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Strafrecht Allgemeiner Teil 2 - Kohlhammer

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866 Das Unterlassungsdelikt – Übersicht<br />

6<br />

Ausgangsfall 320 : Fabrikant Fritz überlässt seinen Arbeitern Ziegenhaare zur Herstellung<br />

von Pinseln. Entgegen seiner gesetzlichen Pflicht hat Fritz die Ziegenhaare, die er<br />

aus dem Ausland bezogen hat, nicht desinfizieren lassen. Mehrere Arbeiter sterben an<br />

Milzbrand, da die Haare verseucht waren. – Das Überlassen der Ziegenhaare an die<br />

Arbeiter stellt ein aktives Tun dar, die vorherige fehlende Desinfektion ist ein klassisches<br />

Unterlassen.<br />

Ausgangsfall 4: Anton, der allein durch den Wald schlendert, sieht, wie dem Spaziergänger<br />

Bruno ein schwerer Felsbrocken auf den Kopf fällt. Anstatt zu helfen, rennt er<br />

weg, weil er kein Blut sehen kann. Bruno stirbt, was Anton billigend in Kauf nimmt.<br />

Hätte er geholfen, so wäre Bruno nicht gestorben. – Während man im Wegrennen ein<br />

aktives Tun sehen kann, liegt in der fehlenden Hilfeleistung ein Unterlassen. Dieser Fall<br />

ist deswegen besonders brisant, weil man, je nachdem, ob man ein Tun oder ein Unterlassen<br />

annimmt, zu ganz unterschiedlichen Ergebnissen kommt. Bei einem aktiven Tun<br />

liegt eine Strafbarkeit wegen Totschlags vor, § 212 StGB. Nimmt man hingegen ein<br />

Unterlassen an, scheitert eine Strafbarkeit wegen Totschlags durch Unterlassen,<br />

§§ 212, 13 StGB, an der fehlenden Garantenstellung Antons. Es käme „lediglich“ eine<br />

unterlassene Hilfeleistung, § 323c StGB, in Betracht.<br />

866 Eine Lösung lässt sich in diesen Fällen nicht immer zweifelsfrei entwickeln. Während<br />

eine Ansicht hier streng am Kriterium des Energieeinsatzes festhält 21 , sehen<br />

andere sowohl ein Delikt durch aktives Tun als auch ein solches durch Unterlassen<br />

als erfüllt an und lösen das Problem auf Konkurrenzebene 22 . Keine dieser Ansichten<br />

kann jedoch restlos befriedigen, weil in Einzelfällen trotz eines vorliegenden<br />

Energieeinsatzes die Unterlassenskomponente überwiegen kann. Die Entscheidung<br />

hängt vielmehr stets von einer normativen Wertung ab. Es muss gefragt<br />

werden, welches Verhalten man dem Täter letztlich vorwirft, worin also der<br />

Schwerpunkt der Vorwerfbarkeit, d.h. der Schwerpunkt des strafrechtlich relevanten<br />

Verhaltens gesehen werden kann 23 . Diese – leider recht unbestimmte –<br />

Formel 24 erfordert zwar letztlich immer eine Einzelfallprüfung, man wird hierdurch<br />

aber in die Lage versetzt, im Wege einer wertenden Beurteilung interessensgerechte<br />

Ergebnisse zu erzielen. Allerdings können zur besseren Orientierung verschiedene<br />

Fallgruppen gebildet werden:<br />

20 Fall nach RGSt 63, 211 – Ziegenhaarfall; vgl. hierzu Führ, JURA 2006, 265 (266 f.);<br />

Engisch, Gallas-FS 1973, S. 163 (184 ff.); Puppe, AT 2, § 45 Rn. 16 ff.<br />

21 Brammsen, GA 2002, 193 (205); Joecks, § 13 Rn. 15a; Kindhäuser, § 35 Rn. 4; Maurach/Gössel/Zipf,<br />

AT 2, § 45 Rn. 30; MüKo-Freund, § 13 Rn. 8 f.; Roxin, AT II, § 31<br />

Rn. 78; ders., ZStW 74 (1963), 411 (415); Sieber, JZ 1983, 431 (436); SK-Rudolphi,<br />

Vor § 13 Rn. 6 f.; Otto, § 9 Rn. 2; ders., JURA 2000, 549; Otto/Brammsen, JURA<br />

1985, 530 (531 f.); vgl. auch Kargl, GA 1999, 459.<br />

22 Baumann/Weber/Mitsch, § 15 Rn. 27; Jakobs, 28/4; Rotsch, JuS 2004, 607 (612); Seelmann,<br />

JuS 1987, L 33 (L 35); Walter, ZStW 116 (2004), 555 (567 f.); vgl. auch Stoffers,<br />

JURA 1998, 580 (581).<br />

23 BGHSt 6, 46 (59); BGHSt 40, 257 (265 f.); BGHSt 49, 147 (164); BGH NStZ 1999,<br />

607; BGH NStZ 2003, 657; Haft, JA 1982, 473 (474); Kaspar, JA 2006, 855 (856);<br />

Krey, AT 2, Rn. 322; Schönke/Schröder-Stree, Vorbem §§ 13 ff. Rn. 158; Wessels/<br />

Beulke, Rn. 700; kritisch hierzu Arzt, JA 1978, 557 (562); Jäger, Rn. 333; Klesczewski,<br />

Rn. 254; Puppe, AT 2, § 46 Rn. 2 ff.; Struensee, Stree/Wessels-FS 1993, S. 133 (136 ff.).<br />

24 Vgl. zur Kritik Czerner, JR 2005, 94 (95); Führ, JURA 2006, 265 (267 ff.); Stoffers, JuS<br />

1993, 24 (27); ders., JURA 1998, 580 (582).<br />

© 2009 W. <strong>Kohlhammer</strong>, Stuttgart

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