2 Predigten zu Tobit

geworden, sein Sohn Tobias 127 Jahre. Das ist in biblischen
Dimensionen nicht sehr alt. Immerhin soll Methusalem 969 Jahre alt
geworden sein. Dennoch ist es alt genug, um symbolische Bedeutung für
die Geschichte zu haben. Hohes Alter ist in der Bibel der Lohn für ein
gerechtes Leben. Und so schliesst sich mit dieser Jahresangabe der
Erzählkreis, der mit dem bereits zitierten Selbstpräsentation Tobits
begonnen hat: „Ich, Tobit, habe mich mein ganzes Leben lang an den
Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit gehalten“.
Wenn wir versuchen wollen, diese Lebenshaltung auf uns selber zu
übertragen, haben vermutlich die meisten so ihre Schwierigkeiten. Sich
ein ganzes Leben lang an den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit
halten – das klingt nach einem hehren Ziel. Allerdings auch nach einem,
finde ich, das nichts von seiner Bedeutung verloren hat und vielleicht
gerade unserer heutigen Welt gut tun würde.
Verändert haben sich hingegen die Rahmenbedingungen; zumindest für
den Grossteil der modernen Menschen. Tobit wusste genau, was er zu
tun hatte; er musste die Weisungen der Tora einhalten, streng nach den
Regeln seiner jüdischen Religion leben. Das war zwar ein grosse
Herausforderung, da er im Exil lebte, aber es gab ihm die Gewissheit,
den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit zu gehen. Dieselbe Situation
gibt es auch heute noch; das wird gerade hier in der Enge sichtbar, wo
orthodox-jüdisches Leben seit jeher zum Gesicht des Quartiers gehört.
Es gilt überall dort, wo Religion in sehr ausgeprägter Art gelebt wird. Das
aber ist die Minderheit.
Für die Mehrheit her Menschen ist nicht von vornherein klar, wie er
aussehen soll, dieser Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir müssen
18