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Der Reisegefährte<br />
– zwei Sommergottesdienste <strong>zu</strong>m Buch <strong>Tobit</strong><br />
Teil I: Predigt vom 15. Juli 2012, Kirche Enge, 10.30 Uhr<br />
Einleitung <strong>zu</strong>r Lesung:<br />
Das Buch <strong>Tobit</strong> ist ein sogenannt apokryphes Buch. Also eines, das nicht in die<br />
hebräische Bibel aufgenommen wurde, und das vollständig nur in einer<br />
späteren griechischen Version vorliegt. Die römisch-katholische und die<br />
orthodoxe Tradition kennen das <strong>Tobit</strong>-Buch als Teil der Bibel, die evangelisch-<br />
reformierte Tradition hingegen hat es, ausgehend vom Buchbestand der<br />
hebräischen Bibel, nicht aufgenommen.<br />
Das <strong>Tobit</strong>-Buch erzählt eine Geschichte grossen Gottvertrauens. Sie spielt im<br />
8. Jahrhundert vor Christus, im Exil in Ninive.<br />
„Ich, <strong>Tobit</strong>, habe mich mein ganzes Leben lang an den Weg der Wahrheit und<br />
Gerechtigkeit gehalten“<br />
So beginnt das Buch <strong>Tobit</strong>. Ein Anfang wie bei einer Autobiographie.<br />
Dieses betonte „Ich“ am Anfang, ego auf griechisch, mag für uns Heutige<br />
überheblich wirken als Buchanfang. Für <strong>Tobit</strong>s Zeitgenossen war es anders.<br />
Sie hörten daraus in erster Linie, dass <strong>Tobit</strong> – sein Name bedeutet auf<br />
hebräisch „Gott ist gut“ - ein gutes jüdisches Leben führt, indem er ganz nach<br />
der Tora, dem jüdischen Gesetz lebt. Das meint „den Weg der Wahrheit und<br />
Gerechtigkeit gehen“.<br />
Das ist nicht leicht in seiner Situation, denn <strong>Tobit</strong> lebt im Exil, im 8.<br />
Jahrhundert v. Chr. Ort der Handlung ist Ninive, die Hauptstadt von Assur.<br />
Ninive ist aber mehr als eine historische Stadt. In der Bibel ist Ninive der<br />
Inbegriff der sündigen Grossstadt, ein gottloser Ort und Zentrum des<br />
Heidentums. Hier also lebt <strong>Tobit</strong>, der fromme Jude, <strong>zu</strong>sammen mit seiner Frau<br />
Hanna und seinem Sohn Tobias.<br />
1
<strong>Tobit</strong> bringt es in seiner Exilsheimat <strong>zu</strong> Ansehen, lebt aber unbeirrt streng<br />
nach den Geboten seiner Religion. Dabei geht er sogar so weit, die Toten<br />
seines Volkes <strong>zu</strong> begraben, obwohl das verboten ist. Dies wird ihm denn auch<br />
<strong>zu</strong>m Verhängnis; <strong>Tobit</strong> wird erwischt, verliert all sein Hab und Gut und muss<br />
fliehen. Dank eines Regierungswechsels kann er wenig später nach Ninive<br />
<strong>zu</strong>rückkehren. Das klingt nach einem Happy End, doch es kommt anders.<br />
Durch einen unglücklichen Zufall erblindet <strong>Tobit</strong>, und zwar auf höchst<br />
unwürdige Weise. Als er sich nach einer nächtlichen Beerdigungsaktion an der<br />
Hofmauer <strong>zu</strong>m Schlafen legt, weil er durch das Begraben der Toten unrein<br />
geworden ist und nicht ins Haus kann, fällt ihm Vogeldreck in die Augen.<br />
Daraufhin hat er weisse Flecken in den Augen und wird blind. Als ihn seine<br />
Frau auch noch wegen seiner Barmherzigkeit verspottet, betet <strong>Tobit</strong> in seiner<br />
Verzweiflung <strong>zu</strong> Gott, er möge ihn sterben lassen.<br />
Dann ändert sich der Schauplatz der Erzählung abrupt. Parallel <strong>zu</strong> <strong>Tobit</strong>s<br />
Schicksal wird dasjenige der frommen Sara im fernen Ekbatana erzählt. Diese<br />
junge jüdische Frau leidet darunter, dass ein Dämon jeden Mann, der ihr nahe<br />
kommt, in der Hochzeitsnacht umbringt. Bereits 7 Männer sind so <strong>zu</strong> Tode<br />
gekommen. Wie <strong>Tobit</strong> betet auch sie verzweifelt <strong>zu</strong> Gott und bittet darum<br />
sterben <strong>zu</strong> dürfen.<br />
Beide Gebete werden gleichzeitig erhört, und in diesem Moment verbinden<br />
sich die beiden Geschichten: «Das Gebet beider, <strong>Tobit</strong>s und Saras, fand<br />
Gehört bei der Majestät des grossen Rafael. Er wurde gesandt, um beide <strong>zu</strong><br />
heilen.» erfährt man im dritten Kapitel. <strong>Tobit</strong>, der davon natürlich nichts weiss,<br />
schickt nun seinen Sohn Tobias nach Medien, um Geld <strong>zu</strong> holen, das er vor<br />
vielen Jahren dort bei einem Verwandten deponiert hat.<br />
Davon berichtet das 5. Kapitel des <strong>Tobit</strong>buches, das wir nun hören.<br />
2
Lesung: <strong>Tobit</strong> 5<br />
Kapitel 5<br />
Ein Reisegefährte: 5,1–17<br />
hast.<br />
1 Tobias antwortete ihm: Ich will alles tun, Vater, was du mir aufgetragen<br />
2 Aber wie soll ich das Geld holen? Ich kenne Gabaël doch nicht.<br />
3 Da gab ihm der Vater den Schuldschein und sagte: Such jemand, der mit<br />
dir auf die Reise geht. Ich will ihn entlohnen, solange ich noch am Leben bin.<br />
Mach dich also auf den Weg und hol das Geld ab!<br />
4 Tobias ging auf die Suche nach einem Begleiter und traf dabei Rafael;<br />
Rafael war ein Engel, aber Tobias wusste es nicht.<br />
5 Er fragte ihn: Könnte ich mit dir nach Rages in Medien reisen? Bist du mit<br />
der Gegend dort vertraut?<br />
6 Der Engel antwortete: Ich will mit dir reisen; ich kenne den Weg und war<br />
schon bei unserem Bruder Gabaël <strong>zu</strong> Gast.<br />
7 Tobias bat ihn: Wart auf mich, ich will es meinem Vater sagen.<br />
8 Der Engel antwortete ihm: Geh, aber halte dich nicht auf!<br />
9 Tobias ging nach Hause und sagte <strong>zu</strong> seinem Vater: Ich habe einen Mann<br />
gefunden, der mit mir reisen will. Da sagte der Vater: Ruf ihn her <strong>zu</strong> mir! Ich<br />
möchte wissen, aus welchem Stamm er kommt und ob er auch <strong>zu</strong>verlässig<br />
genug ist, um dich <strong>zu</strong> begleiten.<br />
10 Tobias holte den Engel; Rafael kam und sie begrüßten einander.<br />
11 <strong>Tobit</strong> fragte ihn: Bruder, aus welchem Stamm und aus welcher Familie<br />
kommst du? Sag es mir!<br />
12 Da erwiderte Rafael: Geht es dir um den Stamm und die Familie oder um<br />
einen Mann, der gegen eine Entlohnung mit deinem Sohn auf die Reise geht?<br />
<strong>Tobit</strong> sagte: Bruder, ich möchte nur deine Herkunft und deinen Namen wissen.<br />
13 Da antwortete Rafael: Ich bin Asarja, der Sohn des großen Hananja,<br />
einer von den Brüdern deines Stammes.<br />
3
14 Darauf sagte <strong>Tobit</strong>: Sei willkommen, mein Bruder! Sei mir nicht böse,<br />
dass ich nach deinem Stamm und deiner Familie gefragt habe. Ich sehe, mein<br />
Bruder, dass du aus einem guten und edlen Geschlecht stammst. Denn ich<br />
habe Hananja und Natan, die Söhne des großen Schimi, kennen gelernt, als<br />
wir <strong>zu</strong>sammen nach Jerusalem pilgerten, um dort den Herrn an<strong>zu</strong>beten und<br />
das Erstlingsopfer und den Zehnten unserer Ernte dar<strong>zu</strong>bringen. Auch diese<br />
beiden hatten sich nicht beirren lassen, als unsere Brüder von Gott abfielen.<br />
Bruder, du stammst von guten Vorfahren.<br />
15 Aber sag mir: Welchen Lohn soll ich dir geben? Eine Drachme täglich und<br />
da<strong>zu</strong> den Lebensunterhalt, wie ihn auch mein Sohn erhält?<br />
16 Ich will dir aber noch etwas <strong>zu</strong> deinem Lohn hin<strong>zu</strong>geben, wenn ihr<br />
gesund <strong>zu</strong>rückkehrt.<br />
17 So einigten sie sich. Darauf sagte <strong>Tobit</strong> <strong>zu</strong> Tobias: Mach dich fertig <strong>zu</strong>r<br />
Reise! Ich wünsche euch alles Gute auf den Weg. Als der Sohn alles für die<br />
Reise vorbereitet hatte, sagte sein Vater <strong>zu</strong> ihm: Mach dich mit dem Mann auf<br />
den Weg! Gott, der im Himmel wohnt, wird euch auf eurer Reise behüten;<br />
sein Engel möge euch begleiten. Da brachen die beiden auf und der Hund des<br />
jungen Tobias lief mit.<br />
<strong>Tobit</strong>s Zuversicht: 5,18–23<br />
18 Hanna aber, die Mutter des Tobias, weinte und sagte <strong>zu</strong> <strong>Tobit</strong>: Warum<br />
hast du unseren Sohn weggeschickt? War er nicht die Stütze unseres Alters,<br />
als er noch bei uns ein– und ausging?<br />
19 Wir hätten dieses Geld gar nicht gebraucht; denn es ist nichts, verglichen<br />
mit dem Leben unseres Sohnes.<br />
20 Was uns der Herr <strong>zu</strong>m Leben gegeben hat, reicht für uns.<br />
21 <strong>Tobit</strong> antwortete: Mach dir keine Sorgen, Schwester, er wird gesund<br />
<strong>zu</strong>rückkommen und du wirst ihn wieder sehen.<br />
22 Denn ein guter Engel begleitet ihn und seine Reise wird ein gutes Ende<br />
nehmen; er wird sicherlich gesund heimkehren.<br />
23 Da hörte sie auf <strong>zu</strong> weinen.<br />
4
Predigt<br />
„Mach dich mit dem Mann auf den Weg! Gott, der im Himmel wohnt, wird<br />
euch auf eurer Reise behüten; sein Engel möge euch begleiten.“<br />
Mit diesen Worten verabschiedet <strong>Tobit</strong> seinen Sohn, gibt er ihm den Segen mit<br />
auf den Weg. Ein Engel soll ihn begleiten - wenn der wüsste...<br />
Offenbar merkt nicht einmal dieser fromme alte Mann, dass Raphael ein Engel<br />
ist. Vielleicht hat er aber doch irgendeine Ahnung, denn er ist sich ganz sicher,<br />
dass es gut kommt mit dieser Reise. Deshalb versteht er auch nicht, warum<br />
seine Frau so verzweifelt weint. Er tröstet sie mit den Worten: «Denn ein<br />
guter Engel begleitet ihn». Dieser Satz ist Ausdruck seines Gottvertrauens,<br />
aber vielleicht spürt er auch irgendwo etwas mehr.<br />
Es gibt doch diese seltenen Momente, wo man irgendwie etwas von einer<br />
anderen Dimension spürt, wo sich für Sekundenbruchteile der Vorhang hebt,<br />
die Trennung aufgehoben ist zwischen Hier und dort, zwischen Himmel und<br />
Erde. „Un ange passe“, sagt man auf französisch.<br />
Es gibt aber auch ganz irdische Gründe, warum <strong>Tobit</strong> diesem Reisegefährten<br />
vertraut, der sich Asarja nennt. Asarja – würde <strong>Tobit</strong> ganz genau hinhören,<br />
könnte er eine Ahnung haben, dass das nicht irgendein Mann ist, dieser<br />
Reisebegleiter. Asarja heisst nämlich auf hebräisch soviel wie „Gott hilft“,<br />
während der Rafaël, der wahre Name des Erzengels, „Gott heilt“ bedeutet.<br />
Wichtiger noch als der Name ist für <strong>Tobit</strong>, dass Asarja <strong>zu</strong>m gleichen Stamm<br />
gehört wie er, und dass er ein paar seiner Verwandten kennt. Dieses Wissen<br />
gibt <strong>Tobit</strong> Sicherheit. Gerade im Exil ist er darauf angewiesen, dass er genau<br />
weiss, mit wem er es <strong>zu</strong> tun hat.<br />
In der Fremde werden die Grenzen derer, denen man vertraut, enger, man<br />
zieht sich <strong>zu</strong>rück auf die Familie, die eigene Herkunft. Das scheint mir etwas<br />
<strong>zu</strong> sein, was auch im Europa des 21. Jahrhunderts spielt. Je fremder die<br />
5
Umgebung, desto stärker die Rückbesinnung auf die Herkunft. Es lässt mich<br />
an Menschen denken, die hier leben und kaum etwas mitbekommen vom<br />
hiesigen Leben; weil sie sich ausschliesslich in ihrer Familie bewegen, nur in<br />
ihrer Sprache, ihrer Herkunftstradition. Oft ist es für diese Menschen sehr<br />
schwierig, wenn sie irgendwann dorthin <strong>zu</strong>rück gehen, wo sie einst<br />
hergekommen sind, weil in ihrer Abwesenheit das Leben weitegegangn ist,<br />
sich dort vieles verändert hat, was sie in der Fremde wie sorgfältig bewahrt<br />
haben.<br />
Das war bei den vertriebenen Israeliten der Bibel so, und das ist auch heute<br />
so bei Menschen, die in der Fremde, im Exil leben müssen, weil sie von ihrem<br />
Herkunftsort vertrieben wurden. Die Frage nach der Stammes<strong>zu</strong>gehörigkeit<br />
kommt denn auch immer wieder vor in der Erzählung. Sie ist für <strong>Tobit</strong> ganz<br />
besonders wichtig, weil viele israelitische Stämme sich beim Untergang des<br />
Nordreichs von ihrem Glauben losgesagt hatten und damit begannen Baal<br />
an<strong>zu</strong>beten, auch ein Teil seines Stammes. Von dieser Spaltung berichtet <strong>Tobit</strong><br />
im ersten Kapitel des Buches, sie hat ihn <strong>zu</strong>innerst verletzt, und er muss sich<br />
von diesen Stammesgenossen ganz ausdrücklich immer wieder abgrenzen.<br />
Auffallend ist, dass Asarja befremdet auf <strong>Tobit</strong>s Frage reagiert: „Geht es dir<br />
um den Stamm und die Familie oder um einen Mann, der gegen eine<br />
Entlohnung mit deinem Sohn auf die Reise geht?“ fragt er. <strong>Tobit</strong> seinerseits<br />
entschuldigt sich: „Sei mir nicht böse, dass ich nach deinem Stamm und deiner<br />
Familie gefragt habe.“ Für ihn ist es eine grosse Beruhigung <strong>zu</strong> hören, dass<br />
dieser Asarja <strong>zu</strong> denen gehört, die weiterhin nach Jerusalem pilgerten. Es<br />
bedeutet für <strong>Tobit</strong>, dass dieser Mann mit Gott unterwegs ist und Gott mit ihm.<br />
Von daher kann er <strong>zu</strong>versichtlich sein und sagen: „Mach dich mit dem Mann<br />
auf den Weg!“ (17).<br />
Man darf nicht vergessen; es geht hier nicht um eine Ferien- oder<br />
Entdeckungsreise. Es geht eigentlich um alles oder nicht. Kommt Tobias nicht<br />
6
heil <strong>zu</strong>rück, so verliert <strong>Tobit</strong> den einzigen Sohn und alles Geld, mithin seine<br />
ganze Existenz.<br />
<strong>Tobit</strong> vertraut Asarja „blind“ – im wörtlichen wie im übertragenen Sinn. Er<br />
sieht ja nichts wegen der weissen Flecken auf den Augen. Er sieht Asarja also<br />
nicht, kann dem Mann, den er seinen Sohn anvertraut, nicht in die Augen<br />
blicken. Er muss sich blind auf dessen Wort verlassen. Was er hört, allerdings,<br />
gibt ihm das Vertrauen, dass alles gut kommt. Dieses Vertrauen drückt <strong>Tobit</strong><br />
aus im Segen, den er den zweien mit auf den Weg gibt: „Gott, der im Himmel<br />
wohnt, wird euch auf eurer Reise behüten; sein Engel möge euch begleiten.“<br />
(Liebe Gemeinde)<br />
Eigentlich ist es doch schade, dass wir einander nur noch selten segnen beim<br />
Abschied. Wir sagen „pass auf dich auf“, „mach’s gut“ oder im Dialekt „Heb<br />
der Sorg!“ Wir sagen solche Sätze, als ob das Gelingen in unserer Macht läge.<br />
In Befehlsform, genau genommen: „pass auf dich auf“ zb.<br />
Können Sie sich erinnern, wann Sie <strong>zu</strong>m letzten Mal „bhüet di Gott!“ gesagt<br />
haben <strong>zu</strong> jemanden, oder gar wie <strong>Tobit</strong> in der Erzählung „Gott soll Deinen<br />
Weg gelingen lassen und sein Engel begleite Dich!“? Warum wohl sind wir so<br />
<strong>zu</strong>rückhaltend geworden?<br />
Sogar ich als Pfarrerin scheue mich davor, solche Ausdrücke im Alltag <strong>zu</strong><br />
verwenden. Dabei weiss ich gut, was für eine Kraft so ein Segen haben kann.<br />
Weil ich das Glück hatte, älteren Menschen <strong>zu</strong> begegnen, die solche Scheu<br />
nicht kannten; und die mich, die Pfarrerin, <strong>zu</strong>m Schluss meines Besuches<br />
segneten. Das waren unheimlich intensive, tief gehende Momente.<br />
Es waren alte Menschen, Frauen mit viel Lebenserfahrung, die mich diese<br />
Momente erleben liessen. Und das ist wohl gleichzeitig auch einer der Gründe,<br />
warum ich selbst im Alltag nur selten solche Ausdrücke verwende, allerdings<br />
Tendenz steigend. „Bhüet Di Gott“ verbinde ich mit einer älteren Person. Das<br />
7
ist etwas, was meine Grossmutter gesagt hätt, aber ich bin doch irgendwie <strong>zu</strong><br />
jung dafür. Ich habe das Gefühl, die Leute, <strong>zu</strong>mindest die jüngere Generation,<br />
würden mich recht schief ansehen, wenn ich so etwas <strong>zu</strong> ihnen sagen würde.<br />
Es scheint so, als empfänden wir den Wunsch als altmodisch, als etwas von<br />
früher. Das ist traurig und eigentlich recht paradox. Denn Gottes Segen kann<br />
nicht veralten. Deshalb habe ich mir vorgenommen, meine Scheu etwas<br />
ab<strong>zu</strong>legen und auch dort einen Segenswunsch <strong>zu</strong> äussern, wo er nicht<br />
ausdrücklich gewünscht wird.<br />
Denn ebensowenig wie Gottes Segen veraltet das Bedürfnis danach. Ich habe<br />
den Eindruck, nein ich bin mir sicher, das Bedürfnis nach Segen ist heute<br />
keineswegs kleiner als in früheren Zeiten. Im Gegenteil. Wir leben ein<br />
gefährdetes Leben voller Unsicherheiten und Unbekannten. Hätten wir es nicht<br />
oft dringend nötig, dass uns jemand einen Segen mit auf den Weg gäbe?<br />
An den grossen Weggabelungen funktioniert es noch. An den<br />
Übergangsmomenten im Leben ist das Bedürfnis nach Segen besonders<br />
spürbar; und auch salonfähig. Da wird der Segen gar öffentlich und <strong>zu</strong>m<br />
Anlass für grosse Feste. Taufe, Konfirmation und die Trauung. Das sind nach<br />
reformiertem Verständnis Segenshandlungen, da wird Segen sichtbar,<br />
erlebbar.<br />
Auch der Segen <strong>zu</strong>m Abschluss jedes Gottesdienstes hat seinen<br />
unbestrittenen Platz. Mehr als einmal habe ich erfahren, wie wichtig dieser<br />
Segen sein kann und wie bewusst er teilweise erlebt wird bis dahin, dass<br />
Menschen einzig seinetwegen in die Kirche kommen. Ich denke zB. an die<br />
Frau, die verzweifelt nach langem wieder einmal in den Gottesdienst ging und<br />
bis <strong>zu</strong>m Schluss nichts fand, was ihr Halt gegeben hätte. Nicht das Gebet,<br />
nicht die Predigt, nicht das Singen, auch nicht die Musik. Erst der Segen<br />
8
erührte sie; so sehr, dass sie, wie sie sagte, anders aus der Kirche ging, als<br />
sie hineingekommen war.<br />
Und wenn man genau hinschaut, gibt es sie vielleicht doch noch, die<br />
alltäglichen Segenswünsche, steckt Gott doch noch in unseren Wünschen. In<br />
unserem adieu <strong>zu</strong>m Beispiel sogar noch ganz sichtbar, einfach auf französisch.<br />
A dieu heisst ja nichts anderes als „Bei Gott“ oder „Sei Gott anbefohlen“. Oder<br />
versteckt im österreichischen «pfiet di!», wie sie mir in Salzburg immer<br />
<strong>zu</strong>gerufen haben. Und vielleicht meinen wir mit „komm gut heim “ im Grunde<br />
genommen „Gott möge Deinen Heimweg behüten“.<br />
Daneben gibt es ja auch die Momente, wo uns ein „bhüet di Gott“ <strong>zu</strong>mindest<br />
auf der Zunge liegt. Momente, in denen man spürt, dass wir angewiesen sind<br />
auf Gottes Segen, weil wir nicht alles im Griff haben und kontrollieren können.<br />
Ich vermute, es sind vor allem die Momente, in denen wir jemanden oder<br />
etwas gehen lassen müssen. Dann geht es uns wie Tobias’ Mutter Hanna aus<br />
dem Lesungstext.<br />
Wir kennen Hannas Tränen. Am Flughafen zB., wenn eine Person, die uns<br />
nahe steht, weit weg oder für eine lange Zeit fort geht. Oder beim Abschied<br />
an einem Arbeitsplatz nach einer Zeit des gemeinsamen Arbeiten, in der man<br />
auch ein Stück Leben geteilt hat.<br />
Als Eltern kennt man dieses Gefühl gegenüber seinen Kindern gut, ist es fast<br />
alltäglich, gerade wenn sie noch klein sind. Auch wenn sie weder lange Zeit<br />
noch weit fort gehen – es wird einem so bewusst, dass man sie nicht vor<br />
allem beschützen kann und dass sie von Anfang an ihren eigenen Weg gehen;<br />
lange bevor sie selber auf sich aufpassen können. In diesem Zusammenhang<br />
reden auch die modernsten und abgeklärtesten Leute plötzlich hemmungslos<br />
von Schutzengeln.<br />
9
Unter dem Stichwort Schutzengel oder auch Raphael tummeln sich übrigens<br />
im Internet die wildesten Sachen. Kitschige Bilder und esoterische Seiten<br />
<strong>zu</strong>hauf. Da ist mir persönlich die Geschichte von <strong>Tobit</strong> lieber. Weder er noch<br />
sein Sohn Tobias sehen einen Engel vor sich. Raphael alias Asarja sieht völlig<br />
normal aus. Das erinnert an die Ostergeschichten im neuen Testament. Die<br />
Jünger erkannten Jesus auch nicht, als er mit ihnen nach Emmaus wanderte.<br />
Der Reformator Calvin beschreibt Engel als Boten, die Gottes Güte austeilen.<br />
Das bedeutet, ich erfahre einen Engel dort, wo mich die frohe Botschaft<br />
berührt, dass Gott auf unserer Seite ist. Vielleicht erfahre ich den Engel ganz<br />
konkret in einer Situation, in der ich Schutz oder Glück erfahre, vielleicht aber<br />
auch mitten in grösser Verzweiflung, wenn ich die Nähe und die Kraft Gottes<br />
spüre, die mich trägt. In der Hilfe eines Mitmenschen, in einem Wort, das<br />
mich berührt und wieder aufrichtet. In solchen Situation ereignet sich vielleicht<br />
wirklich ein Engel, der Gottes Güte austeilt.<br />
Liebe Gemeinde,<br />
Vielleicht kennen Sie den Engel vom Hauptbahnhof? Ich meine nicht den<br />
dicken Raphael von Niki de Sain-Phalle, der in der Halle hängt und auf seinem<br />
blauen Hintern immer so staubig ist. Ich meine Frieda Bühler. Allerdings habe<br />
ich sie schon länger nicht mehr gesehen. Frieda Bühler ist die alte Frau, die<br />
lange Zeit tagein tagaus hinter ihrem Rollstuhl stand, mitten im Gewühl der<br />
Reisenden, und alle segnete, die an ihr vorbeigingen. Still, ohne Aufhebens<br />
und doch unübersehbar.<br />
„Engel vom Hauptbahnhof“ nennt man sie. Ein Journalist, der sie einmal<br />
porträtierte, hat ihr diesen Namen verpasst. Es ist also ein Bezeichnung von<br />
aussen, und das ist spannend. Offenbar empfinden die Menschen, die Frieda<br />
Bühler erleben, diese Frau als Engel; sie selber sagt das, soviel ich weiss, nicht<br />
von sich. - Wie der Engel Raphael in unserer Geschichte. Er sagt auch nicht<br />
10
von sich, er sei ein Engel, und doch spüren <strong>Tobit</strong> und Tobias, dass an ihm<br />
etwas Besonderes ist und sie ihm voll vertrauen können.<br />
Ein solches Gespür und solches Vertrauen wünsche ich heute auch Ihnen,<br />
auch uns. Das tiefe Vertrauen, dass es gut kommt und dass Gott mit uns<br />
unterwegs ist.<br />
Wir wissen nicht, in welcher Form Gott bei uns ist und wie seine Begleitung<br />
aussieht. Deshalb wünsche ich uns auch die Offenheit, die Bereitschaft, in<br />
unseren irdischen Reise- und Wegbeleitern manchmal einen Engel <strong>zu</strong> sehen.<br />
«Bhüet sie Gott!»<br />
Amen.<br />
Pfrn. Stina Schwarzenbach/15.712<br />
11
Teil II:<br />
Predigt vom Sonntag, 22. Juli 2012, 10.30 Uhr, Kirche<br />
Enge<br />
Einleitung <strong>zu</strong>r Lesung<br />
Die letzten zwei Sonntage vor dem Kirchensommer Zürich 2 sind dem<br />
Buch <strong>Tobit</strong> gewidmet. Am letzten Sonntag habe ich über das 5. Kapitel<br />
gepredigt; heute ist das 12. Kapitel dran. Erschrecken Sie nicht, wenn<br />
Ihnen dieser Buchtitel nicht bekannt vorkommt. Das Buch <strong>Tobit</strong> gehört<br />
<strong>zu</strong> jenen biblischen Büchern, die nicht in allen Bibelüberset<strong>zu</strong>ngen drin<br />
sind. In unserer Zürcher Bibel <strong>zu</strong>m Beispiel nicht; der reformierte Kanon<br />
kennt das Buch, im Unterschied <strong>zu</strong>m katholische und <strong>zu</strong>m orthodoxen,<br />
nicht, weil es den strengen Kriterien, die in der Reformationszeit<br />
angewandt wurden, nicht genügte.<br />
Es ist ein spannendes Buch, das vom Leben im Exil erzählt und von einer<br />
abenteuerlichen Reise. Als der fromme Jude <strong>Tobit</strong> erblindet, schickt er<br />
seinen Sohn Tobias nach Medien, um sein Vermögen <strong>zu</strong> holen, das dort<br />
hinterlegt ist. Er organisiert ihm einen Reisebegleiter namens Asarja,<br />
nicht wissend, dass dieser Asarja eigentlich der Engel Raphael persönlich<br />
ist. Unterwegs gilt es gefährliche Abenteuer <strong>zu</strong> bestehen, aber es kommt<br />
alles gut und am Schluss gibt es ein veritables Happy End. Dieser<br />
Schluss des Buches wird uns heute beschäftigen.<br />
Lesung Buch <strong>Tobit</strong>, Kap. 12<br />
1 Danach rief <strong>Tobit</strong> seinen Sohn Tobias <strong>zu</strong> sich und sagte: Mein Sohn,<br />
vergiss nicht den Lohn für den Mann, der dich begleitet hat. Du musst<br />
ihm aber mehr geben, als wir ihm versprochen haben.<br />
2 Tobias antwortete: Vater, ich werde keinen Schaden erleiden, wenn<br />
ich ihm die Hälfte von all dem gebe, was ich mitgebracht habe. (...)<br />
12
5 Dann rief er den Engel <strong>zu</strong> sich und sagte: Nimm die Hälfte von<br />
allem, was ihr mitgebracht habt.<br />
6 Der Engel aber nahm die beiden beiseite und sagte <strong>zu</strong> ihnen: Preist<br />
Gott und lobt ihn! Gebt ihm die Ehre und bezeugt vor allen Menschen,<br />
was er für euch getan hat. Es ist gut, Gott <strong>zu</strong> preisen und seinen Namen<br />
<strong>zu</strong> verherrlichen und voll Ehrfurcht seine Taten <strong>zu</strong> verkünden. Hört nie<br />
auf, ihn <strong>zu</strong> preisen. (...=<br />
11 Ich will euch nichts verheimlichen; ich habe gesagt: Es ist gut, das<br />
Geheimnis eines Königs <strong>zu</strong> wahren; die Taten Gottes aber soll man offen<br />
rühmen.<br />
12 Darum sollt ihr wissen: (...)<br />
15 Ich bin Rafael, einer von den sieben heiligen Engeln, die das Gebet<br />
der Heiligen emportragen und mit ihm vor die Majestät des heiligen<br />
Gottes treten.<br />
16 Da erschraken die beiden und fielen voller Furcht vor ihm nieder.<br />
17 Er aber sagte <strong>zu</strong> ihnen: Fürchtet euch nicht! Friede sei mit euch.<br />
Preist Gott in Ewigkeit! (...)<br />
19 Während der ganzen Zeit, in der ihr mich gesehen habt, habe ich<br />
nichts gegessen und getrunken; ihr habt nur eine Erscheinung gesehen.<br />
20 Jetzt aber dankt Gott! Ich steige wieder auf <strong>zu</strong> dem, der mich<br />
gesandt hat. Doch ihr sollt alles, was geschehen ist, in einem Buch<br />
aufschreiben.<br />
21 Als sie wieder aufstanden, sahen sie ihn nicht mehr.<br />
22 Und sie verkündeten überall, welch große und wunderbare Dinge<br />
Gott getan hatte und dass ihnen der Engel des Herrn erschienen war.<br />
Predigt<br />
13
Tobias ist <strong>zu</strong>rück von seiner grossen Reise; gesund, mit dem Geld seines<br />
Vaters, das er holen sollte, und erst noch mit einer passenden Ehefrau.<br />
Passend heisst in diesem Zusammenhang vor allem, dass sie <strong>zu</strong>m<br />
gleichen Stamm gehört wie <strong>Tobit</strong>s Familie. Die Bedeutung solcher<br />
Stammes<strong>zu</strong>gehörigkeit im <strong>Tobit</strong>-Buch kam vor einer Woche <strong>zu</strong>r Sprache.<br />
Jedenfalls kann man sagen: Mission erfüllt, <strong>zu</strong> 100%.<br />
Bleibt die Bezahlung des Reisegefährten Asarja. Er hat seine Arbeit mehr<br />
als gut gemacht, sein Auftraggeber ist <strong>zu</strong>frieden mit ihm und bietet ihm<br />
einen hohen Lohn. Tobias will ihm die Hälfte des gesamten Vermögens<br />
überlassen.<br />
Und nun: Was für eine seltsame Reaktion auf diesen Vorschlag. Schon<br />
die einleitende Geste überrascht: „der Engel aber nahm die beiden<br />
beiseite“ heisst es. Das ist nicht die Geste von jemandem, der beschenkt<br />
wird. Und dann seine Antwort: „Preist Gott und lobt ihn“. Dabei war von<br />
Gott in diesem Moment gar nicht die Rede. Es dauert eine ganze Weile,<br />
bis klar wird, worauf dieser Mann hinaus will. Sogar für uns LeserInnen,<br />
die wir ja im Unterschied <strong>zu</strong> den Zuhörenden in der Geschichte wissen,<br />
wer da wirklich spricht. „Es ist gut, das Geheimnis eines Königs <strong>zu</strong><br />
wahren; die Taten Gottes aber soll man offen rühmen“ sagt Rafael<br />
zwischendurch. Da deutet sie sich langsam an, die Selbstoffenbarung,<br />
die im Vers 15 dann endlich folgt: „ ich bin Rafael, einer von den sieben<br />
heiligen Engen, die das Gebet der Heiligen emportragen und mit ihm vor<br />
die Majestät des heiligen Gottes treten.“<br />
„ich bin“, diese Formel ist sonst in der Bibel Gott selbst vorbehalten. „Ich<br />
bin der Gott deines Vaters, der Gott Abrahams, der Gott Isaaks und der<br />
Gott Jakobs.“ (Ex 3,6). So und ähnlich heisst es immer wieder im Alten<br />
Testament.<br />
14
Die Kernaussage da<strong>zu</strong> findet sich in Exodus (2. Mose) 3,14, als Mose<br />
Gott fragt, mit welchem Namen er ihn denn den Israeliten vorstellen<br />
solle: „ich bin, der ich bin“ oder genauer übersetzt (Zürcher Bibel) „ich<br />
werde sein der ich sein werde“. Diese Offenbarungsformel ist etwas ganz<br />
Typisches für das Alte Testament und vergleichender<br />
religionshistorischer Perspektive etwas Spezielles. Es ist nämlich alles<br />
andere als selbstverständlich, dass Gott, bzw. ein Gott, sich offenbart.<br />
Indem Gott seine Identität preisgibt, macht er sich erkennbar und<br />
ansprechbar, gleichzeitig aber auch verwundbar. Basierend auf dieser<br />
Offenbarungsformel des Alten Testaments offenbart sich später dann, im<br />
Neuen Testament Jesus Christus, mit denselben Worten.<br />
Als er auf dem See wandelt zB. beruhigt Jesus die Jünger mit einem<br />
schlichten „ich bin es“ – ego eimi auf griechisch. Und im Johannes-<br />
Evangelium gibt es die Reihe der 7 sogenannten Ich-bin-Worte: Ich bin<br />
das Brot des Lebens (Joh 6,35) – Ich bin das Licht der Welt (8,12) - Ich<br />
bin die Tür (10,9) – ich bin der gute Hirt (10,11) – ich bin die<br />
Auferstehung und das Leben (11,25) - ich bin der Weg, die Wahrheit<br />
und das Leben. (14,6) – ich bin der Weinstock (15,1). Drei davon sind<br />
übrigens Thema des Kirchensommers Kreis 2, der am nächsten Sonntag<br />
beginnt.<br />
Es ist spannend, dass ein ganz anderes „ich bin“ letzten Sonntag Thema<br />
war. Da habe ich den Beginn des <strong>Tobit</strong>buches erwähnt, der uns heutigen<br />
LeserInnen mit seinem betonten Ich am Anfang leicht überheblich<br />
vorkommt: „Ich, <strong>Tobit</strong>, habe mich mein ganzes Leben lang an den Weg<br />
der Wahrheit und Gerechtigkeit gehalten“. Man denkt sich vielleicht, da<br />
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habe aber einer ein grosses Ego. Und trifft damit genau den<br />
ursprünglichen Wortlaut; ego ist ja das griechische Wort für ich.<br />
„ego eimi- ich bin“ sagt ja eben in unserem Kapitel auch der Engel<br />
Rafael; „ich bin Rafael“. Und es ist kein Zufall, dass er sich mit genau<br />
diesen Worten <strong>zu</strong> erkennen gibt, mit der Selbstoffenbarungsformel<br />
Gottes. Denn als Engel trägt er ein Stück von Gott in sich.<br />
Dem entspricht auch die Reaktion der Zuhörenden. „Da erschraken die<br />
beiden und fielen voller Furcht vor ihm nieder.“ Erschrecken, den Blick<br />
abwenden, das Gesicht verhüllen, <strong>zu</strong> Boden fallen - so reagieren die<br />
Menschen in der Bibel immer, wenn sie Gott begegnen. Denn diese<br />
Begegnung ist schlicht <strong>zu</strong>viel für sie, ist an sich gar nicht aus<strong>zu</strong>halten.<br />
„Fürchte dich nicht!“, das ist wohl einer der ganz wenigen Sätze, den<br />
man gemeinhin noch als Bibelzitat wahrnimmt. „Fürchte dich nicht!<br />
Friede sei mit dir!“. Das sagt der Engel <strong>zu</strong> Maria, als er ihr die Botschaft<br />
ihrer Schwangerschaft überbringt; das sagen die Engel in der<br />
Weihnachtsgeschichte, als die Hirten vor Angst auf dem Boden liegen.<br />
Und das sagt der Engel Rafael in unserer Lesung <strong>zu</strong> <strong>Tobit</strong> und Tobias.<br />
Das ist eine Botschaft, die auch <strong>zu</strong>r Taufe passt. „Fürchte dich nicht“,<br />
das geht die kleinen Kinder an, und das geht die Eltern an, die ihre<br />
Kleinen nicht in allem so behüten möchten, wie sie es gerne täten.<br />
Rafael tut noch mehr, um <strong>Tobit</strong> und Tobias die Furcht <strong>zu</strong> nehmen. Er<br />
erklärt er seine Funktion ganz genau, „einer von den 7 heiligen Engeln,<br />
die das Gebet der Heiligen emportragen“, sei er. Und er gibt ihnen eine<br />
Art Beweis für seine übermenschliche Natur: er habe die ganze Zeit<br />
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nichts gegessen und getrunken. Das verwundert dann allerdings schon<br />
etwas, dass Tobias das auf der gemeinsamen langen Reise nicht<br />
bemerkt haben soll...<br />
In einem Punkt ist der Engel Rafael in dieser Szene seinem alter ego,<br />
dem Reisebegleiter Asarja, sehr ähnlich: Er weist <strong>zu</strong>m Handeln an, wie er<br />
das durch die ganze Geschichte hindurch getan hat. Auf der Reise war es<br />
Rafael, der Tobias den Rat gegeben hat, den Fisch, der ihn schnappen<br />
wollte, <strong>zu</strong> packen und ihm Herz, Galle und Leber <strong>zu</strong> entnehmen. Er war<br />
es, der Tobias gelehrt hat, wie er mit diesen Innereien den Dämon<br />
vertreiben könne, der seine spätere Frau Sara plagte, und seinen Vater<br />
<strong>Tobit</strong> von dessen Blindheit heilen.<br />
An dieser Stelle nun lautet seine Handlungsanweisung an <strong>Tobit</strong> und<br />
Tobias: Gott preisen, Gott danken, von Gottes Taten erzählen bzw. ganz<br />
konkret ein Buch schreiben über, was sie erlebt und erfahren haben. Das<br />
sind die letzten Worte des Engels, dann verschwindet er. Löst sich in Luft<br />
auf, wie das himmlische Wesen so an sich haben.<br />
Zurück bleiben <strong>Tobit</strong> und Tobias, und tun genau das, was der Engel<br />
ihnen angeraten hat. “Und sie verkündeten überall, welch große und<br />
wunderbare Dinge Gott getan hatte und dass ihnen der Engel des Herrn<br />
erschienen war“ heisst es am Schluss unseres Kapitels.<br />
Mit dem Lob Gottes endet denn auch das <strong>Tobit</strong>buch. Das 13. Kapitel<br />
enthält ein langes Lobgebet, das <strong>Tobit</strong> aufgeschrieben haben soll. Im 14.<br />
und letzten Kapitel schliesslich wird in einem knappen Aufriss noch über<br />
das restliche Leben der beiden berichtet. <strong>Tobit</strong> sei 158 Jahre alt<br />
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geworden, sein Sohn Tobias 127 Jahre. Das ist in biblischen<br />
Dimensionen nicht sehr alt. Immerhin soll Methusalem 969 Jahre alt<br />
geworden sein. Dennoch ist es alt genug, um symbolische Bedeutung für<br />
die Geschichte <strong>zu</strong> haben. Hohes Alter ist in der Bibel der Lohn für ein<br />
gerechtes Leben. Und so schliesst sich mit dieser Jahresangabe der<br />
Erzählkreis, der mit dem bereits zitierten Selbstpräsentation <strong>Tobit</strong>s<br />
begonnen hat: „Ich, <strong>Tobit</strong>, habe mich mein ganzes Leben lang an den<br />
Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit gehalten“.<br />
Wenn wir versuchen wollen, diese Lebenshaltung auf uns selber <strong>zu</strong><br />
übertragen, haben vermutlich die meisten so ihre Schwierigkeiten. Sich<br />
ein ganzes Leben lang an den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit<br />
halten – das klingt nach einem hehren Ziel. Allerdings auch nach einem,<br />
finde ich, das nichts von seiner Bedeutung verloren hat und vielleicht<br />
gerade unserer heutigen Welt gut tun würde.<br />
Verändert haben sich hingegen die Rahmenbedingungen; <strong>zu</strong>mindest für<br />
den Grossteil der modernen Menschen. <strong>Tobit</strong> wusste genau, was er <strong>zu</strong><br />
tun hatte; er musste die Weisungen der Tora einhalten, streng nach den<br />
Regeln seiner jüdischen Religion leben. Das war zwar ein grosse<br />
Herausforderung, da er im Exil lebte, aber es gab ihm die Gewissheit,<br />
den Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit <strong>zu</strong> gehen. Dieselbe Situation<br />
gibt es auch heute noch; das wird gerade hier in der Enge sichtbar, wo<br />
orthodox-jüdisches Leben seit jeher <strong>zu</strong>m Gesicht des Quartiers gehört.<br />
Es gilt überall dort, wo Religion in sehr ausgeprägter Art gelebt wird. Das<br />
aber ist die Minderheit.<br />
Für die Mehrheit her Menschen ist nicht von vornherein klar, wie er<br />
aussehen soll, dieser Weg der Wahrheit und Gerechtigkeit. Wir müssen<br />
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ihn wohl in kleinen Schritten angehen und immer wieder neu Anlauf<br />
nehmen. Und wir müssen im Gespräch bleiben; darüber, was Wahrheit<br />
und Gerechtigkeit sind. Ob es Werte sind, die uns leiten, und was sie uns<br />
wert sind. Gerechtigkeit gehört übrigens <strong>zu</strong> den fünf Spitzenwerten, die<br />
sich im sogenannten im Wertebarometer, einer Umfrage, die letztes Jahr<br />
in der Zürcher Kirche gemacht wurde, ergeben haben.<br />
(Liebe Gemeinde)<br />
Ich hoffe und wünsche uns, dass wir dieses Gespräch führen und uns<br />
nicht von abhalten lassen durch gesellschaftliche Tabus. Dass wir<br />
aufmachen auf diesen Weg, bevor wir um die Kurve blicken können, und<br />
die Suche nach Gerechtigkeit und Wahrheit nie aufgeben. Dass wir<br />
andere mitnehmen auf diesen Weg, allen voran unsere Kinder. Kinder<br />
suchen gern (Schatzsuche, Versteckis); wir sollten uns von ihnen<br />
anstecken lassen.<br />
Und das Wichtigste: Wir sind auf diesem Weg nicht allein. Gott begleitet<br />
uns, unsichtbar und meist wohl auch unbemerkt. Wie Tobias, der mit<br />
einem Engel unterwegs war und es nicht bemerkt hat.<br />
Manchmal spüren wir auch etwas von diesem Begleitetsein und sind<br />
dankbar dafür. Wir brechen nicht in göttlichen Lobpreis aus wie <strong>Tobit</strong><br />
und Tobias; das ist etwas, was uns heute eher schwer fällt. Allerdings<br />
sind wir ja auch keine alttestamentlichen Menschen, und wir haben keine<br />
Selbstoffenbarung eines Engels erlebt.<br />
Aber wir kennen vermutlich alle das tief empfundene Gefühl der<br />
Dankbarkeit. Für unser Leben, für unsere Kinder, Enkel, für die<br />
Gemeinschaft, für die zerbrechliche Schönheit dieser Welt.<br />
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Und so wünsche ich uns auch, dass wir mit diesem Gefühl von<br />
Dankbarkeit durchs Leben gehen dürfen; dass wir Momente erleben, in<br />
denen es uns schlicht überwältigt. Und dass wir dieses Gefühl auch<br />
ausdrücken können, weitergeben – an unsere Kinder, unsere Nächsten.<br />
Amen.<br />
Pfrn. Stina Schwarzenbach/22.07.2012<br />
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