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Andrei Anastasescu Übersetzerstipendiat des Programms ...

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<strong>Andrei</strong> <strong>Anastasescu</strong><br />

<strong>Übersetzerstipendiat</strong> <strong>des</strong> <strong>Programms</strong><br />

„Literarische Brückenbauer“ der Robert Bosch Stiftung<br />

Arbeitsbericht<br />

Arbeitsaufenthalt im Literarischen Colloquium Berlin<br />

1. Februar – 28. Februar 2010<br />

HALMA The European Network of Literary Centres e.V. 2010<br />

www.halma-network.eu<br />

mail@halma-network.eu


Im Februar 2010 kam ich zurück nach Berlin, um wieder einen Monat im LCB zu verbringen<br />

(zum ersten Mal war ich dort für längere Zeit im Mai 2009, als ich ein Schritte-Stipendium<br />

bekam). Ich weiß nicht, ob es ein Schicksal der Übersetzer gibt (eines, das sie an die<br />

übersetzten Bücher bindet und das sie diese wie Satelliten umkreisen lässt), ich weiß auch<br />

nicht, ob es Jahreszeiten gibt, die für bestimmte Bücher günstiger sind als für andere, sodass<br />

Jahre später diese Bücher über alle Erinnerungen an die jeweilige Jahreszeit herrschen – doch<br />

eines steht für mich fest: Heimsuchung von Jenny Erpenbeck, der Roman, an dem ich im<br />

vergangenen Februar in Berlin arbeitete, ist in meinem launenhaften Gedächtnis zu einem<br />

winterlichen Buch geworden, das ich jetzt nicht mehr trennen kann von der Landschaft, die<br />

mich bereits am Tag meiner Ankunft im LCB umgab: Schnee, Polarkälte, der zugefrorene<br />

Wannsee, die Spree wie ein Mosaik aus Eisschollen, schwere Wolken am Himmel. In diesem<br />

poetischen wie leicht bedrohlichen Dekor war das Haus am Wannsee nach nächtlichen<br />

Spaziergängen durch die Stadt eine Zuflucht und eine Warte, von der aus ich genau wusste,<br />

was es mit dem Gletscher im „Prolog“ von Heimsuchung auf sich hatte, mit dem<br />

„ungeheueren Druck, den das Eis ausübte“, <strong>des</strong>sen „riesige[m] kalte[m] Körper“ (S. 9). Jetzt<br />

sehe ich auch eine Verbindung zwischen Jenny Erpenbecks Haus am Scharmützelsee und<br />

der prächtigen, bei Nacht schauerromantisch anmutenden LCB-Villa. Würde ich später<br />

versuchen, ihre Geschichte zu erkunden und die in ihr abgelagerten Zeitschichten aufzudecken,<br />

so würde wohl ein nicht weniger „heimsuchender“ Roman dabei entstehen.<br />

Ich konnte intensiv arbeiten im LCB, und Ende Februar hatte ich bereits mehr als die Hälfte<br />

der Übersetzung als Rohfassung hinter mir. Die Arbeit war eigentlich alles andere als leicht,<br />

da Erpenbecks Stil – die litaneiartig anwanchsenden Sätze, die dichte und präzise Wortwahl,<br />

das Amalgam aus Fachsprachen, aus dem eine Poesie gegen den Strich entsteht, die äußerste<br />

Vor- und Umsicht, mit der die im Buch sich überkreuzenden Biografien erkundet werden –<br />

den Übersetzer selber auffordert, min<strong>des</strong>tens teilweise nach der Methode der Autorin zu<br />

arbeiten. Er soll daher ein „Langsamübersetzer“ sein (genauso wie Erpenbeck, einem<br />

Kritiker zufolge, eine „Langsamschreiberin“ ist). Außer dem Internet und verschiedenen<br />

Fachlexika griff ich wie sonst immer zur englischen und französischen Version <strong>des</strong> Romans,<br />

um mich durch das Dickicht aus Begriffen <strong>des</strong> Gartenbaus, der Architektur, der Geologie,<br />

<strong>des</strong> juristischen Jargons, aus Hochzeitsbräuchen und Bestattungsriten durchzuarbeiten.<br />

Erwähnen möchte ich hier auch die nützlichen und einleuchtenden Gespräche, die ich mit<br />

der israelischen Übersetzerin von Heimsuchung Tali Konas führte. So zum Beispiel setzten<br />

wir uns mit einer heiklen Passage im Roman auseinander, wo das im Hebräischen nicht<br />

existierende Futur II verwendet und in Frage gestellt wird: „Wann er das letzte Mal hier<br />

geschwommen sein wird, weiß er nicht mehr. Auch nicht, ob es im Deutschen eine Zeitform<br />

gibt, die das Kunststück fertigbringt, die Vergangenheit zur Zukunft zu erklären“ (S. 44).<br />

Ich habe mich besonders gefreut, die anderen Gäste im LCB (Dragan Radovančević, Zsófia<br />

Bán, Aleš Šteger und Manuel Pereira) kennen zu lernen, mit denen ich oft über Literatur,<br />

Übersetzungen und über Berlin sprach, und die so netten LCB-Mitarbeiter (Claudia Schütze,<br />

Jürgen Becker, Inga Niemann, Thorsten Dönges, Corinna Ziegler) wieder zu sehen.<br />

HALMA The European Network of Literary Centres e.V. 2010<br />

www.halma-network.eu<br />

mail@halma-network.eu


Ich nahm an einigen Veranstaltungen im LCB teil: so zum Beispiel an der Lesung von<br />

Aleksandar Hemon, wo ich auch Jenny Erpenbeck traf, mit der ich mich über meine<br />

Übersetzung und über ihren eventuellen Besuch in Bukarest für die Buchvorstellung<br />

unterhielt. In lebhafter Erinnerung habe ich die Lesung der Tolstoi-Übersetzerin Rosemarie<br />

Tietze. Ich war sehr überrascht darüber, wie viele Zuschauer bei der Veranstaltung anwesend<br />

waren und dass die Neuübersetzung eines Klassikers in Deutschland so viel Beachtung<br />

finden kann. In Rumänien gibt es kaum neue Versionen von Klassikern; viele davon muss<br />

man in überholten Übersetzungen aus den 50er und 60er Jahren lesen.<br />

Überhaupt werden Übersetzer in meinem Land benachteiligt und vernachlässigt. Ihr Beruf,<br />

der für die meisten sowieso keine Existenzgrundlage bedeutet, wird nicht als Kunst angesehen,<br />

sondern allzu oft als zweitrangigen Job, als Nacht- oder Wochenendbeschäftigung.<br />

Deswegen finde ich die Initiative der Robert Bosch Stiftung und <strong>des</strong> LCB, osteuropäischen<br />

Übersetzern Stipendien und Arbeitsaufenthalte zu gewähren, sehr lobenswert und hoffe,<br />

dass auch andere rumänische Übersetzer bald die Chance haben werden, in Berlin ihren<br />

Projekten sorgenlos nachzugehen.<br />

Während meines Berlin-Aufenthalts profitierte ich natürlich auch vom kulturellen Angebot<br />

der Stadt – von Kinos, Theatern, Buchhandlungen und Galerien. So zum Beispiel sah ich im<br />

Rahmen der Berliner Filmfestspiele die vollständige Version von Fritz Langs Metropolis mit<br />

Live-Orchester. An einem anderen Abend war ich im Berliner Ensemble bei einer Aufführung<br />

von Robert Wilsons Leonce und Lena. Ich habe mich ebenfalls gefreut, die rumänische<br />

Dichterin und Übersetzerin deutscher Literatur Nora Iuga zu treffen, die sich damals<br />

mit einem DAAD-Stipendium in Berlin aufhielt. In ihrer Wohnung in Charlottenburg<br />

übersetzten wir zusammen bei einem Glas Wein das Gedicht über „Das bucklicht Männlein“<br />

aus Benjamins Berliner Kindheit um neunzehnhundert (ein von mir übersetztes und vor<br />

kurzem erschienenes Buch).<br />

Als Mitarbeiter <strong>des</strong> deutschen Buchinformationszentrums Bukarest nutzte ich in Berlin die<br />

Gelegenheit, mit Ulrich Janetzki vom LCB und mit Aylin Rieger und Antje Contius von der<br />

S. Fischer Stiftung über zukünftige Partnerschaften im Bereich der Übersetzungsförderung<br />

zu diskutieren. In diesem Zusammenhang möchte ich die Übersetzerwerkstatt in Cetate<br />

erwähnen, die das BIZ Bukarest seit vier Jahre erfolgreich organisiert und zu der einige der<br />

besten rumänischen und südosteuropäischen Übersetzer eingeladen waren.<br />

Zum Schluss möchte ich nur hoffen, dass ich bald wieder die Chance haben werde, an einem<br />

Übersetzungsprojekt im LCB zu arbeiten. Solch vortreffliche Bedingungen für Übersetzer<br />

kann man sich zur Zeit in Rumänien kaum erträumen, wo Literaturübersetzer sich nur<br />

schwer den Luxus leisten können, „Langsamübersetzer“ zu sein. Daher möchte ich der<br />

Robert Bosch Stiftung und dem LCB meine große Dankbarkeit für das Stipendium und den<br />

Aufenthalt bezeigen.<br />

HALMA The European Network of Literary Centres e.V. 2010<br />

www.halma-network.eu<br />

mail@halma-network.eu<br />

<strong>Andrei</strong> <strong>Anastasescu</strong><br />

Bukarest, 3. November 2010

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