einen Blick auf<br />
die aufgesessenen Infanteristen erhaschen, die schwer<br />
bewaffnet und vermummt auf den Planen verblendeten<br />
Ladeflächen kauerten. Remke glaubte mehrmals, asiatische<br />
Gesichtszüge ausmachen zu können. Diese Möglichkeit<br />
war gar nicht so abwegig. Die deutsche Armee kooperierte<br />
sehr eng mit den russischen Streitkräften. Gemeinsame<br />
Manöver, Technologietransfer, Bereitstellung<br />
von Übungsplätzen in den Weiten der russischen Steppe.<br />
Manche wollten auch von deutschen Atomraketen wissen,<br />
die man für harte Devisen von der Regierung in Moskau<br />
erworben hatte. Doch das waren nur Gerüchte.<br />
Die Ausbeutung und Nutzbarkeitmachung der sibirischen<br />
Bodenschätze und Landschaften war eine Herausforderung,<br />
die die Kräfte des russischen Bären noch immer<br />
überstieg. Deutsche Ingenieurkunst gepaart mit der Zähigkeit<br />
der Russen. Das war die Kombination, die, natürlich<br />
neben dem erforderlichen Kapitaleinsatz, den Erfolg<br />
der Operation ermöglichen sollte. Doch die Konkurrenz<br />
war groß. Es galt, die nordamerikanischen Bergbaukonzerne<br />
und die finanzstarke japanische Schwerindustrie<br />
auszustechen. Dass die dazu getroffenen Vereinbarungen<br />
zwischen Berlin und Moskau weit über das rein Wirtschaftliche<br />
hinauszielten, wurde allgemein angenommen.<br />
Es war von einer Restauration des alten Sowjetimperiums
die Rede, die von einem außenpolitisch wiedererstarkten<br />
Deutschland toleriert und durch den Einsatz von Bundeswehreinheiten<br />
in Zentralasien gefördert werden sollte.<br />
Man hatte die Lehren der Vergangenheit noch nicht vergessen.<br />
In Afghanistan war die Tüchtigkeit der islamischen<br />
Kämpfer nachdrücklich unter Beweis gestellt worden,<br />
doch eine neue Generation tatendurstiger deutscher<br />
Offiziere scheute auch vor risikoreichen Unternehmungen<br />
nicht zurück und brannte darauf, ihre Fähigkeiten zu erproben<br />
ohne von kleinkarierten Zivilisten gegängelt zu<br />
werden, wie es oft genug bei Blauhelmaktionen der Fall<br />
war. Fand heute schon die Generalprobe statt, mitten in<br />
Berlin?<br />
Kimrod unterließ jegliche Tempovorstöße und nahm das<br />
Gekrieche gleichmütig hin. Schließlich hatten sie es doch<br />
noch geschafft. Gerade als sie erleichtert in die Ausfahrt<br />
einscherten, preschte ein Volkswagenpickup der Camos<br />
an ihnen vorbei. Der Wagen war schwarzweiß im Zebradesign<br />
lackiert. Drei mit Schrotflinten behängte Männer<br />
standen hinter der Kabine auf der offenen Pritsche und<br />
hielten sich lässig an dem Überrollbügel fest. Sie waren<br />
anscheinend auch in Richtung Hauptquartier unterwegs.<br />
Kimrod versuchte sich dranzuhängen, doch der Pickup<br />
wurde zu halsbrecherisch pilotiert. Das war die Sache<br />
nicht wert. Kimrod befestigte seine Kojaklampe auf dem<br />
Dach und klebte das Polizeischild hinter die Scheibe.
„ So bekommen wir wenigstens einen Parkplatz. Jetzt ist<br />
es gleich zehn. Wenn wir einen Umweg gemacht hätten,<br />
wären wir auch nicht schneller gewesen. Ich schau mal,<br />
ob ich mich hier irgendwie dazwischen schummeln kann.<br />
Da vorne links geht!s zur Dahlmannstraße weg. Zur Not<br />
kann ich dahinein ausweichen.“<br />
Kimrod ordnete sich ein und bog ab. Nur noch ein kleiner<br />
Vorplatz auf dem Trottoir war mit Plastikbändern abgesperrt.<br />
Kimrod fuhr ein Stück in die Sperrfläche hinein und<br />
wartete kurz ab, ob sein Verhalten beanstandet wurde. Als<br />
dies nicht der Fall war, folgte er Remke, der gerade versuchte,<br />
sich Zutritt in den Bürokomplex zu verschaffen.<br />
Von der Polizei war nichts mehr zu sehen. Die Camos<br />
schienen die Aufklärung selber in die Hand genommen zu<br />
haben. Zwei mit Schlagstöcken ausgerüstete Camos hatten<br />
sich vor den zerborstenen Glastüren postiert. Sie waren<br />
instruiert, niemanden ohne Sonderausweis einzulassen.<br />
Remke gab auf. Im ersten Stock, wo die Detonation<br />
augenscheinlich erfolgt war, drang noch immer etwas<br />
Qualm aus den zerstörten Fenstern, die von Rußschwaden<br />
umrahmt wurden. Kimrod registrierte das Ausmaß der<br />
Schäden mit unverhohlener Befriedigung. Er zündete sich<br />
eine Zigarette an und grinste.<br />
„ Ein bisschen könntest du dich schon zusammenreißen.<br />
Wenn uns hier jemand sieht...zwei Beamte, die sich vor<br />
Lachen auf die Schenkel klopfen. Auch wenn dieser<br />
Totsch nicht gerade dein Freund ist. Wen haben wir denn<br />
da...“, sagte Remke und schüttelte dem kräftig gebauten
Camo die Hand, der aus dem Hauptquartier marschiert<br />
kam.<br />
„ Wolf, mein Junge. Ich hoffte schon, dich hier zu treffen.<br />
Na, jetzt hat er schon eine Wumme am Gürtel.“<br />
Kimrod registrierte den Holster an der Hüfte seines Sohnes<br />
mit Unbehagen. Emma hatte ihm doch gesagt, dass<br />
er erst den Schein machen müsste. Egal, ändern würde<br />
das auch nichts mehr. Einen Hauch von Krieg hatte er auf<br />
jeden Fall schon mitbekommen. Kimrod gab seinem Sohn<br />
ebenfalls die Hand.<br />
„ Kommt mit, Kinder, dort um die Ecke ist ein kleines Café.<br />
Irgendwie habe ich plötzlich Appetit auf was Süßes. Ich<br />
lade euch natürlich ein.“<br />
Wolf konnte sich nicht recht entschließen.<br />
„ Ich hab eigentlich gar keine Zeit. Dort oben kohlt noch<br />
alles vor sich hin. Wenigstens bekommen wir jetzt eine<br />
neue Einrichtung. Auf eine Tasse aber nur.“<br />
Das Stehcafe in der Dahlmannstraße war nett und gemütlich.<br />
Die Getränke gab es aus dem Automaten, das Gebäck<br />
an der Theke. Remke lud sich zwei speckige Quarktaschen<br />
auf. So eine Gelegenheit kam nicht alle Tage. Der<br />
Rentner in spe scheute sich fast, an ihr rundes Tischchen<br />
zurückzukehren, weil Vater und Sohn so idyllisch nebeneinander<br />
standen.<br />
„ Wie aus dem Poesiealbum. Der Filius kehrt nach Jahren<br />
der Emigration in den trauten Schoß der Familie zurück.<br />
Schade, dass ich keine Kamera dabei habe“, sagte Rem-
ke und schob seinen Kostenabschnitt unauffällig auf Kimrods<br />
Tablett.<br />
„ Und der Hausfreund präsentiert die Rechnung. Außerdem<br />
sind wir allenfalls eine Rumpffamilie. Die Hauptaktionäre<br />
fehlen. Ich zahle am besten sofort. Nachher wird!s<br />
mir zu viel“, erwiderte Kimrod.<br />
Er stellte sich an der Kasse an und überlegte, inwieweit<br />
ihm Wolf weiterhelfen könnte. Dieser Stahlzylinder zum<br />
Beispiel. Warum ging der Brief nicht wie üblich bei einer<br />
Agentur oder Redaktion ein? Kimrod beglich den Betrag<br />
und ließ sich eine Quittung geben. Wer klatschen will,<br />
muss zahlen.<br />
Wolf ließ sich gerade über die Vorteile seiner Jacke aus,<br />
die schwer entflammbar war und einen gewissen Schutz<br />
gegen Messerstiche bot.<br />
„ Außerdem ist es unser unverwechselbares Kennzeichen.<br />
Da weiß jeder, wie er dran ist.“<br />
„ Zweifellos.“<br />
Kimrod tippte auf den Holster.<br />
„ Muss das sein, hier drin, vor allen Leuten?“<br />
„ Du hast deine auch um“, sagte Wolf und griff seinem Vater<br />
mit der Fertigkeit des Insiders unter die Achsel. Oder<br />
willst du meinen neuen Waffenschein sehen?“<br />
Kimrod verneinte. Da war sowieso nichts mehr zu retten.<br />
„ Wir sind eigentlich wegen etwas anderem hier. Zwei<br />
Callgirls wurden ermordet.“<br />
Wolf nickte verstehend. Er hatte von der Sache flüchtig<br />
gelesen.
„ Eine von ihnen hatte einen Freund, der die Toten Brigaden<br />
unterstützte oder mit ihnen sympathisierte. Deshalb<br />
sind wir hier. Diese Information kommt von deiner<br />
Schwester, die der Reverend auf den Plan gerufen hat.<br />
Sie soll die Morde aufklären, weil Claudia Luper ein Gemeindemitglied<br />
war. Der Reverend lässt niemand ihm<br />
Stich, auch im Jenseits nicht. Ingrid darf da nicht mit<br />
hineingezogen werden. Hier wird mit harten Bandagen<br />
gekämpft. Mit dem Gebetbuch kann man keine schwerbewaffneten<br />
Terroristen zur Strecke bringen“, sagte Kimrod<br />
mit Nachdruck.<br />
Wolf stellte seine Tasse energisch auf den Tisch. Als Waffenführer<br />
hatte er einen strammen Sprung nach oben gemacht<br />
in der Hierarchie der Truppe. Totsch vertraute ihm,<br />
sonst hätte er ihn nicht für die Prüfung zugelassen. Dieses<br />
Vertrauen galt es zu rechtfertigen, bei Bedarf auch mit unnachgiebiger<br />
Härte. Sein Vater wollte ihn ausquetschen,<br />
so viel war klar. Erich Totsch, der ihm vor zwei Wochen<br />
auf einer Kameradschaftsfeier das Du angeboten hatte,<br />
wollte unbedingt vermeiden, dass ohne vorherige Rücksprache<br />
mit ihm etwas nach draußen dringen sollte. Interviews<br />
waren vorher abzusprechen und neugierige Fragen<br />
zu streichen. Strengste Bestrafung bei Zuwiderhandlung.<br />
Das bedeutete meistens Degradierung und Ausschluss.<br />
Und das war das Schlimmste, was einem echten Camo<br />
passieren konnte. Da durfte man auch auf keine Familienbande<br />
Rücksicht nehmen.
„ Du glaubst also auch, dass die Brigaden in die Prostituiertenmorde<br />
verwickelt sind?“ fragte Kimrod seinen Sohn,<br />
der nervös an den Knauf seines Revolvers tippte.<br />
„ Ach, diese Nutten sind mir eigentlich egal. Das fällt nicht<br />
in meinen Aufgabenbereich. Aber Ingrid soll sich auf alle<br />
Fälle raushalten. Ich glaube, ich muss jetzt wieder. Wir ersticken<br />
wirklich in Arbeit momentan“, antwortete Wolf.<br />
„ Eine Frage noch. Was stand in dem Bekennerbrief?“<br />
Kimrod legte seinem Sohn die Hand auf den Unterarm.<br />
Warum war der nur so nervös? Plötzlich straffte sich Wolfs<br />
Haltung. Totsch kam durch die Tür spaziert. Ein schmaler,<br />
feingliedriger Mann, vielleicht Ende vierzig. Oder aber<br />
auch zehn Jahre jünger. Bei diesen Sportlernaturen konnte<br />
man das nie so genau sagen. Glänzend schwarze, akkurat<br />
gescheitelte Haare und ein eher durchschnittlicher<br />
Gesichtsausdruck. Das sollte der berüchtigte Camochef<br />
sein, der sein Handwerk beim französischem Geheimdienst<br />
gelernt hatte, unbestätigten Gerüchten zufolge?<br />
Kimrod kannte seine Physiognomie nur aus der Zeitung.<br />
Er hatte da immer viel brutaler und rücksichtsloser gewirkt.<br />
Nun, in der Realität, fast die Züge eines Poeten.<br />
Wie man sich täuschen konnte. Totsch stellte sich vor und<br />
schüttelte beiden Polizisten eigentümlich die Hände. Seine<br />
Finger arbeiteten sich vor bis ans Handgelenk und versuchten<br />
dort, die schmalste Stelle des Unterarms zu umschließen.<br />
Das ging besonders bei Remke daneben, dessen<br />
fleischige Extremitäten zu voluminös für derartige
Liebkosungen waren. Wolf brachte ihm unaufgefordert einen<br />
Espresso.<br />
„ Zum Wohl, die Herren.“<br />
Totsch nahm nach diesem Trinkspruch sein Tässchen mit<br />
spitzen Fingern auf und nippte ein wenig an seinem Gebräu.<br />
Fast etwas affektiert, wie bei einer Tunte. Kimrods<br />
Lippen kräuselten sich unwirklich. Ältere Herren, die sich<br />
gerne mit Knaben umgaben, waren immer gewissen Verdächtigungen<br />
ausgesetzt. Der Eindruck konnte aber auch<br />
täuschen. Vielleicht war er zu voreingenommen. Das hieße,<br />
dass Wolf vielleicht zu den Erwählten gehörte, die<br />
dem Meister nach Dienstschluss zu Willen sein mussten,<br />
oder durften. Nein, das war unfair. Dann konnte man jeden<br />
Fußballtrainer an den Pranger stellen.<br />
„ Was führt Sie eigentlich her? Ich dachte, die Kollegen<br />
wären fertig“, sagte Totsch und zündete sich eine Zigarette<br />
an, die er einem vergoldeten Etui entnommen hatte.<br />
Kimrod, dem er das protzige Behältnis etwas herablassend<br />
unter die Nase hielt, griff zu und steckte sich das Luxusstäbchen<br />
an, obwohl noch eine von seinen Lights im<br />
Aschenbecher glimmte. Remke kannte die Marke. Das<br />
war nur etwas für Schauspieler. Viel zu stark parfümiert.<br />
Kimrod erklärte Totsch, warum sie hier waren.<br />
„ Ach, und jetzt wollen Sie wissen, was uns diese Scheißer<br />
geschrieben haben. Das konnte Ihr Sohn nicht wissen.<br />
Ich wollte nicht, dass zu viele eingeweiht werden.<br />
Aber es war eigentlich gar nichts Besonderes, der übliche<br />
Stuss. Militärisch-industrieller Block, Unterstützung durch
faschistoide Elemente, Kampf muss wieder aufgenommen<br />
werden. Von Ihrer Luper keine Spur, tut mir leid. Ihr Chef,<br />
dieser Zefhahn, ist gerade eben abgedampft. Hat Sie der<br />
nicht informiert?“ fragte Totsch mit säuselnder Stimme.<br />
Er blies den Rauch aus seiner Nase und fuhr geschäftig<br />
mit der Zunge im Mund hin und her.<br />
„ Nein, da haben wir uns wohl um ein paar Minuten verpasst.<br />
Sie kennen das, Leerlauf in deutschen Amtsstuben“,<br />
antwortete Kimrod.<br />
Totsch nickte verstehend. Der Mann schien Mutterwitz zu<br />
haben. Kein Wunder, bei dem vielversprechenden Sohn.<br />
„ Hier, meine Karte. Wenn Sie sich mal verändern wollen.<br />
Wir können tüchtige Leute immer gebrauchen. Nichts ist<br />
durch Erfahrung zu ersetzen.“<br />
Totsch warf seine Visitenkarte auf Kimrods Tablett und<br />
verabschiedete sich. Wolf wollte sich gleich anschließen,<br />
doch sein Vater hatte noch ein Anliegen.<br />
„ Rede deiner Schwester noch einmal ins Gewissen. Unter<br />
Geschwistern geht das oft leichter. In mir sieht sie nur<br />
den Bullen, der sie bevormunden will.“<br />
„ Mache ich, Vater. Ich sehe das genauso. Übrigens gut,<br />
dass du mich aufgehalten hast. Hier sind zwei Karten für<br />
das Montagsmassaker. Du weißt schon, Catchen, ab<br />
zwanzig Uhr in der Deutschlandhalle. Heute gibt es einen<br />
Bungeefight. Ich kann leider nicht wegen dieser Sache<br />
hier. Wir rechnen natürlich damit, dass noch weitere Anschläge<br />
verübt werden. Auf Gebäude, zum Beispiel, die
von uns überwacht werden. Und das sind nicht wenige.<br />
Viel Spaß beim Massaker.“<br />
Wolf verließ eilig das Café. Totsch schien ihm beigebracht<br />
zu haben, was Pflichterfüllung bedeutete.<br />
„ Jetzt weiß ich auch, warum man sagt, dass man seine<br />
Idole besser in der Vitrine verstauben lässt. Bei Licht besehen,<br />
bröckelt der Glanz“, meinte Remke desillusioniert<br />
und untersuchte die Karten.<br />
„ WCW, Wrestling der Superlative. Montagsmassaker in<br />
der Deutschlandhalle. Main Event,12.10, Bungeefight.<br />
Kannst du damit was anfangen?“ fragte Kimrod und fischte<br />
ein zweites von Totschs Räucherstäbchen aus der<br />
Handfläche. Remke pfiff anerkennend.<br />
„ Und das will ein Sicherheitsexperte sein. Oder hat er<br />
deswegen so säuerlich gegrinst, weil er einen Kripomann<br />
beim Stehlen erwischt hat?“<br />
„ Was heißt schon stehlen? Ich wollte ihn nur auf die Probe<br />
stellen. Ich bin mir sicher, dass er nichts gemerkt hat.<br />
Hast du sein Parfüm gerochen? Also ich brauche jetzt<br />
noch einen Kaffee. Da geht man ja die Wände hoch.“<br />
Kimrod füllte seine Tasse und erstand noch eine Nussecke.<br />
Er konnte es sich leisten, da er eher zu wenig als zu<br />
viel wog. Remke bearbeitete schon wieder seine Chipdatei.<br />
Kimrod hatte ihm auch noch einen Kaffee mitgebracht.<br />
Die Spesenfritzen wurden nur bei besonders kleinen Beträgen<br />
stutzig. Wenn man ordentlich auf den Putz haute,<br />
kam man mit seinem Antrag viel eher durch. Arbeitsessen<br />
mit Totsch, das hörte sich doch nicht schlecht an.
„ Ah, vielen Dank. Wie geht!s jetzt weiter?“ fragte Remke<br />
und schielte auf Kimrods Gebäck.<br />
„ Deinen automatischen Detektiv kannst du für heute<br />
wegpacken. Oder sind Neuigkeiten eingetroffen?“ sagte<br />
Kimrod.<br />
Remke schüttelte den Kopf. Nur einen Happen, das konnte<br />
er ihm doch nicht ausschlagen. Kimrod teilte die Ecke<br />
und steckte sie Remke in den Mund.<br />
„ Sonst noch einen Wunsch? Schlimmer wie ein Säugling.<br />
Also, jetzt lass ich mal meine Schaltungen krachen. Hier<br />
schräg gegenüber ist doch die Landesvertretung des<br />
Deutschen Blocks für Berlin. Diesen feinen Herren werde<br />
ich auf die Finger klopfen. Die sind jetzt bestimmt über jeden<br />
Polizisten froh, der sie vor den bösen Terroristen<br />
schützt. Anschließend statten wir der Charité einen Besuch<br />
ab. Ich würde mir die Leichen gerne persönlich anschauen.“<br />
Remke schluckte. ,<br />
„ Jetzt haben sich meine Gedärme verknotet. Ist das wirklich<br />
notwendig?“<br />
„ Ich denke schon. Es ist immer von Vorteil, wenn man<br />
sich vor Ort informieren kann. Vielleicht hat der Doktor etwas<br />
gefunden, was ihm zu unwichtig erschien, um in seinem<br />
Befund erwähnt zu werden. Aber lass dir ruhig Zeit.<br />
Es läuft uns nichts davon.“<br />
Remke nickte und legte seinen linken Arm auf den Tisch.<br />
Er zog ganz langsam den Ärmel seiner Jacke zurück.
„ Jetzt weiß ich, warum mich Totsch so komisch angefasst<br />
hat. Meine Uhr ist weg.“<br />
Kimrod war nicht sonderlich überrascht. Diese Prominenten<br />
hatten fast immer irgendwelche Marotten. Remke<br />
grinste und zog seine Swatch aus der Hosentasche.<br />
„ Reingefallen. Dem traust du wohl alles zu. Aber warum<br />
zum Teufel gibt dir einer so verdreht die Flosse?“<br />
„ Wahrscheinlich hat es ihm sein Imageberater empfohlen.<br />
Wichtiger erscheint mir, dass die Camos die Bombe nicht<br />
selber gelegt haben. Wolf wusste mit Sicherheit nichts von<br />
einer solchen Aktion. Er kann schlecht lügen. Und Totsch<br />
wirkte zwar etwas angespannt, doch nicht so wie einer,<br />
der gerade ein dickes Ding gedreht hat“, sagte Kimrod.<br />
„ Hattest du ihn tatsächlich im Verdacht?“<br />
„ Ja, aus mancherlei Gründen. Erstens Geld von der Versicherung,<br />
dann die Geschäftsankurbelung. Denn wo Attentate<br />
verübt werden, sind kompetente Sicherheitsleute<br />
gefragt und drittens die Vernichtung von Beweismaterial.<br />
Vielleicht hatte sich das Finanzamt angekündigt.“<br />
„ Na von dir möchte ich nicht verfolgt werden. Einem, der<br />
immer um dreizehn Ecken denkt, ist alles zuzutrauen. Gib<br />
mir doch diesen Aromaspender von Totsch. Ich will jetzt<br />
doch mal den Duft der großen weiten Welt schmecken.“<br />
Kurz nach elf verließen die Kommissare das Café. Sie<br />
überquerten die Straße und machten das Parteibüro ausfindig,<br />
das sich hinter einem Copyshop in einer Einkaufspassage<br />
befand. Die Polizisten verweilten kurz vor dem
großzügig dimensionierten Schaufenster, das Devotionalien<br />
der nationalen Rechten beherbergte. Flaggen, Bierkrüge<br />
mit altdeutscher Inschrift, Tonträger mit volkstümlicher<br />
Musik. Eigentlich nichts Außergewöhnliches. Die mit weißem<br />
Mobiliar ausgestattete Vertretung maß etwa fünf auf<br />
sechs Meter. Zwei Schreibtische, einer von einer ansehnlichen<br />
Sekretärin besetzt, und üppig wuchernde Topfpflanzen,<br />
die vor einer Regalwand standen, setzten die Akzente<br />
in dem angenehm klimatisierten Raum. Hier arbeitete<br />
man bestimmt gern.<br />
Hinter dem zweiten Schreibtisch gab Dr. Kaltenbrunn Befehle<br />
über die separate Tastatur in einen geschäftig summenden<br />
Computer ein. Er hatte die beiden Männer schon<br />
vor der Auslage bemerkt. Aber es war nie verkehrt wenigstens<br />
so zu tun, als ob man sich vor Arbeit kaum retten<br />
konnte. Die Mitgliedszahlen stagnierten, die Prognosen<br />
für die Wahlen waren alles andere als rosig. Wo es doch<br />
in Berlin vor Migranten nur so wimmelte. Die Straßen<br />
wurden nach Einbruch der Nacht unsicher, der Drogenhandel<br />
florierte. Und dazu noch die große Koalition. Man<br />
mochte meinen, dass das ausreichte, um frischen Wind in<br />
die Bewegung zu bringen. Doch mehr als ein laues Lüftchen<br />
hatte sich bis jetzt noch nicht geregt. Diese beiden<br />
Schwerenöter sahen nicht sehr vielversprechend aus.<br />
Aber man konnte nicht mehr wählerisch sein. Dr. Kaltenbrunn<br />
erhob sich gravitätisch und begrüßte die Ankömmlinge.
„ Ich heiße Dr. Kaltenbrunn. Sie dürfen sich gerne ein wenig<br />
umsehen. Beitrittsformulare sind hier mit dabei.“<br />
Dr. Kaltenbrunn drückte den inkognito auftretenden Beamten<br />
einen Wust von Prospekten in die Hände und setzte<br />
seine Arbeit fort. Nur nicht zu aufdringlich werden, das<br />
schreckte nur ab. Remke stellte sich so hin, dass er über<br />
das Infomaterial hinweg die Sekretärin beobachten konnte.<br />
Immer wenn sie sich nach vorne beugte, um etwas in<br />
die Ablage zu schieben, gab ihre Bluse den Blick auf den<br />
Ansatz zweier stattlicher Brüste frei. Oder kamen die<br />
Pflaumen nur durch den schwarzen BH so ansehnlich heraus?<br />
Remke blätterte rasch um. Hatte sie ihn ertappt?<br />
Nein, sie wollte nur ihren Augen etwas Ruhe gönnen. Nun<br />
komm schon, Mädchen, weg mit dem Wisch. Ja, mein<br />
Gott, da war nichts ausgepolstert, ein Bild für Götter. Dieser<br />
Doktor war zu beneiden. Der bestellte mit Sicherheit<br />
diesen Acker. Da konnte keiner nein sagen. Verdammt,<br />
jetzt hob sie wieder das Köpfchen.<br />
In jede fünfte Straftat ist ein Ausländer verwickelt. Wo, in<br />
Istanbul? Remke mimte wieder den interessierten Anwärter<br />
und vertiefte sich in das Propagandamaterial. Nach einer<br />
kleinen Ewigkeit ging das Spiel von vorne los. Diese<br />
Dinger waren wirklich waffenscheinpflichtig. Hoffentlich<br />
vergrub sich der Boss noch länger in seine Bildbände, die<br />
er in rascher Abfolge aus dem Regal zog. Kimrod war war<br />
schnell fündig geworden. Signal, Das Schwarze Korps,<br />
Deutsche Geheimwaffen. Lauter druckfrische Reproduktionen,<br />
die dem geneigten Betrachter mittels hochwertiger
Abbildungen mit der Welt des Dritten Reichs vertraut<br />
machten. Es fand sich auch ein Bändchen über Branninger,<br />
den Gründervater der Partei und Frontkämpen, dem<br />
durch seine provinzielle Prägung der große Erfolg versagt<br />
geblieben war. Kimrod hatte irgendwann einmal ein paar<br />
Absätze über den Mann und seine Zeit gelesen. Es ging<br />
unter anderem darum, wer als tapferer Recke galt und<br />
wer als Schwein. Zugehörigkeiten zu Verbänden und Einheiten<br />
wie allgemeine SS und die Waffen SS. Die einen<br />
als Wachpersonal im Lager, die anderen als Eliteeinheit<br />
an der Front. Eine Diskussion, die eigentlich niemanden<br />
mehr interessierte. Gerechte Kriege gab es schon längst<br />
nicht mehr. Und für die Opfer dürfte es auch keinen Unterschied<br />
gemacht haben, ob sie von Schergen mit silbernen<br />
Totenkopfabzeichen an den Kragenspiegeln oder von<br />
heroischen Viktoriakreuzträgern ins Jenseits befördert<br />
oder zu Krüppeln gemacht wurden. Helden- und Totengedenkfeiern<br />
wurden allenfalls noch von verschrobenen<br />
Käuzen oder von randalefreudigen Jugendlichen frequentiert.<br />
Die großen Gemetzel fanden nun woanders statt und<br />
standen den Vorbildern während der Weltkriege in nichts<br />
nach. Hunderttausende innerhalb weniger Wochen bestialisch<br />
abgeschlachtet, die Bilder via TV portionsgerecht ins<br />
Wohnzimmer geliefert. Wem stand da noch der Sinn nach<br />
antiquierten Soldatenfriedhöfen? Wenn den Funktionären<br />
nichts Besseres einfiel als diese ausgelutschten Kamellen,<br />
brauchten sie sich über mangelnde Nachfrage nicht<br />
zu wundern. Die Jugend druckte doch längst ihre eigenen
Magazine. Die Hitlerbüste im Schrein des minderjährigen<br />
Aktivisten war schon längst angestaubt und wurde nur<br />
noch vollständigkeitshalber aufbewahrt. Einer unter vielen.<br />
Mehr nicht.<br />
Kimrod machte sich Notizen, vor allem über den Rechner<br />
auf dem Tisch des Doktors und die Zahlen, die über den<br />
Bildschirm flimmerten. Vielleicht konnte Maikovsky etwas<br />
damit anfangen und ins System eindringen. Er war auf<br />
diesem Gebiet eine Klasse für sich. Warum der nicht umsattelte?<br />
Für den Polizeidienst war er nur bedingt geeignet<br />
und sein Talent verkümmerte ungenutzt. Remke war wieder<br />
in seinem Metier. Der alte Bock genierte sich doch<br />
nicht, die dralle Tippse abzuspannen. Oder war das normal<br />
für jeden Mann, dessen Säfte nicht nur oberhalb der<br />
Gürtellinie zirkulierten? Anstatt dass er den Doktor beschäftigen<br />
oder ablenken würde. Das war typisch. Wenn<br />
ihm etwas nicht schmeckte, schaltete er auf stur. Aber es<br />
wurde sowieso Zeit. Oder machten Ärzte erst um eins Mittag?<br />
Kimrod ließ seinen Block geräuschlos in die Innentasche<br />
seiner Jacke gleiten und hüstelte leicht. Remke ging wieder<br />
auf Tauchstation. Doktor Kaltenbrunn erhob sich.<br />
„ Haben Sie etwas Passendes gefunden? Wir haben<br />
selbstverständlich noch mehr vorrätig. Das ist nur eine<br />
kleine Auswahl. Man will nicht gleich zartbesaitete Besucher<br />
verprellen.“<br />
Kimrod strich über eine Pflanze. Die waren gar nicht echt.<br />
Dabei sahen sie so lebendig aus.
„ Ja, ich habe mir einen ersten Überblick verschafft. Sehr<br />
beeindruckend. Mein Sohn würde begeistert sein. Schade,<br />
dass nur noch wenige Menschen etwas für Traditionen<br />
und Geschichte übrig haben. Ihre Partei könnte da ein<br />
dankbares Betätigungsfeld finden. Bevor die Burschen<br />
verlottern und Unfrieden stiften. Oft genügt ein kleiner Anstoß.<br />
Die Wurzeln sind doch gesund. Man muss diese<br />
jungen Eichen nur zurechtstutzen...“<br />
Jetzt räusperte sich Remke. Er gab dem Doktor noch<br />
einmal die Hand und verstaute die Broschüren in seiner<br />
Jacke.<br />
„ Äh, ich glaube, wir müssen wieder. Die Pflicht ruft.<br />
Kommst du, Max?“<br />
Kimrod kratzte sich gedankenverloren an der Nase und<br />
steckte auch ein paar Zettel ein.<br />
„ Meine Stimme ist Ihnen sicher. Deutschland ist lange<br />
genug von Verrätern ausgeplündert worden. Doch der<br />
starke Stamm biegt sich nur, er wird nicht brechen. Leben<br />
Sie wohl, Herr Doktor. Sieg Heil.“<br />
Kimrod klopfte sich mit der geschlossenen rechten Faust<br />
auf die Brust.<br />
Der Doktor lächelte schief. Der trug aber plötzlich dick auf.<br />
Aber gesunde Anschauungen, zweifellos. Die Sekretärin<br />
erhörte Remkes Stoßgebete und präsentierte zum Abschluss<br />
noch einmal ihr aufreizendes Dekolleté. Remke<br />
verharrte für einige süße Augenblicke vor ihrem Schreibtisch.<br />
Aber es half nichts. Bevor der Chef wieder zu salba-
dern anfing. Also raus. Kimrod kam Gott sei Dank gleich<br />
nach. Das war überstanden.<br />
„ Ich dachte schon, der engagiert dich gleich vom Fleck<br />
weg als Generalsekretär. Mit Verlaub gesagt, das Schwafeln<br />
liegt bei euch doch in der Familie. Das wurde sogar<br />
diesem Heini zu viel. Wahrscheinlich hat er in Wirtschaftspolitik<br />
promoviert. Am Tresen sind alle gleich, der<br />
Wirt wird von den Säufern reich. Aber dieses raffinierte<br />
Luder, eine Wucht. Ihre Glocken, so prächtig und voll.<br />
Wenn man die zum Klingen bringen würde...“<br />
„ In deiner Gedächtniskirche. Es ist schon was Wahres<br />
dran. Kinder und alte Männer sind albern. Los, da drüben<br />
rührt sich scheinbar was“, sagte Kimrod und hetzte über<br />
den Damm.<br />
Remke konnte nicht viel erkennen. Mehrere Passanten<br />
schlichen an der Zentrale der Camos vorbei. Vor dem<br />
Eingang des Verwaltungsgebäudes wuchs ein großer<br />
Schutthaufen an. Untere Dienstgrade trugen in sperrigen<br />
Wannen verkohlte Trümmer aus den verwüsteten Räumen.<br />
Der Aufzug schien ebenfalls in Mitleidenschaft gezogen<br />
worden zu sein, so dass alles durch das Treppenhaus<br />
transportiert werden musste. Totsch unterhielt sich<br />
etwas abseits mit drei sonnenbebrillten Herren in eleganten<br />
Anzügen. Kimrod erkannte außerdem Ilona Zollner,<br />
die hinter den Männern auf ihr Chance wartete. Doch<br />
Totsch würdigte sie keines Blickes.
„ BKA. Die Vögel kenne ich, immer picobello herausgeputzt.<br />
Pfui Deibel“, erklärte Remke, der hinter Kimrod aufgetaucht<br />
war.<br />
Und von Typologie verstand er etwas. Kimrod zündete<br />
sich eine Zigarette an und winkte. Die Journalistin verschob<br />
ihr Vorhaben und stöckelte über das verdreckte<br />
Trottoir heran.<br />
„ Eigentlich auch nicht schlecht. Wer auf stramme Waden<br />
steht“, sagte Remke grinsend.<br />
Kimrod stieß resignierend Rauch aus. Ging das schon<br />
wieder los. Die Journalistin wechselte ein paar Worte mit<br />
einem der schuftenden Camos und begrüßte dann die<br />
Kommissare.<br />
„ Na, das ist ein Zufall. Sie glauben wohl auch, dass der<br />
Anschlag mit den Morden zusammenhängt. Nicht nur wegen<br />
Claudia Lupers Freund. Bei meinen Nachforschungen<br />
im Milieu sind sehr viele Merkwürdigkeiten ans Tageslicht<br />
getreten. Die beiden Callgirls bedienten zuletzt vornehmlich<br />
hohe Tiere aus Politik und Wirtschaft. Loschmitz ist<br />
nur ein Name unter tausend anderen. Versuchen Sie in<br />
der Richtung Ihr Glück. Es lohnt sich mit Sicherheit.“<br />
Totsch hatte sich von den Bundespolizisten gelöst und<br />
ging in die Zentrale zurück. Ilona Zollner wünschte den<br />
Kriminalbeamten viel Erfolg und nahm die Verfolgung auf.<br />
Totsch galt als medienscheu. Aber alles hatte doch seine<br />
Grenzen, nach so einem Ereignis. Kimrod sperrte den<br />
Ford auf und startete. Remke hatte nicht gleich geschaltet<br />
und stellte noch immer Betrachtungen über die weibliche
Anatomie an. Titten oder Beine, so leicht wie diese Zollner<br />
oder... Moment, der saß schon wieder im Auto.<br />
„ Los, mach schon. Wir fahren jetzt zum Kastrieren. Ein<br />
kurzer, schmerzloser Eingriff. Du wirst dich hinterher viel<br />
besser fühlen. Du benutzt deinen Otto nur noch zum<br />
Wasser lassen. Kein steifes Laken mehr, deine Olle bekommt<br />
einen Vibrator zu Weihnachten und die Welt leuchtet<br />
für dich in neuen Farben. Du kaufst dir einen Malkasten<br />
und musst nicht mehr Groschen auf den Boden fallen<br />
lassen, um kleinen Mädchen unter den Rock linsen zu<br />
können“, sagte Kimrod und stieß zurück in die Dahlmannstraße.<br />
Remke geruhte endlich einzusteigen. Nur mittelprächtiger<br />
Verkehr, aber auffallend viele Streifenwagen und vereinzelt<br />
Gefährte aus dem Fuhrpark der Camos waren unterwegs.<br />
An einer Ampel kam neben Kimrod ein metallicschwarzer<br />
Quattro zum Stehen. Der Chauffeur trug die<br />
charakteristisch gesprenkelte Jacke und telefonierte emsig.<br />
Bis auf die Gewehrhalter stimmte alles mit Maikovskys<br />
Beschreibung überein. Sieh an, sieh an, da<br />
machten welche die ganz dicke Kohle.<br />
Zehn Minuten vor zwölf erreichten sie den Parkplatz der<br />
Großklinik.<br />
„ So, mein Junge, gleich ist es überstanden. Ich denke,<br />
örtliche Betäubung wird ausreichen“, sagte Kimrod und<br />
stieg aus.<br />
Remke machte keine Anstalten, ihm zu folgen.
„ Geht das schon wieder los. Du kommst mit, und wenn<br />
ich dich reinschleifen muss. Jedes Mal, wenn es unangenehm<br />
wird, beruft sich der Herr auf seine Tage“, schimpfte<br />
Kimrod über den Wagen hinweg.<br />
Remke gab kleinlaut nach.<br />
„ Aber nur, wenn wir vorher noch was Essen gehen. Die<br />
haben doch hier bestimmt eine große Kantine.“<br />
Remke hievte seinen Körper aus der Rostlaube und verriegelte<br />
die Tür. Hier wurde bestimmt viel geklaut. Diese<br />
verdammten Krankenhäuser mit ihrem ätzenden Desinfektionsgeruch.<br />
Da ging doch keiner freiwillig rein.<br />
Sie brauchten einige Zeit, um einen Informationsschalter<br />
ausfindig zu machen. Das junge Mädchen, das gerade<br />
Dienst hatte, war aber sehr verständnisvoll. Nachdem<br />
Kimrod seinen Ausweis vorgezeigt hatte, telefonierte sie<br />
ausgiebig und machte sich nebenbei Notizen. Als sie die<br />
Gespräche beendet hatte, überreichte sie Kimrod einen<br />
Spickzettel.<br />
„ Hier steht alles Wichtige drauf. Professor Malawi ist im<br />
OP-Saal beschäftigt. Vielleicht noch eine halbe Stunde.<br />
Die Leichen befinden sich in einem provisorisch eingerichteten<br />
Neubauflügel. Wenn Sie zum Parkplatz zurückgehen<br />
einfach links, das dritte Gebäude. An den Türen sind noch<br />
keine Beschriftungen angebracht. Sie können es eigentlich<br />
gar nicht verfehlen. Der Professor weiß Bescheid.<br />
Danke.“<br />
Sie drehte sich um und wieselte weiter über die Tastatur<br />
ihres PCs. Remke leckte sich die Lippen.
„ Einmal darf ich noch. Die eifrigen Finger der Kleinen haben<br />
mich da auf eine Idee gebracht. Zuerst die Titten aus<br />
dem Repbüro, dann die Zollner, nur Strapse, schwarze<br />
Strumpfhalter und ihre Pfennigabsätze, die sich bei jeder<br />
Bewegung zentimetertief in meine Haut eingraben. Ich<br />
liege nur auf dem Rücken und sehe nur ihre prächtigen<br />
Stelzen, die in ein flammrotes Vlies münden. Sie geht so<br />
lange auf mir spazieren bis es mir kommt. Zum Schluss<br />
die Kleine hier. Für ihre hurtigen Pfötchen kein Problem.“<br />
Kimrod war ein paar Schritte vorausgeeilt und versuchte<br />
aus den verwirrenden Beschilderungen schlau zu werden.<br />
„ Hier! Dort ist was für dich.“<br />
Er deutete nach oben auf eine Holztafel, die mit einem roten<br />
Kreuz bemalt war. Daneben stand Notaufnahme.<br />
Remke grinste kurz und schloss auf.<br />
„ Ich weiß auch nicht, was los ist. Vielleicht liegt!s am Wetter.<br />
Mein Granatsplitter rührt sich auch schon wieder...“<br />
„ Wenn dein Stehvermögen nur halb so groß wäre wie<br />
deine Klappe, hättest du als Pornodarsteller eine glänzende<br />
Karriere gemacht. Hier riecht es übrigens nach<br />
Bratwurst. Du wolltest doch noch was einschmeissen bevor<br />
wir unsere Mädels besuchen.“<br />
Nach einer langen Biegung tauchte in der Tat ein Kiosk<br />
auf, kurz vor dem Ausgang. Remke orderte zwei Currywürste<br />
und Bier. Obwohl striktes Rauchverbot herrschte,<br />
zündeten sich die Polizisten Zigaretten an. Wer erwischt<br />
wurde, bekam Hausverbot, laut Klinikordnung. Sie öffneten<br />
ihre Pilsflaschen und prosteten sich zu. Der Betreiber
der Bude machte die Würste fertig und warnte vor den<br />
Folgen des Rauchens.<br />
„ Sehen Sie mich an. Hab schon zwei Infarkte hinter mir.<br />
Alles nur wegen der Qualmerei. Aber machen Sie doch<br />
was Sie wollen. Sechs Euro, bitte.“<br />
Remke zahlte und ließ sich eine Quittung ausstellen. Kimrod<br />
spülte genießerisch jeden Bissen Wurst mit einem<br />
Schluck Bier hinunter. Stehvermögen, tja, das leidige<br />
Thema. Kimrod brachte es nicht einmal fertig, mit Remke<br />
über seine Potenzstörungen zu sprechen, seinem besten<br />
Freund.Mit gutem Grund. Die alte Plaudertasche würde es<br />
allen unter die Nase reiben, die es wissen wollten. Und<br />
auch den anderen. Ob dieser Malawi auch bei Männern<br />
Bescheid wusste? Es gab doch neuartige Implantate, die<br />
den echten Schwellkörpern nachempfunden waren und<br />
ähnlich funktionierten. Oder die elektromagnetischen<br />
Massagen. Man musste sich nur trauen.<br />
Remke stellte rülpsend seine leere Flasche zurück. Der<br />
Chef träumte schon wieder. Dem konnte abgeholfen werden.<br />
„ Hallo, aufwachen! Jetzt kannst du deinen nekrophilen<br />
Neigungen nachgehen.“<br />
Kimrod trank aus und erklärte:<br />
„ Das ist nicht von mir. Ich bin für Perversitäten aller Art<br />
offen, aber das geht zu weit. Ich fresse zwar tote Schweine,<br />
aber vorher vögeln möchte ich sie nicht.“<br />
Sie gingen weiter, immer der Beleuchtung nach. Der Professor,<br />
ein Inder mit Gandhibrille, höchstens vierzig, war-
tete schon. Er kam den Polizisten entgegen und begrüßte<br />
sie herzlich.<br />
„ Herr Kimrod, Herr Remke, es ist mir ein Vergnügen. Wer<br />
interessiert sich schon für unsere Arbeit? Oder wollen Sie<br />
lieber mit Ihrem Dienstgrad angesprochen werden?“<br />
„ Nein, das ist absolut in Ordnung so“, antwortete Kimrod.<br />
Sie hatten Mühe, mit dem Mediziner Schritt zu halten.<br />
Schon standen sie in einer Halle, die bis auf einem rollbarem<br />
Sektionstisch und zwei hohe, teilweise verglaste<br />
Kästen leer war. Der Professor dirigierte sie auf die seltsamen<br />
Behälter zu.<br />
„ Es tut mir sehr leid, aber es ging nicht anders. Kein<br />
Platz, keine Zeit. Ich habe Samstag und Sonntag hier<br />
durchgearbeitet. Diese Behälter sind Hibernierungsmaschinen.<br />
Man kann den menschlichen Körper darin praktisch<br />
unbegrenzt aufbewahren. Natürlich nach dem Exitus.<br />
Manche meiner Kollegen glauben, die Unsterblichkeit sei<br />
in greifbare Nähe gerückt. Das ist meiner Meinung nach<br />
noch ein weiter Weg dahin. Ich will Sie auch nicht mit<br />
technischen Details langweilen. Sie sind wegen der Mädchen<br />
hier. Bitte.“<br />
Der Professor winkte die Beamten näher heran. Remke<br />
kam dieser Aufforderung nur sehr ungern nach. Er erwartete<br />
freiliegende Gedärme und dergleichen. Man sah jedoch<br />
außer den Köpfen nichts. Sogar Susanne<br />
Roschmanns Haupt war wieder da, wo es hingehörte. Es<br />
saß wie angewachsen auf dem Hals. Der Rest wurde von<br />
weißen Leintüchern verhüllt. Die Gesichter waren gründ-
lich gereinigt und geschminkt worden. Sie wirkten deswegen<br />
streng und steril, als ob die Mädchen an Bord eines<br />
Raumschiffs fernen Galaxien entgegenjagten. Man musste<br />
nur auf ein Knöpfchen drücken und sie würden sich erheben.<br />
Nie im Leben käme man darauf, dass die beiden<br />
zu Tode gequält worden waren. Malawi dozierte weiter.<br />
„ Der linke Corpus weist Spuren schwerster Gewaltanwendung<br />
auf; mehrere Messerstiche in die linke Brusthälfte.<br />
Dann bei allen beiden gleich, Perforationen und Muskelrisse<br />
im Scheidenkanal bis in den Uterus hinauf. Wahrscheinlich<br />
vorgenommen durch einen rotierenden Holzbohrer,<br />
Größe 13 mm. Der Kopf des rechten Corpus wurde<br />
mit einer Taschensäge abgetrennt.“<br />
„ Taschensäge? Fuchsschwanz, Laubsäge?“<br />
Kimrod hakte nach. Vielleicht wurde dieser Punkt noch<br />
wichtig.<br />
„ Nein, nein, ich meine eine Drahtsäge. Ein vielleicht fünfzig<br />
Zentimeter langer Draht aus hochwertigem Stahl, in<br />
den Sägezähne eingearbeitet sind. An beiden Enden sind<br />
Griffe angebracht, an denen man abwechselnd zieht. So.“<br />
Der Professor streifte sein Stethoskop ab und legte den<br />
Horchschlauch um Remkes Oberschenkel. Remke war<br />
kitzlig. Als der Professor Sägebewegungen nachahmte,<br />
geriet ihm das bearbeitete Bein außer Kontrolle. Malawi<br />
wurde von Remkes Kniescheibe in der Kinnpartie getroffen.<br />
Er wankte zwei Meter zurück und nahm nach einer<br />
kurzen Erholungspause sein Stethoskop in Empfang, das<br />
Kimrod für ihn aufgehoben hatte. Damit war die Leichen-
schau wohl beendet. Remke begriff erst jetzt, was er angerichtet<br />
hatte. Er hörte abrupt zu kichern auf und rieb<br />
verlegen seine Schuhe aneinander. Doch der Professor<br />
war hart im Nehmen.<br />
„ Wo waren wir stehengeblieben? Ach ja, Taschensäge.<br />
Sie wissen inzwischen, was ich meine?“<br />
Kimrod nickte.<br />
„ Gut. Wir fanden außerdem keine Spermaspuren oder<br />
Fremdkörperpartikel. Das wäre alles.“<br />
„ Diese Kisten hier dienen also nur zur Aufbewahrung,<br />
damit die Körper nicht in Verwesung übergehe“, stellte<br />
Kimrod fest und studierte noch einmal die Gesichter. Er<br />
wollte wissen, was die Mädchen zuletzt empfunden hatten.<br />
Erschrecken, Erstarren, Hass, Raserei, oder waren<br />
beide vorher betäubt worden? Malawi schien seine Gedanken<br />
gelesen zu haben.<br />
„ Wir haben eigentlich nicht viel verändert. Nur das Blut<br />
abgewaschen und ein wenig retuschiert. Ich habe mich<br />
auch gewundert. Es gibt allerdings Arten der Betäubung,<br />
die man hinterher nicht feststellen kann. Wir haben jedenfalls<br />
keinerlei giftige Substanzen nachweisen können.<br />
Theoretisch könnten die Angehörigen jetzt die Identifizierung<br />
vornehmen. Wir, oder vielmehr meine Kollegen, wollen<br />
die Hibernierungsautomaten zurück haben, die wir tatsächlich<br />
nur zum Kühlen benötigen.“<br />
„ Das kann noch dauern. Eine Frage noch, Professor. Auf<br />
was für einem Gebiet sind Sie Experte, außer der Gerichtsmedizin?“
„ Gynäkologie. Wenn Sie weitere Fragen haben, stehe ich<br />
Ihnen selbstverständlich zur Verfügung. Sie hätten gestern<br />
kommen sollen, da konnte man in den Innereien lesen<br />
wie in einem offenem Buch. Schade.“<br />
Remke war bereits an die frische Luft entwichen. Kimrod<br />
ließ sich noch eine Visitenkarte geben. Er hatte sich mehr<br />
erhofft. Die Mädchen waren auch tot noch schön. Waren<br />
Sie wirklich so gestorben? War der Mörder ein guter Bekannter<br />
oder Stammkunde, dem die Mädchen vertraut<br />
hatten? Bis zum bitteren Ende? Remke, der Feigling, war<br />
Richtung Parkplatz verschwunden. Hibernierungsmaschinen,<br />
was zum Teufel kochten die da drinnen wirklich aus?<br />
Versuche mit Leichen oder gar Lebendigen, in Frankensteinmanier?<br />
War Remkes Hast berechtigt, alle Mann an<br />
Deck, in Sektion C wurden zwei guterhaltene Organträger<br />
gesichtet, fertig machen zum Sezieren?<br />
Remke wirkte entspannt, als Kimrod am Parkplatz eintraf.<br />
„ Na, du alter Nekromane. Ist dir jetzt wieder wohler?“<br />
fragte Kimrod ihn.<br />
„ Es ist geschafft. Und alles noch dran. Wie geht!s weiter?“<br />
„ Zurück zu den Schneewitchensärgen. Malawi hat dir ein<br />
interessantes Angebot zu machen. Wenn du dich<br />
schockfrosten lässt, wird deine Pension verdoppelt. Man<br />
spürt nicht das Geringste und es regt ungemein an.“<br />
Kimrod grinste breit. Der saß.<br />
„ Dummsülzer. Ich will wissen, was als Nächstes auf der<br />
Speisekarte steht. Nun mach schon“, stieß Remke ungeduldig<br />
hervor.
„Tante Berta. Sie weiß bestimmt etwas über die Mädchen.<br />
Vielleicht hat sie schon Sehnsucht nach dir“, antwortete<br />
Kimrod.<br />
„ Jetzt wandern aber bei dir die Eier in Gehirnnähe. Und<br />
sich über mich beschweren.“<br />
Sie stiegen ein und fuhren los. Kimrod fielen die zahlreichen<br />
auswärtigen Kennzeichen auf. Viele Kleinbusse und<br />
Importwagen, meist älterer Bauart. Normalerweise ein Anzeichen<br />
für eine geplante Großdemonstration. Kimrod<br />
deutete auf den Aufkleber am Heck eines Brandenburgers<br />
Transits.<br />
„ Kannst du das lesen? Schlag Staat in Stöcke braucht<br />
das Land. Kann das stimmen?“ Remke grunzte unwillig.<br />
„ Ist mir egal. Immer wenn denen der Pelz brennt, machen<br />
sie bei uns Radau. Gottverdammte Zuwanderer.“<br />
Im Radio fand Kimrod jedoch keinen Hinweis auf die offensichtlich<br />
angesetzte Veranstaltung. Obwohl inzwischen<br />
fast sämtliche Straßenzüge über eine eigene Rundfunkstation<br />
verfügten, die jeden Hundefurz in den Straßennachrichten<br />
breittraten. Um viertel zwei parkte Remke den<br />
Wagen in der Eisenbahnstraße. Hier war Gott sei Dank<br />
weniger los. Von aufrührerischen Untertanen keine Spur.<br />
Das Viertel erwachte während der Woche erst nach Einbruch<br />
der Dunkelheit. Dann aber richtig. An jeder Ecke<br />
bekam man drei bis vier eindeutige Angebote, zu erstaunlich<br />
erschwinglichen Preisen. Der heißeste Renner waren<br />
die Chinesinnen, die allen Zoll- und Asylschranken zum
Trotz in die Republik strömten und die bäurischen Langnasen<br />
mit asiatischer Raffinesse bedienten.<br />
Das Mirage war noch geschlossen. Kimrod stemmte einen<br />
der Fensterläden auf und klopfte einen bestimmten Takt.<br />
Kurz darauf öffnete sich die massive Pforte. Tante Berta<br />
steckte ihren Kopf heraus und peilte die Lage.<br />
„ Los, macht schnell. Es soll euch keiner sehen.“<br />
Die Polizisten wischten durch den Eingang und verdrückten<br />
sich in eines der Separees. Tante Berta klemmte eine<br />
Flasche Johnny Walker unter und setzte sich gewichtig zu<br />
ihnen an den Tisch. Sie füllte die bereitstehenden Gläser<br />
und eröffnete die Runde.<br />
„ Ich habe euch schon erwartet. Heute geht!s rund. Totsch<br />
war nur der Anfang.“<br />
Schon war das Glas leer. Sie leckte sich genießerisch die<br />
Lippen und sorgte für Nachschub. Kimrod hielt vorsorglich<br />
die Hand über seinen Becher.<br />
„ Langsam. Das geht uns nichts an. Ich bin nicht der Innensenator...“<br />
„ Aber bald, wenn du so weiter schwafelst. Erzähl uns<br />
doch was über die beiden Kleinen. Sei brav, Schätzchen...“,<br />
sagte Remke und zwickte Tante Berta in die Seite.<br />
Remkes Annäherungsversuch wurde unsanft abgewehrt.<br />
Seine Hand landete hart auf dem Tisch. Tante Berta<br />
war auf Kriegspfad und nicht zu Scherzen aufgelegt.<br />
„ Aber nur weil ihr es seid. Ich kenne die beiden schon seit<br />
zwei Jahren. Sie haben hier auf der Straße angefangen<br />
und sich hoch gearbeitet. Zuletzt nur noch Stammkunden
der oberen Kategorie. Dieser Loschmitz wurde auch öfters<br />
in ihrer Nähe gesehen. Und auch andere. Ich kenne<br />
die alle Gott sei Dank nicht näher. So was spricht sich<br />
dann rum. Mund zu Mundpropaganda. Sie arbeiteten<br />
hauptsächlich in ihrem Apartment, meistens zu zweit. Die<br />
haben hier eine Menge gelernt und viel Geld verdient.<br />
Vielleicht zu viel. Sie wurden zum Schluss ziemlich immer<br />
abgehobener. Nur noch Schickimicki und so. Na ja,<br />
Hochmut kommt vor dem Fall. Ich konnte die Mädels<br />
trotzdem gut leiden.“<br />
Die Tränen, die über ihre Wangen kullerten, waren echt.<br />
Die Mädchen hatten den gleichen Beruf ausgeübt wie sie<br />
früher. Das reichte. Jetzt war Rache angesagt.<br />
„ Ihr seid bei mir eigentlich verkehrt. Sie traten gelegentlich<br />
noch in der Safaribar auf. Aber nur so zum Spaß. Nötig<br />
hatten die es schon lange nicht mehr.“<br />
Remke tätschelte ihr die Hand.<br />
„ Na, Kopf hoch. Du kommst schon drüber weg. Nimm<br />
erst noch Einen.“<br />
Sie befolgte seinen Rat und räumte danach die Flaschen<br />
weg.<br />
„ Ihr müsst jetzt gehen. Um drei geht die Demo los. Ich will<br />
bereit sein.“<br />
Kimrod nickte. Er konnte das gut verstehen. In ihrem Beruf<br />
zu viel mit der Polizei zu tun haben, war nicht ratsam.<br />
Sie hatte getan, was sie konnte.
Die Safaribar lag einen Katzensprung weiter, in der Zeughofstraße.<br />
Es war eigentlich mehr ein Privatclub als ein öffentliches<br />
Etablissement. Nur wer vom Rat der Weisen, so<br />
nannten die altgedienten Clubmitglieder ihren erlauchten<br />
Vorstand, für würdig befunden wurde, durfte eine Eintrittskarte<br />
lösen. Bei Wohlverhalten gab es dann später das<br />
begehrte Jahresticket und die lebenslängliche Permission.<br />
Auch hier war noch alles zu. Nur gedämpfte Musik drang<br />
auf die Straße. Die Polizisten hatten sich Zigaretten angezündet<br />
und beratschlagten sich.<br />
„ Wie kommen wir rein? Für die sind wir doch nur bessergestellte<br />
Sozialhilfeempfänger. Kommt wieder, wenn ihr es<br />
euch leisten könnt. Beglückt so lange eure Trampel zu<br />
Hause. Viel Spaß. Mehr wird da nicht zu holen sein“,<br />
meinte Remke pessimistisch.<br />
Kimrod war zuversichtlicher.<br />
„ Wir haben keinen Durchsuchungsbefehl. Aber wir können<br />
jederzeit einen bekommen. Zefhahn hat es mir zugesichert.“<br />
Er hatte seine Stimme gehoben und deutete auf die Austrittsklappe<br />
der Klimaanlage zu, die im warmen Luftstrom<br />
flatterte. Remke stand auf der Leitung. Kimrod sagte ihm<br />
ins Ohr: Feind hört mit. Endlich war der Groschen gefallen.<br />
„ Und was Zefhahn sagt, hält er auch. Auf unseren Kriminalrat<br />
ist in solchen Situationen hundertprozentig Verlass“,<br />
pflichtete Remke seinem Kollegen bei.
„ Dann wollen wir mal“ , fuhr Remke fort und drosch gegen<br />
die Tür, die sofort aufgestoßen wurde.<br />
Zwei muskelbepackte Kerle mit Schnauzer und Dackelblick,<br />
Typ Sunillude, sprangen auf die Straße. Remke war<br />
vorbereitet. Schon starrten die Jungs in die Mündung seiner<br />
Sauer.<br />
„ So, und nun sachte. Wir hätten ein paar Fragen an den<br />
Chef. Schießübungen waren letzte Woche dran. Wiederholungen<br />
gefallen nicht“, sagte Kimrod und entschärfte<br />
damit die Situation. Einer der Türsteher kannte Remke<br />
flüchtig und nickte seinem Partner zu.<br />
„ Geht in Ordnung. Das sind Bullen. Gib oben Bescheid.“<br />
Der Angesprochene entfernte sich eilig.<br />
„ Ihr müsst so lange draußen bleiben. Ohne Karte kommt<br />
mir keiner rein“, erklärte der zurückgebliebene Supermann.<br />
Er wollte damit Remke einschüchtern, der seine Waffe<br />
wegsteckte und sich langsam auf die Tür zubewegte.<br />
„ Bist wohl der Oberschlaumeier hier. Ihm kommt hier keiner<br />
rein. Ich habe in dieser Klitsche schon mein Bier getrunken,<br />
als du dir noch die Scheiße von den Strampelhosen<br />
gekratzt hast. Richte Strelen einen schönen Gruß<br />
aus. Wenn er sich nicht mit uns unterhalten will, wird die<br />
Bude ausgeräuchert.“<br />
Remke wusste, dass das nur eine leere Drohung war. Hier<br />
verkehrte zu viel Kapital. Da rannte sich auch Wulke persönlich<br />
den Kopf ein. Doch wenn Strelen nur halb so<br />
schlau war, wie er sich gab, ging er nicht auf Konfrontati-
onskurs, da Polizei vor der Tür hundertprozent schädlicher<br />
war, als sie im Haus zu haben. Remkes Vermutung bestätigte<br />
sich nach einer kurzen Verschnaufpause. Der Hausherr<br />
rauschte durch die Phalanx seiner Bediensteten und<br />
trat den Polizisten mit seinem berühmten schiefen Lächeln<br />
entgegen. Die Bodyguards zogen sich widerwillig<br />
zurück. Wer ließ sich schon gerne von Staatsfritzen anpfeifen.<br />
„ Tag, die Herren. Lassen Sie uns die Sitzung an einen<br />
angenehmeren Ort verlegen. Die Cabarettruppe hat gerade<br />
Pause. Wir können uns also folglich ungeniert in einer<br />
der Nischen unterhalten. Bitte.“<br />
Remke konnte sich einen Kommentar zur bigottisch vorgetragenen<br />
Einladung des Bordelliers nicht verkneifen. Da<br />
konnte der Chef noch so grimmig dreinschauen.<br />
„ Halt, Meister. Erst wolltet ihr nicht, jetzt treten wir auf die<br />
Bremse. Sie können nachts in Ihrem dreckigen Loch abfüllen,<br />
wen Sie wollen, doch ich weigere mich, da...“<br />
Kimrod schaltete sich ein. Es half ja doch nichts, weil alles<br />
wieder an ihm hängen bleiben würde.<br />
„ Halt!s Maul, Otto. Wir müssen hier arbeiten und haben<br />
keine Zeit für Straßengeklöne. Lass deinen Sermon ab,<br />
wo du willst, aber nicht hier. Wir dürfen uns nicht den geringsten<br />
Fehler erlauben. Ich...“<br />
Strelen war ein Mann der Tat und zog die beiden Beamten<br />
mit einem geschickten Griff hinter die Schwelle seiner<br />
Pforte. Kimrod unterstützte ihn dabei, so gut er konnte,<br />
denn eine Schlägerei auf offener Straße war das Letzte,
was ihm heute noch abging. Nach einem kurzem Gerangel,<br />
beruhigte sich auch Remke wieder.<br />
„ Der war nicht von schlechten Eltern. Wo haben Sie denn<br />
das gelernt? Beim Bund?“ fragte Kimrod schelmisch.<br />
„ Nein, bei den Pfadfindern. Was wollen Sie denn von einem<br />
der ehrbarsten Bürger der Stadt? Geld, Frauen,<br />
Rauschgift, vielleicht sogar eine Mietsenkung?“<br />
Strelen setzte wieder sein Grinsen auf. Diesmal blieb<br />
Remke die Antwort schuldig, weil ihm ausnahmsweise<br />
nichts einfiel. Kimrod ging hinter die Theke und räumte<br />
drei Lagen Sektschwenker aus einem verspiegelten Regal.<br />
Strelen ließ ihn gewähren. Dem Rüpel würde nach einer<br />
gepfefferten Dienstaufsichtsbeschwerde schon noch<br />
das Lachen vergehen.<br />
„ Sie Knallcharge. Das kann Ihnen die Pension kosten.<br />
Nicht mit mir, Bürschchen. Ich habe mich nicht nach oben<br />
gekämpft, um vor einem A 10 Arsch zu buckeln.“<br />
Strelen schaltete aber rasch um. Er wurde sichtlich versöhnlicher.<br />
„Na gut, geschenkt. Aber nur wegen Otto.“<br />
Remke nickte grimmig. Strelen zündete sich eine dicke<br />
Zigarre an, Typ Zeppelin.<br />
„ Zur Beruhigung. Also?“<br />
Kimrod holte tief Luft.<br />
„ Die Nuttenmorde. Die Mädchen waren eine der Attraktionen<br />
Ihres Programms. Was wissen Sie?“<br />
Strelen zuckte harmlos mit den Schultern.
„Was ich weiß? Hä, hä, das würdet ihr Strauchdiebe wohl<br />
gerne in Erfahrung bringen? Ich kannte die Mädchen gut,<br />
aber das ist auch schon alles.“<br />
Remke fasste Kimrod am Arm.<br />
„ Komm, ich kenne ihn. Wenn er nicht will, müssen wir uns<br />
damit abfinden. Nichts wie raus hier. Es stinkt.“<br />
Strelen würdigte die zornig nach draußen eilenden Beamten<br />
keines weiteren Blickes. Zwei Staatskasper, mehr<br />
nicht. Warum sich aufregen. Die waren doch genauso viel<br />
wert wie ein korrodierter Groschen in der Pissoirrinne. Er<br />
rauchte seine Havanna genüsslich zu Ende.<br />
Es war auf den Punkt zwei Uhr, als die Polizisten ihr Fahrzeug<br />
erreichten. Ausnahmsweise war nichts beschädigt,<br />
auch kein Gruß von den Rinnsteinegeln, dem gefürchteten<br />
privaten Verkehrsüberwachungsverein, der gern und<br />
immer erbarmungslos zuschlug. Kimrod setzte die Fuhre<br />
in Bewegung.<br />
„ Wir haben noch ein bisschen Zeit. Lass mich überlegen.<br />
Wo stehen wir am günstigsten? Nun spuck schon aus.“<br />
„Keine Ahnung. Vielleicht am Mariannenplatz. Der Boss<br />
bist immer noch du.“<br />
Kimrod hielt sich an den Ratschlag seines Kollegen. Er<br />
sollte angeblich etwas von Strategie verstehen, wahrscheinlich<br />
aber nur beim Skat. Sie parkten den Wagen an<br />
einer günstigen Stelle und warteten auf die ersten Demonstrationsteilnehmer,<br />
die dann auch gegen vierzehn<br />
Uhr fünfundvierzig pünktlich eintrafen. Remke musterte<br />
die Gestalten angewidert. Langhaarige Müslidioten,
Emanzen, Grüne, Autonome, organisierte Schnallen und<br />
der übliche Tross von Schaulustigen, die bei jedem Aufmarsch<br />
mitmischten.<br />
Um drei verließen die Polizisten ihren Wagen und reihten<br />
sich unauffällig in den Demonstrationszug ein. Neben ihnen<br />
unterhielt sich ein grell geschminktes Pärchen über<br />
die Morde.<br />
„ Meiner Meinung nach steckt die Regierung ganz dick mit<br />
drin. Die Mädchen verkehrten doch ausschließlich in Jetsetkreisen.<br />
Nicht nur Loschmitz hat aus diesem Brunnen<br />
getrunken. Diese Staatsschweine sind doch alle gleich.<br />
Hoffentlich melden sich unsere Genossen aus dem bewaffneten<br />
Untergrund tatkräftig zurück. Für jeden abgemurksten<br />
Politiker spende ich zehn Euro für die Welthungerhilfe“,<br />
gab der androgyne Teil des nicht genau identifizierbaren<br />
Paares bekannt.<br />
Remke schluckte schwer. Kimrod gab ihm einen leichten<br />
Rempler in die Nieren. Sie ließ sich zurückfallen.<br />
„ Wir sind absolut inkognito hier. Du weißt, was du mit einem<br />
verkehrten Wort anrichten kannst“, sagte Kimrod leise.<br />
„ Ja, ja, schon gut. Ich bin nicht bekloppt. Aber diese linken<br />
Weltverbesserer sind die Schlimmsten. Von denen<br />
dürfte mir keiner ohne Aufsicht unterkommen. Lauter Geschmeiß!“
Gott sei Dank begannen weiter vorne die ersten einen<br />
Schlachtruf zu skandieren, so dass Remkes Ausfälle ohne<br />
Echo verpufften.<br />
„ Sperrt die Mörder ein! Sperrt die Mörder ein!“<br />
Sofort brüllten alle mit. Sogar Remke ließ sich nicht zweimal<br />
bitten.<br />
„ Wenn uns nur Zefhahn sehen, beziehungsweise hören<br />
könnte“, brüllte Kimrod in einer Kampfpause seinem Kollegen<br />
ins Ohr.<br />
„ Hängt den Kanzler auf! Hängt den Kanzler auf!“<br />
Auch dieser Vorschlag eines mit Stahlprügeln ausgerüsteten<br />
Blocks wurde sofort freudig aufgenommen. Schon flogen<br />
die ersten Steine. Schaufenster barsten, Autos gingen<br />
in Flammen auf. Die Polizei besaß nicht den Hauch einer<br />
Chance, diesem Inferno ein Ende zu setzen, trotz der<br />
grossen Masse der eingesetzten Beamten und Werfer.<br />
Pausenlos heulten Martinshörner. Autonome mit Rotkreuzbinden<br />
versuchten vergeblich, dem Heer der Verwundeten<br />
Herr zu werden. Wer umkippte, blieb liegen.<br />
Blutende mussten sich selbst verbinden.<br />
Die Ausschreitungen verebbten erst nach zwei Stunden.<br />
Wer noch nicht genug hatte, machte anderenorts weiter.<br />
Gelegenheiten gab es genug. Es ging schon lange nicht<br />
mehr darum, für oder gegen was demonstriert wurde,<br />
sondern nur um Krawall. Zerschlagen, brandschatzen,<br />
plündern, prügeln und töten. Das waren die Leitsprüche<br />
der staatsverachtenden Randalierer, die Verluste in den
eigenen Reihen gerne in Kauf nahmen und denen kein<br />
Anfahrtsweg zu weit war. Wo gehobelt wird, fallen Späne.<br />
Nach diesem Prinzip gingen auch die Einsatzleiter der Sicherheitskräfte<br />
vor. Totschs Truppe feierte an diesen Tagen<br />
fröhliche Urstände. Die Camos schossen da auch<br />
schon mal scharf. Warum nicht, diese Anarchisten legten<br />
es doch direkt darauf an. Nur tüchtig draufhalten, ganz so<br />
wie es der Werferfahrer vor dem Olympiastadium unverblümt<br />
geschildert hatte.<br />
Kimrod verlor Remke bald aus den Augen, aber sie hatten<br />
sich für siebzehn Uhr verabredet, am Mariannenplatz.<br />
Remke traf rechtzeitig ein, trotz der noch immer wild aufflackernden<br />
Rückzugsgefechte. Er war eben ein Kämpe<br />
alter Schule und durch nichts aus der Ruhe zu bringen.<br />
„ Na, wie stehen die Aktien? Wie viel hast du heute umgepustet?“<br />
fragte ihn Kimrod gut gelaunt.<br />
Das Schlimmste war wohl überstanden. Oder auch nicht,<br />
denn Kimrod war sich darüber im Klaren, dass auf dem<br />
politischen Parkett andere Spielregeln galten. Wenn man<br />
sich bei diesen aalglatten Typen verhaspelte, konnte man<br />
ungemein hart auf dem Bauch landen. Und wer tat das<br />
schon gerne?<br />
Sie stiegen ein und fuhren los. Der Wagen war bis auf ein<br />
paar zusätzliche Dellen heil davongekommen. Logischerweise,<br />
Schrott reizte auch die tatfreudigsten Vandalen<br />
nicht. Die Polizisten erreichten ihr Ziel, das Büro des sozialdemokratischen<br />
Oppositionsführers Günter Loschmitz,<br />
um halb sechs. Loschmitz residierte im zwanzigsten
Stockwerk eines hypermodernen Wolkenkratzers, in den<br />
man nur nach einer aufwendigen Sicherheitskontrolle Zutritt<br />
erlangte. Remke war sofort wieder auf hundertachtzig.<br />
„ Nimm die Finger weg, du Komiker. Ich bin ein Kriminaler<br />
und keine Schwuchtel, die jeder Trottel begrapschen darf.“<br />
Der Wachmann, ausnahmsweise kein Camo, setzte seine<br />
Arbeit unbeeindruckt fort. Er wusste, dass er ein paar<br />
Scheine mehr im Monat machte als dieser Schimanskiverschnitt<br />
und blieb dementsprechend gelassen.<br />
„ Los komm, Otto, wir haben schon genug Zeit verplempert.<br />
Sonst geht uns dieser Parteifatzke noch durch die<br />
Lappen“, befahl Kimrod knapp.<br />
Nachdem sie die Kontrollen passiert hatten, fuhren sie mit<br />
dem Aufzug nach oben. Dort erwartete sie ein weiterer<br />
Privatsheriff, der die Polizisten nach einer kurzen Gesichtskontrolle<br />
entließ. Er war wahrscheinlich per Funk<br />
vom Anrücken der Konkurrenz informiert worden.<br />
„ So, jetzt sind wir also da. Wir hätten den Pinscher fragen<br />
sollen, wo sich Loschmitz gerade aufhält. Bis wir alle<br />
Zimmer durch haben, ist längst Dienstschluss“, sagte Kimrod<br />
besorgt.<br />
„ Typisch Beamter. Um fünf werden die Ärmel zugeknöpft.<br />
Und mir macht er immer Vorwürfe von wegen Dienstauffassung“,<br />
schimpfte Remke.<br />
„ Ja, ja, du bist der coole Supercop und ich der biedere<br />
Stundenschieber, der jeden Schritt stur nach Vorschrift unternimmt.<br />
Aber wie finden wir jetzt heraus, wo sich die Assel<br />
versteckt hält.“
„ Warum Assel? Wir sind doch nicht im Keller. Außerdem<br />
habe ich ihn schon. Dort drüben links. Das Brett...“<br />
Remke deutete auf eine mit Hier schläft der Chef Schild<br />
behängte Tür schräg gegenüber. Der Tip war gut. Gleich<br />
nachdem sie geklopft hatten, wurden sie von einer gut<br />
gebauten Brünetten in Empfang genommen. Remke<br />
übernahm die Verhandlungen.<br />
„ Guten Tag, schönes Kind. Wir würden uns gerne mit Ihrem<br />
Boss unterhalten. Natürlich nur, wenn Sie nichts dagegen<br />
haben. Was haben Sie übrigens heute Abend vor?<br />
Ich würde mich freuen, wenn Sie...“<br />
Die Sekretärin reagierte barsch.<br />
„ Mit Ihnen bestimmt nichts. Herr Loschmitz ist für euch<br />
nicht zu sprechen. Er hat mit den Morden nichts zu tun<br />
und verweigert jegliche Stellungnahme.“<br />
„ Sein Pech. Ich bin mir sicher, dass eine rasche Aufklärung<br />
des Falls nur in seinem Interesse liegen kann. Wir<br />
wissen, dass Loschmitz häufig in der Safaribar verkehrte.<br />
Wir verfügen über gute Kontakte zur Presse. Die Zeitungen<br />
würden sich schwer wundern, wenn Sie mit uns nicht<br />
zusammenarbeiten. Und jetzt lassen Sie uns durch. Herr<br />
Loschmitz hat schon lange genug gepennt.“<br />
„ Sie Schwein!“<br />
Kimrod schob die Vorzimmerdame rigoros zur Seite und<br />
betrat ohne anzuklopfen das Büro des Politikers.<br />
Loschmitz telefonierte gerade. Kimrod hielt ihm seinen<br />
Ausweis unter die Nase und unterbrach die Verbindung.
„Was fällt Ihnen ein, Sie Flegel. Ich habe gerade mit dem<br />
Finanzminister gesprochen. Das wird Sie Ihre nächste Beförderung<br />
kosten. Wo kämen wir denn da hin?“<br />
„ Ist schon gut, Meister. Sie brauchen sich gar nicht aufzuregen,<br />
nur ein paar Fragen beantworten. Wo waren Sie in<br />
der Nacht von Freitag auf Samstag?“ wollte Kimrod wissen.<br />
„ Auf einer Ausstellung. Kulturprogramm, nichts Aufregendes.<br />
Aber was geht Sie das an? Sie glauben doch nicht,<br />
dass ich mit den Morden etwas zu tun habe? Ihre Frau<br />
wird sich freuen, Sie Nestbeschmutzer.“<br />
Loschmitz zündete sich eine Zigarette an und lächelte<br />
süffisant. Vielleicht konnte man diese Pfeife auf die Tour<br />
mundtot machen.<br />
„ Meine Frau lassen Sie gefälligst aus dem Spiel. Es geht<br />
rein um Sie. Also?“<br />
„ Ich war in der Galerie Brusberg. Ganz offiziell, alte Meister.<br />
Sie können es jederzeit nachprüfen, mit anschließendem<br />
Sektempfang. Und jetzt entschuldigen Sie mich bitte.<br />
Es gibt noch Leute, die sich ihr Geld verdienen müssen.“<br />
„ Wir werden Ihre Angaben selbstverständlich überprüfen.<br />
Bis bald.“<br />
Die Polizisten verließen das Büro und reihten sich in die<br />
Schlange vor dem Aufzug ein.<br />
„ Jetzt erst Büroschluss? Ich dachte, spätestens um vier<br />
werden die Bleistifte fallengelassen“, wunderte sich Remke.
„Tja, der Wahlkampf. Jede Stimme ist bares Geld wert.<br />
Da machen die Herrschaften mobil. Bin ich froh, wenn wir<br />
hier raus sind“, erklärte Kimrod angewidert.<br />
Die abgespannten Monitorvisagen der Angestellten sprachen<br />
Bände. Hier wurde in der Tat gearbeitet, natürlich für<br />
das Wohl des Bürgers.<br />
„ Eigentlich müsstest du den Fall abgeben. Ich meine wegen<br />
Befangenheit. Zwei Genossen pinkeln sich nicht gegenseitig<br />
ans Bein. Du verstehst, was ich meine“, sagte<br />
Remke.<br />
„ Geht das schon wieder los. Wir ermitteln gegen<br />
Loschmitz und nicht gegen meine Frau. Außerdem kennen<br />
sich die beiden kaum.“<br />
Kimrod schüttelte angewidert den Kopf. Otto konnte einem<br />
manchmal ungemein auf die Nerven gehen. Die Beamten<br />
verließen das Hochhaus und gingen zurück zu ihrem<br />
Wagen. Kein Strafzettel, wenigstens etwas.<br />
„ Ich fahre zurück ins Präsidium. Deinem HASSSO auf die<br />
Finger klopfen. Kommst du mit?“ fragte Kimrod seinen<br />
Kollegen.<br />
„ Nein, danke mir reicht!s für heute. Unser HASSSO hat<br />
außerdem immer die Nase vorn. Wann begreifst du das<br />
endlich?“<br />
Kimrod ließ sich auf keine weiteren Diskussionen ein. Er<br />
war von seinem Vorhaben, die Liste der Verdächtigen eigenhändig<br />
durchzuforsten, durch nichts abzubringen. Es<br />
wäre doch gelacht, wenn der Riecher eines erfahrenen
Praktikers weniger taugte als der Spürsinn kalter Leiterplatten.<br />
Sie kamen um fünfzehn Minuten im Präsidium an. Remke<br />
verabschiedete sich und wünschte seinem Juniorpartner<br />
einen erholsamen Feierabend, natürlich nicht ohne dabei<br />
dreckig zu grinsen. Kimrod knurrte ihm leise ein paar Flüche<br />
hinterher und machte sich an die Arbeit. Die meisten<br />
Büros waren schon verlassen, nur noch im Keller brannte<br />
Licht. Die Spurensicherung machte wieder einmal<br />
Überstunden oder Zefhahn ließ den Nachwuchs beim<br />
Nahkampftraining schwitzen. Eine Übung, die er ab und<br />
an eigenhändig leitete. Kimrod konnte sich also ungestört<br />
an die Arbeit machen. Er begann bei den Rechtsradikalen,<br />
genauso wie heute früh. Es stellte sich jedoch bald heraus,<br />
dass HASSSO tatsächlich ausschließlich auf das<br />
vorhandene Material zurückgegriffen und nur die gröbsten<br />
Abweichler nach unten und oben ausgesiebt hatte. Dasselbe<br />
Bild bei den Sexualverbrechern. Nur Altersheim-<br />
und JVAinsassen waren nicht berücksichtigt worden. Und<br />
etwas anderes als die Computerdatei war eben nicht vorhanden,<br />
Punktum. Nach einer Stunde vergeblichen Wühlens<br />
gab Kimrod entnervt auf. Remke hatte wieder einmal<br />
Recht behalten. Otto und sein gottverdammter Elektronikschnüffler,<br />
zum Teufel mit ihnen. Kimrod betäubte seinen<br />
Frust mit zwei schnellen Pils in einer nahegelegenen<br />
Kneipe und fuhr anschließend nach Hause. Emma hatte<br />
ihm ein paar belegte Brote zurechtgemacht und eine kleine<br />
Notiz auf dem Küchentisch hinterlassen: Komme erst
spät heim, das Übliche. Kimrod stärkte sich und machte<br />
es sich im Wohnzimmer gemütlich. Irgendwas drückte da<br />
an der rechten Poseite. Ach ja, richtig, die breitbauenden<br />
Wrestlingkarten. Es blieben nur noch zehn Minuten bis<br />
zum Beginn der Show. Kimrod machte sich wieder ausgehfertig<br />
und rief bei Remke an, denn Wolf hatte ihm zwei<br />
Karten geschenkt.<br />
„ Hallo, du schon wieder. Nein Danke, kein Bedarf. Da ist<br />
doch sowieso alles nur gestellt. Gute Nacht.“<br />
Zack, Ende der Vorstellung. Remke hasste fast alles, was<br />
über den großen Teich nach Europa kam, und dieses<br />
warm angehauchte Geschubse erst recht. In nichts vergleichbar<br />
mit einem guten, ehrlichen Boxkampf alter<br />
Schule. Na gut, diese Pflichtübung war erledigt, nun konnte<br />
der Spaß beginnen. Kimrod kannte das Proficatchen<br />
nur vom Fernsehen her. Diese Sportart wurde jedoch erst<br />
aus der Nähe besehen interessant. Der Bildschirm vermittelte<br />
nur einen Bruchteil von der Wucht und Eleganz der<br />
Gladiatoren. Wenn man etliche Kämpfe konsumiert hatte,<br />
begann man zu ahnen, was in den Athleten steckte und<br />
was sie zu leisten vermochten. Da war fast nichts abgesprochen<br />
oder angetäuscht, es ging knallhart zur Sache<br />
und nicht umsonst verschwanden einige Wrestler nach ihren<br />
Fights für Wochen oder Monate im Sanatorium. Oder<br />
ganz woanders. Die austrainierten Körper konnten natürlich<br />
Schläge und Stürze ab, die den Otto Normalverbraucher<br />
in den Rollstuhl gezwungen hätten, doch aus Stahl<br />
waren die Catcher auch nicht und die gellenden Schreie
dienten nicht ausschließlich zur Einschüchterung des<br />
Gegners. Der Schmerz musste sich Luft machen, denn<br />
immer wieder drosch der Attackierende auf das angeschlagene<br />
Gelenk.<br />
Kimrod traf kurz vor acht ein. Die Halle war bereits brechend<br />
voll, trotz des horrenden Eintrittspreises von fünfunddreißig<br />
Euro. Er verhökerte das zweite Billett an ein<br />
paar geschminkte und kostümierte Kids, die Paintos nahmen<br />
sich wie Chorknaben daneben aus, und stürzte sich<br />
ins Getümmel. Die Tribünen waren um einen pinkfarbenen<br />
Ring aufgebaut und bis auf den letzten Quadratzoll mit tobenden<br />
und kreischenden Fans besetzt. Ein Tagteamkampf,<br />
zwei gegen zwei, wobei jeweils nur ein Mann pro<br />
Abteilung im Ring stehen durfte, eröffnete den Reigen. Die<br />
Paarung hieß Donnerduo gegen die Crushercracks, die<br />
amtierenden Weltmeister in dieser Disziplin. Die Cracks<br />
dominierten von Anfang an den Gegner und ließen den<br />
etwas tollpatschig agierenden ersten Mann, Frank, keine<br />
Chance zum Wechsel. Denn der ausgeruhte, kampfhungrige<br />
Partner, der hinter den Seilen in der Ecke ausharren<br />
musste, durfte nur dann in den Ring, wenn sein Kamerad<br />
es schaffte, seine aufgehaltene Hand zu berühren.<br />
Schließlich schaffte es Frank doch noch auf allen vieren<br />
bis in die Ecke seines Kollegen, der nach dem erlösenden<br />
Touch voller Elan in den Ring stürmte, aber am Ausgang<br />
des Kampfes bestanden bald keinerlei Zweifel mehr. Zwei<br />
harte Dropkicks, dann die Beinschere und schon war der
Spuck vorbei. Die Cracks waren und blieben die amtierenden<br />
Champions. Ein Refight war so gut wie ausgeschlossen,<br />
denn die Donners hatten ihre Haut zu billig zu<br />
Markte getragen. Die Fans wollten Wrestler sehen, die<br />
sich bis zur totalen Erschöpfung bekriegten und erst aufgaben,<br />
nachdem alle Reserven vergebens mobilisiert<br />
worden waren. Die wahren Helden kämpften auch mit<br />
bandagierten und geschienten Extremitäten, schrien mitunter<br />
bei jeder Bewegung, aber die Glorie des zu verteidigenden<br />
oder erkämpfenden Gürtels, ließen sie alle<br />
Schmerzen und Qualen und vergessen. Durchbeißen und<br />
durchhalten, auch wenn!s weh tat. Die Message war klar<br />
und deckte sich vollkommen mit dem amerikanischen Mythos<br />
des einsamen Helden, der sich trotzig gegen die übermächtigen<br />
Bösewichte durchsetzte und überall selbstlos<br />
in Aktion trat, wenn die Freiheit oder eine andere Ikone<br />
der US-Gesellschaft bedroht war.<br />
Nach dem Tagauftakt folgte eine Handvoll eher durchschnittlicher<br />
Fights. Alte Haudegen erteilten Grünschnäbeln<br />
Nachhilfeunterricht und drittklassige Provinzgrößen<br />
wähnten sich noch immer in ihrer angestammten Heubodenheimat.<br />
Alles nichts Besonderes und Wrestlingfastfood.<br />
Doch der guten Stimmung tat das keinen keinen Abbruch.<br />
Die Fans beklatschten begeistert jeden Move und<br />
buhten lautstark, wenn der Schurke im Vorteil war. Eigentlich<br />
kein Wunder bei einem Durchschnittsalter von höchstens<br />
sechzehn.
Kimrod begann in seinen Kindheitserinnerungen zu kramen,<br />
aber außer Fußball kam nichts zum Vorschein. Das<br />
war eine total andere Welt hier. Brutalität und Prügel wurden<br />
wie bei Comixfiguren als selbstverständlich und doch<br />
nicht ganz ernstzunehmend akzeptiert. Hier konnte ungestört<br />
Dampf abgelassen werden, hier war noch alles in<br />
Ordnung. Gut und böse klar getrennt, gebräunte Bodybuildingkörper<br />
und skurrile Manager, die bisweilen tatkräftig<br />
und außerhalb der Legalität ins Geschehen eingriffen.<br />
Was wollte man mehr?<br />
Die Regeln waren tatsächlich nur da, um nicht beachtet zu<br />
werden. Die Referees sahen nur das, was sie sehen wollten<br />
und so mancher Kampf wurde durch eine unerlaubte<br />
Aktion entschieden. Wenn wirklich Not am Mann war und<br />
einer der Wrestler von seinem wütenden Gegenüber<br />
ernsthaft verletzt zu werden drohte, eilten die pausierenden<br />
Kollegen herbei und lenkten den Rasenden wie die<br />
Clowns beim Stierkampf von ihrem Opfer ab. Endlich begann<br />
der Hauptkampf, der Bungeefight. Die Lichter erloschen<br />
und die beiden Kontrahenten wurden mit ihrer Auftrittsmusik<br />
zur Begleitung ganz langsam von der Decke<br />
herab an den elastischen Seilen hängend in den Ring hinuntergelassen.<br />
An allen vier Eckpfosten waren inzwischen<br />
circa vier Meter hohe mit Sprossen versehene Verlängerungen<br />
angebracht worden. Kimrod rätselte, was es<br />
damit auf sich hatte, doch er wurde bald aufgeklärt. Kaum<br />
hatten die Wrestler festen Boden unter sich, bewegten sie<br />
sich im Kängaruhstil auf die Pfosten zu. Jimmy Hurricane,
der Favorit, machte seinem Namen alle Ehre. Mit einem<br />
mächtigen Satz und der Unterstützung des vorgespannten<br />
Seils enterte einen Pfahl und kletterte hurtig nach oben.<br />
Sein Gegner, ein maskierter Asiate, verfehlte sein Ziel im<br />
ersten Anlauf und verhedderte sich in den Seilen. Er<br />
musste sich neu orientieren. Jimmy witterte seine Chance.<br />
Er ging in die Knie und katapultierte sich mit seinen<br />
mächtigen Oberschenkeln auf den Asiaten zu, der erst<br />
jetzt wieder frei kam und der Attacke völlig schutzlos ausgeliefert<br />
war. Hurricane landete einen Volltreffer mit der<br />
rechten Ferse an der Schulter des Asiaten.<br />
Während Hurricane in Siegerpose locker zurück pendelte,<br />
wurde der Maskierte in hohem Bogen über die Begrenzungsgitter<br />
hinweg in die Zuschauer hineingeschleudert.<br />
Doch die Kids fingen ihn locker ab und nach einer kurzen<br />
Erholungspause musste sich der angeschlagene Wrestler<br />
in den Ring zurück begeben. Die Schmähungen der Fans<br />
ließen keine Zweifel aufkommen. So billig sollte der Knabe<br />
sich nicht davonstehlen. Hurricane lauerte schon wieder<br />
auf seinem Horst, bereit zu einem neuen Anschlag<br />
aus der Luft. Doch der Asiate war zäh und wiederholte<br />
seinen Fehler nicht. Er hüpfte vorsichtig hinter den Eckpfosten<br />
und hangelte sich in dessen Deckung nach oben.<br />
Hurricane nahm erneut Maß.<br />
Nach einem Zwischenschritt auf der Ringmitte, die Gummiseile<br />
verliehen seinem Move enorme Schwungkraft, flog<br />
er auf den vorgewarnten Gegner zu, der diesmal schneller<br />
war und dem Kickversuch ausweichen konnte. Hurricane
war jedoch ein alter Fuchs und entwickelte blitzschnell eine<br />
neue Strategie. Nachdem er den höchsten Punkt seines<br />
Sprungs erreicht hatte, vollzog er eine Hundertachtziggraddrehung<br />
um die eigene Körperachse und kam mit<br />
dem Oberkörper voran zurück. Als er an seinem Kontrahenten<br />
vorbeipfiff, schnappten seine muskelbewehrten<br />
Pranken nach dem Hals des Asiaten, der nur halbherzige<br />
Abwehrversuche mit der verbotenen geschlossenen Faust<br />
unternahm. Hurricanes Aktion misslang allein deshalb<br />
teilweise, weil der Körper seines Opfers zu glitschig war.<br />
Die schweißgetränkte Haut des Asiaten, es war nicht allein<br />
die Angst, die diese Reaktion bewirkte, unter den<br />
zahllosen Scheinwerfern entwickelte sich schnell eine<br />
mörderische Hitze, ließ eine Hand Hurricanes vollständig<br />
abgleiten, so dass er den Maskierten nur mit halber Kraft<br />
mit sich reißen konnte. Aber immerhin, der Asiate wurde<br />
erneut schwer getroffen und blieb benommen im Ring liegen.<br />
Was Hurricane mit ihm angestellt hätte, wenn sein<br />
Vorhaben vollständig gelungen wäre, wurde beim nächsten<br />
Angriff beantwortet.<br />
Hurricane kam erneut von ganz oben herangesaust, ging<br />
kurz vor der Landung in die Knie und schaffte es mit einem<br />
fantastischen Move, den Körper des noch immer<br />
halb Betäubten mit sich nach oben zu nehmen. Hurricane<br />
zog nun eine sehenswerte Nummer ab. Er hatte den Asiaten<br />
lässig wie eine Campingmatte unter den rechten Arm<br />
geklemmt und pendelte zwischen den zwei diagonal gegenüberliegenden<br />
Sprungpfosten hin und her. Er entwi-
ckelte dabei ein immer höheres Tempo, so dass der Maskierte,<br />
als er ihn schließlich fallen ließ, mit enormer Wucht<br />
auf die Bretter knallte, die zumindest in Jimmys Leben die<br />
Welt bedeuteten. Die Halle verwandelte sich in ein Tollhaus.<br />
Genau das wollten die Fans sehen. Keine Gnade<br />
für den Unterlegenen. Der Asiate benötigte geraume Zeit,<br />
um überhaupt wieder ein Lebenszeichen von sich zu geben.<br />
Der strahlende Sieger stand jedoch bereits fest. Hurricane<br />
wiederholte seine Sturzkampfbombernummer noch<br />
ein paar Mal, doch die Luft war raus aus dem Fight. Der<br />
Maskierte blieb passiver Statist. Jimmy hätte seine Übungen<br />
genauso gut mit einem Kornsack vornehmen können.<br />
Schließlich war es irgendwann überstanden. Hurricane<br />
schulterte seinen Sparringspartner und verabschiedete<br />
sich strahlend von seinen Anhängern. Ein echter<br />
Profi eben.<br />
Die Show war zu Ende. Gott sei Dank, Kimrod konnte<br />
noch immer nicht verstehen, warum sich hier drin alle außer<br />
ihm so enthusiastisch gebärdeten. Wegen den paar<br />
Ohrfeigen so aus dem Häuschen zu geraten...nein, so<br />
weit war er noch nicht. Vielleicht verhielt es sich aber tatsächlich<br />
so wie beim Fußball. Nur wer selber mal gespielt<br />
hatte oder seit Jahrzehnten die Szene verfolgte, gewann<br />
Gefallen an der Sache und war durch nichts mehr von<br />
seiner Vorliebe abzubringen. Das konnte hinhauen, da die<br />
Kids doch spätestens bei der Einschulung mit Kampfsportarten<br />
Bekanntschaft machten.
Kimrod fuhr nach Hause und legte sich schlafen. Emma<br />
kam erst gegen ein Uhr nach Hause. Wie das diese Frau<br />
nur aushielt? Fast tagtäglich Sitzungen und Versammlungen,<br />
neben ihrem Job, neben dem Haushalt? Oder steckte<br />
tatsächlich ein anderer Kerl dahinter? Wenigstens unternahm<br />
sie diesmal keine Annäherungsversuche. Man<br />
konnte jeder Sache etwas Positives abgewinnen.<br />
13.10 Dienstag<br />
Der Tag begann, genauso wie sein Vorgänger, mit einem<br />
Paukenschlag. Ein paar Minuten nach Dienstbeginn<br />
trommelte Zefhahn seine Mannen zusammen.<br />
„ Morgen, Morgen, die Herren. Jetzt fängt die Sache an,<br />
interessant zu werden. Vor einer knappen Stunde wurde<br />
Reverend Stähler angeschossen...“<br />
„ Schade. Warum nur angeschossen?“<br />
„ Nein, Remke, das ist nicht der Zeitpunkt für dumme<br />
Scherze. Ich wollte mit meiner Formulierung nur zum<br />
Ausdruck bringen...äh, Kimrod, Ihre Tochter wurde nicht<br />
verletzt, bevor ich es vergesse.“<br />
Kimrod schluckte, aber immerhin.
„ Gut, es wird also ernst. Der Reverend besitzt großen<br />
Einfluss in maßgeblichen Kreisen. Da wird man uns ganz<br />
schön auf die Finger schauen. Was für Totsch galt, vielleicht<br />
war es ja doch nur ein selbstinszenierter Lausbubenstreich,<br />
muss nun vollständig ausgeklammert werden.<br />
Zwei Zufälle sind einer zu viel. Meine Herren, es brennt.<br />
Kimrod, Sie begeben sich augenblicklich zur Villa Schönborn.<br />
Wenn diese Sauereien nichts mit unseren Morden<br />
zu tun haben, lasse ich mich umtaufen. Und ihr beiden<br />
anderen bleibt vorerst hier. Wir müssen noch einiges klären.“<br />
Remke befand sich schon draußen auf dem Gang. Kimrod<br />
folgte ihm.<br />
„ Ach, hier bist du. Ich dachte, du wolltest mal wieder deine<br />
Papiere abholen.“<br />
„ Viel geht weiß Gott nicht mehr ab. Man darf bald überhaupt<br />
nichts mehr sagen. Lass uns bloß verschwinden<br />
von hier, sonst spreng ich den Saftladen noch in die Luft.“<br />
„ So kenne ich dich, Otto. Warum habt ihr eigentlich damals<br />
den Krieg verloren? Ich meine, wenn man dich so<br />
reden hört...“<br />
Remke beförderte seinen Vorgesetzten mit einem kräftigen<br />
Schubs in den Fahrstuhl. Es konnte losgehen. Sie erreichten<br />
die Villa um viertel nach acht. Kimrod hatte sich<br />
Zeit gelassen.<br />
„ Weißt du, Otto, allzu viele Köche verderben den Brei.<br />
Wenn du dir hier die Nummern ansiehst, verstehst du sofort,<br />
was ich meine.“
Die Kommissare kannten die Fahrzeuge von der Konkurrenz,<br />
Geheimdienst und Staatsschutz, ziemlich genau. Zu<br />
oft trat man sich neuerdings gegenseitig auf die Füße.<br />
Kompetenzstreitigkeiten. Immer mehr Täter wurden auch<br />
von den Bundesbehörden beansprucht, und der zusehends<br />
undurchsichtigere Bandendschungel in Berlin. Da<br />
flogen oft ganz schön die Fetzen. Wer da mithalten wollte,<br />
musste mit allen Wassern gewaschen sein und durfte sich<br />
keine Fehler erlauben. Es war schon passiert, dass sich<br />
der vermeintliche Großdealer als Undercoveragent aus<br />
Wiesbaden entpuppt hatte und man verlegen vor dem angeschossenen<br />
Kollegen auf das Eintreffen der Reporter<br />
wartete.<br />
Die Villa Schönborn, es war eigentlich mehr eine Residenz,<br />
befand sich direkt am nördlichen Ufer des Hundekehle<br />
Sees, gänzlich abgeschottet von einer über vier Meter<br />
hohen Mauer. Kimrod stellte den Wagen direkt vor dem<br />
schmiedeeisernen Tor ab.<br />
„ Ich habe nicht vor, allzu lange zu bleiben. Sieh dir nur<br />
diese Visagen an. Tout Berlin gibt sich die Hand.“<br />
Remke nickte.<br />
„ Ich kann dich gut verstehen. Vielleicht klappt!s beim<br />
nächsten Mal. Auch ein Stähler ist nicht unsterblich. Dort<br />
hinten steht übrigens Ingrid. Sie kann uns bestimmt weiterhelfen.“<br />
Die Polizisten bahnten sich einen Weg durch das Heer der<br />
Schaulustigen und Offiziellen. Die Tuschelnden verstummten<br />
als die Beamten passierten. Na immerhin et-
was. Remke registrierte das mit Befriedigung. So ganz<br />
abgeschrieben war man nun doch nicht. Ingrid wandte<br />
sich von zwei streng blickenden Damen ab und begrüßte<br />
ihren Vater.<br />
„ Hallo, du kommst erst jetzt?“<br />
„ Ja, du weißt ja, bei so einer Aktion spielen wir nur die<br />
zweite Geige. Was war nun los?“<br />
Ingrid wirkte ziemlich gefasst. Aber das konnte täuschen.<br />
Man sah ihr nicht immer an, was wirklich in ihr vorging.<br />
Besorgt war sie bestimmt.<br />
„ Tut mir leid, Vater. Ich habe eigentlich nichts mitbekommen.<br />
James kam von einer Sitzung zurück. Der Täter<br />
muss durch das Tor geschossen haben. Ich war leider<br />
noch im Haus. Kein Knall, keine quietschende Reifen.<br />
James wollte sich erst gar nicht helfen lassen, aber ich<br />
habe sofort den Notarzt verständigt. Ich weiß, wie heimtückisch<br />
manche Geschosse wirken können.“<br />
„ Aber nicht von mir“, sagte Remke, der sich mit HASSSO<br />
bewehrt unbemerkt genähert hatte.<br />
„ Max, es tut sich was im Äther. Ich kann ihn kaum noch<br />
unter Kontrolle halten.“<br />
„ Gut, gut, wir machen uns sofort auf den Weg. Geh schon<br />
mal vor. Ich komme gleich nach.“<br />
„ Immer auf Achse, ihr Polypen. Aber ich habe auch noch<br />
jede Menge zu tun. Die ganzen Leute, du weißt wie das<br />
ist“, entschuldigte sich Ingrid und drückte ihrem Vater<br />
noch einmal die Hand, bevor sie in der Menge verschwand.
Kimrod schloss sich Remke an, der sich zielstrebig Richtung<br />
Ausfahrt vorarbeitete.<br />
„ Erst draußen. Ich will vermeiden, dass diese Aasgeier<br />
auch nur ein Sterbenswörtchen mitbekommen“, flüsterte<br />
Remke seinem Kollegen hastig ins Ohr.<br />
Die Menge teilte sich nicht nur scheinbar etwas langsamer.<br />
Immer mehr Neugierige strömten heran und wollten<br />
die Sensation aus nächster Nähe genießen. Schließlich<br />
hatten die beiden Beamten es doch noch geschafft. Sie<br />
stiegen in den Wagen ein und fuhren langsam los. Remke<br />
konnte sich endlich Luft machen.<br />
„ Ein neuer Knaller. Bremser soll doch mit drinhängen. Wir<br />
müssen uns beeilen.“<br />
Kimrod trat aufs Gas.<br />
„ Wo war das, dieser Bremser? Ich bin ganz erschlagen<br />
von deinem verdammten HASSSO. So ein Tempo bin ich<br />
von dir nicht gewohnt.“<br />
Remke packte das Utensil verärgert ein.<br />
„ Ja, ja, dann sage ich eben nichts mehr. Aber du weißt,<br />
wo es hingeht. Pass auf...“<br />
Sie rammten beinahe einen rechts überholenden Porsche.<br />
Kimrod konnte gerade noch das Schlimmste verhindern.<br />
Ein kurzes Fanfarenduell und die Sache war ausgestanden.<br />
Kimrod atmete kurz durch und bot Remke eine Zigarette<br />
an.<br />
„ Danke, das kostet mich wieder ein paar Monate meiner<br />
Rente.“
Als sie die Autobahn erreichten, beruhigte sich der Verkehr<br />
wieder. Doch das in Richtung Schauplatz noch immer<br />
Andrang herrschte, machte sich fast bis zur Ausfahrt<br />
bemerkbar. Punkt halb neun parkten sie vor Bremsers<br />
Wohnung.<br />
„ Du bleibst sitzen. Er wird freiwillig mitkommen.“<br />
Remke hielt sich an die Anweisung seines Chefs. Wenig<br />
später begleitete Kimrod Bremser zum Wagen hinunter.<br />
Bremser machte einen gefassten Eindruck. Kimrod hatte<br />
ihm Handschellen angelegt.<br />
„ Habe ich doch Recht behalten. Man muss denen nur<br />
Respekt beibringen“, sagte Remke und öffnete für den<br />
Verhafteten die Rücktür. Kimrod antwortete nicht und fuhr<br />
los. Auf dem Präsidium kümmerte sich kein Mensch um<br />
die Ankommenden. Kimrod schob Bremser in sein Büro.<br />
„ So, nun sind wir ungestört. Was haben Sie zu dem Vorwurf<br />
zu sagen, mit einer Prostituierten in Kontakt geraten<br />
zu sein, die kurz darauf ermordet aufgefunden wurde? Die<br />
Morde in der Nacht von Freitag auf Samstag, letztes Wochenende?“<br />
Der Verdächtige blieb stehen, obwohl ihn Remke auf einen<br />
Stuhl zu drücken versuchte. Bremser blieb stumm.<br />
Kimrod zündete sich eine Zigarette an und gab Remke ein<br />
Zeichen. Remke verschwand und kam fünf Minuten später<br />
mit HASSSO und einer Anweisung des Staatsanwalts zurück.<br />
„ Wir dürfen“, sagte Remke und las Bremser den Haftbefehl<br />
vor. Bremser schwieg weiter.
„ Gut, dann eben nicht. Wir können auch anders“, erklärte<br />
Kimrod und verließ das Büro. Er versuchte, den Staatsanwalt<br />
persönlich zu erreichen. Ihm wurde klar, dass mit<br />
dem Kerl so nichts anzufangen war. Doch der Staatsanwalt<br />
wollte telefonisch keine weiteren Anweisungen geben.<br />
HASSSO habe gesprochen. Als Kimrod ins Büro zurückkam,<br />
erwartete ihn außer Bremser noch ein Arzt.<br />
„ Nur rein damit. Ich will wissen, wo Sie in der Nacht von<br />
Freitag auf Samstag gewesen sind“, brüllte Remke.<br />
Der Arzt wandte den Blick auf Kimrod.<br />
„ Machen Sie, was Ihnen dieser Komiker sagt. Ich bin<br />
heute tatsächlich wieder einmal vollkommen überflüssig“,<br />
sagte Kimrod frustriert.<br />
Kimrod wusste, was er aufs Spiel setzte. Diese Mittel<br />
wirkten zwar hübsch beruhigend, doch sie waren nachweisbar.<br />
Bremser setzte sich nicht zur Wehr, als ihm der<br />
Doktor das Injektionsgerät zwischen die Schulterblätter<br />
drückte. Zwei Minuten später kippte er um.<br />
„ So, jetzt könnt ihr machen, was ihr wollt. Ich habe meine<br />
Pflicht und Schuldigkeit getan.“<br />
Der Mediziner verließ das Büro.<br />
„ Und jetzt heißt es warten. Er wird bald etwas gelöster<br />
sein.“<br />
Remkes Prognose erfüllte sich. Bremser entspannte sich.<br />
„Es bleibt dabei. Ich war zu Hause.“<br />
Kimrod wusste, was er damit meinte. Weiter durften sie<br />
nicht gehen. Remke entließ Bremser mit einer wegwerfenden<br />
Handbewegung. Bremser verließ das Präsidium
ziemlich angeschlagen. Dass er nur auf Grund der Anzeige<br />
einer Nutte verhaftet worden war, hatte ihm niemand<br />
erzählt. Die Unterwelt wollte schließlich wieder ungestört<br />
ihren Geschäften nachgehen können. Da kam ihnen ein<br />
Typ wie Bremser gerade recht.<br />
Die Beamten schreckten auf. Besonders Kimrod, da sich<br />
HASSSO erneut meldete. Remke schaltete auf Empfang.<br />
„ Die Safaribar.“<br />
Er deutete auf das Telefon. Kimrod hob ab und schaltete<br />
den Lautsprecher ein.<br />
„ Hier DJ Leo. Wir spielen gerade Hartgasttracker. Wenn<br />
Sie unbedingt mithören wollen.“<br />
„ Ja, du Arschloch. Wir sind!s, deine Steuereintreiber. Max<br />
und Moritz.“<br />
Der Discjockey von der Safaribar. Kimrod wollte den Kerl<br />
nicht verprellen.<br />
„ Bleib du dran mit deinem Strelen.“<br />
„ In einer viertel Stunde an der Spree, unter der Jannowitzbrücke.<br />
Falls Sie dabei sein wollen, wenn mal wieder<br />
was unterm Parkett abläuft, gehen Sie hin. Viel Spaß beim<br />
Suchen. Haltet aber bitte die Nebelwerfer bereit. Wir machen<br />
auch mit.“<br />
Remke nickte. Wenn der sich nicht auskannte.<br />
„ Es bleibt dabei. Wenn, dann sind wir es nicht gewesen.<br />
Die Bullen.“<br />
Kimrod wusste, dass im V-Fall alles an ihm hängen blieb.
„ Jetzt drück schon drauf. Dein Schätzchen lässt dich<br />
auch heute nicht im Stich. Ich bin so richtig schön sauer“,<br />
sagte Kimrod gereizt.<br />
Er wusste nur zu gut, dass mit dem derzeitigen Stand der<br />
Technik alle Datentransfers mitgeschnitten werden konnten,<br />
natürlich auch vom Feind. Aber was blieb ihnen anderes<br />
übrig nach der Pleite mit diesem Bremser. Die Zeit war<br />
nicht auf ihrer Seite.<br />
„ Ich kenne diesen Leo nur flüchtig. Der ist zwar nur auf<br />
Kohle aus, doch sonst ein senkrechter Kerl. Die Chance,<br />
diesem Strelen endlich ein Bein stellen zu können, lasse<br />
ich mir nicht entgehen“, äußerte Remke verbissen.<br />
Kimrod drückte seine Zigarette aus.<br />
„ Gut, in einer viertel Stunde. Wir werden es schaffen. Du<br />
kannst gleich mit dem Beten anfangen. Ich will endlich<br />
wissen, was hier überhaupt gespielt wird. Abmarsch.“<br />
Die Straßen waren nicht besonders belebt. Kimrod befestigte<br />
den Kojak trotzdem auf dem Dach. Er wollte auf keinen<br />
Fall zu spät kommen. Fünfzehn Minuten nach neun<br />
parkten sie den Wagen ein paar hundert Meter unterhalb<br />
der Brücke. Es blieben noch genau hundertachtzig Sekunden.<br />
Nebel war aufgekommen.<br />
„ Sauwetter. Ich kann mich zwar dunkel an die Visage von<br />
diesem Fuzzi erinnern, aber ich will Sicherheitsabstand<br />
einhalten. Außerdem maskieren sich diese Diskotrottel<br />
fast täglich neu. Es könnte sein, dass wir dem Verkehrten<br />
in die Arme laufen.“
Remkes Bemerkung schien bei seinem Chef nicht auf<br />
fruchtbaren Boden zu fallen. Kimrod hielt schnurstracks<br />
auf die Brücke zu. Er hatte heute schon zu viel riskiert, um<br />
sich mit solchen Lappalien beschäftigen zu können. Kurz<br />
darauf löste sich eine Gestalt aus dem Schatten des<br />
mächtigen Stützpfeilers.<br />
„ Leo.“<br />
Remke erkannte den DJ sofort an den massiven Umrissen.<br />
„ Aber halte bitte die Schnauze. Ich führe die Verhandlungen“,<br />
sagte Kimrod gedämpft.<br />
Leo schüttelte Remke zur Begrüßung die Hand.<br />
„ Alte Truppe. Wie geht!s, wie steht!s? Wenn ihr ein paar<br />
Mäuse mitgebracht habt, kann die Post abgehen.“<br />
„ Ich habe gerade einen Maulkorb verpasst bekommen.<br />
Du musst mit diesem Herren vorlieb nehmen.“<br />
Remke deutete auf Kimrod, der nervös nach allen Seiten<br />
sicherte. Die Sichtweite betrug höchstens sechzig Meter.<br />
Kimrod winkte Leo näher heran.<br />
„ Vor allem eins. Sprecht bitte leise. Wir dürfen auf keinen<br />
Fall...“<br />
Plötzlich kippte Leo um. Die Kommissare ließen sich sofort<br />
auf den Boden fallen und robbten hinter den Körper<br />
des Diskjockeys. Kimrod strich mit seiner rechten Hand<br />
über die Stirn der Leiche. Das groschengroße Einschussloch<br />
befand sich genau unterhalb des Haaransatzes.<br />
„ Blattschuss. Über eines bin ich mir jetzt wenigstens im<br />
Klaren. Wir beide allein sind ein paar Nummern zu klein
für diesen Fall. Der Sniper wollte nur diesen Singvogel<br />
zum Schweigen bringen. Lass uns von hier verschwinden.“<br />
Kimrod stand auf und klopfte sich den Schmutz von der<br />
Kleidung. Remke löste sich nur widerwillig aus der Deckung.<br />
„ Du hast Nerven. Und wenn wir auch gleich den Abgang<br />
machen? Ich bin doch nicht lebensmüde.“<br />
„ Aber vereidigt. Im Übrigen sind wir zu unbedeutend für<br />
solche Kaliber. Auf alle Fälle will ich mir nichts nachsagen<br />
lassen. Wir machen bei Loschmitz weiter.“<br />
Die Polizisten gingen zum Wagen zurück und fuhren zu<br />
Loschmitzs Büro. Diesmal wurden sie erst gar nicht hereingelassen.<br />
Der Leiter der Wachdienstmannschaft teilte<br />
ihnen mit, dass der Politiker im Reichstagsgebäude zu tun<br />
habe. Kimrod ließ sich auf keine Diskussionen ein und<br />
vertraute ausnahmsweise dem Schwarzrock. Remke war<br />
während der Fahrt pausenlos mit seinem Tausendsassa<br />
beschäftigt. Er informierte die Zentrale über die Vorfälle<br />
unter der Brücke und wollte sich mit Zefhahn kurzschließen,<br />
da sich der Junior seiner Meinung nach vergaloppiert<br />
hatte. Denn sich zu nahe an Politfritzen heranzumachen,<br />
war gefährlich. Das Parlament war wie immer abgeriegelt.<br />
„ Gottverdammte Bannmeile. Diese kleinen Schweine<br />
vermehren sich wie die Karnickel. Bei dem Scheißwetter<br />
profitieren sie sogar von ihren verfluchten Jacken“,<br />
schimpfte Kimrod und parkte den Wagen vor einer Sack-
gasse. Remke folgte seinem Vorgesetzten vorsichtig. Vor<br />
der Höhle des Löwen saßen nicht nur die eigenen Bleispritzen<br />
locker. Doch nachdem Kimrod einem Grenzschützer<br />
seinen Ausweis unter die Nase gehalten hatte,<br />
wurden sie nicht mehr belästigt. Sogar die Camos stellten<br />
sich ihnen nicht in den Weg, als sie das Gebäude betraten.<br />
Ein Kollege von der Kripo nahm sie in Empfang und<br />
führte sie in die Kommunikationszentrale.<br />
„ Hier bitte. Macht, was ihr wollt. Mehr kann ich wirklich<br />
nicht für euch tun. Wir sind nicht in eurem Präsidium.“<br />
Der Beamter verschwand wieder nach draußen. Er kannte<br />
keinen der beiden persönlich, aber immerhin hatten sie<br />
wahrscheinlich dieselbe Ausbildung durchlaufen. Was die<br />
nur hier drin wollten? Die hohen Herren leisteten sich<br />
zwar ab und zu einen Ausrutscher, schließlich waren sie<br />
auch nur Menschen, doch mit diesen Flittchengeschichten<br />
hatten sie doch mit Sicherheit nichts zu tun. Kimrod wandte<br />
sich an eine Sekretärin.<br />
„ Machen Sie mir eine Verbindung zu diesem Loschmitz.<br />
Er soll sich im Haus aufhalten.“<br />
Die Regierungsangestellte überlegte kurz und nahm dann<br />
den nächsten Hörer in die Hand. Remke musterte inzwischen<br />
die Damen, die in dem Großraumbüro für den Informationsfluss<br />
sorgten. Viele schöne Gewächse darunter.<br />
Jung müsste man noch mal sein.<br />
Die Sekretärin hatte ihr Gespräch beendet.<br />
„ Herr Loschmitz ist heute für niemanden mehr zu sprechen.<br />
Ende der Durchsage.“
Kimrod hatte eigentlich nichts anderes erwartet. Er erinnerte<br />
sich an das Zusammentreffen mit diesem Schneider<br />
am Teufelsberg. Vielleicht konnte der ihm ein paar Türen<br />
öffnen.<br />
„ Gut, liebe Frau, dann funken Sie bitte Burkhard Schneider<br />
an, Staatssekretär im Kanzleramt. Der Mann kennt<br />
mich. Sagen Sie ihm, wenn er nicht kommt, lass ich seinen<br />
Chef verhaften.“<br />
Die Sekretärin holte tief Luft und telefonierte wieder. Kimrod<br />
hatte sich in Schneider nicht getäuscht. Der Staatssekretär<br />
traf wenige Minuten später in der Kommandozentrale<br />
ein und führte die Beamten in sein Refugium, ein<br />
schalldichtes und abhörsicheres Abteil im Souterrain.<br />
„ So, die Herren. Sie kenne ich bereits, Herr Kimrod. Deshalb<br />
müssen Sie mir Ihren Adlatus nicht näher vorstellen.<br />
Also, wo brennt der Hut?“<br />
Schneider ließ sich hinter seinem Schreibtisch nieder und<br />
klopfte ungeduldig auf den Tisch. Remke griente. Endlich<br />
schien der Chef seinen Meister gefunden zu haben. Mit<br />
diesem Terrier war bestimmt nicht gut Kirschen essen.<br />
Kimrod ließ sich in einen mit Leder bespannten Sessel fallen.<br />
„ Gut, Wiederholung vierhundertfünfundsechzig, die<br />
Prostituiertenmorde. Loschmitz soll mit drinhängen. Ihr<br />
steckt doch alle unter einer Decke. Können Sie mir weiterhelfen?<br />
Eines verspreche ich Ihnen nämlich. Ich werde<br />
nicht eher ruhen, bis dieser Saustall ausgemistet ist.“<br />
Schneider schüttelte den Kopf.
„ So geht das nicht, mein Lieber. Wir lassen uns nicht erpressen.<br />
Wenn Sie mit uns ins Geschäft kommen wollen,<br />
müssen Sie auch was investieren. Als Erstes verschwindet<br />
Ihr Genosse. Ich verhandle nur mit Ihnen allein. Ich<br />
lasse ihn nach draußen führen.“<br />
Ein Camo tauchte auf und begleitete Remke bis zur<br />
nächsten U-Bahnhaltestelle. Der Kriminaloberkommissar<br />
war einerseits froh, den Fängen dieser beiden Scharfmacher<br />
entronnen zu sein, andererseits machte er sich Sorgen<br />
um Max, dessen Prophezeiungen sich nun endgültig<br />
bewahrheitet zu haben schienen. Vielleicht wurde tatsächlich<br />
eine Staatsaffäre daraus.<br />
Im Reichstagskeller wurden die Verhandlungen fortgesetzt.<br />
Schneider bot Kimrod Zigaretten an.<br />
„ Danke, ich habe meine eigenen. Was haben Sie in petto?“<br />
„ Alles!“<br />
Schneider sprang auf.<br />
„ Ich mache Sie jetzt zum Geheimnisträger. Wenn ich fertig<br />
bin, werden Sie in einer völlig veränderten Welt leben.<br />
In einer Welt, in der alles möglich ist. Und jetzt passen Sie<br />
gut auf. Was sagt Ihnen LARVEN?“<br />
Kimrod blieb stumm. Er war doch kein Insektenforscher.<br />
Schneiders Atmung beschleunigte sich. Es war nichts anderes<br />
zu erwarten bei einem Kripostümper.<br />
„ Linearaufzuchtsreaktorversuchseinrichtung Nord. L-A-R-<br />
V-E-N. Hat es Kling gemacht? Ja, gut, das braucht seine<br />
Zeit. Wir züchten Menschen. Wir, das ist eine Organisati-
on, die aus Politikern, Militärs und Wissenschaftlern besteht.<br />
Wobei das Primat natürlich bei der Politik liegt. So<br />
ganz wie im richtigen Leben. Die Betonung liegt auf züchten.<br />
Der Embryo reift innerhalb von zwei Jahren zum<br />
Imago, sprich Erwachsenen, heran. Wir machen das, um<br />
uns vor Anschlägen und Mordkomplotten zu schützen. Ihnen<br />
brauche ich nicht zu erzählen, wie gefährlich Führungskräfte<br />
heutzutage leben. Wir sind gezwungen, uns<br />
abzusichern. Wir machen das mit diesen Schossern, die<br />
bei Bedarf als Doppelgänger eingesetzt werden. Diese<br />
Ersatzmänner lernen innerhalb von zwölf Monaten genauso<br />
viel wie unsereins in zwanzig Jahren. Bleiben aber<br />
trotzdem immer nur Ersatz, ich meine Doubles. Bei näherer<br />
Inaugenscheinnahme fällt die Maske natürlich sofort,<br />
wenn man das betreffende Original näher kennt.<br />
Die Wissenschaftler werden von Konzernen bezahlt, von<br />
denen auch der Großteil der finanziellen Mittel stammt.<br />
Das Ganze soll sich also auch rechnen. Nun gut, grau ist<br />
alle Theorie. Wir fahren ins Labor. Vorher muss ich Sie<br />
aber noch vereidigen. Sie werden Offizier beim Staatsschirm<br />
und unterstehen damit direkt dem Innenministerium.<br />
Anschließend meine ich...“<br />
Kimrod zögerte keine Sekunde. Wenn es der Wahrheitsfindung<br />
diente, warum nicht? Auch wenn Schneider ein<br />
wenig dick auftrug, blieb noch genug übrig, um sich an<br />
den Krümeln schadlos zu halten.<br />
Schneider trug die Eidesformel vor und Kimrod sprach<br />
ihm nach. Dass seine Mundwinkel dabei zuckten, konnte
er nicht ganz verhindern. Irgendwie lächerlich war die<br />
Prozedur schon, besonders an diesem Ort. Staatsschirm,<br />
diese neue Abteilung operierte doch fast ausschließlich<br />
unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Und jetzt sollte er selber<br />
Mitglied werden, gleich als Offizier? Armes Deutschland.<br />
Fing der ganze Zirkus schon wieder von vorne an?<br />
Straßenschlachten, Geheime Staatspolizei, und vor allem<br />
Schosser?<br />
Nachdem die Zeremonie abgeschlossen war, verließen<br />
die beiden Männer den Reichstag, mit zwei Camos als<br />
Eskorte. Ein gepanzerter Daimler mit uniformiertem Fahrer<br />
erwartete sie kurz vor dem Ende der Bannmeile.<br />
„ Es geht los, Harry, Richtung Biesenthal. Drück drauf“, instruierte<br />
Schneider den Chauffeur zackig.<br />
Kimrod stellte keine weiteren Fragen und genoss die<br />
Fahrt. Der massive Wagen schluckte alle Unebenheiten<br />
und ließ einen den schlechten Zustand der Straßen völlig<br />
vergessen. Auf den Nebenstrecken machte sich das Loch<br />
im Staatssäckel noch mehr bemerkbar als in der Metropole.<br />
Schlechte Bausubstanz, schlampig ausgeführte Arbeit,<br />
aber man gewöhnte sich daran. Es einmal nicht spüren zu<br />
müssen, war freilich Luxus.<br />
Der Ort Biesenthal war ebenfalls von dichten Nebelschwaden<br />
verhangen. Ein idyllischer Platz für Frankensteins<br />
Experimentierküche, wenn ihm Schneider nun doch<br />
keinen Bären aufgebunden hatte und diese Genmonster<br />
tatsächlich existierten. Sie passierten die Siedlung ohne<br />
anzuhalten und stoppten erst mitten im Wald vor einer
plötzlich aus dem Boden wachsenden Militärstreife. Die<br />
grimmig dreinblickenden Soldaten waren mit Sturmgewehren<br />
neuester Bauart bewaffnet und gaben den Weg<br />
erst frei, nachdem sich Schneider ausgewiesen hatte.<br />
Wenige Minuten später erreichten sie ihr Ziel.<br />
„ So, Kimrod, wir sind da. Wir haben uns für diesen Ort<br />
aus rein sicherheitstechnischen Überlegungen entschieden.<br />
Keine neugierigen Spaziergänger, keine getarnten<br />
Zeitungsfritzen. Die ganze Anlage ist mit hohen Stahlgittern<br />
umgeben, die bei Bedarf unter Strom gesetzt werden<br />
können. Das Militär ist nur pro forma Betreiber, die Karten<br />
mischen natürlich wir. Nun kommen Sie schon, wir lassen<br />
den Wagen draußen. Hier kommt sowieso niemand an<br />
uns ran“, sagte Schneider und verließ schwungvoll den<br />
Wagen.<br />
Er zückte eine weitere Karte und steckte sie in einen<br />
Schlitz neben dem Tor. Ein paar Sekunden später öffnete<br />
sich ein Flügel lautlos. Schneider ging voraus und winkte<br />
Kimrod heran. Außer ein paar billig wirkenden Baracken<br />
war noch nichts zu erkennen. Die ganze Umgebung verbreitete<br />
eine düstere Atmosphäre, so dass fast auch die<br />
letzten durchbrechenden Lichtstrahlen absorbiert wurden.<br />
Soldaten waren keine mehr zu sehen. Schneider führte<br />
Kimrod in eines der Gebäude.<br />
„ Jetzt erschrecken Sie nicht. Es ist alles nur halb so<br />
schlimm wie es aussieht. Moderne Gentechnologie, mehr<br />
nicht.“
Schneider betätigte einen verborgenen Knopf. Die unverputzte<br />
Wand teilte sich und ein Aufzug wurde sichtbar.<br />
Kimrod griff unbewusst zu seiner Zigarettenschachtel.<br />
Schneider wählte schon die gewünschte Etage an und<br />
rief:<br />
„ Nun machen Sie schon. Wir sind nicht mehr bei der Kripo.“<br />
Der Kommissar riss sich zusammen und betrat den Lift,<br />
der höchstens für vier Personen konstruiert war. Kimrod<br />
zählte mit, als sie nach unten fuhren. Bei neunundzwanzig<br />
stoppte die Kabine, mit zwanzig hatte er angefangen. Die<br />
unbekannte Größe war die Beschleunigung. Es war ziemlich<br />
rasant nach unten gegangen. Kimrod wollte Schneider<br />
nicht zu sehr mit neugierigen Fragen auf den Wecker fallen.<br />
Das beste Bild machte man sich bekanntlich immer<br />
selber.<br />
„ Wir befinden uns jetzt exakt fünfzig Meter unter der Erde.<br />
Zwar nicht atombombensicher, aber immerhin. Es<br />
steht auch einiges auf dem Spiel“, sagte Schneider und<br />
betrat einen röhrenförmigen Gang. Nach einer starken<br />
Biegung mündete der weißgetünchte Stollen in ein Labor.<br />
Der Aufzuchtraum maß etwa zwanzig mal dreißig Meter.<br />
Mehrere Wissenschaftler und Assistenten betätigten sich<br />
vor waschmaschineähnlichen Gebilden. Schneider führte<br />
Kimrod vor eine der Apparaturen.<br />
„ Im Inneren des Reaktors können Sie einen sechs Monate<br />
alten Embryo ausmachen. Er ist gut vierzig Zentimeter<br />
groß und schon sehr kräftig. Sie wiegen in dem Alter im
Durchschnitt achtzig Pfund. In den Reaktoren herrscht eine<br />
spezielle Atmosphäre, die den Kindern eine optimale<br />
Entwicklung garantieren.“<br />
„ Kindern? Ich dachte, es handelt sich um Klone, um<br />
künstliche Existenzen.“<br />
Kimrods Einwand löste bei Schneider ein kurzes Meckern<br />
aus. Der an einem Rechner stehende Bioingenieur rückte<br />
einen Schritt zur Seite.<br />
„ Kinder, was glauben Sie denn? Dass wir unseren VIPs<br />
die Bälger stehlen und hier hochpäppeln? Natürlich sind<br />
es Klone, die mit der Erbinformation eines Menschen gezeugt<br />
werden. Das nötige genetische Material befindet<br />
sich in jeder x-beliebigen Körperzelle. Wir bevorzugen<br />
Blut. Es lässt sich am besten aufbereiten.“<br />
„ Aufbereiten? Es muss also nachbehandelt werden...“<br />
Kimrod schob seinen Kopf ganz nahe an das Bullauge heran.<br />
Tatsächlich, in einer Ecke schlummerte friedlich ein<br />
gedunsen wirkender Knabe, dessen Kopf aber eher zu einem<br />
Fünfzehnjährigem passte. Schneider verfolgte amüsiert<br />
die Studien des Kommissars.<br />
„ Soll ich ihn wecken lassen? Das wird ein neuer Außenminister,<br />
falls wir mit unseren Wahlprognosen richtig liegen.<br />
Bald kann mit der Schulung begonnen werden. Wie<br />
das Ganze dann im Einzelnen abläuft, weiß ich selbstverständlich<br />
auch nicht. Aber unsere Gelehrten haben alles<br />
im Griff. Ich glaube, das genügt vorerst.“<br />
Kimrod nickte. Während der Rückfahrt gab der Staatssekretär<br />
Kimrod neue Anweisungen.
„ Sie sind draußen aus dem Fall, vollständig. Ihr Zefhahn<br />
ist bereits informiert. Wenn wir in Berlin sind, setzen Sie<br />
sich in Ihre Kiste und begeben sich direkt nach Hause.<br />
Was Sie heute erfahren haben, reicht wohl, denke ich.“<br />
Kimrod erhob keine Einwände. Hier war etwas Großes am<br />
Kochen, da hieß es am Ball bleiben. Das Reichstagsgebäude<br />
war noch immer dicht von Uniformierten umgeben.<br />
Es lag etwas in der Luft, zweifellos. Schneider ließ kurz<br />
neben Kimrods Wagen halten und entfernte sich anschließend<br />
in Richtung der Katakomben des Gebäudes.<br />
Kimrod machte sich aus dem Staub. Er war hungrig geworden<br />
und freute sich auf den freien Nachmittag. Seine<br />
Frau war nicht zu Hause, aber sie hatte den Kühlschrank<br />
gut bestückt. Kimrod kochte sich Nudeln mit Tomatensoße.<br />
Ein einfaches und nahrhaftes Gericht, dass einem<br />
frisch gebackenen Staatsschirmler auf alle Fälle zustand.<br />
Was wohl Remke gerade treiben mochte? Ohne seinen<br />
Chef war er doch völlig hilflos. Aber Schneider hatte sich<br />
klar ausgedrückt. Zur Verfügung halten und keinerlei Unternehmungen<br />
auf eigene Faust.<br />
Nachdem er den Abwasch erledigt hatte, legte er sich im<br />
Wohnzimmer aufs Sofa und schlummerte bald ein. Gegen<br />
achtzehn Uhr wurde Kimrod durch heftiges Klopfen geweckt.<br />
Er rieb sich den Schlaf aus den Augen und öffnete<br />
fluchend die Tür. Remke schob ihn zurück in die Wohnung<br />
und legte los.<br />
„ Mensch, du Penner! Wie kann man an einem solchen<br />
Tag nur die Matratze durchliegen. Im Reichstag ist wäh-
end einer Sondersitzung eine Bombe explodiert. Exakt<br />
fünfundzwanzig Tote und jede Menge Verletzte...Kolz befindet<br />
sich unter den Opfern. Der Kanzler war Gott sei<br />
Dank nicht anwesend. Ich fürchte, der Rest der Regierung<br />
wird den nationalen Notstand ausrufen.“<br />
„ Sollen Sie doch. Ich bin jetzt beim Staatsschirm und setze<br />
mich nur noch aufgrund eines Führerbefehls in Bewegung.<br />
Du kannst meinetwegen den Fernseher einschalten.<br />
Ich rühre mich auf jeden Fall nicht von der Stelle.“<br />
Remke knipste den Apparat an. Die wenigen Sender, die<br />
überhaupt noch in Betrieb waren, berichteten ausschließlich<br />
von dem verheerenden Attentat. Blutbesudelte Bänke<br />
im Plenarsaal und alles voller Camos und Polizei. Plötzlich<br />
wurde ins Olympiastadium umgeschaltet. Auf der<br />
Spielfläche waren Hunderte von Verhafteten versammelt,<br />
die von Camos und vermummten Soldaten die Ränge hinunter<br />
geprügelt wurden. Der Kommentator verlieh dem<br />
brutalen Treiben einen legalen Anstrich.<br />
„ Die Regierung sieht sich genötigt, einem derartig ruchlosen<br />
Verbrechen mit außerordentlichen Maßnahmen zu<br />
begegnen. Gegen die hier verwahrten Personen besteht<br />
wohlbegründeter Verdacht, mit den Attentätern in Verbindung<br />
zu stehen oder sie sogar unterstützt zu haben. Sie<br />
werden alle später einem Haftrichter vorgeführt und einem<br />
verfassungsgemäßen Gerichtsverfahren zugeführt. Man<br />
kann von Gefahr im Verzug sprechen. Die Grundpfeiler<br />
der Republik sind bedroht.“
Remke wechselte auf einen anderen Kanal. Jetzt konnte<br />
man die Ereignisse aus der Sicht eines Gefangenen verfolgen.<br />
Der gewiefte Journalist, der die Aufnahmen lieferte,<br />
benutzte offensichtlich eine versteckte Kamera. Vielleicht<br />
in einer Einkaufstüte, um die Öffentlichkeit von diesen<br />
himmelsschreienden Barbareien in Kenntnis zu setzen.<br />
Die schweren Knüppel droschen gnadenlos auf die<br />
Wehrlosen ein. Wie Vieh trieb man die Menschen auf das<br />
Spielfeld hinunter. Wer zurückschlug, wurde sofort mit einer<br />
Faustfeuerwaffe exekutiert. Remke brüllte vor Wut.<br />
Das durfte doch nicht wahr sein, in seinem Stadion. Plötzlich<br />
wurde er blass. Er hatte einen kurzen kurzen Blick auf<br />
Ingrid, Kimrods Tochter, erhascht, die mit einer neuen<br />
Gruppe den Spießrutenlauf durch die Mordknechte antrat.<br />
Kimrod wusste wieder, was er zu tun hatte. Schneider,<br />
dieses Schwein, hatte alles geplant. Die Bombe im<br />
Reichstag miteingeschlossen. Und natürlich Ingrid. Wenn<br />
es brenzlig wurde, täuschte sich Remke nie. Es gab nur<br />
einen Weg, sie da rauszuholen. Sie mussten sich selber<br />
internieren lassen.<br />
Die Beamten stürmten nach unten. Als sie die Straße betraten,<br />
wurden sie von einem Kommando der Fallschirmjäger<br />
in Empfang genommen. Remke schoss sofort. Er<br />
setzte zwei Soldaten außer Gefecht und konnte bis in die<br />
nächste Einfahrt flüchten. Kimrod hatte nicht so viel Glück.<br />
Er wurde von drei Mann auf den Boden gedrückt und<br />
musste sich geschlagen geben.
„ Wenn du Schwein hübsch ruhig bleibst, passiert dir<br />
nichts. Wir machen nur einen kleinen Ausflug“, sagte der<br />
Zugführer.<br />
Seine Befehle waren eindeutig. Kein Aufsehen, Kimrod<br />
lebendig ins Lager transportieren. Die Soldaten verfrachteten<br />
Kimrod auf die Pritsche eines MAN Lastwagens. Es<br />
wurden ihm Handschellen angelegt und vier Mann zu seiner<br />
Begleitung abgestellt. An Flucht war nicht zu denken.<br />
Der LKW war nach hinten offen. Kimrod kam die Gegend<br />
bald bekannt vor, die sie durchquerten. Genau dieselbe<br />
Strecke wie heute Morgen mit Schneider. Der Fahrer holte<br />
aus der Maschine das Letzte heraus, so dass sie bald<br />
Biesenthal erreicht hatten. Wer nicht Platz machte, wurde<br />
mit halsbrecherischen Manövern zur Seite gedrängt. Endlich<br />
durfte sich der Pöbel austoben. Auch hier draußen lagen<br />
Gewalt und Umsturz in der Luft. Die Fahrt endete abrupt<br />
vor einem hohen Erdwall. Kimrod wurde von der Ladefläche<br />
getrieben und mit vorgehaltener Pistole gezwungen,<br />
den steilen, glitschigen Hang zu erklimmen. Er<br />
schaffte es gerade noch und teilweise nur auf allen vieren,<br />
doch die Warnschüsse, die dicht neben ihm im Erdreich<br />
aufspritzten, wirkten aufmunternd genug.<br />
Die Kuppe des Damms war von mehreren Rollen Natodraht<br />
gekrönt. Drei Viertel des umfriedeten Gebiets, es<br />
handelte sich offensichtlich um eine ausgebeutete Kiesgrube,<br />
war mit Wasser bedeckt. Auf den restlichen Quadratmetern<br />
kauerten einige bedauernswerte Gestalten im<br />
nassen Kot. Auf dem Wall standen mit Nachtsichtgeräten
und Präzisionsgewehren ausgerüstete Wächter. Da hatten<br />
einige aber eifrig in der NS-Kladde gespickt. Zwei<br />
Schwarzuniformierte, es fehlten nur noch die silbernen<br />
Runen an den Kragenspiegeln, schoben die Stacheldrahtrollen<br />
auseinander. Kimrod zwängte sich durch die Lücke<br />
und stolperte nach unten. Es begann, kalt zu werden. Die<br />
anderen Häftlinge rieben sich die Hände aneinander oder<br />
stampften mit den Füßen. Wenn sie noch konnten. Etliche<br />
waren schwer misshandelt worden und stöhnten vor<br />
Schmerzen. Gebrochene Arme und Beine, ausgeschlagene<br />
Zähne und Platzwunden.<br />
Kimrod fand das alles vor bei seinem ersten Rundgang.<br />
Er ging vor dem Weiher in die Hocke und schüttelte verzweifelt<br />
den Kopf. Wenn nur Ingrid nichts passierte.<br />
„ Nur nicht aufgeben, Chef. Alles hat ein Ende, auch das<br />
hier. Ich kenne Sie. Sie sind ein Bulle. Mein Name ist<br />
Manfred Reuchler, Sicherheitsingenieur bei LARVEN.<br />
Schneider hat mir von Ihnen erzählt. Sie müssen ein verdammt<br />
guter Mann sein, Herr Kommissar.“<br />
Kimrod erhob sich und starrte dem Ingenieur lange in die<br />
Augen. Warum hatte er ihn überhaupt angesprochen?<br />
Warum saß er hier drin mit ein, ein Mann, der bei LAR-<br />
VEN mitarbeitete? Ein neuer Fallstrick Schneiders?<br />
Der Ingenieur machte einen gut gelaunten Eindruck. Ein<br />
paar Kratzer im Gesicht, das war alles. Die Konzentrationslagerluft<br />
wirkte anscheinend anregend auf ihn.
„ Sie waren oder sind bei LARVEN beschäftigt. Warum<br />
versucht man Sie dann auszuschalten, einen Mann mit Ihren<br />
Qualifikationen?“<br />
Der Ingenieur beantwortete Kimrods Frage nicht sofort. Er<br />
fischte eine Packung Filterloser aus seiner Jacke und bot<br />
Kimrod eine an. Der Kommissar nahm den Glimmstängel<br />
dankbar entgegen. Reuchler wurde ihm immer sympathischer.<br />
„ Warum ich hier bin? Ganz einfach, ich weiß zu viel. Die<br />
Revolution frisst ihre Kinder.“<br />
Reuchler grinste immer breiter. Sein letzter Satz erschien<br />
ihm besonders treffend.<br />
„ Anfangs lief alles so schön nach Plan. Die Schosser gediehen<br />
prächtig, die Regierung zahlte brav. Das Unternehmen<br />
begann sich zu rentieren. Die beteiligten Konzerne<br />
konnten also zufrieden sein. Nur Schneider und<br />
Loschmitz waren unersättlich. Sie gierten nach mehr<br />
Macht, der absoluten Macht im Staat. So ein kleiner<br />
Putsch ist doch leicht zu bewerkstelligen, wenn die ganze<br />
Elite des Landes austauschbar ist und durch willenlose<br />
Befehlsempfänger ersetzt werden kann. Das genau hat<br />
sich in den letzten achtundvierzig Stunden ereignet. Doch<br />
wer zuletzt lacht, lacht am besten.“<br />
Reuchler inhalierte tief. Er schien sich seiner Sache ziemlich<br />
sicher zu sein.<br />
„ Und die Mädchen, wer hat die auf dem Gewissen? Etwa<br />
ein Schosser?“ fragte Kimrod.
„ Sehr wahrscheinlich. Loschmitz ist eine alte Sau, die<br />
sich gerne im Milieu suhlt. Aber zwei Nutten einfach so<br />
abzumurksen, das ist nicht seine Kragenweite. Wir hatten<br />
immer ein bisschen Schwierigkeiten damit, den Schossern<br />
so etwas wie Ethik oder Moral einzutrichtern. Wenn es unter<br />
die Gürtellinie ging, war nie so recht Verlass auf sie.<br />
Sie können es vor allem nicht verkraften, nur künstliche<br />
Wesen zu sein, von unseren Gnaden. Ein falsches Wort<br />
zur unrechten Zeit...da passiert so etwas schnell.“<br />
„ Ich verstehe. Wenn Loschmitzs Doppelgänger doch einiges<br />
von ihm mit in die Wiege gelegt bekommen hat, erklärt<br />
das vieles. Nun haben wir einen Golem auf der<br />
Fahndungsliste. Das kauft Zefhahn mir nie ab. Aber eigentlich<br />
bin ich gar nicht mehr bei der Kripo. Schneider<br />
hat mich für den Staatsschirm vereidigt.“<br />
„ Ein toller Hecht, der Herr Staatssekretär. Aber jetzt bin<br />
ich am Zug. Die Wärter dort oben sind alle geschmiert.<br />
Kein Problem also rauszukommen. Ein paar hundert Meter<br />
weiter im Unterholz habe ich einen Koffer vergraben,<br />
mit dem wir per Satellit alle im Umlauf befindlichen<br />
Schosser außer Betrieb setzen können. Alles über Telefon.“<br />
„ Gut, dann los. Wir dürfen keine Zeit verlieren. Meine<br />
Tochter befindet sich in den Händen der Folterknechte im<br />
Olympiastadium. Wenn ihr etwas passiert, putsche ich<br />
mich an die Macht.“<br />
Reuchler winkte kurz einem der Soldaten auf den Wall.
„ So, jetzt kann es losgehen. Die Burschen sind nicht alle<br />
vom Erfolg der Aktion überzeugt. So ein Schuss kann<br />
auch verdammt schnell nach hinten losgehen. Ich habe<br />
pekuniär vorgesorgt. Wir haben die Schosser zum Beispiel<br />
auch als Organspender benutzt. Auf eigene Rechnung<br />
natürlich. Da war einiges rauszuholen. Die alten Vetteln<br />
zahlen praktisch jeden Preis für Austauschteile. Nun<br />
aber los. Der Lagerkapo oben hat genickt. Aber nicht zu<br />
auffällig.“<br />
Reuchler setzte sich vorsichtig in Bewegung. Er hielt auf<br />
den Soldaten zu, mit dem er sich verständigt hatte und<br />
begann, sich nach oben zu arbeiten. Kimrod folgte ihm<br />
lautlos. Er hatte seine Kipppe weggeschnippt und versuchte,<br />
sich möglichst schleppend zu bewegen. Wie ein<br />
angeschlagener KZ-Insasse eben. Der Sicherheitsingenieur<br />
erreichte wenig später den Scheitelpunkt des Begrenzungswalls.<br />
Der Wärter warf eine faltbare Vorrichtung<br />
über die Drahtrollen und wünschte Reuchler gedämpft alles<br />
Gute. Reuchler arbeitete sich hurtig über die Barrikade.<br />
Er gab dem Kommissar danach Hilfestellung, indem er<br />
sich auf die mit Kunststoff zusammengenieteten Aluplatten<br />
von seiner Seite her auf den Boden drückte. Kimrod fluchte<br />
leise und zerriss seine Hose. Sein rechtes Bein hatte<br />
sich verheddert. Da half nur noch Gewalt. Wie man in einer<br />
derartigen Ausnahmesituation noch so knickrig sein<br />
konnte. Reuchler fasste den Kommissar an der Hand und<br />
zog ihn zu sich hinunter. Die Stacheldrahtrollen schnellten<br />
lautstark in ihre ursprüngliche Form zurück. Dem Kom-
missar blieb keine Zeit zum Atem holen. Reuchler hatte<br />
einen elektronischen Apparat aus der Innentasche seiner<br />
Jacke hervorgeholt.<br />
„ GPS. In ein paar Minuten ist der Spuk zu Ende. Los, hier<br />
lang.“<br />
Der Ingenieur verschwand im Schatten der jungen Fichten.<br />
Kimrod duckte sich und trabte ebenfalls los. Niemand<br />
schien ihnen zu folgen. Hatten sie es tatsächlich schon<br />
geschafft? Etwa zehn Minuten später piepte Reuchlers<br />
Orientierungskästchen immer lauter. Der Ingenieur wurde<br />
langsamer.<br />
„ Wir sind da. Dort drüben die alte Eiche.“<br />
Er deutete auf einen vor dem Umkippen stehenden Baum<br />
und machte sich sofort zwischen den freiliegenden Wurzeln<br />
zu schaffen.<br />
„ Ha, ha, Herr Kommissar, wir haben gewonnen. Das Ding<br />
ging nicht verschütt.“<br />
Reuchler schwenkte triumphierend einen dreckbeschmierten<br />
Lederkoffer in der Luft, den er eben mit bloßen Händen<br />
ausgegraben hatte. Der Ingenieur stellte die richtige<br />
Zahlenkombination ein und ließ den Koffer aufschnappen.<br />
Er richtete den im Deckel befindlichen Schirm ein und begann,<br />
eine scheinbar endlose Nummernfolge einzutippen.<br />
„ So, das war!s. Jetzt sind alle im Betrieb befindlichen<br />
Schosser stillgelegt. Schneider und Loschmitz dachten<br />
wohl, mit meiner Internierung wäre diese Achillesferse<br />
ausgeschaltet. Sie werden sehen, wie schnell das Umsturzkartenhaus<br />
zusammenbricht. Der echte Kanzler
übernimmt wieder die Regierungsgeschäfte und wird die<br />
Übeltäter ihrer gerechten Strafe zuführen.“<br />
„ Oder auch nicht. Diese Bonzen halten doch zusammen<br />
wie Pech und Schwefel. Vielleicht sind Loschmitz und<br />
Schneider nur kleine Handlanger. Aber egal. Was mich interessiert<br />
ist nur eins: Lebt meine Tochter noch? Wählen<br />
Sie bitte diese Nummer.“<br />
Kimrod drückte Reuchler einen Zettel in die Hand. Der Ingenieur<br />
fing an, die Tastatur zu bearbeiten und reichte<br />
Kimrod den Hörer. Nach ein paar Dutzend bangen Sekunden<br />
meldete sich Emma.<br />
„ Ingrid lebt. Otto hat sie rausgehauen. Nun sitzen die<br />
Camos im Stadion ein. Es wird alles wieder gut.“<br />
ende<br />
Copyright by Thomas Saalfeld<br />
All rights reserved