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Vorlesung Tscherkes - Städtebau

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Skriptum <strong>Vorlesung</strong> „Geschichte, Utopien, Modelle“<br />

Stadt- und Regionalplanung 260.048<br />

Stand: Wintersemester 2011/2012<br />

Vortragender: Prof.Dr.Dipl.-Ing.Arch.Bohdan <strong>Tscherkes</strong><br />

In der wissenschaftlichen Terminologie bezeichnet der<br />

Begriff Modell eine Abstraktion, mit deren Hilfe etwas als<br />

funktionierendes System beschrieben wird. Die Elemente<br />

dieses abstrakten Systems und die Zusammenhänge und<br />

Verbindungen zwischen ihnen, werden im Modell so klar<br />

als möglich, vorzugsweise in quantitativer Form, dargestellt.<br />

Im städtebaulichen Sinn ist ein Modell ein Bild oder eine<br />

Abbildung, wie eine Umgebung gestaltet werden soll, entweder,<br />

um sie zu verbessern oder um ein Musterbeispiel<br />

zu schaffen. Ein Modell kann genau und eindeutig oder<br />

vieldeutig und intuitiv sein. Ein Modell kann eine graphische,<br />

verbale oder mathematische Form haben.<br />

Dem Begriff Modell sinnverwandt ist der Begriff Utopie,<br />

der vom griechischen Wort topos (Platz) stammt und in<br />

Verbindung mit der Vorsilbe u eine doppelte Bedeutung<br />

haben kann: „nirgendwo“ oder „Ort der Seligkeit“. ln seinem<br />

berühmten Werk „Utopia”, das 1516 erschien, führte<br />

Thomas Morus diesen Begriff in eben diesem Doppelsinn<br />

erstmals ein. Im Gegensatz zu Modell bezeichnet Utopie<br />

jedoch wissentlich Schwierigkeiten oder die Unmöglichkeit<br />

einer Realisierung der propagierten Idee.<br />

Im Bereich des <strong>Städtebau</strong>s und der Stadtplanung gibt es<br />

eine große Anzahl von wissenschaftlichen Forschungen<br />

und Publikationen zu diesem Thema. Die konzentrierteste<br />

Typologie von Stadtmodellen, denen ein Planungsmuster<br />

zu Grunde liegt, stammt von Gerd Albers. Laut Albers<br />

lässt sich die Vielfalt der Stadtplanungsstrukturen auf drei<br />

Grundmodelle zurückführen:<br />

- Homogene Stadtmodelle;<br />

- Konzentrische Stadtmodelle;<br />

- Lineare Stadtmodelle.<br />

Diese drei Grundmodelle und ihre Kombinationen spiegeln<br />

die Vielfalt möglicher Stadtmodelle wider. Es wäre jedoch<br />

ein Fehler, dieses Schema für umfassend zu halten.<br />

Es lässt z.B. Stadtmodelle außer acht, die organisch entstanden<br />

sind, ebenso wenig berücksichtigt es sogenannte<br />

spontane oder ungeplante Stadtentwicklungen, obwohl es<br />

solche Städte und Gebiete in der Zivilisationsgeschichte<br />

schon immer gegeben hat.<br />

Gerd Albers, Typologie von Stadtmodellen, 1992<br />

1<br />

The speed of urban change<br />

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Skriptum <strong>Vorlesung</strong> „Geschichte, Utopien, Modelle“<br />

Es gibt also in jedem theoretischen Stadtmodell einen bestimmten<br />

Schematismus, über den beim konkreten Projektieren<br />

hinausgegangen werden muss. Aber die Kenntnis<br />

verschiedener Stadtmodelle und das Wissen um die<br />

Besonderheiten ihres Funktionierens erlaubt das richtige<br />

Anwenden des jeweiligen Modells unter Berücksichtigung<br />

seiner Stärken und Schwächen.<br />

Zu den älteren Modellen der Stadtentwicklung gehört das<br />

organische Stadtmodell. Man sollte davon ausgehen dass<br />

die ersten Städte spontan entstanden sind und zwar durch<br />

die Zusammenlegung von früheren Besiedlungs- und verschiedenen<br />

Bebauungsformen. In der Antike wurde dieser<br />

Prozess mıt dem Begriff „Synoecismus“ bezeichnet, der<br />

erstmals von Aristoteles verwendet wurde. Eine Stadtentwicklung<br />

auf dieser Grundlage gibt es bis heute. Zu<br />

bekannten Städten die sich nach diesen Prinzipien entwickelt<br />

haben gehören z.B. Troja, Rom, Venedig, Tokyo<br />

Shanghai, u. a. Natürlich wurde und wird in den weiteren<br />

Entwicklungsphasen jeder dieser Städte eine Regulierung<br />

versucht, aber ihrer Entwicklung lag ein spontaner<br />

Prozess zu Grunde. Dieses organische Entwicklungsmodell<br />

ist zu einer bestimmten Zeit für den Großteil der sich<br />

historisch bildenden Städte charakteristisch z. B. für eine<br />

Stadt, die einst als Raster eines römischen Lagers geplant<br />

und gebaut wurde, später deformiert wird und sich dann<br />

auf Grundlage des organischen Modells weiter entwickelt.<br />

Eine solche Entwicklungsphase sehen wir auch im Plan<br />

von London, Paris und Wien im Mittelalter, im Plan des<br />

heutigen Rio de Janeiro, Sao Paulo, Caracas, Mexico-City<br />

oder Bangkok durch das umregulierte und ungeplante<br />

Wachstum der Slums und Favelas.<br />

Das Radial Konzentrische Stadtmodell entstand durch die<br />

Analyse der Prinzipien der spontanen Stadtentwicklung<br />

und der Versuche ihrer Regulierung. Damit dieses Modell<br />

funktionieren kann, muss ein ausgeprägtes Zentrum<br />

vorhanden sein, von dem radiale Verkehrsachsen ausgehen.<br />

Sekundäre Zentren liegen entlang der Hauptachsen.<br />

In bestimmten Intervallen werden die radialen Magistralen<br />

von Ringstraßen umfasst. Das Schema fordert einen<br />

aktiven und dicht verbauten Kern und eine Abnahme der<br />

Bebauungsdichte je nach Entfernung vom Zentrum. Die<br />

Wirksamkeit des Modells verringert sich proportional zur<br />

Zunahme des Verkehrs entlang der radialen Magistralen.<br />

Wenn die Größe der Stadt gewisse Grenzen überschreitet,<br />

wird ihr Kern erstickt, die Peripherie beginnt sich unabhängig<br />

vom Zentrum des Systems zu entwickeln. Daher<br />

ist dieses Modell ideal für die Entwicklung von Städten mit<br />

einer beschränkten Ausdehnung und es bedarf einer standigen<br />

Regulierung. Betrachtet man die Geschichte von<br />

Hamadan(gr.Ekbatana),Iran, Madiens Hauptstadt,7.Jh.v.Chr.<br />

Idealstadt von Albrecht Dürer, 1527<br />

Claude Nicolas Ledoux, Idealstadt (Salinenstadt) Chaux, 1775<br />

Eugen Fassbender, Generalregulierung für WIen, 1893<br />

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Skriptum <strong>Vorlesung</strong> „Geschichte, Utopien, Modelle“<br />

Städten die sich auf der Grundlage dieses Modells entwickelt<br />

haben, kann man zwischen Städten unterscheiden,<br />

die von vornherein auf Basis des konzentrischen Modells<br />

angelegt waren und jenen, in denen es Optimierung und<br />

Weiterentwicklung von bereits vorhandenen Stadtstrukturen<br />

verwendet wurde. Zu den ersteren konzentrisch geplanten<br />

Städten zahlt eine ganze Reihe der sogenannten<br />

idealen Städte z. B. das Bagdad des Kalifen Al Mansur,<br />

Palma Nova, Karlsruhe, Chaux u. a.<br />

Ein herausragender Vertreter dieses Konzepts war Ebeneser<br />

Howard, der Begründer der Gartenstadt und seine<br />

Nachfolger. Dieses Modell wurde bei der Gründung von<br />

Satellitenstädten in England, der ehemaligen Sowjetunion<br />

und anderen Ländern im 20 Jh. verwendet. Das radial<br />

konzentrische Modell wurde und wird zur Rekonstruktion<br />

bestehender Städte herangezogen. Dieses Stadtentwicklungsmodell<br />

ist typisch für das heutige Moskau, es findet<br />

Anwendung in Wien, Paris und vielen anderen europaischen<br />

Städten.<br />

Obwohl das lineare Stadtmodell vor allem im 20 Jh. weit<br />

verbreitet war, bildete es sich als Besiedlungsform bereits<br />

in der tiefen geschichtlichen Vergangenheit heraus.Die<br />

wesentlichen Faktoren, die zu seiner historischen Entwicklung<br />

beitrugen, waren topographische, örtliche Besonderheiten<br />

(Besiedlung entlang eines Flusses am Meeresufer<br />

oder im Tal) und Verkehrsmagistralen. Die Grundlage der<br />

neuen Entwicklung bildete die Aufteilung der grundlegenden<br />

Funktionen der Stadt (Wohnen, Produktion, Transport<br />

und Erholung) und ihre Ausbreitung entlang der Hauptverkehrsadern.<br />

Dadurch sollte für alle Bewohner eın maximaler<br />

Zugang zu allen Ressourcen der Stadt garantiert<br />

werden: einerseits die möglichst kürzeste Entfernung zu<br />

den Magistralen und der Produktion, andererseits zu den<br />

Grüngebieten. Lineare Städte können sich auf große Distanzen<br />

ausdehnen, von einer alten Stadt zur nächsten,<br />

diese verbinden und entweder in die Landschaft einbeziehen<br />

oder ım Kontrast zu ihr stehen. Eigentlich haben<br />

wir es hier mit einer hyperentwickelten Achse einer radial<br />

konzentrischen Stadt zu tun, die sich auf unbestimmte Distanz<br />

hin ausbreitet.<br />

In der Praxis erwies sich die Anwendung dieses Modells<br />

für eine ganze Stadt als nicht effizient. Die Entfernung zwischen<br />

ihren Elementen ist wesentlich großer als in einer<br />

kompakten Stadt und die Fortbewegungsmöglichkeit ist<br />

auf eine Richtung beschränkt und damit viel ärmer. Das<br />

System braucht ständig eine synchrone, parallele Entwicklung<br />

der funktionellen Zonen. Intensiviert sich die<br />

Entwicklung auf einem Abschnitt der Linie, führt dies zu<br />

einer Zerstörung des Gesamtsystems. Es beginnen sich<br />

Quermagistralen und -bebauungen zu entwickeln, die die<br />

Linearheit des Systems zerstören. Unklar bleibt auch das<br />

gmp Architekten, Lingang New City, China<br />

Bandstadt - lineare Stadt<br />

Superstudio, Continuous Monument, 1969<br />

2<br />

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Skriptum <strong>Vorlesung</strong> „Geschichte, Utopien, Modelle“<br />

Problem des Stadtzentrums. Das Modell ist nur in einem<br />

beschränktem Maß anwendbar (Fußgängerzone, Handelszentrum,<br />

Wohnblock u. a.).<br />

Das lineare Stadtmodell war auf einer theoretischen<br />

Ebene während des 20 Jhs. sehr populär und wurde in<br />

Vorschlägen zur Stadtentwicklung in Hamburg, London,<br />

Moskau und Madrid, Rio de Janeiro, Warschau, Wien,<br />

Chicago und anderen Städten angewandt. Viele bekannte<br />

Architekten und Stadtplaner wie Le Corbusier, Lucio Costa,<br />

Tony Garnier, Ludwig Hilbersheimer, Rem Kohlhaas,<br />

Ernst Kurz, Ivan Leonidow, Arturo Soria y Mata, Nikolai<br />

Millutin, Richard Neutra, Roland Rainer, Fritz Schumacher,<br />

Paul Wolf u. a. wandten sich ihm zu und entwickelten<br />

es. Die fragmentarische Verwirklichung des Modells<br />

in Magnitogorsk, Madrid, Stalingrad und Charkiv zeigte<br />

jedoch die beschränkte Effizienz seiner Verwendung.<br />

Das Rastermodell der Stadt entwickelt sich mit der<br />

menschlichen Erkenntnis, dass Städte reguliert und bewusst<br />

geplant werden müssen und existiert seit ca. 40<br />

Jahren. Verschiedene Kulturen bedienten sich dieses<br />

Modells. Reguläre Rasterstrukturen sehen wir in den Plänen<br />

der ersten Städte Mesopotamiens und Babylons, in<br />

alten und modernen chinesischen Städten, in den Polis<br />

des antiken Griechenlands und in den Städten Roms, in<br />

den Planungsstrukturen der Renaissance und in den idealen<br />

Schemen der Utopisten, in den von den spanischen<br />

Konquistadoren, zerstörten Städten der Azteken und lnkas<br />

und in den Städten von eben diesen Spaniern in Lateinamerika<br />

gebaut wurden. Fast alle Städte Nordamerikas<br />

sind nach den Prinzipien des orthogonalen Rasters<br />

aufgebaut. Alle städtebaulichen Aktivitäten im zaristischen<br />

Russland des 19.- 20. Jhs., Kolonisierung Sibiriens und<br />

der Südukraine verwenden das Raster als Muster. Es ist<br />

schwierig eine Stadt zu finden, in der keine Rasterstrukturen<br />

verwendet wurden, oder einen <strong>Städtebau</strong>er, der sie<br />

nicht verwendet hat. Das Modell wurde von Hippodamus<br />

von Milet im 5 Jh. v. Chr. in Griechenland, von Meng-Zi im<br />

4 Jh. v. Chr. in China, von Christopher Wren im 17Jh. in<br />

England, von William Penn im 18 Jh. in den USA, von Ildefonso<br />

Cerda und Otto Wagner im 19 Jh., von Le Corbusier<br />

und Ludwig Hilbersheimer im 20 Jh., von Zaha Hadid und<br />

Norman Foster im 21. Jh. und vielen anderen verwendet.<br />

Die herausragende Idee dieses Schemas ist das rechteckige<br />

Straßennetz das ein Gebiet in gleich große Blöcke<br />

teilt und in jede Richtung ausgeweitet werden kann. Eigentlich<br />

hat diese Form keine bestimmte äußere Grenze<br />

oder Zentrum. Die Funktion ist nicht an einen bestimmten<br />

Ort gebunden da am Plan aIIe Teile identische Züge tragen.<br />

Wachstum und Veränderung können in jedem beliebigen<br />

TeiI des Rasters vor sich gehen. Es ist interessant,<br />

3<br />

4<br />

5<br />

Rasterstadt - Fläche<br />

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Skriptum <strong>Vorlesung</strong> „Geschichte, Utopien, Modelle“<br />

dass das Schema sowohl als Mittel zentraler Kontrolle,<br />

als auch zur Verwirklichung sozialer Gleichheit verwendet<br />

werden kann. Obwohl sich die Idee eines Zentrums nur<br />

schlecht mit der Idee des reinen Rasters verträgt, ist es<br />

nicht schwierig ein solches zu schaffen. Solange die Größe<br />

des Zentrums und die Intensität seiner Verwendung<br />

nicht eıne bestimmte Schwelle der deformierenden Größenordnung<br />

überschreitet, verbindet es sich problemlos<br />

mit dem vorgegebenen Netz. Das Perimeter des Rasters<br />

kann jede beliebige Form annehmen. Es können Hierarchien<br />

von Straßen und lokale Deformationen zugelassen<br />

werden, die einer Besonderheit der Topographie entsprechen.<br />

Aber wie auch in den anderen Modellen, führt eine<br />

Ausdehnung des Systems zu wesentlichen Änderungen,<br />

zu einer Vergrößerung der Intensität der Ströme und der<br />

Dichte der funktionalen Verwendung der zentralen Zonen,<br />

was einen unmittelbaren Einfluss auf die Form und funktionalen<br />

Verwendung des Modells hat. Wenn alle Straßen<br />

gleich sind, dann ist die Verteilung der Transportströme<br />

vollkommen unvorhersagbar. Das Fehlen diagonaler Magistralen<br />

führt zu einer Verlängerung und Verkomplizierung<br />

der Verbindungen zwischen den weit auseinander<br />

liegenden Punkten des Systems. Die Einführung solcher<br />

Diagonalen führt zur Deformation des Basismodells. Eine<br />

Standardisierung der Straßenbreite führt prinzipiell zu<br />

einer Monotonität und Verschwendung der Ressourcen<br />

zu einer Vernichtung der topographischen Besonderheiten<br />

des Terrains. Je nach konkreter Situation und je nach<br />

Maßstab, können viele dieser Unzulänglichkeiten des Modells<br />

durch die Hierarchisierung von Straßen die Berücksichtigung<br />

der Topographie, die freie Gestaltung des inneren<br />

Raums von Blöcken durch Verwendung von attraktiver<br />

Architektur und Kunstmittel vermieden werden.<br />

Die Kombinierung der angeführten grundlegenden Stadtmodelle<br />

ihre Komponierung, Rekonstruktion, Entwicklung<br />

und Umsetzung unter realen Bedingungen der Stadtplanung,<br />

führt zu einer Bereicherung und Verkomplizierung<br />

der grundlegenden Schemata und zum Erscheinen von<br />

kreativen Modellen, die Theorie und Praxis des modernen<br />

<strong>Städtebau</strong>s maßgeblich bereichern.<br />

New York City, Commissioners’ Plan of 1811<br />

6<br />

7<br />

Plan von Cusco, 1597<br />

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