1 Wohnen und Leben in der Gemeinde - Kohlhammer
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1 <strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Georg Theunissen<br />
Wie bereits <strong>in</strong> unserem e<strong>in</strong>leitenden Kapitel skizziert, stand das späte 19. Jahrh<strong>und</strong>ert<br />
im Zeichen vieler Heim- o<strong>der</strong> Anstaltsgründungen. Typisch für das Anstaltswesen<br />
war e<strong>in</strong> „Zwei-Klassen-System“, <strong>in</strong>dem zwischen Anstalten o<strong>der</strong> Abteilungen<br />
für bildbare Personen <strong>und</strong> <strong>in</strong> Pflegeheime o<strong>der</strong> Pflegeabteilungen für bildungs- <strong>und</strong><br />
erziehungsunfähige Menschen unterschieden wurde (vgl. dazu Theunissen 2005).<br />
In <strong>der</strong> Nachkriegszeit wurde dieses System zunächst <strong>in</strong> beiden Teilen Deutschlands<br />
wie aber auch weltweit fortgesetzt. Allerd<strong>in</strong>gs waren alsbald <strong>in</strong> e<strong>in</strong>igen hoch<br />
entwickelten Industrienationen (z.B. USA, skand<strong>in</strong>avische Län<strong>der</strong>) vor allem<br />
staatliche Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenanstalten <strong>in</strong>s Kreuzfeuer scharfer Kritik geraten. Das<br />
geme<strong>in</strong>same Ziel <strong>der</strong> Protestbewegungen war es, durch Normalisierung <strong>und</strong> De<strong>in</strong>stitutionalisierung<br />
Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen e<strong>in</strong> <strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Gesellschaft zu ermöglichen.<br />
In Westdeutschland war jedoch die Kritik an <strong>der</strong> Institutionalisierung verhaltener.<br />
Hier spielten kirchliche Anstalten im Versorgungssystem die dom<strong>in</strong>ierende<br />
Rolle, die sich durch e<strong>in</strong>e christlich geprägte Philosophie von den staatlichen<br />
Institutionen (v. a. psychiatrische Landeskrankenhäuser) abzuheben versuchten.<br />
Da das Normalisierungspr<strong>in</strong>zip die Auflösung von Anstalten <strong>und</strong> Heimen zum<br />
Ziel hatte, standen die meisten kirchlichen E<strong>in</strong>richtungen <strong>und</strong> ihre Träger den<br />
Reformen zunächst skeptisch bis ablehnend gegenüber. Befürchtet wurde e<strong>in</strong> Verlust<br />
an Macht <strong>und</strong> gesellschaftspolitischem E<strong>in</strong>fluss. Sie waren aber auch <strong>der</strong> festen<br />
Überzeugung, dass Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenheime o<strong>der</strong> Anstalten das Richtige seien, galten<br />
doch Menschen mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung als lebenslang auf Hilfe (Versorgung,<br />
Betreuung, Behandlung) angewiesene Defizitwesen. Dass die <strong>in</strong>stitutionelle Versorgung<br />
kaum <strong>in</strong> Frage gestellt wurde, zeigt ebenso die Geschichte <strong>der</strong> Elternvere<strong>in</strong>igung<br />
„<strong>Leben</strong>shilfe“. Im Unterschied zu Elternbewegungen im westlichen Ausland<br />
(skand<strong>in</strong>avische Län<strong>der</strong>, USA) wurden von <strong>Leben</strong>shilfe-Organisationen<br />
zumeist nur Wohnheime für relativ selbstständige Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
als Alternative zu Anstalten favorisiert. Folglich wurde <strong>in</strong> Deutschland das Normalisierungspr<strong>in</strong>zip<br />
nicht konsequent genug umgesetzt:<br />
1. Es wurde ke<strong>in</strong>e De<strong>in</strong>stitutionalisierung durch Auflösung von Anstalten o<strong>der</strong><br />
Heimen <strong>in</strong> den Blick genommen; stattdessen wurde e<strong>in</strong>e Humanisierung von<br />
<strong>Leben</strong>sbed<strong>in</strong>gungen <strong>in</strong>nerhalb von E<strong>in</strong>richtungen bevorzugt (z.B. durch Reno-<br />
Stuttgart<br />
vierung, Umbauten, Verkle<strong>in</strong>erung von Gruppen; normale Möblierung).<br />
2. Es wurden geme<strong>in</strong>denahe (Wohn-)Angebote für e<strong>in</strong> <strong>Leben</strong> „so normal wie<br />
möglich“ fast ausschließlich nur <strong>in</strong> Form neuer Wohnheime geschaffen. Wohnheime<br />
mit mehreren Gruppen <strong>und</strong> Zentralversorgung entsprechen aber nicht<br />
dem, was geme<strong>in</strong>h<strong>in</strong> unter e<strong>in</strong>em normalen, nämlich häuslichen <strong>Wohnen</strong> ver-<br />
<strong>Kohlhammer</strong>,<br />
standen wird.<br />
W. 2009<br />
37 ©
<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
3. Im Zuge <strong>der</strong> Normalisierung wurde die Orientierung am traditionellen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenbild<br />
(Defizitorientierung) kaum h<strong>in</strong>terfragt.<br />
4. Betroffene wurden an <strong>der</strong> Normalisierung ihrer <strong>Leben</strong>sbed<strong>in</strong>gungen nur selten<br />
beteiligt – waren es doch <strong>in</strong> <strong>der</strong> Regel ihre Betreuer o<strong>der</strong> die Leiter <strong>der</strong> E<strong>in</strong>richtungen,<br />
die am besten wussten, was für sie gut <strong>und</strong> richtig war.<br />
5. Normalisierung wurde als „Normierung <strong>der</strong> <strong>Leben</strong>swelt“ (e<strong>in</strong>heitliche Ausstattung<br />
aller Wohngruppen e<strong>in</strong>es Heimes) sowie als e<strong>in</strong> „Normal-Machen“ beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter<br />
Menschen sehr oft missverstanden.<br />
Diese Problematik wurde <strong>in</strong> den vergangenen 35 Jahren von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
selbst aufgegriffen. Zunächst waren es <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e körper- <strong>und</strong> s<strong>in</strong>nesbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />
Menschen, die sich <strong>in</strong> selbstorganisierten Gruppenzusammenschlüssen<br />
gegen die Institutionalisierung sowie den Missbrauch des Normalisierungspr<strong>in</strong>zips<br />
wandten. Scharf kritisiert wurde die Priorisierung von Eigen<strong>in</strong>teressen <strong>der</strong> Kostenträger,<br />
Wohlfahrtsverbände <strong>und</strong> Organisationen <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe sowie <strong>der</strong>en<br />
Orientierung an e<strong>in</strong>em Verständnis von Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung, das die Abhängigkeit von<br />
Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen unterstrich <strong>und</strong> <strong>der</strong> Verd<strong>in</strong>glichung Betroffener als<br />
Objekte von Versorgung <strong>und</strong> Fürsorge den Weg geebnet hatte. Dieses kl<strong>in</strong>isch<br />
geprägte Modell sollte nunmehr durch e<strong>in</strong> Autonomie-Modell abgelöst werden.<br />
Dessen Aktualität ist bis heute ungebrochen (vgl. Theunissen 2009). Das zeigen<br />
zum Beispiel die Initiativen von Menschen mit Lernschwierigkeiten, die sich weltweit<br />
unter dem Organisationsnamen People First <strong>in</strong> Gruppen zusammengeschlossen<br />
<strong>und</strong> vernetzt sowie im engen Schulterschluss mit an<strong>der</strong>en Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten- <strong>und</strong><br />
Bürgerrechtsbewegungen dem Selbstbestimmungsgedanken verschrieben haben.<br />
Im Kern geht es bei dem Autonomie-Modell um e<strong>in</strong>en Wechsel <strong>der</strong> Zuständigkeit<br />
<strong>und</strong> Umverteilung von Macht, <strong>in</strong>dem beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Menschen als „Experten <strong>in</strong><br />
eigener Sache“ selbst darüber entscheiden möchten, was für sie gut <strong>und</strong> hilfreich<br />
ist <strong>und</strong> was nicht. Die Vorstellungen <strong>in</strong> Bezug auf e<strong>in</strong> <strong>Wohnen</strong> im Erwachsenenalter<br />
<strong>und</strong> Alter s<strong>in</strong>d dabei e<strong>in</strong>deutig: Ke<strong>in</strong>e Unterbr<strong>in</strong>gung <strong>in</strong> Wohnheimen, Pflegeo<strong>der</strong><br />
großen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tene<strong>in</strong>richtungen, son<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> selbstbestimmtes <strong>Leben</strong> <strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>en, geme<strong>in</strong>de<strong>in</strong>tegrierten Wohnungen, die mit e<strong>in</strong>er Öffnung nach außen<br />
als Orte <strong>der</strong> Privatsphäre <strong>und</strong> des gesellschaftlichen Zusammenlebens betrachtet<br />
werden.<br />
In Orientierung an diesen Vorstellungen s<strong>in</strong>d im Verlauf <strong>der</strong> letzten Jahre e<strong>in</strong>ige<br />
<strong>der</strong> führenden westlichen Industrienationen (USA, Großbritannien, skand<strong>in</strong>avische<br />
Län<strong>der</strong>, Australien, Kanada, Österreich) dazu übergegangen, das Normalisierungspr<strong>in</strong>zip<br />
durch e<strong>in</strong> de<strong>in</strong>stitutionalisiertes, häusliches Wohnangebot für Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen zu bestimmen <strong>und</strong> umzusetzen. Hierbei haben wir es<br />
mit systematischen Bemühungen um e<strong>in</strong>e Überw<strong>in</strong>dung von Heim- o<strong>der</strong> Anstaltssystemen<br />
zugunsten geme<strong>in</strong>de<strong>in</strong>tegrierter, kle<strong>in</strong>er Wohnformen zu tun. In <strong>der</strong><br />
angloamerikanischen <strong>und</strong> skand<strong>in</strong>avischen Fachdiskussion wird diesbezüglich<br />
<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Institution an zentralen Versorgungs- <strong>und</strong> fremdbestimmten<br />
Betreuungsstrukturen festgemacht. Demnach gilt e<strong>in</strong>e geme<strong>in</strong>de<strong>in</strong>tegrierte Wohnform<br />
dann nicht als Institution, wenn dem Pr<strong>in</strong>zip des häuslichen <strong>Wohnen</strong>s mit<br />
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e<strong>in</strong>er Selbstversorgung <strong>und</strong> <strong>der</strong> Ermöglichung e<strong>in</strong>es hohen Grades an Autonomie<br />
entsprochen wird. Internationalen Studien zufolge tragen Wohnformen mit maximal<br />
sechs Plätzen diesem Pr<strong>in</strong>zip am ehesten Rechnung.<br />
Schon <strong>in</strong> den 1980er Jahren wurde im Rahmen <strong>der</strong> schwedischen Gesetzgebung<br />
darauf reagiert, <strong>in</strong>dem Wohne<strong>in</strong>richtungen für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
nicht mehr als fünf Plätze aufweisen dürfen. Gleichfalls werden <strong>in</strong> den USA seit<br />
e<strong>in</strong>igen Jahren drei geme<strong>in</strong>de<strong>in</strong>tegrierte Wohnformen <strong>in</strong> Abgrenzung zu Institutionen<br />
als zeitgemäß betrachtet:<br />
1. „supported liv<strong>in</strong>g“ (Wohnungen mit 1 –2 Plätzen)<br />
2. „small group homes“ (Wohngruppen mit 3 Plätzen)<br />
3. „larger group homes“ (Wohngruppen mit 4 –6 Plätzen)<br />
<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Diese drei Formen, die allesamt von Menschen mit Lernschwierigkeiten geschätzt<br />
werden, signalisieren e<strong>in</strong> flexibles, bedarfsgerechtes, auf <strong>in</strong>dividuelle Interessen<br />
<strong>und</strong> Bedürfnisse zugeschnittenes Wohnangebot, das e<strong>in</strong>e Unterscheidung <strong>in</strong> „stationär“<br />
o<strong>der</strong> „ambulant“, wie sie hierzulande geläufig ist, obsolet werden lässt. Im<br />
Gegenteil, diese Unterscheidung ist e<strong>in</strong> H<strong>in</strong><strong>der</strong>nis für die Implementierung zeitgemäßer<br />
Wohnformen <strong>und</strong> sollte daher tunlichst abgeschafft werden.<br />
Der Prozess des de<strong>in</strong>stitutionalisierten <strong>Wohnen</strong>s ist <strong>in</strong> den nordeuropäischen<br />
Län<strong>der</strong>n <strong>und</strong> <strong>in</strong> den USA am weitesten fortgeschritten (vgl. Theunissen 2009,<br />
374ff.). Hierzulande haben wir es h<strong>in</strong>gegen mit e<strong>in</strong>er schleppenden Entwicklung<br />
zu tun, was nicht nur Eigen<strong>in</strong>teressen von E<strong>in</strong>richtungsträgern <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe<br />
(z. B. Befürchtungen an Macht- <strong>und</strong> E<strong>in</strong>flussverlust, wirtschaftliche Erwägungen<br />
wie Auslastung, Mitarbeiter<strong>in</strong>teressen, vermutete Arbeitsplatzgefährdungen,<br />
B<strong>in</strong>dung an Immobilien), son<strong>der</strong>n ebenso spezifischen Barrieren von Seiten zuständiger<br />
Kostenträger <strong>und</strong> Behörden geschuldet ist. Zudem sche<strong>in</strong>t die Vorstellung<br />
noch weit verbreitet zu se<strong>in</strong>, dass das sogenannte Betreute <strong>Wohnen</strong> o<strong>der</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong><br />
kle<strong>in</strong>en Wohngruppen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de nur für beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Menschen mit e<strong>in</strong>em<br />
relativ hohen Grad an Selbstständigkeit geeignet sei. Menschen mit schweren (kognitiven)<br />
Bee<strong>in</strong>trächtigungen gehören demnach <strong>in</strong>s Heim, <strong>und</strong> bei e<strong>in</strong>em hohen<br />
pflegerischen Assistenzbedarf werden nicht selten (vor allem von Kostenträgern)<br />
Unterbr<strong>in</strong>gungsformen unter <strong>der</strong> Regie <strong>der</strong> Pflegeversicherung (Pflegeheime, Pflegegruppen<br />
bzw. e<strong>in</strong>gestreute Pflegeplätze <strong>in</strong> Große<strong>in</strong>richtungen) favorisiert.<br />
Dass diese Praxis, bei <strong>der</strong> nahtlos an das e<strong>in</strong>gangs skizzierte Zwei-Klassen-System<br />
angeknüpft wird, <strong>der</strong> Inklusion <strong>und</strong> somit e<strong>in</strong>em zentralen Leitgedanken <strong>der</strong><br />
UN-Konvention wi<strong>der</strong>spricht, ist unschwer zu erkennen. Denn die von <strong>der</strong> Generalversammlung<br />
<strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen am 13. Dezember 2006 <strong>in</strong> New York<br />
verabschiedete Konvention über die Rechte von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
verpflichtet alle Mitgliedsstaaten, zu denen Deutschland zählt, beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Menschen<br />
als gleichwertige Bürger anzuerkennen <strong>und</strong> den Weg dafür zu ebnen, dass sie<br />
mit den gleichen Rechten wie nicht beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te Personen mitten <strong>in</strong> <strong>der</strong> Gesellschaft<br />
leben können. Hierzu gilt es, alle Barrieren, die Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen an<br />
<strong>der</strong> „vollen <strong>und</strong> gleichberechtigten Teilhabe an <strong>der</strong> Gesellschaft“ h<strong>in</strong><strong>der</strong>n, zu beseitigen.<br />
Gemäß Artikel 9 zielt die Konvention darauf ab, dass alle Vertragsstaaten<br />
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<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
e<strong>in</strong>e „Zugänglichkeit“ schaffen, um Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen den barrierefreien<br />
Zugang zu Gebäuden, Straßen, Transportmitteln sowie Informations- <strong>und</strong><br />
Kommunikationsdiensten zu ermöglichen. Darüber h<strong>in</strong>aus geht es <strong>der</strong> Konvention<br />
um Empowerment <strong>und</strong> Selbstbestimmung (vgl. Bielefeldt 2006), <strong>in</strong>dem je<strong>der</strong><br />
Mensch mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung selbst darüber entscheiden soll, mit wem <strong>und</strong> wo er<br />
leben möchte. Dieses Recht auf e<strong>in</strong> selbstbestimmtes <strong>Wohnen</strong> gilt une<strong>in</strong>geschränkt<br />
für alle Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen. Folglich kennt die Konvention ke<strong>in</strong> Zwei-<br />
Klassen-System <strong>in</strong> <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe, welches zwischen „<strong>in</strong>tegrations- o<strong>der</strong><br />
<strong>in</strong>klusionsfähigen“ <strong>und</strong> „<strong>in</strong>tegrations- o<strong>der</strong> <strong>in</strong>klusionsunfähigen“ beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Menschen unterscheidet. Ausdrücklich wird <strong>in</strong> Artikel 19 herausgestellt, dass<br />
ke<strong>in</strong> Mensch mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung gegen se<strong>in</strong>en Willen <strong>in</strong> Institutionen untergebracht<br />
werden darf. Vielmehr wird jedem das Recht zuerkannt, <strong>in</strong> „se<strong>in</strong>er“ Geme<strong>in</strong>de<br />
leben zu dürfen.<br />
Vor dem H<strong>in</strong>tergr<strong>und</strong> dieser Leitsätze steht Deutschland mit se<strong>in</strong>en B<strong>und</strong>eslän<strong>der</strong>n<br />
vor <strong>der</strong> Aufgabe, geeignete gesetzliche <strong>und</strong> verwaltungsbezogene Maßnahmen<br />
zur Umsetzung <strong>der</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> UN-Konvention ausgewiesenen Rechte zu treffen<br />
<strong>und</strong> alle Gesetze o<strong>der</strong> Erlasse aufzuheben, die e<strong>in</strong>e Diskrim<strong>in</strong>ierung von Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen wie auch e<strong>in</strong> selbstbestimmtes <strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> beh<strong>in</strong><strong>der</strong>n.<br />
Das erfor<strong>der</strong>t den „ermöglichenden Staat“, <strong>der</strong> entsprechende Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
zu schaffen hat (z. B. regionale Versorgungsverpflichtung <strong>der</strong> Kommunen für<br />
Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen; Abschaffung <strong>der</strong> Begriffe bzw. Unterscheidung<br />
„stationär“ <strong>und</strong> „ambulant“ zugunsten e<strong>in</strong>es flexiblen, häuslichen Wohnangebots<br />
im Verantwortungsbereich e<strong>in</strong>er Kommune bzw. e<strong>in</strong>es Kostenträgers; Priorisierung<br />
zeitgemäßer, häuslicher Wohnformen wie unterstütztes <strong>Wohnen</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Wohnverb<strong>und</strong><br />
o<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er Mehrgenerationenwohnanlage jenseits von Heimen), so<br />
dass sich e<strong>in</strong>e <strong>in</strong>klusive Geme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> Kultur entfalten kann (Theunissen 2009,<br />
417). E<strong>in</strong>e solche Entwicklung kann aber nur gedeihen, wenn nicht alle<strong>in</strong> <strong>der</strong><br />
Staat, son<strong>der</strong>n ebenso an<strong>der</strong>e Instanzen wie Wirtschaft, Organisationen o<strong>der</strong><br />
Träger <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe sowie <strong>der</strong> dritte Sektor (selbstorganisierte Bürger<strong>in</strong>itiativen,<br />
Selbsthilfegruppen, freiwillig engagierte Bürger) die Leitgedanken <strong>der</strong><br />
UN-Konvention als e<strong>in</strong>en sozialen Auftrag betrachten <strong>und</strong> mittragen. Dafür steht<br />
<strong>der</strong> Begriff <strong>der</strong> Bürgergesellschaft, <strong>der</strong>en För<strong>der</strong>ung <strong>und</strong> Entfaltung e<strong>in</strong>e <strong>der</strong><br />
bedeutsamsten Herausfor<strong>der</strong>ungen für die Zukunft e<strong>in</strong>er humanen Gesellschaft<br />
im S<strong>in</strong>ne von Inklusion <strong>und</strong> Teilhabe darstellt.<br />
Genau an dieser Stelle haben die folgenden Best-Practice-Beispiele ihren Platz,<br />
die das zu verwirklichen versuchen, was sich viele Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
wünschen, <strong>und</strong> von <strong>der</strong> UN-Konvention ihren Mitgliedsstaaten fachwissenschaftlich<br />
empfohlen <strong>und</strong> auferlegt wurde.<br />
So beweist zum Beispiel <strong>der</strong> Landschaftsverband Rhe<strong>in</strong>land als mächtiger Kommunalverband<br />
<strong>und</strong> überörtlicher Kostenträger, dass selbst <strong>in</strong> wirtschaftlich schwierigen<br />
Zeiten heilpädagogische Heime (z.B. <strong>in</strong> Langenfeld, Düren) aufgelöst <strong>und</strong><br />
durch vernetzte Hilfen, Regionalisierung, Dezentralisierung, komplementäre<br />
Dienste <strong>und</strong> <strong>in</strong>dividuelle Hilfeplanungen „ermöglichende“ Rahmenbed<strong>in</strong>gungen<br />
geschaffen werden können, durch die e<strong>in</strong> selbstbestimmtes <strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e<br />
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<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Teilhabe beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Menschen am Geme<strong>in</strong>wesen auf den Weg gebracht werden<br />
können. Hierzu beschreiben Christian Bradl <strong>und</strong> Angelika Küppers-Stumpe die<br />
wichtigsten Bauste<strong>in</strong>e dieser politisch bedeutsamen Reform, die unzweifelhaft als<br />
richtungsweisend <strong>in</strong> S<strong>in</strong>ne <strong>der</strong> UN-Konvention gelten kann. Denn Menschen mit<br />
schweren geistigen Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen s<strong>in</strong>d <strong>in</strong> diesem Reformprozess zur Implementierung<br />
von Inklusion <strong>und</strong> Teilhabe genauso e<strong>in</strong>bezogen wie leicht beh<strong>in</strong><strong>der</strong>te<br />
Menschen o<strong>der</strong> ältere Personen mit Pflegebedarf.<br />
In ähnlichen Bahnen bewegen sich auch die von Dieter Kalesse, Jochen Amsik,<br />
Christoph Danes <strong>und</strong> Jutta Schw<strong>in</strong>kendorf skizzierten Initiativen <strong>der</strong> Evangelischen<br />
Stiftung Hephata, <strong>der</strong> es als großer Träger <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenhilfe gelungen<br />
ist, <strong>in</strong>nerhalb von etwa 15 Jahren e<strong>in</strong>e traditionsreiche Anstalt zu dezentralisieren<br />
<strong>und</strong> zu de<strong>in</strong>stitutionalisieren. Wie heute ehemals hospitalisierte Menschen mit<br />
Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em normalen Wohnumfeld wohnen <strong>und</strong> leben, wie Eltern<br />
mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>und</strong> ihre K<strong>in</strong><strong>der</strong> als gleichberechtigte Bürger <strong>in</strong> ihrer<br />
<strong>Leben</strong>ssituation <strong>und</strong> gesellschaftlichen Teilhabe unterstützt werden können <strong>und</strong><br />
wie ste<strong>in</strong>ig <strong>der</strong> Weg zu e<strong>in</strong>em häuslichen <strong>Wohnen</strong> für junge Erwachsene mit<br />
geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung se<strong>in</strong> kann, wird uns nicht nur aus <strong>der</strong> Profi-Perspektive,<br />
son<strong>der</strong>n auch aus <strong>der</strong> Sicht von Eltern plastisch vor Augen geführt.<br />
Ebenso bedeutsam wie das Projekt „Hephata“ ist die „Aktion Menschenstadt“,<br />
die vor etwa 30 Jahren vom Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>tenreferat <strong>der</strong> evangelischen Kirche Essen <strong>in</strong>s<br />
<strong>Leben</strong> gerufen wurde. Dieses von Georg Herrmann dargestellte Best-Practice-<br />
Beispiel thematisiert nicht wie zuvor die systematische Überw<strong>in</strong>dung von Heimo<strong>der</strong><br />
Anstaltssystemen, son<strong>der</strong>n die Beseitigung von Denk- <strong>und</strong> Handlungsbarrieren<br />
<strong>in</strong>nerhalb des Geme<strong>in</strong>wesens <strong>und</strong> <strong>in</strong>sbeson<strong>der</strong>e die Sensibilisierung <strong>und</strong> das<br />
Potenzial <strong>der</strong> nichtbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten Bevölkerung, sich als Mitbürger <strong>und</strong> Partner von<br />
Menschen <strong>in</strong> gesellschaftlich marg<strong>in</strong>aler Position zu engagieren, um e<strong>in</strong>e gleichberechtigte<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen <strong>Leben</strong> zu ermöglichen. Das Spektrum<br />
<strong>der</strong> Handlungsfel<strong>der</strong> <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Geme<strong>in</strong>wesen, <strong>in</strong> denen bewusst auf <strong>in</strong>formelle<br />
Unterstützungssysteme <strong>und</strong> bürgerschaftliches Engagement gesetzt wird, ist breit<br />
<strong>und</strong> führt uns vor Augen, wie die Idee <strong>der</strong> Bürgergesellschaft unter beson<strong>der</strong>er<br />
Berücksichtigung <strong>der</strong> Rechte <strong>und</strong> Interessen von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen<br />
auf den Weg gebracht <strong>und</strong> verwirklicht werden kann.<br />
Darum ist es letztlich auch <strong>Leben</strong>shilfe-Organisationen <strong>in</strong> Baden-Württemberg<br />
zu tun, die vom Landesverband bis h<strong>in</strong> zu e<strong>in</strong>zelnen Ortsvere<strong>in</strong>igungen bestrebt<br />
s<strong>in</strong>d, als Wegbereiter für Empowerment <strong>und</strong> „Brückenbauer“ zu fungieren, um<br />
gesellschaftliche Teilhabe beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Menschen zu ermöglichen <strong>und</strong> zu unterstützen.<br />
Hierzu imponieren Sandra Fietkau, Stephan Kurzenberger <strong>und</strong> Rudi Sack mit<br />
e<strong>in</strong>er breiten Palette an Best-Practice-Beipielen, die von <strong>der</strong> Beteiligung beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter<br />
Menschen <strong>in</strong> Gremien <strong>der</strong> <strong>Leben</strong>shilfe, über politische Aktivitäten auf kommunaler<br />
Ebene, Dienstleistungen im Geme<strong>in</strong>wesen bis h<strong>in</strong> zu <strong>in</strong>klusiven Begegnungs-<br />
<strong>und</strong> Kulturprojekten reichen. Diese Auswahl zeigt, dass Inklusion,<br />
Partizipation <strong>und</strong> Empowerment mit <strong>Leben</strong> gefüllt <strong>und</strong> Realität werden können.<br />
41 © 2009 W. <strong>Kohlhammer</strong>, Stuttgart
<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Literatur<br />
Bielefeldt, H. (2006): Die UN-Konvention über die Rechte von Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen.<br />
Essay No. 5. Berl<strong>in</strong><br />
Goffman, E. (1972): Asyle. Frankfurt<br />
Theunissen, G. (2005): Wege aus <strong>der</strong> Hospitalisierung. Empowerment <strong>in</strong> <strong>der</strong> Arbeit mit schwerstbeh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten<br />
Menschen. Bonn<br />
Theunissen, G. (Hrsg.) (2009): Empowerment <strong>und</strong> Inklusion beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ter Menschen. E<strong>in</strong>e E<strong>in</strong>führung<br />
<strong>in</strong> die Heilpädagogik <strong>und</strong> Soziale Arbeit. Freiburg<br />
UN-Konvention vom 30. 03. 2007 am Sitz <strong>der</strong> Vere<strong>in</strong>ten Nationen <strong>in</strong> New York: Convention on<br />
the rights of persons with disabilities. Übere<strong>in</strong>kommen über die Rechte von Menschen mit<br />
Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ungen, onl<strong>in</strong>e: www.un.org/esa/socdev/enable (20. 09. 2007); http://files.<strong>in</strong>stitut-fuermenschenrechte.de/437/UN_BK-Konvention<br />
(deutsche Übersetzung)<br />
42 © 2009 W. <strong>Kohlhammer</strong>, Stuttgart
1.1 Die Auflösung von Große<strong>in</strong>richtungen<br />
ist möglich!<br />
Das Beispiel Hephata Möchengladbach<br />
Dieter Kalesse & Team<br />
Hephata: Inklusion ist unsere Vision<br />
Dieter Kalesse<br />
Die Auflösung von Große<strong>in</strong>richtungen ist möglich!<br />
„Inklusion geht davon aus, dass je<strong>der</strong> Mensch von Geburt an mitten <strong>in</strong> die Gesellschaft<br />
h<strong>in</strong>e<strong>in</strong> gehört <strong>und</strong> e<strong>in</strong>e Ausgrenzung aus gesellschaftlichen Regelkontexten<br />
gar nicht erst zugelassen wird. Mit dieser Auffassung <strong>und</strong> dem Bemühen <strong>der</strong><br />
täglichen Umsetzung geht die Arbeit Hephatas über den klassischen Gedanken<br />
<strong>der</strong> Integration weit h<strong>in</strong>aus.<br />
Wir widmen uns engagiert den familiären <strong>und</strong> persönlichen Netzwerken <strong>der</strong><br />
Menschen sowie den Nachbarschaften, <strong>in</strong> denen sie leben (. . .). Wir stärken Menschen<br />
bei <strong>der</strong> eigenständigen Vertretung ihrer Interessen (. . .). Wir streben nach<br />
Verhältnissen, <strong>in</strong> denen alle Menschen unter Wahrung ihrer Menschen- <strong>und</strong> Bürgerrechte<br />
sowie <strong>in</strong> Würdigung ihrer Individualität, <strong>Leben</strong>s- <strong>und</strong> Entwicklungsräume<br />
erhalten <strong>und</strong> Teilhabe am Geme<strong>in</strong>wesen erfahren.<br />
Diesem Ziel dient die gesamte unternehmerische Leistung Hephatas.“<br />
Diese gerade zitierten Sätze werden im zukünftigen Leitbild <strong>der</strong> Evangelischen<br />
Stiftung Hephata (Mönchengladbach) stehen, das Anfang 2009 im 150. Jahr des<br />
Bestehens ersche<strong>in</strong>en wird. Es wurde von Januar bis September 2008 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em breit<br />
angelegten Diskussions- <strong>und</strong> Konsensbildungsprozess erarbeitet, an dem sich alle<br />
1600 Mitarbeitenden <strong>der</strong> Stiftung beteiligen konnten. E<strong>in</strong> großer Teil <strong>der</strong> Mitarbeitenden<br />
hat <strong>in</strong> Gesprächsforen o<strong>der</strong> per Mail den Prozess <strong>der</strong> Leitbildentwicklung<br />
aktiv mitgestaltet.<br />
Diese gerade zitierten Sätze werden durch drei nachfolgende Artikel mit Beispielen<br />
aus <strong>der</strong> Praxis belegt <strong>und</strong> s<strong>in</strong>d Ausdruck des <strong>der</strong>zeitigen Standes des Entwicklungsprozesses<br />
<strong>der</strong> diakonischen E<strong>in</strong>richtung Hephata, <strong>der</strong> 1996 begann <strong>und</strong><br />
den ich im Folgenden skizzieren werde.<br />
1995 bestand die Evangelische Stiftung Hephata aus zwei zentralen Komplexe<strong>in</strong>richtungen<br />
für Menschen mit <strong>in</strong>tellektuellen E<strong>in</strong>schränkungen: Dem Benn<strong>in</strong>ghof<br />
<strong>in</strong> Mettmann mit 385 stationären Wohnplätzen, davon 12 außerhalb des<br />
zentralen Geländes im Stadtkern von Mettmann, <strong>und</strong> Hephata <strong>in</strong> Mönchengladbach<br />
mit 536 stationären Plätzen, davon 138 <strong>in</strong> sogenannten „Außenwohngruppen“<br />
im Stadtgebiet. Die auf diesen zentralen Geländen lebenden Menschen<br />
kamen aus e<strong>in</strong>em E<strong>in</strong>zugsgebiet zwischen Wesel im Norden <strong>und</strong> Bonn im Süden,<br />
43 © 2009 W. <strong>Kohlhammer</strong>, Stuttgart
<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
Essen im Osten <strong>und</strong> <strong>der</strong> nie<strong>der</strong>ländischen Grenze im Westen. Beide Komplexe<strong>in</strong>richtungen<br />
verstanden sich bis 1995 als „Orte zum <strong>Leben</strong>“. „Etwa 100 ha alles<br />
zusammen. Ke<strong>in</strong>e 400 Menschen. Zu groß für e<strong>in</strong> Heim. Zu kle<strong>in</strong> für e<strong>in</strong>e Stadt.<br />
Anstalt? Ke<strong>in</strong>e gute Bezeichnung. E<strong>in</strong> Dorf? Lebt das Dorf Benn<strong>in</strong>ghof? Kann man<br />
dar<strong>in</strong> leben? Manchmal wirkt es sehr geschäftig.“ (Zitat aus <strong>der</strong> Imagebroschüre<br />
des Benn<strong>in</strong>ghof von 1992). Aus Sicht <strong>der</strong> Mitarbeitenden waren diese Orte zum<br />
<strong>Leben</strong> durchaus positiv gedacht. Für die Bewohner waren sie totale Institutionen,<br />
Son<strong>der</strong>welten mit Zentralküche, ärztlichem Dienst, Wohnhäusern, Werkstätten,<br />
Schulen, Cafeteria, eigener Kirchengeme<strong>in</strong>de <strong>und</strong> sogar mit eigenem Friedhof.<br />
E<strong>in</strong>e Beson<strong>der</strong>heit für diese Zeit ist allerd<strong>in</strong>gs zu erwähnen. 1995 ist <strong>der</strong> Aufbau<br />
e<strong>in</strong>er Wohngruppe <strong>in</strong> Essen für junge erwachsene Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
geplant, die dort bisher <strong>in</strong> ihren Ursprungsfamilien leben.<br />
Die gesamte bis 1995 geleistete Arbeit <strong>der</strong> Stiftung wurde überdacht, als Hephata<br />
1995 <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e tiefgreifende Führungskrise geriet. Die bestehende Leitung wurde<br />
abgelöst <strong>und</strong> für e<strong>in</strong> Jahr wurden Dr. Klaus Hildemann <strong>und</strong> Dr. Ra<strong>in</strong>er Meusel als<br />
kommissarische Leiter e<strong>in</strong>gesetzt. Zum 1. 3. 1996 wurde Pfarrer PD Dr. Johannes<br />
Degen zum Direktor berufen. Geme<strong>in</strong>sam mit ihm bildete ab dem 1. 3. 1997<br />
Diplom-Kaufmann Klaus-Dieter Tichy den Vorstand.<br />
Am 10. 4. 1996 erhielt Hephata e<strong>in</strong>e neue Satzung, <strong>der</strong>en Kernsatz me<strong>in</strong>es<br />
Erachtens im Paragraphen 2 formuliert ist: „Alle Dienste (<strong>der</strong> Stiftung) haben<br />
sich am Wohl <strong>und</strong> an den Interessen <strong>der</strong> Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ten (Menschen) zu orientieren,<br />
die, soweit möglich, ihr <strong>Leben</strong> selbst gestalten.“ In diesem knappen Satz wird e<strong>in</strong><br />
für Hephata neues Verständnis vom Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung ausgedrückt, das<br />
ihn als Persönlichkeit sieht <strong>und</strong> als Bürger ernst nimmt.<br />
Unter <strong>der</strong> impulsgebenden Fe<strong>der</strong>führung von PD Dr. Johannes Degen machten<br />
sich die Verantwortlichen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Führungsebene daran, e<strong>in</strong> Konzept für die<br />
zukünftige Arbeit <strong>der</strong> Stiftung zu entwickeln. Dieser Artikel lässt nicht den Raum,<br />
die umfangreichen Prozessabläufe <strong>und</strong> die diesen zugr<strong>und</strong>e liegenden Theorien<br />
aufzuzeigen, vielmehr beschränke ich mich darauf, die Ergebnisse zu benennen:<br />
Es wurde klar, dass Integration (1996 nutzten wir <strong>in</strong> voller Überzeugung den<br />
Term<strong>in</strong>us „Integration“, ke<strong>in</strong>er von uns schon länger tätigen Praktikern hätte<br />
damals von „Inklusion“ gesprochen) nicht bedeuten kann, Menschen wegen<br />
ihres Handicaps aus ihren sozialen <strong>Leben</strong>sbezügen – z.B. <strong>in</strong> Essen – zu entwurzeln,<br />
<strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Mikrokosmos, wie ihn die Komplexe<strong>in</strong>richtung Hephata <strong>in</strong> Mönchengladbach<br />
bot, umzusiedeln <strong>und</strong> diesen Menschen dort dann zu för<strong>der</strong>n mit<br />
dem Ziel, ihn <strong>in</strong> die Stadt Mönchengladbach (sprich „Außenwohngruppe“) zu<br />
<strong>in</strong>tegrieren.<br />
Vielmehr musste Integration dort ansetzen, wo <strong>der</strong> Mensch mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung<br />
se<strong>in</strong>e familiären, nachbarschaftlichen <strong>und</strong> schulisch/beruflich sozialen Bezüge hat.<br />
Das bedeutete, das jeweils benötigte Unterstützungsangebot musste an den<br />
<strong>Leben</strong>sort des Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung gebracht werden. Er musste dort, wo<br />
se<strong>in</strong>e Wurzeln s<strong>in</strong>d, unterstützt werden, am <strong>Leben</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>schaft teilzuhaben,<br />
so wie 1995 erstmals für Essen angedacht. Diesen Prozess bezeichneten wir <strong>in</strong><br />
Hephata als Regionalisierung des Angebots.<br />
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Die Auflösung von Große<strong>in</strong>richtungen ist möglich!<br />
In <strong>der</strong> weiteren Konsequenz konnte Integration nicht bedeuten, dass Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung weiter <strong>in</strong> den bestehenden Son<strong>der</strong>welten <strong>der</strong> Stiftung leben<br />
sollten. Also musste als mittel- <strong>und</strong> langfristiges Ziel formuliert werden, die bestehenden<br />
Anstaltsson<strong>der</strong>welten <strong>in</strong> Mönchengladbach <strong>und</strong> Mettmann konsequent<br />
aufzulösen, beg<strong>in</strong>nend bei <strong>der</strong> Großküche über den eigenen ärztlichen Dienst<br />
bis h<strong>in</strong> zu Überlegungen, die großen Heimgebäude abzureißen. Aus dieser Überlegung<br />
erwuchs <strong>der</strong> Prozess <strong>der</strong> Dezentralisierung, d. h. <strong>der</strong> Umzug von Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung weg vom Komplexgelände <strong>in</strong> kle<strong>in</strong>e Wohnhäuser <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachbarschaft,<br />
verteilt über das ganze Stadtgebiet.<br />
In Bezug auf den schon zitierten Paragraphen 2 <strong>der</strong> Satzung wurde deutlich,<br />
dass Selbstbestimmung <strong>der</strong> Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung bedeuten musste, diese<br />
nicht länger wohlme<strong>in</strong>end am „Gängelband <strong>der</strong> K<strong>in</strong>dheit“ zu führen, son<strong>der</strong>n<br />
durch präzises H<strong>in</strong>hören <strong>und</strong> Beobachten <strong>der</strong>en Wünsche <strong>und</strong> Bedürfnisse zu<br />
erfahren. Ihnen Wahlmöglichkeiten zu schaffen, sie professionell bei ihren Entscheidungsprozessen<br />
zu begleiten <strong>und</strong> vor allem mit ihnen geme<strong>in</strong>sam Entwicklungsräume<br />
zu schaffen, d. h. das Risiko <strong>der</strong> Freiheit zu wagen.<br />
Die Selbstbestimmung ernst nehmend musste das Machtverhältnis zwischen<br />
Mitarbeitenden <strong>und</strong> Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung betrachtet werden. Das klassische<br />
Denken des Pflegens <strong>und</strong> Betreuens g<strong>in</strong>g ganz klar davon aus, dass <strong>der</strong> Mitarbeitende<br />
zu wissen me<strong>in</strong>t, was für den Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung gut ist. Der <strong>in</strong><br />
Hephata an die Stelle des Pflegens <strong>und</strong> Betreuens 1996 gesetzte <strong>und</strong> formulierte<br />
Assistenzbegriff def<strong>in</strong>ierte die Rolle des Mitarbeitenden neu: Se<strong>in</strong>e Aufgabe ist es,<br />
unterstützend zu begleiten, dabei auf eigene Machtausübung soweit als möglich zu<br />
verzichten <strong>und</strong> Raum für Entwicklung <strong>und</strong> Entfaltung zu schaffen.<br />
Entsprechend dieser Ergebnisse für die zukünftige Entwicklung erhob Hephata<br />
1999 die drei Begriffe Assistenz, Selbstbestimmung <strong>und</strong> Integration zu se<strong>in</strong>en<br />
Zielwerten <strong>und</strong> formulierte als prägnante kurze Botschaft für die Arbeit <strong>der</strong> Stiftung:<br />
„Assistenz für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung auf <strong>der</strong>en Weg zu Selbstbestimmung<br />
<strong>und</strong> Integration.“<br />
Diese Botschaft wird bis heute (2008) gelebt <strong>und</strong> ist <strong>in</strong> vielen Publikationen <strong>der</strong><br />
Stiftung <strong>in</strong> unterschiedlicher Weise aufgegriffen, ausgeführt <strong>und</strong> umfangreich<br />
reflektiert worden. Sie steht sozusagen zum permanenten Bewusstmachen auf<br />
<strong>der</strong> Rückseite <strong>der</strong> Visitenkarte e<strong>in</strong>es jeden Mitarbeiters.<br />
Etwa zwölf Jahre später, im Januar 2008, haben sich die leitenden Mitarbeiter<br />
<strong>der</strong> Stiftung erneut daran gemacht – jetzt unter Fe<strong>der</strong>führung ihres <strong>in</strong>zwischen<br />
neuen Direktors Christian Dopheide, <strong>der</strong> Johannes Degen 2007 nach dessen Verabschiedung<br />
<strong>in</strong> den Ruhestand folgte –, Erreichtes zu reflektieren <strong>und</strong> den zukünftigen<br />
Entwicklungsprozess für die nächsten Jahre fortzuschreiben.<br />
E<strong>in</strong> Ergebnis dieser Überlegungen ist die zeitgemäße Weiterentwicklung <strong>der</strong><br />
Arbeit <strong>und</strong> die Neuformulierung des zu Anfang dieses Artikels <strong>in</strong> Auszügen zitierten<br />
Leitbildes.<br />
Nach 12 Jahren Entwicklung weg von <strong>der</strong> Anstalt h<strong>in</strong> zum <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Nachbarschaft<br />
stellt sich die Arbeit Hephatas mit Fakten beziffert so dar:<br />
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<strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> <strong>in</strong> <strong>der</strong> Geme<strong>in</strong>de<br />
● Ambulant betreutes <strong>Wohnen</strong>: 185 Personen nutzen dieses Angebot<br />
● Unterstützungsdienst für Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>in</strong> Familien: 60 Nutzer<br />
● Heilpädagogische Tagesgruppe: nutzen 24 K<strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>und</strong> Jugendliche<br />
● Integrative K<strong>in</strong><strong>der</strong>tagesstätte: nutzen 30 K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
● Stationäre Wohnangebote: nutzen 1007 Menschen<br />
Diese als stationär def<strong>in</strong>ierten Angebote für die 1007 Personen verteilen sich auf 98<br />
Adressen <strong>in</strong> 17 Orten im Rhe<strong>in</strong>land (Stand 31. 8. 2008), d. h. im Durchschnitt<br />
leben heute 10 Personen <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em Haus. 43 % <strong>der</strong> Wohnhäuser bieten Platz für<br />
2 bis 8 Personen, ebenso viele für 9 bis 16 Personen. Nur 9 Häuser bieten Raum für<br />
17 bis 24 Personen. 96 % aller Zimmer s<strong>in</strong>d E<strong>in</strong>zelzimmer, 30 Wohnungen stehen<br />
für Paare zur Verfügung.<br />
Diese Aufschlüsselung zeigt, dass Hephata heute schon bestrebt ist, die Wohnplätze,<br />
die im Rahmen <strong>der</strong> stationären E<strong>in</strong>glie<strong>der</strong>ungshilfe angeboten werden,<br />
nach den Maßstäben häuslichen <strong>Wohnen</strong>s zu konzipieren, auch wenn e<strong>in</strong>ige bestehende<br />
staatliche Vorgaben dabei nicht gerade hilfreich s<strong>in</strong>d.<br />
Auf dem 16 Hektar großen Stiftungskerngelände <strong>in</strong> Mönchengladbach leben<br />
heute nur noch knapp 100 Menschen mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung. Alte Anstaltsgebäude<br />
wurden abgerissen. 2008 hat die Bebauung des Geländes mit E<strong>in</strong>- <strong>und</strong> Mehrfamilienhäusern<br />
für Bürger begonnen, die hier <strong>in</strong> Miete wohnen o<strong>der</strong> Eigentum<br />
erwerben können. So wird <strong>der</strong>zeit die e<strong>in</strong>stige Son<strong>der</strong>welt für Menschen mit<br />
Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung zu e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>en neuen Stadtteil mit viel Grün <strong>in</strong> unmittelbarer<br />
Nähe des Stadtzentrums von Mönchengladbach <strong>und</strong> auch die verbleibenden Menschen<br />
mit Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung werden dann <strong>in</strong> e<strong>in</strong>en Ortsteil <strong>in</strong>tegriert leben.<br />
Unterstütztes <strong>Wohnen</strong> <strong>und</strong> <strong>Leben</strong> für Eltern o<strong>der</strong> Elternteile<br />
mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>und</strong> <strong>der</strong>en K<strong>in</strong><strong>der</strong><br />
Jochen Ams<strong>in</strong>k<br />
Noch vor weniger als zehn Jahren war <strong>der</strong> Regelmechanismus <strong>in</strong> <strong>der</strong> B<strong>und</strong>esrepublik<br />
Deutschland relativ e<strong>in</strong>fach: Gebar e<strong>in</strong>e Frau mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung e<strong>in</strong><br />
K<strong>in</strong>d, dann kam dieses K<strong>in</strong>d <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e Pflegefamilie o<strong>der</strong> wurde sogar zur Adoption<br />
frei gegeben. Mit e<strong>in</strong>er gewissen Selbstverständlichkeit g<strong>in</strong>g man davon aus, dass<br />
die Mütter wegen ihrer <strong>in</strong>tellektuellen E<strong>in</strong>schränkung ja nicht erziehungsfähig<br />
seien. Die erheblichen emotionalen Anteile, die bei <strong>der</strong> K<strong>in</strong><strong>der</strong>erziehung e<strong>in</strong>e Rolle<br />
spielen, wurden nicht selten völlig ausgeblendet.<br />
Seit 2002 wendet sich die Evangelische Stiftung Hephata Mönchengladbach mit<br />
ihrem Projekt „unterstützte Elternschaft“ an Eltern o<strong>der</strong> Elternteile vorwiegend<br />
mit geistiger Beh<strong>in</strong><strong>der</strong>ung <strong>und</strong> bietet ihnen <strong>und</strong> ihrem K<strong>in</strong>d die benötigte Assistenz<br />
zum <strong>Leben</strong> als Familie, zur Versorgung <strong>und</strong> zur Erziehung.<br />
Ziel <strong>der</strong> „unterstützten Elternschaft“ ist die Befähigung des Elternteils o<strong>der</strong><br />
bei<strong>der</strong> Eltern, das K<strong>in</strong>d möglichst autonom <strong>und</strong> kompetent zu erziehen. Das<br />
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