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von Leben, wie es Rosa Luxemburg in ihrer berühmten Kritik an<br />

Lenin vorhergesagt hatte. 3) Der Stechschritt knallte aufs Pflaster,<br />

der Beifall und das Hurra wollten kein Ende nehmen, gleichermaßen<br />

die Fahnenweihen, Aufmärsche und Appelle. Doch alle Diktaturen<br />

sind so, wusste Ticha. Das ist keine Frage der Personen. Aus Machtgelüst<br />

wie aus Unsicherheit sind die Zwangsherrschaften zum<br />

Bramarbasieren verurteilt. Sie sind gefährlich, überzeichnen sich<br />

aber auch bei jeder Gelegenheit und werden so zu Karikaturen<br />

ihrer selbst. Wie jedoch karikiert man Karikaturen? Tichas Antwort<br />

war natürlich wieder ironischer Art. Er versuchte es gar nicht auf<br />

klassische Weise, sondern nahm einfach die tatsächlich ernstgemeinten<br />

Selbstdarstellungen der Macht als Material und rückte<br />

sie lediglich noch einmal deutlich ins Licht. Ein bisschen Verfremdung<br />

musste selbstverständlich sein. Hier und da wurde eine Kontur<br />

gestrafft oder anders gebogen, die Farbe greller eingesetzt. Das<br />

Maschinöse wurde noch maschinöser, das Aufgeblasene aufgeblasener,<br />

das Laute lauter. Heraus kam immer hohler Bombasmus.<br />

Viele Möglichkeiten der bildnerischen Satire waren berührt: das<br />

Kasperleartige, das Groteske, das Parodistische. Am Ende reichte<br />

das Angebot Tichas von der Fast-Reproduktion einer Zeitungsvorlage<br />

bis zur gespenstischen Vision eines NVA-Spielmannszugs in<br />

der Gasse zwischen Zaun und Mauer ganz aus der Phantasie heraus.<br />

Für Ticha war das totalitär entwirklichte Leben ein ideales Thema.<br />

Den passenden Stil dazu hatte er auch parat. Wie sagte doch Eduard<br />

Fuchs: „Mit toten Formen erschlägt man keinen lebenden Götzen.“ 4)<br />

Tichas Instrumentarium konnte aktueller gar nicht sein. Seine Technik<br />

des Zusammenbastelns lustig bis frech gekurvter, oft gesichtsloser<br />

Figurinen mit variablen Gerüststrukturen und symbolischen<br />

Versatzstücken hat Ticha selber montiert aus vielen gestalterischen<br />

Tricks der Moderne, speziell der Pop Art. Mit diesem Repertoire<br />

schon ausgestattet, hat er sich ein Jahrzehnt lang an die Staatssatire<br />

herangearbeitet. Die frühen bilderbuchartigen Collagen mit<br />

HANS TICHA UND DIE STAATSSATIRE<br />

13<br />

Fischkuttern und Fischverkäuferinnen zielten natürlich nebenher<br />

auf den Kult mit den Helden der Arbeit. Die verknäuelten Kompositionen<br />

mit Radrennfahrern und Eiskunstläufern wurden weithin<br />

auch als Glossierung der DDR-Ikone Leistungssport aufgefasst.<br />

Noch eindeutiger waren 1977/78 die ersten Zähneputzer. Später<br />

hat der Künstler das Motiv mit Blendax-Reklame kombiniert, aber<br />

bei der Urfassung war an nichts anderes zu denken gewesen als<br />

an das höhnische Epigramm von Henryk Keisch „Der Republik zu<br />

Ehren / uns allen zum Nutzen / verspricht Pionier X / sich die Zähne<br />

zu putzen.“ Rechtzeitig zum 30. Jahrestag der DDR begannen dann<br />

die Klatscher und Hochrufer, die Selbstverpflichter und Belobiger,<br />

die Bruderküsser und Ordensverleiher, die Fähnchenschwenker und<br />

Mauerwächter scharenweise in Tichas Atelier einzumarschieren.<br />

Verlassen durften sie es bis zur Wende nicht. Bis dahin waren auch<br />

sie eingesperrt.<br />

Günter Feist, Berlin, 2006<br />

1) Fuchs, Eduard: Die Karikatur der europäischen Völker. 4., verm. Aufl., T. 1. München:<br />

Langen, 1921, S. 28<br />

2) Jäger, Oskar: Geschichte der Römer. Gütersloh: Bertelsmann, [1900], S. 593<br />

3) Luxemburg, Rosa: Gesammelte Werke. Bd. 4. Berlin: Dietz, 1974, S. 481–485<br />

4) Siehe Anm. 1, S. 469

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