Strafrecht Allgemeiner Teil 2 - Kohlhammer
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Grundlagen 852, 853<br />
<strong>Teil</strong> VII: Das Unterlassungsdelikt<br />
§ 25 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />
Einführende Aufsätze: Führ, Die Abgrenzung von Tun und Unterlassen im <strong>Strafrecht</strong> – vom<br />
„Ziegenhaarfall“ zu „Terri Schiavo“, JURA 2006, 265; Otto, Das Problem der Abgrenzung<br />
von Tun und Unterlassen, JURA 2000, 549; Otto/Brammsen, Grundlagenprobleme der<br />
Unterlassungsdelikte, JURA 1985, 530, 592, 646; JURA 1986, 37; Seelmann, Probleme der<br />
Unterscheidung von Handeln und Unterlassen im <strong>Strafrecht</strong>, JuS 1987, L 33; Stoffers, Die<br />
Rechtsfigur „Unterlassen durch Tun“, JA 1992, 138, 177; ders., „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“<br />
und die Abgrenzung von Tun und Unterlassen, JuS 1993, 23; ders., Die<br />
Abgrenzung von Tun und Unterlassen in der neueren Rechtsprechung, JURA 1998, 580.<br />
Zur Vertiefung: Maiwald, Grundlagenprobleme der Unterlassungsdelikte, JuS 1981, 473.<br />
Übungsfälle: Dannecker, Eine folgenschwere Gasexplosion, JURA 1988, 657; v. Danwitz,<br />
Reden ist Silber, Schweigen ist Gold, JURA 2000, 486; Murmann, Eine folgenreiche Entscheidung,<br />
JuS 1998, 630; Rudolphi, Examensklausur <strong>Strafrecht</strong>, JURA 1979, 39; Stoffers,<br />
Fehlschlag mit Folgen, JuS 1993, 837; ders., Ein Tag im Leben des Bademeisters A, JURA<br />
1993, 376; Stoffers/Murray, Zeugen Jehovas, JuS 2000, 986.<br />
Rechtsprechung: RGSt 63, 211 – Ziegenhaarfall (Abgrenzung Tun – Unterlassen); RGSt 63,<br />
392 – Radleuchtenfall (Abgrenzung Tun – Unterlassen); BGHSt 14, 280 – Kahlpfändung<br />
(strafbare Beihilfe zum Unterlassungsdelikt); BGHSt 37, 106 – Lederspray (Haftung des<br />
Produzenten beim Inverkehrbringen gefährlicher Produkte).<br />
I. Grundlagen<br />
1. Struktur des Unterlassungsdelikts. Neben den bisher behandelten Begehungsdelikten<br />
stellen die Unterlassungsdelikte eine zweite große Deliktsgruppe im <strong>Strafrecht</strong><br />
dar 1 . Allgemein kann man davon ausgehen, dass sich „menschliches Verhalten“<br />
(als Oberbegriff) in die Kategorien Tun (= Begehen, „aktives“ Handeln,<br />
„aktives“ Tun) und Unterlassen (= Nichtstun) einordnen lässt. Die Frage, ob ein<br />
Tun oder ein Unterlassen vorliegt, wird dabei üblicherweise unter dem Prüfungspunkt<br />
der „Handlung“ zu Beginn des objektiven Tatbestandes anzusprechen<br />
sein 2 .<br />
Entscheidend ist dabei, dass auch bloßes Nichtstun strafrechtlich relevant sein<br />
kann – und zwar dann, wenn eine besondere Rechtspflicht zum Handeln besteht.<br />
Diese Rechtspflicht kann sowohl unmittelbar aus dem Gesetz (beim „echten“<br />
1 Vgl. zur Unterscheidung von Begehungs- und Unterlassungsdelikten bereits oben, Band I,<br />
Rn. 168 ff.<br />
2 So auch Krey, AT 2, Rn. 319; vgl. hierzu bereits oben, Band I, Rn. 192; abweichend Kühl,<br />
§ 18 Rn. 12a; Wessels/Beulke, Rn. 876 („Vorprüfung“).<br />
1<br />
852<br />
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854–856 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />
Unterlassungsdelikt) als auch mittelbar aus einer besonderen Pflichtenstellung<br />
heraus (die sog. Garantenpflicht beim „unechten Unterlassungsdelikt“) folgen 3 .<br />
854 Vom Aufbau und der Struktur her sind die Unterlassungsdelikte mit den Begehungsdelikten<br />
vergleichbar und zeichnen sich lediglich dadurch aus, dass einige<br />
zusätzliche Voraussetzungen zu beachten sind (z.B. die physisch-reale Handlungsmöglichkeit<br />
sowie – bei den unechten Unterlassungsdelikten – die bereits genannte<br />
Garantenpflicht, § 13 StGB).<br />
855 Auch darüber hinaus unterliegt das Unterlassungsdelikt den allgemeinen Regelungen.<br />
Möglich sind also auch hier der Versuch, die fahrlässige Begehung und die<br />
Möglichkeit der Beteiligung (Täterschaft und <strong>Teil</strong>nahme) 4 , wobei sowohl die<br />
(aktive) <strong>Teil</strong>nahme an einem fremden Unterlassungsdelikt als auch die <strong>Teil</strong>nahme<br />
durch Unterlassen an einem fremden Begehungsdelikt möglich sind. Auch bei den<br />
subjektiven Voraussetzungen (Vorsatz- und Irrtumsfragen) gelten keine Besonderheiten.<br />
2<br />
Bsp.: Gibt Martha ihrem Säugling Siegfried vorsätzlich nichts zu Essen, weil sie sich<br />
seiner entledigen will, liegt eine vorsätzliche Tötung durch Unterlassen vor. Handelt<br />
sie aus reiner Nachlässigkeit, kommt eine fahrlässige Tötung durch Unterlassen in<br />
Frage. Sofern Martha vorsätzlich handelt, Siegfried aber gerettet wird, weil eine aufmerksame<br />
Nachbarin das Fehlverhalten bemerkt, liegt eine versuchte Tötung durch<br />
Unterlassen vor. Hilft Marthas Freundin Beate – in Kenntnis der Sachlage – die aufmerksame<br />
Nachbarin zu beschwichtigen, damit diese nicht einschreitet, kann sich<br />
Beate wegen einer Beihilfe zur Tötung durch Unterlassen strafbar machen 5 (da Beate<br />
hier eine Beihilfe durch aktives Tun leistet, bedarf es für sie nicht einmal einer Garantenpflicht<br />
6 ). Erfährt Vater Viktor, der sich gerade auf einer Geschäftsreise befindet, von<br />
Marthas Vorhaben und unternimmt auch er nichts, dann leistet er Beihilfe durch Unterlassen.<br />
856 2. Strafbarkeit des Unterlassens. Der wesentliche Unterschied zwischen einem<br />
aktiven Begehungsdelikt und einem (unechten) Unterlassungsdelikt ist darin zu<br />
sehen, dass ein Begehungsdelikt immer strafbar ist, während ein Unterlassen nur<br />
dann strafrechtlich relevant ist, wenn eine besondere Rechtspflicht zum Handeln<br />
besteht. Durch diese gesetzgeberische Entscheidung soll verhindert werden, dass<br />
sich grundsätzlich jeder strafbar macht, der einen strafrechtlich unerwünschten<br />
Erfolg abwenden könnte, dies aber unterlässt.<br />
Bsp. (1): Anton entwendet ein vor der Universität abgestelltes Fahrrad. Sein Freund<br />
Bruno sieht dies, unternimmt aber nichts. – Hier macht sich Anton wegen eines Diebstahls<br />
strafbar, § 242 StGB. Bruno, der tatenlos zusieht, erfüllt nur dann den objektiven<br />
Tatbestand eines Diebstahls durch Unterlassen, §§ 242, 13 StGB, wenn er zum Handeln,<br />
d.h. zum Einschreiten verpflichtet ist. Dies ist unter normalen Umständen nicht<br />
3 Vgl. zur Unterscheidung von echten und unechten Unterlassungsdelikten sogleich unten<br />
Rn. 857 ff.<br />
4 BGHSt 37, 106 (129) für einen Fall des mittäterschaftlichen Unterlassens; ferner RGSt<br />
66, 71 (74); vgl. auch Arzt, JA 1980, 553 (557 f.).<br />
5 Bzgl. einiger Besonderheiten im Hinblick auf die Beteiligung beim Unterlassungsdelikt<br />
vgl. unten Problemschwerpunkt 22 Rn. 878 ff.<br />
6 Möglich ist lediglich eine Strafmilderung über § 28 Abs. 1 StGB, da es sich bei der Garantenpflicht<br />
um ein besonderes persönliches Merkmal handelt; vgl. hierzu ausführlich unten<br />
Rn. 971, 1355.<br />
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Grundlagen 857–860<br />
der Fall (anders, wenn Bruno z.B. als Mitarbeiter eines Wachdienstes gerade die Aufgabe<br />
hatte, den Diebstahl zu verhindern). Insofern war Bruno hier zwar zum Einschreiten<br />
berechtigt (§ 32 StGB – Nothilfe), aber nicht zu einem solchen verpflichtet.<br />
Bsp. (2): Nachbar Norbert schlägt den achtjährigen Sascha krankenhausreif, weil dieser<br />
ihm die Zunge herausgestreckt hat. Mutter Martha und die Nachbarin Rosi<br />
schauen zu. – Norbert ist hier strafbar wegen einer Körperverletzung, § 223 StGB.<br />
Martha hatte als Mutter eine Rechtspflicht zum Einschreiten, weswegen sie sich wegen<br />
einer Körperverletzung durch Unterlassen strafbar gemacht hat, §§ 223, 13 StGB7 .<br />
Rosi hingegen ist straflos, weil sie keine Rechtspflicht zum Tätigwerden traf.<br />
3. Echte und unechte Unterlassungsdelikte. Wie bereits angesprochen 8 , kann sich<br />
die besondere Verpflichtung zum Handeln aus zwei Gründen ergeben: Entweder<br />
sie ist gesetzlich ausdrücklich bestimmt (= echtes Unterlassungsdelikt), oder dem<br />
Einzelnen ist im Hinblick auf das gefährdete Rechtsgut eine besondere Rechtspflicht<br />
zum Handeln auferlegt (die sog. „Garantenpflicht“). Letztere führt dazu,<br />
dass der Betreffende einen bestimmten tatbestandsmäßigen Erfolg, der üblicherweise<br />
durch aktives Tun herbeigeführt wird, zu verhindern hat (= unechtes Unterlassungsdelikt).<br />
Somit ergibt sich folgende Unterscheidung 9 :<br />
Echte Unterlassungsdelikte: Delikte, bei denen die Voraussetzungen, unter denen ein<br />
Unterlassen strafbar ist, in einem eigenen Tatbestand vollständig umschrieben werden.<br />
Hier erschöpft sich die Tatbestandserfüllung in dem Verstoß gegen eine bestimmte<br />
Gebotsnorm, die als solche im Gesetz abschließend normiert ist.<br />
Unechte Unterlassungsdelikte: Delikte, bei denen eine Unterlassung nicht ausdrücklich<br />
im Tatbestand normiert ist, sondern die Nichtabwendung eines tatbestandsmäßigen<br />
Erfolges erst im Wege eines Vergleichs mit einem Begehungsdelikt unter den Voraussetzungen<br />
des § 13 StGB begründet werden kann, was regelmäßig voraussetzt, dass<br />
der Täter eine besondere Rechtspflicht zum Handeln (Garantenpflicht) besitzt.<br />
a) Als „klassische“ echte Unterlassungsdelikte sind die unterlassene Hilfeleistung<br />
(§ 323c StGB) und die Nichtanzeige geplanter Straftaten (§ 138 StGB; allerdings<br />
nur bzgl. der hier genannten schweren Straftaten) zu nennen. Einer besonderen<br />
Garantenpflicht bedarf es hier nicht (= Jedermannsdelikt). Neben diesen eindeutigen<br />
Fällen existieren jedoch auch echte Unterlassungsdelikte, die auf den ersten<br />
Blick nicht als solche erkennbar sind, wie z.B. die Untreue (§ 266 StGB) 10 . Tatbestandsmäßig<br />
ist hier die Schädigung fremden Vermögens, sofern der Täter eine<br />
besondere Vermögensbetreuungspflicht besitzt. Diese Schädigung kann sowohl<br />
durch aktives Tun als auch durch Unterlassen erfolgen.<br />
Bsp.: Es spielt im Hinblick auf den zu erzielenden Gewinn keine Rolle, ob der Bankangestellte<br />
Bert das fremde Geld, das er gewinnbringend anlegen soll, bewusst in eine<br />
verlustbringende Anlage investiert (= aktives Tun), oder ob er es schlicht und einfach<br />
in der Schublade liegen lässt, anstatt es anzulegen (= Unterlassen). – § 266 StGB stellt<br />
7 Vgl. zur Frage, ob sich Martha hier wegen eines täterschaftlichen Unterlassungsdelikts<br />
oder lediglich wegen einer Beihilfe durch Unterlassen strafbar gemacht hat, noch ausführlich<br />
unten, Problemschwerpunkt 32, Rn. 1212 ff.<br />
8 Vgl. oben Rn. 853; ferner Band I, Rn. 169 ff.<br />
9 Vgl. zu dieser Unterscheidung auch Kühl, JuS 2007, 497 (498 f.); Puppe, AT 2, § 45<br />
Rn. 10 ff.<br />
10 OLG Bremen NStZ 1989, 228; Baumann/Weber/Mitsch, § 15 Rn. 8.<br />
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861, 862 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />
4<br />
deswegen (auch) ein echtes Unterlassungsdelikt dar, weil hier sämtliche Tatbestandsmerkmale<br />
abschließend im Tatbestand genannt sind und es einer darüber hinausgehenden<br />
Garantenpflicht und somit eines „Umwegs“ über § 13 StGB nicht bedarf.<br />
861 b) Als unechte Unterlassungsdelikte kommen sämtliche Straftatbestände in Frage,<br />
die üblicherweise durch aktives Tun begangen werden, aber gemäß § 13 StGB bei<br />
Vorliegen einer Garantenpflicht auch durch Unterlassen erfüllt werden können<br />
(z.B. Totschlag durch Unterlassen, §§ 212, 13 StGB; Betrug durch Unterlassen,<br />
§§ 263, 13 StGB). Diese Delikte stellen somit ein Spiegelbild zu den Begehungsdelikten<br />
dar und sind in gleicher Weise strafwürdig, sofern das „Unterlassen der<br />
Verwirklichung des gesetzlichen Tatbestandes durch ein Tun entspricht“ (§ 13<br />
Abs. 1 StGB), was regelmäßig der Fall sein dürfte 11 . Lediglich für die Rechtsfolgen<br />
stellt § 13 Abs. 2 StGB klar, dass die Strafe bei einem Unterlassungsdelikt (nach<br />
§ 49 Abs. 1 StGB) gemildert werden kann, wenn eine Gesamtabwägung ergibt,<br />
dass ein Unterlassen hier weniger schwer wiegt. Die Strafe kann also gemildert<br />
werden, muss dies aber nicht (fakultative Strafmilderung) 12 .<br />
Bsp. 13 : Mutter Martha kümmert sich nicht um den drei Monate alten Säugling Siegfried,<br />
worauf dieser verhungert. Die Verursachung des Todes durch Unterlassen muss<br />
hier in gleicher Weise strafbar sein, wie wenn Martha den Siegfried mittels eines Kissens<br />
(d.h. durch aktives Tun) erstickt oder mittels Verabreichung eines vergifteten Breis<br />
getötet hätte. Der „Erfolg“ bleibt derselbe. Als Mutter hat sie auch eine Rechtspflicht<br />
zum Handeln (= Garantenpflicht) aus natürlicher Verbundenheit 14 .<br />
862 c) Sowohl bei den echten, als auch bei den unechten Unterlassungsdelikten kann<br />
es sich um Erfolgsdelikte oder aber um schlichte Unterlassungsdelikte handeln.<br />
Die schlichten Unterlassungsdelikte stellen dabei das Gegenstück zu den schlichten<br />
Tätigkeitsdelikten 15 dar (vgl. § 323c StGB: Strafbar ist allein das bloße Nicht-<br />
Hilfeleisten; auf einen bestimmten Erfolg, z.B. den Tod des in Not Geratenen,<br />
kommt es nicht an). Sie dominieren bei den echten Unterlassungsdelikten, wogegen<br />
bei den unechten Unterlassungsdelikten die Erfolgsdelikte häufiger anzutreffen<br />
sind (z.B. §§ 212, 13 StGB, Tötung durch Unterlassen). Es gibt hierzu jedoch<br />
auch Ausnahmen (so stellt das echte Unterlassungsdelikt der Untreue, § 266 StGB,<br />
ein Erfolgsdelikt dar, da hier die Schädigung fremden Vermögens erforderlich<br />
ist) 16 .<br />
11 Die in § 13 Abs. 1 StGB normierte „Entsprechungsklausel“ hat kaum praktische Auswirkungen,<br />
vgl. unten Rn. 907 ff.<br />
12 Kritisch im Hinblick auf die Möglichkeit der fakultativen Strafmilderung Lermann, GA<br />
2008, 78 (88 ff.).<br />
13 Vgl. zu diesem Beispiel Krey, AT 2, Rn. 318.<br />
14 Vgl. zu dieser Garantenpflicht noch unten Rn. 930 ff.<br />
15 Vgl. zu diesem Begriff oben, Band I, Rn. 159.<br />
16 Unklar BGHSt 14, 280 (281); hier wird davon gesprochen, dass sich bei (allen) echten<br />
Unterlassungsdelikten das strafbare Verhalten im Verstoß gegen eine Gebotsnorm<br />
erschöpfe, ein darüber hinaus gehender Erfolg also nie notwendig sei, wobei dann offen<br />
gelassen wird, ob dies „ausnahmsweise“ auch einmal anders sein könne. § 266 StGB<br />
setzt einen solchen Erfolg (= Vermögensschädigung) jedenfalls auch im Falle der Schädigung<br />
durch Unterlassen voraus.<br />
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Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen 863–865<br />
II. Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen<br />
1. Grundsatz. Während bei den echten Unterlassungsdelikten ein Nicht-Handeln<br />
unmittelbar tatbestandsmäßig ist, stellt sich bei den unechten Unterlassungsdelikten<br />
oftmals die Frage, ob ein aktives Tun oder Unterlassen vorliegt 17 . Dies kann<br />
für die Strafbarkeit des Einzelnen entscheidende Bedeutung erlangen, sofern keine<br />
Garantenpflicht vorliegt: Nimmt man ein aktives Tun an, ist die Strafbarkeit<br />
begründet, liegt ein Unterlassen vor, hat sich der Täter mangels Garantenpflicht<br />
nicht strafbar gemacht.<br />
Die Abgrenzung ist in vielen Fällen eindeutig: Immer dann, wenn der Täter einen<br />
Kausalverlauf durch aktives Handeln (zielgerichteter Einsatz körperlicher Energie)<br />
in Gang setzt, liegt ein Tun vor. Bleibt er lediglich passiv und unternimmt er<br />
nichts, ist ein Unterlassen gegeben.<br />
Bsp. (1): Anton sieht bei einer Bergwanderung, dass der abgestürzte Bergsteiger Bruno<br />
an einem Seil bewusstlos in einer Felsspalte hängt. Er schneidet das Seil durch, wodurch<br />
Bruno zu Tode kommt. – Hier liegt eine Tötung durch aktives Tun vor, § 212 StGB.<br />
Bsp. (2): Anton sieht den abgestürzten Bruno am Seil hängen und unternimmt nichts,<br />
sodass dieser wenige Stunden später stirbt, obwohl er durch Antons Einschreiten hätte<br />
gerettet werden können. – Hier liegt eine Tötung durch Unterlassen vor, die jedoch<br />
nach §§ 212, 13 StGB nur strafbar ist, wenn Anton eine Garantenpflicht besaß, die in<br />
der vorliegenden Konstellation nicht erkennbar ist. Es bleibt „lediglich“ eine Strafbarkeit<br />
wegen unterlassener Hilfeleistung nach § 323c StGB.<br />
2. Mehrdeutige Verhaltensweisen. Während in den genannten Fällen eine Abgrenzung<br />
anhand des Kriteriums des „Energieeinsatzes“ unproblematisch ist, gibt es<br />
aber auch Situationen, in denen dies nicht eindeutig ist. Man spricht hier von<br />
mehrdeutigen Verhaltensweisen, die sowohl als Tun als auch als Unterlassen angesehen<br />
werden könnten.<br />
Ausgangsfall 118 : Ein Händler vertreibt verseuchtes Rindfleisch, ohne die erforderlichen<br />
Kontrollen durchzuführen. Dies führt bei mehreren Konsumenten zu gesundheitlichen<br />
Schäden. Später erfährt er, dass das Fleisch verseucht ist. Obwohl es ihm möglich<br />
gewesen wäre, nimmt er den erforderlichen Rückruf nicht vor, was dazu führt, dass in<br />
der Folgezeit weitere Konsumenten gesundheitliche Schäden erleiden. – Das Verkaufen<br />
des Rindfleisches stellt ein aktives Tun dar. Stellt man hingegen auf die fehlenden<br />
vorherigen Kontrollen ab, liegt ein Unterlassen vor. Das Gleiche gilt hinsichtlich des<br />
nicht vorgenommenen Rückrufs. Somit muss hier geprüft werden, welches Verhalten<br />
man dem Händler vorwirft: das Unterlassen der Kontrollen, den Verkauf des Fleisches<br />
oder den mangelnden Rückruf.<br />
Ausgangsfall 219 : Anton fährt ohne Licht mit dem Fahrrad auf einem Feldweg. Er stößt<br />
im Dunkeln mit einem entgegenkommenden Fahrradfahrer zusammen, den er schwer<br />
verletzt. – Stellt man auf das Radfahren ab, so liegt ein aktives Tun vor, legt man den<br />
Schwerpunkt auf das Nichteinschalten des Lichts, ist ein Unterlassen gegeben.<br />
17 Vgl. hierzu auch die Übungsfälle bei Bischoff/Jungkamp, JuS 2008, 908 (912); Rotsch,<br />
JuS 2004, 607 (611 f.).<br />
18 Vgl. auch den Fall in BGHSt 37, 106 (114) – Lederspray.<br />
19 Fall nach RGSt 63, 392 – Radleuchtenfall.<br />
5<br />
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866 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />
6<br />
Ausgangsfall 320 : Fabrikant Fritz überlässt seinen Arbeitern Ziegenhaare zur Herstellung<br />
von Pinseln. Entgegen seiner gesetzlichen Pflicht hat Fritz die Ziegenhaare, die er<br />
aus dem Ausland bezogen hat, nicht desinfizieren lassen. Mehrere Arbeiter sterben an<br />
Milzbrand, da die Haare verseucht waren. – Das Überlassen der Ziegenhaare an die<br />
Arbeiter stellt ein aktives Tun dar, die vorherige fehlende Desinfektion ist ein klassisches<br />
Unterlassen.<br />
Ausgangsfall 4: Anton, der allein durch den Wald schlendert, sieht, wie dem Spaziergänger<br />
Bruno ein schwerer Felsbrocken auf den Kopf fällt. Anstatt zu helfen, rennt er<br />
weg, weil er kein Blut sehen kann. Bruno stirbt, was Anton billigend in Kauf nimmt.<br />
Hätte er geholfen, so wäre Bruno nicht gestorben. – Während man im Wegrennen ein<br />
aktives Tun sehen kann, liegt in der fehlenden Hilfeleistung ein Unterlassen. Dieser Fall<br />
ist deswegen besonders brisant, weil man, je nachdem, ob man ein Tun oder ein Unterlassen<br />
annimmt, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Bei einem aktiven Tun<br />
liegt eine Strafbarkeit wegen Totschlags vor, § 212 StGB. Nimmt man hingegen ein<br />
Unterlassen an, scheitert eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen,<br />
§§ 212, 13 StGB, an der fehlenden Garantenstellung Antons. Es käme „lediglich“ eine<br />
unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB, in Betracht.<br />
866 Eine Lösung lässt sich in diesen Fällen nicht immer zweifelsfrei entwickeln. Während<br />
eine Ansicht hier streng am Kriterium des Energieeinsatzes festhält 21 , sehen<br />
andere sowohl ein Delikt durch aktives Tun als auch ein solches durch Unterlassen<br />
als erfüllt an und lösen das Problem auf Konkurrenzebene 22 . Keine dieser Ansichten<br />
kann jedoch restlos befriedigen, weil in Einzelfällen trotz eines vorliegenden<br />
Energieeinsatzes die Unterlassenskomponente überwiegen kann. Die Entscheidung<br />
hängt vielmehr stets von einer normativen Wertung ab. Es muss gefragt<br />
werden, welches Verhalten man dem Täter letztlich vorwirft, worin also der<br />
Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit, d.h. der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten<br />
Verhaltens gesehen werden kann 23 . Diese – leider recht unbestimmte –<br />
Formel 24 erfordert zwar letztlich immer eine Einzelfallprüfung, man wird hierdurch<br />
aber in die Lage versetzt, im Wege einer wertenden Beurteilung interessensgerechte<br />
Ergebnisse zu erzielen. Allerdings können zur besseren Orientierung verschiedene<br />
Fallgruppen gebildet werden:<br />
20 Fall nach RGSt 63, 211 – Ziegenhaarfall; vgl. hierzu Führ, JURA 2006, 265 (266 f.);<br />
Engisch, Gallas-FS 1973, S. 163 (184 ff.); Puppe, AT 2, § 45 Rn. 16 ff.<br />
21 Brammsen, GA 2002, 193 (205); Joecks, § 13 Rn. 15a; Kindhäuser, § 35 Rn. 4; Maurach/Gössel/Zipf,<br />
AT 2, § 45 Rn. 30; MüKo-Freund, § 13 Rn. 8 f.; Roxin, AT II, § 31<br />
Rn. 78; ders., ZStW 74 (1963), 411 (415); Sieber, JZ 1983, 431 (436); SK-Rudolphi,<br />
Vor § 13 Rn. 6 f.; Otto, § 9 Rn. 2; ders., JURA 2000, 549; Otto/Brammsen, JURA<br />
1985, 530 (531 f.); vgl. auch Kargl, GA 1999, 459.<br />
22 Baumann/Weber/Mitsch, § 15 Rn. 27; Jakobs, 28/4; Rotsch, JuS 2004, 607 (612); Seelmann,<br />
JuS 1987, L 33 (L 35); Walter, ZStW 116 (2004), 555 (567 f.); vgl. auch Stoffers,<br />
JURA 1998, 580 (581).<br />
23 BGHSt 6, 46 (59); BGHSt 40, 257 (265 f.); BGHSt 49, 147 (164); BGH NStZ 1999,<br />
607; BGH NStZ 2003, 657; Haft, JA 1982, 473 (474); Kaspar, JA 2006, 855 (856);<br />
Krey, AT 2, Rn. 322; Schönke/Schröder-Stree, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 158; Wessels/<br />
Beulke, Rn. 700; kritisch hierzu Arzt, JA 1978, 557 (562); Jäger, Rn. 333; Klesczewski,<br />
Rn. 254; Puppe, AT 2, § 46 Rn. 2 ff.; Struensee, Stree/Wessels-FS 1993, S. 133 (136 ff.).<br />
24 Vgl. zur Kritik Czerner, JR 2005, 94 (95); Führ, JURA 2006, 265 (267 ff.); Stoffers, JuS<br />
1993, 24 (27); ders., JURA 1998, 580 (582).<br />
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Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen 867–869<br />
a) Zeitliches Zusammenfallen von Tun und Unterlassen. In diesen (komplizierteren)<br />
Fällen muss im Einzelfall nach den genannten Kriterien jeweils der Schwerpunkt<br />
der Vorwerfbarkeit ermittelt werden. Tendenziell wird man davon ausgehen<br />
können, dass hier die stärkere Begehungsform des Tuns dem Unterlassen<br />
vorgeht 25 . Dies gilt jedenfalls dann, wenn die Rechtsordnung ein bestimmtes<br />
gefährliches Verhalten zwar gestattet, aber an die Einhaltung bestimmter<br />
Sicherheitsvorkehrungen knüpft. Werden diese Vorkehrungen unterlassen, wird<br />
das gesamte Handeln dadurch pflichtwidrig.<br />
Bsp.: In den Ausgangsfällen 1 (verseuchtes Rindfleisch), 2 (Radleuchtenfall) und 3<br />
(Ziegenhaarfall) liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf dem aktiven Tun<br />
(gerade durch dieses Tun gefährdet der Täter die jeweiligen Rechtsgüter). Dagegen liegt<br />
im Ausgangsfall 4 (Felsbrockenfall) ein Unterlassen vor (man wirft dem Täter hier<br />
nicht vor, dass er weggelaufen ist, sondern dass er nicht geholfen hat – die Strafbarkeit<br />
wegen Unterlassens wäre in gleicher Weise begründet gewesen, wenn Anton schlicht<br />
nichts getan, also stehen geblieben wäre, um zuzusehen, wie Bruno stirbt; daher kann<br />
es auf das Weglaufen nicht ankommen) 26 .<br />
b) Zeitliches Auseinanderfallen von Tun und Unterlassen. Fallen Tun und Unterlassen<br />
zeitlich auseinander, verdrängt ein vorhergegangenes Tun, welches den tatbestandsmäßigen<br />
Erfolg herbeiführt, regelmäßig das spätere Unterlassen, sofern<br />
dieses lediglich darin besteht, den durch das Tun herbeigeführten Erfolg nicht<br />
wieder rückgängig zu machen 27 .<br />
Bsp.: Anton schlägt Bruno in Tötungsabsicht eine Eisenstange auf den Kopf. Danach<br />
lässt er den schwerverletzten Bruno liegen und entfernt sich. Bruno stirbt kurze Zeit<br />
später. Er hätte allerdings noch gerettet werden können, wenn Anton ihn nach dem<br />
Schlag ins Krankenhaus gefahren oder den Notarzt gerufen hätte, was er aus naheliegenden<br />
Gründen unterlässt. – Anton hat hier einen Totschlag, § 212 StGB, durch<br />
aktives Tun begangen. Er ist nicht noch zusätzlich (oder stattdessen) wegen Totschlags<br />
durch Unterlassen, §§ 212, 13 StGB, strafbar. Auch eine (zusätzliche) unterlassene<br />
Hilfeleistung, § 323c StGB, scheidet hier konsequenterweise aus.<br />
Anders ist dies jedoch dann zu beurteilen, wenn sich Tun und Unterlassen qualitativ<br />
unterscheiden. Dies ist insbesondere dann der Fall, wenn ein Vorsatzwechsel<br />
vorliegt bzw. der Vorsatz erst nachträglich hinzutritt oder der Täter aus sonstigen,<br />
neu hinzukommenden Gründen (z.B. aus Habgier) nicht tätig wird.<br />
Bsp. (1) 28 : Anton verursacht in betrunkenem Zustand einen Autounfall, bei dem Bruno<br />
schwer verletzt wird. Anton erkennt dies, fährt jedoch weiter, weil er „keinen Ärger“<br />
haben will. Dabei nimmt er bedingt vorsätzlich Brunos Tod in Kauf. Bruno stirbt. –<br />
Die Verursachung des Unfalls stellt ein aktives Tun dar, das spätere Sich-Entfernen ein<br />
Unterlassen (auch hier könnte man zwar daran denken, im „Davonfahren“ ein aktives<br />
Tun zu sehen; da man Anton aber letztlich nicht vorwirft, dass er davon gefahren ist,<br />
25 Puppe, AT 2, § 45 Rn. 15.<br />
26 Vgl. auch BGH NStZ 1999, 607: Eine Mutter lässt ihre dreijährige Tochter allein zu<br />
Hause, obwohl diese bereits mehrfach die Herdplatten angedreht hatte. Die Tochter<br />
setzt durch das Anschalten des Herdes das Haus in Brand und kommt in den Flammen<br />
um; zu diesem Fall Puppe, AT 2, § 46 Rn. 1 ff.<br />
27 Puppe, AT 2, § 45 Rn. 15.<br />
28 Fall nach BGHSt 7, 287; vgl. hierzu auch den Übungsfall bei Reinbacher, JURA-Sonderheft<br />
Zwischenprüfung, 2004, 26; ferner auch Hanft, JuS 2005, 1010 (1013).<br />
7<br />
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870, 871 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />
8<br />
sondern dass er Bruno nicht geholfen hat, liegt der Schwerpunkt hier auf dem Unterlassen<br />
der Rettung). Da die Verursachung des Unfalls lediglich fahrlässig war (§ 222<br />
StGB), das Nicht-Helfen aber vorsätzlich (§§ 211, 212, 13 StGB; zur Verdeckung einer<br />
Straftat) und Anton auf Grund seines fahrlässigen (= pflichtwidrigen) Vorverhaltens<br />
eine Garantenpflicht besaß 29 , liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit hier auf dem<br />
(vorsätzlichen) Unterlassen. In diesem „beliebten“ Klausurfall ist Anton daher strafbar<br />
wegen § 315c Abs. 3 Nr. 2 StGB (Unfall) in Tatmehrheit (§ 53 StGB) zu §§ 211, 212,<br />
13 StGB (und § 142 Abs. 1, § 316, § 52 StGB) 30 .<br />
Bsp. (2): Insoweit ist im Ausgangsfall 1 zu differenzieren, je nachdem ob der Händler<br />
die Kontrollen vorsätzlich unterließ (und insoweit bereits zu diesem Zeitpunkt mit<br />
bedingtem Körperverletzungsvorsatz handelte) oder ob er erst durch die bekannt<br />
gewordenen Schadensfälle auf die unterlassenen Kontrollen aufmerksam wurde. Im<br />
ersten Fall liegt durch den Vertrieb ein vorsätzliches Handeln (§ 223 StGB) vor, welches<br />
das vorsätzliche Unterlassen der Kontrollen (§§ 223, 13 StGB) verdrängt (insoweit:<br />
Gleichzeitigkeit von Tun und Unterlassen). Das spätere vorsätzliche Unterlassen des<br />
Rückrufs (§§ 223, 13 StGB) erlangt keine eigenständige Bedeutung mehr. Im zweiten<br />
Fall ist im Vertreiben des Fleisches (lediglich) ein fahrlässiges aktives Handeln (§ 229<br />
StGB) anzunehmen, welches ebenfalls dem fahrlässigen Unterlassen der Kontrollen<br />
(§§ 229, 13 StGB) vorgeht (insoweit: Gleichzeitigkeit von Tun und Unterlassen). Der<br />
Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit liegt jedoch – schon mit Blick auf den angedrohten<br />
Strafrahmen – im späteren vorsätzlichen Unterlassen der Rückrufaktion nach Erkennen<br />
der Sachlage (insoweit also: Mehraktigkeit). Es liegt demnach eine Strafbarkeit<br />
nach §§ 223, 13 StGB vor.<br />
870 c) Sonderproblem: Arztstrafrecht/Sterbehilfe. Insbesondere im Arztstrafrecht, wo<br />
es zumeist um die Rettung von Patienten geht, wird die Frage der Abgrenzung von<br />
Tun und Unterlassen häufig relevant 31 .<br />
Bsp. 32 : Berta ist unheilbar an Krebs erkrankt. Sie liegt seit Monaten im Koma, die Ärzte<br />
halten es für aussichtslos, dass sie jemals wieder ihr Bewusstsein erlangt. Ihr Leben<br />
wird lediglich noch durch den Anschluss an lebensverlängernde Geräte aufrecht erhalten.<br />
Nach Rücksprache mit den Angehörigen schaltet Arzt Armin die Geräte ab. Berta<br />
stirbt.<br />
871 Zusammenfassend gesagt gilt in Deutschland der Grundsatz, dass aktive Sterbehilfe<br />
als Maßnahme der aktiven Lebensbeendigung (z.B. mittels einer Todesspritze)<br />
stets als Totschlag strafbar ist, während die passive Sterbehilfe zwar konstruktiv<br />
als Totschlag durch Unterlassen zu erfassen wäre, man hier jedoch von<br />
einer Straflosigkeit des Arztes ausgeht, wenn bestimmte Voraussetzungen vorliegen.<br />
So führt der BGH 33 aus: „Sterbehilfe ist nur entsprechend dem erklärten oder<br />
mutmaßlichen Patientenwillen durch die Nichteinleitung oder den Abbruch<br />
29 Vgl. zu dieser Garantenstellung aus „Ingerenz“ unten Rn. 952 ff., insbesondere<br />
Rn. 955a.<br />
30 Vgl. aber auch BGHSt 7, 287; Seelmann, JuS 1987, L 33 (L 35): Realkonkurrenz zwischen<br />
fahrlässiger Tötung durch Tun und versuchter Tötung durch Unterlassen, wenn<br />
der Täter lediglich irrtümlich davon ausging, dem Opfer sei noch zu helfen.<br />
31 Vgl. hierzu BGHSt 40, 257 (265 f.); Puppe, AT 2, § 46 Rn. 9 ff.; Seelmann, JuS 1987,<br />
L 33 (L 34); ferner die Übungsfälle bei Herzberg/Scheinfeld, JuS 2003, 880; Rudolphi,<br />
JURA 1979, 39; Thoss, JA 2001, 951; Vogel/Hocke, JURA 2005, 709.<br />
32 Zu dieser Fallkonstellation auch Führ, JURA 2006, 265 (266 ff.); Jäger, Rn. 336; Krey,<br />
AT 2, Rn. 320.<br />
33 BGHSt 37, 376 (379); restriktiver noch BGHSt 32, 367 (371).<br />
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Abgrenzung von aktivem Tun und Unterlassen 872, 873<br />
lebensverlängernder Maßnahmen zulässig, um dem Sterben […] seinen natürlichen,<br />
der Würde des Menschen gemäßen Verlauf zu lassen“.<br />
Letztlich ordnet man also die passive Sterbehilfe durch den Abbruch lebenserhaltender<br />
Maßnahmen als Unterlassen ein, wobei eine Garantenpflicht des Arztes<br />
abgelehnt wird, wenn sein Verhalten vom tatsächlichen oder mutmaßlichen Willen<br />
des Patienten gedeckt ist. Problematisch sind nun diejenigen Fälle, in denen<br />
der Arzt eine (künstliche) Lebensverlängerung durch das Abschalten des Gerätes<br />
beendet. Denn hier könnte daran gedacht werden, in seinem Verhalten ein aktives<br />
Tun zu sehen, wodurch eine (strafbare) aktive Sterbehilfe vorläge (immerhin erfordert<br />
das „Abschalten“ des Gerätes einen Energieeinsatz) 34 . Der Schwerpunkt seines<br />
Verhaltens liegt jedoch letztlich darin, dass er es unterlässt, durch das Abschalten<br />
des Gerätes die lebenserhaltenden Maßnahmen durchzuführen bzw.<br />
fortzusetzen 35 . Hätte er z.B. zur Rettung des Patienten eine Herzmassage betrieben<br />
und würde er damit aufhören, weil er sie für sinnlos erachtet, käme ebenfalls<br />
lediglich ein Unterlassen in Frage.<br />
Schaltet der behandelnde Arzt das Gerät ab, liegt, bei Vorliegen der sonstigen Voraussetzungen<br />
der passiven Sterbehilfe, ein strafloses Unterlassen (der Weiterbehandlung)<br />
und kein Tun (durch Abschalten) vor 36 . – Dass die Abgrenzung von Tun und Unterlassen<br />
mittels der Formel „Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit“ eine normative Wertung<br />
erfordert, sieht man nicht zuletzt daran, dass das gleiche Verhalten (= Abschalten des<br />
Gerätes) seitens eines habgierigen Erben unproblematisch als aktives Tun angesehen<br />
werden kann, denn dieser unterlässt keine lebenserhaltenden Maßnahmen, sondern<br />
handelt aktiv 37 . Gleichsam dazwischen (aber wertungsmäßig noch auf der Ebene des<br />
Tuns) liegt der Fall, dass ein Angehöriger auf die dringende Bitte des sterbewilligen<br />
Patienten (und gegen den Willen des Arztes) das Gerät abschaltet 38 .<br />
d) Sonderproblem: Abbruch von Rettungsbemühungen. Besondere Probleme<br />
ergeben sich bei der Abgrenzung von Tun und Unterlassen in denjenigen Fällen,<br />
in denen jemand eigene Rettungsbemühungen abbricht oder fremde Rettungshandlungen<br />
vereitelt (Abbruch bzw. Verhinderung des Ingangsetzens eines retten-<br />
34 So in der Tat diejenigen, die die Schwerpunktformel ablehnen und den Energieeinsatz<br />
als entscheidendes Kriterium ansehen; vgl. nur Baumann/Weber/Mitsch, § 15 Rn. 33;<br />
Joecks, § 13 Rn. 15a; Maurach/Gössel/Zipf, AT 2, § 45 Rn. 32; Otto, JURA 1999, 434<br />
(438); ders., JURA 2000, 549 (550); SK-Horn, § 212 Rn. 22; SK-Rudolphi, Vor § 13<br />
Rn. 47; Stoffers, JURA 1998, 580 (583).<br />
35 Führ, JURA 2005, 265 (269); Jäger, Rn. 336; Krey, AT 2, Rn. 321; Kühl, § 18 Rn. 17;<br />
Puppe, AT 2, § 46 Rn. 13 ff.; Roxin, AT II, § 31 Rn. 115 ff.; Wessels/Beulke, Rn. 703;<br />
hier in der Form des sog. „Unterlassens durch Tun“; kritisch hierzu Stoffers, JURA 1998,<br />
580 (582).<br />
36 Ähnlich liegt der Fall BGHSt 40, 257 (265 f.): Entfernung einer Magensonde und<br />
Anordnung der Weiterernährung lediglich mit Tee bis zum Tod des Patienten; vgl. auch<br />
die entsprechende Falllösung bei Murmann, JuS 1998, 630; ferner die Übungsfälle bei<br />
Rudolphi, JURA 1979, 39; Vogel/Hocke, JURA 2005, 709 (710); kritisch hierzu Stoffers,<br />
JURA 1998, 580.<br />
37 Wessels/Beulke, Rn. 705.<br />
38 Für aktives Tun in den Fällen des Abschaltens eines Beatmungsgerätes Stoffers, JURA<br />
1998, 580 (583); für ein Unterlassen LG Ravensburg NStZ 1987, 229; Rengier, BT 2,<br />
§7 Rn.8; Roxin, NStZ 1987, 345 (348 ff.).<br />
9<br />
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873 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />
den Kausalverlaufes) 39 . Anhand mehrerer Beispielsfälle, die beliebig variierbar<br />
sind, soll die Problematik deutlich gemacht werden. In einer Klausur wird allerdings<br />
kaum einmal „genau der Lehrbuchfall“ abgeprüft, es geht also darum, die<br />
verschiedenen Differenzierungskriterien zu verstehen, um sie auf „unbekannte“<br />
Fälle anzuwenden.<br />
10<br />
Bsp. (1): Anton sieht zu, wie Bruno auf einem Baggersee mit seinem Schlauchboot<br />
kentert. Weit und breit ist kein Mensch zu sehen. Anton selbst ist Nichtschwimmer, er<br />
könnte Bruno aber durch das Zuwerfen eines Seils retten, welches er am Ufer findet.<br />
Dennoch unternimmt er nichts und entfernt sich, da er sich nicht die Finger schmutzig<br />
machen will. Bruno ertrinkt. – Hier liegt nach den oben genannten Grundsätzen (Felsbrockenfall)<br />
40 eindeutig ein Unterlassen der Rettungshandlung (und kein aktives Tun<br />
durch das Weglaufen) vor. Anton ist lediglich wegen unterlassener Hilfeleistung,<br />
§ 323c StGB, und (mangels Garantenstellung) nicht wegen Totschlags durch Unterlassen<br />
strafbar.<br />
Bsp. (2): Anton nimmt das am Ufer liegende Seil auf und will es dem Ertrinkenden<br />
zuwerfen. Gerade als er dazu ansetzt, entdeckt er, dass es sich bei dem Ertrinkenden<br />
um Bruno, seinen Nebenbuhler, handelt. Er legt das Seil wieder am Flussufer ab und<br />
geht heim. Bruno ertrinkt. – Auch hier liegt der Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit auf<br />
dem Unterlassen der Rettung des Bruno. Das dazwischen geschaltete kurzfristige Tun<br />
(Aufnehmen des Seils) hat keine rechtliche Bedeutung erlangt41 . Da Anton kein Garant<br />
ist, kommt auch hier lediglich § 323c StGB in Betracht.<br />
Bsp. (3): Anton wirft dem Ertrinkenden das Seil zu. Jetzt erst erkennt er, dass es sich<br />
bei dem Ertrinkenden um seinen Nebenbuhler Bruno handelt. Er lässt das Seil wieder<br />
los und entfernt sich. Zwar kann Bruno noch das Seil ergreifen, dies hilft ihm jedoch<br />
nichts mehr, da das andere Ende inzwischen „unbesetzt“ ist. Er ertrinkt. – Sowohl das<br />
Zuwerfen als auch das Loslassen des Seils (und wiederum das Weggehen) stellen jeweils<br />
aktive Verhaltensweisen dar. Stellt man hingegen auf die Nichtrettung Brunos insgesamt<br />
ab, liegt ein Unterlassen vor. Hier liegt der Schwerpunkt ebenfalls (noch) auf dem<br />
Unterlassen, da man auch in diesem Fall dem Täter letztlich nicht vorwirft, dass er ein<br />
Seil losgelassen oder sich entfernt hat, sondern dass er Bruno nicht gerettet hat. Es<br />
kommt ebenfalls nur § 323c StGB in Frage.<br />
Bsp. (4): Anton wirft Bruno das Seil zu, welches dieser auch ergreift. Nachdem er<br />
Bruno einige Meter in Richtung Ufer gezogen hat, erkennt er, dass es sich um seinen<br />
Nebenbuhler handelt. Daraufhin lässt er das Seil los. Bruno ertrinkt. – Hier hat Anton<br />
durch das Loslassen des Seils (= Tun) einen rettenden Kausalverlauf unterbrochen.<br />
Diese Rettung hatte sich jedoch ebenso wie in den vorhergehenden Fällen noch nicht<br />
konkretisiert, da Bruno allein durch das Ergreifen des Seils noch nicht gerettet war.<br />
Anton hätte ihn vielmehr noch herausziehen müssen. Durch das Loslassen des Seils<br />
stellt Anton somit lediglich den vorigen Zustand wieder her. Für Bruno hatte sich somit<br />
noch keine realisierbare Rettungsmöglichkeit eröffnet, die unabhängig von Antons<br />
39 Vgl. hierzu auch den Übungsfall bei Ingelfinger, JuS 1995, 321 (326); ferner die Beispiele<br />
bei Jäger, Rn. 335.<br />
40 Vgl. oben Rn. 865, 867.<br />
41 Vgl. nur Kühl, § 18 Rn. 21.<br />
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