Menschen machen HörGeschichte - PRO AUDITO Zürich
Menschen machen HörGeschichte - PRO AUDITO Zürich
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<strong>PRO</strong> <strong>AUDITO</strong> <strong>Zürich</strong><br />
Seestrasse 45<br />
8002 <strong>Zürich</strong><br />
Telefon 044 202 08 26<br />
info@proaudito-zuerich.ch<br />
info@proaudito-zuerich.ch<br />
www.proaudito-zuerich.ch<br />
100 Jahre Pro Audito <strong>Zürich</strong><br />
<strong>Menschen</strong> <strong>machen</strong> HörGeschichte<br />
1912 – 2012
Heute 2012<br />
«Pro Audito <strong>Zürich</strong> ist ein tragendes Mitglied<br />
unseres Verbandes. Wir schätzen die<br />
hervorragende Zusammenarbeit und<br />
freuen uns, auch die nächsten 100<br />
Jahre uns mit Pro Audito <strong>Zürich</strong> für <strong>Menschen</strong><br />
mit Hörproblemen einzusetzen.»<br />
Georg Simmen, Hörgeräteträger, Präsident von<br />
pro audito Schwei z<br />
«Die Pro Audito <strong>Zürich</strong> ist für mich eine<br />
hilfreiche Konstante in meinem<br />
Leben. Ich nutze das Angebot regelmässig<br />
seit 20 Jahren.»<br />
Carmen Roeser, Hörgeräteträgerin, Vorstandsmitglied<br />
der Pro Audito <strong>Zürich</strong><br />
«Pro Audito kann Veranstaltungen aller<br />
Art mit Beratung und Technologie<br />
so unterstützen, dass <strong>Menschen</strong> mit<br />
Hörbeeinträchtigungen problemlos daran<br />
teilnehmen können. Damit ermöglicht<br />
sie <strong>Menschen</strong> mit Behinderung die<br />
Teilhabe am gesellschaftlichen Leben.»<br />
Thea Mauchle, Normalhörend, Präsidentin der Behindertenkonferenz<br />
<strong>Zürich</strong><br />
«Die beste Hörgeräteanpassung kann<br />
nie ein gesundes Ohr ersetzen. Die Hörhilfe<br />
ermöglicht das Hören und bestmögliches<br />
Verstehen. Als Ergänzung ist<br />
das Grundangebot von Pro Audito nach<br />
wie vor aktuell: das Trainieren der<br />
Verständigung. Das bedeutet unter<br />
anderem das Erarbeiten der Verständigungstaktiken<br />
und das Erkennen der eigenen<br />
Grenzen und wie man seine<br />
Höreinbusse kompensieren kann.»<br />
Pia Koch, Normalhörend, Audioagogin<br />
Sponsoren<br />
ZSH<br />
Inhalt<br />
Impressum<br />
12<br />
Herausgeberin <strong>PRO</strong> <strong>AUDITO</strong> <strong>Zürich</strong>, Seestrasse 45, 8002 <strong>Zürich</strong>,<br />
Telefon 044 202 08 26, info@proaudito-zuerich.ch, www.proaudito-zuerich.ch<br />
Redaktion Karin Braendlin, Pro Audito <strong>Zürich</strong>; Dr. med. Thomas Spillmann, Pro<br />
Audito <strong>Zürich</strong>; Esther Hürlimann, freie Journalistin, 8048 <strong>Zürich</strong>; Hans-Ulrich Joss,<br />
joss-text.ch, 8802 Kilchberg ZH , Claudia Trinkler, Ringier Print, 6043 Adligenswil<br />
(Grafi k und Produktion)<br />
Quellenangaben Für die Unterstützung mit Bild- und/oder Textmaterial sowie<br />
beratenden Auskünften bedanken wir uns herzlich bei folgenden Personen und<br />
Institutionen: Michael Gebhard,Willy Haller, Baugeschichtliches Archiv <strong>Zürich</strong>, Paul<br />
Senn Archiv, ORL Klinik Universitätsspital <strong>Zürich</strong>, <strong>PRO</strong> <strong>AUDITO</strong> <strong>Zürich</strong>, Rhätische<br />
Bahn, Siemens Audiologie AG Schweiz, Zentrum für Gehör und Sprache <strong>Zürich</strong><br />
Alle Rechte vorbehalten.<br />
Das Titelbild zeigt <strong>Menschen</strong>, die im Verein Hör-Geschichte machten.<br />
Von links: Schwester Anna Eidenbenz, Margarethe von Witzleben, Emil Bosshardt,<br />
5<br />
Am Anfang stand die Selbsthilfe<br />
Mit Elan setzten sich die Gründerinnen<br />
im Oktober 1912 im Olivenbaum am Stadelhofen<br />
Ziele und boten schon kurz darauf<br />
Absehlektionen für besseres<br />
Sprachverstehen an.<br />
100 Jahre Kurswesen eine von<br />
<strong>Menschen</strong> geprägte Geschichte<br />
Neue Impulse mit Gigi Ménard: sie baute<br />
den Unterrichtsdienst neu auf und gab<br />
dem Ablesen ein neues Gesicht. Legendär<br />
sind ihre Auftritte 1970 im Schweizer<br />
Fernsehen.<br />
Ein Jahrhundert Sozialarbeit<br />
In der Krisenzeit verschaff te der Verein<br />
arbeitslosen Schwerhörigen Stellen.<br />
Heute plant der Verein mit pro audito<br />
Schweiz den Aufb au eines Beratungsstützpunktes<br />
in <strong>Zürich</strong>.<br />
15<br />
9<br />
14<br />
Der Hörapparat und die Eisenbahn,<br />
erzählt von Fanny Lichti<br />
Die Mitbegründerin des Vereins Fanny<br />
Lichti (1877-1965) berichtet über eine<br />
gemeinsame Bahnreise im Engadin mit<br />
Schwester Anna Eidenbenz.<br />
11<br />
Prägende Rolle von Medizin,<br />
Technik und Forschung<br />
Enge Verbindung zur Ohrenheilkunde<br />
und zu technischen Fortschritten: von<br />
1929 bis 2006 waren fast die ganze Zeit<br />
Ohrenärzte Vereinspräsidenten.<br />
Ein König, der Schwerhörige «versilberte»<br />
Karl Rodel sammelte in den Kriegsjahren Silberpapier, später<br />
Märkli und Silvapunkte. Der «Silberkönig» brachte so der Ver-<br />
Präsidenten<br />
• 1912 – 1915 Anna Eidenbenz<br />
• 1916 – 1918 Silvia Erzinger<br />
• 1919 vakant<br />
• 1920 – 1925 Emil Bosshardt<br />
• 1926 Leopold Hess<br />
• 1927 – 1928 Gustav Ewig<br />
• 1929 – 1960 Dr. med. Karl Kistler<br />
• 1961 Dr. med.Karl Spycher<br />
• 1962 – 1974 Dr. med. Georg Kern<br />
• 1975 – 1980 Dr. med. Klaus Bleuler<br />
• 1981 – 1987 Dr. med. Peter Strebel<br />
• 1988 – 1998 Dr. med. Carlo Prestele<br />
• 1999 – 2006 Dr. med. Christian Maranta<br />
Paul Beglinger, (Fotomodell), Elly Rutishauser, Titelbild Rückseite von links: Gigi<br />
2 Zürcher Stiftung für das Hören<br />
Ménard, Hans Petersen, Karl Kistler, Berta Kuhn, (Fotomodell), Henriette Schleuss einskasse in 50 Jahren über 50 000 Fr. ein.<br />
ment wäre diese Jubiläumsschrift aber auch gegenüber den Aus- • 2007 – Gitti Hug, lic.oec.<br />
3<br />
Editorial<br />
Liebe<br />
Leserinnen<br />
und Leser<br />
100 Jahre Pro<br />
Audito <strong>Zürich</strong>:<br />
Grund genug,<br />
um in der Geschichte<br />
des<br />
Vereins einen Marschhalt einzuschalten<br />
und einen Rückblick auf<br />
100 Jahre Tätigkeit im Dienste der<br />
Hörbehinderten zu werfen. Unser<br />
Vizepräsident Dr. Thomas Spillmann,<br />
Facharzt für Oto-Rhino-<br />
Laryngologie und langjähriger leitender<br />
Arzt der Abteilung für<br />
Audiophonologie an der Universitätsklinik<br />
<strong>Zürich</strong> hat sich in aufwändiger<br />
Kleinarbeit an die geschichtliche<br />
Aufarbeitung unseres<br />
Vereinslebens gewagt, in Archiven<br />
gegraben und damit die Biographie<br />
unseres Vereins zum Leben erweckt.<br />
Ohne sein grosses Engage-<br />
nicht zustande gekommen: Ihm gebührt<br />
vorab der allerherzlichste<br />
Dank!<br />
Pro Audito <strong>Zürich</strong>, vormals Schwerhörigenverein<br />
<strong>Zürich</strong>, hat sich trotz<br />
einiger weltpolitischer Turbulenzen<br />
als stabiler Moment erwiesen.<br />
Inzwischen zählt der Verein über<br />
500 Mitglieder und gehört zu den<br />
55 Kollektivmitgliedern des Dachverbandes<br />
pro audito Schweiz. Im<br />
Vorstand von Pro Audito <strong>Zürich</strong><br />
sind sowohl Betroff ene, wie auch<br />
Fachleute, welche sich engagiert<br />
um die Anliegen der Mitglieder<br />
kümmern.<br />
Mir persönlich ist es eine grosse<br />
Freude, im Jahre des 100 jährigen<br />
Jubiläums als Präsidentin Teil des<br />
Vereins zu sein. Ich darf jedoch daran<br />
erinnern, dass der Verein in erster<br />
Linie durch seine engagierten<br />
und verlässlichen MitarbeiterInnen<br />
lebt. Ihnen gehört der grosse<br />
Dank. Zu Dank verpfl ichtet bin ich<br />
Vorstand heute: (Bild links, v.l.) Matthias Arioli, Christine Friberg (Vizepräsidentin),<br />
Ruth Mantel, Gitti Hug (Präsidentin), Thomas Spillmann (Vizepräsident), Carmen Röser<br />
Gründerinnen des Hephata-Vereins <strong>Zürich</strong>, 1912: (Bild oben, v.l.) Hermine Kummer,<br />
Jenny Schreiber, Lina Schläfl i, Schwester Anna Eidenbenz, Fanny Lichti (auf dem<br />
Wandbild: Margarethe von Witzleben)<br />
schussmitgliedern sowie meinen<br />
Kolleginnen und Kollegen aus dem<br />
Vorstand, die ihre freie Zeit und<br />
Energie in den Dienst der Mitmenschen<br />
mit Hörproblemen stellen.<br />
Den Mitgliedern des Vereins möchte<br />
ich für das entgegengebrachte<br />
Vertrauen danken und hoff e, dass<br />
wir diesem auch in Zukunft voll<br />
und ganz gerecht werden können.<br />
Ihre Gitti Hug, Präsidentin<br />
1912 – 2012
1912<br />
Was ereignete sich im<br />
Gründungsjahr des Hephata-<br />
Vereins?<br />
• Albert Einstein lehrt an der<br />
ETH <strong>Zürich</strong> Physik<br />
• Kaiser Wilhelm II besucht<br />
die Schweiz<br />
• Robert Falcon Scott erreicht<br />
den Südpol. Der Rückmarsch<br />
endet tödlich<br />
• Untergang der Titanic mit<br />
1500 Toten<br />
• Gründung der Gesellschaft<br />
Schweizerischer Nasen-, Halsund<br />
Ohrenärzte<br />
• Die Jungfraubahn-Station<br />
«Jungfraujoch» wird in Betrieb<br />
genommen<br />
• Die ersten Pfadfi ndergruppen<br />
werden in der Schweiz gegründet<br />
• Das schweizerische Zivilgesetzbuch<br />
wird eingeführt<br />
• Die Stadt <strong>Zürich</strong> erreicht eine<br />
Einwohnerzahl von 200 000<br />
«Tue dein Möglichstes, um deiner<br />
Umgebung den Verkehr mit dir zu<br />
erleichtern. Darum lerne ablesen und<br />
übe zu jeder Zeit und jedem Orte»<br />
(aus der Rückseite der ersten Mitgliederkarte)<br />
Wo alles begann: Die<br />
Gründerinnen trafen<br />
sich am 25. Oktober<br />
1912 im Restaurant<br />
Olivenbaum in <strong>Zürich</strong><br />
Die Obmannamtsgasse 25 vereinigte von 1942 – 1954 alles in<br />
ihren Räumen: Tagesheim, Vereinsbibliothek, Strickstube, Lehrzimmer<br />
für Abseh- und Sprachkurse, Hörmittelberatung und<br />
Sekretariat (heute steht an dieser Stelle das Café Neumärt)<br />
Am Anfang stand die Selbsthilfe<br />
Seit der Jugend litt die sächsische<br />
Adlige Margaretha von Witzleben<br />
(1853–1917) an zunehmender<br />
Schwerhörigkeit. Erfüllt von sozialem<br />
und religiösen Engagement<br />
gründete sie in Berlin eine<br />
Schwerhörigengruppe. Man traf<br />
sich regelmässig zum Gottesdienst.<br />
Aus dieser Gruppe entstand<br />
1909 der konfessionelle,<br />
evangelische «Verein der Schwerhörigen<br />
HEPHATA e.V». Kurz darauf<br />
folgten weitere gleichnamige<br />
Vereinsgründungen in ganz<br />
Deutschland. Auf einer Reise in<br />
die Schweiz begegnete die «Mutter<br />
der Tauben» der Diakonisse<br />
Anna Eidenbenz (1870–1934). Die<br />
ebenfalls von einem Hörverlust<br />
betroff ene Zürcher Ordensschwester<br />
lernte bald darauf in<br />
Berlin das Werk der Selbsthilfe<br />
kennen. Sie beschloss auch in <strong>Zürich</strong><br />
einen Hephata-Verein ins Leben<br />
zu rufen.<br />
Das Leben mit Schwerhörigkeit<br />
im Jahr 1912<br />
Schwerhörigenfürsorge war im<br />
Gründungsjahr ein völlig unbe-<br />
genauso viele Schwerhörige gab<br />
wie heute. Doch dachte niemand<br />
an die Notwendigkeit oder Möglichkeit,<br />
diesen oft tief unglücklichen<br />
Mitmenschen zu helfen.<br />
Ohne ihr Leiden zu lindern, überliess<br />
man sie einfach ihrem<br />
Schicksal. «Missverstanden, vergrämt,<br />
mit tiefem Weh im Herzen<br />
führten sie abseits der Gesellschaft<br />
ein recht bedauernswürdiges<br />
Dasein» lesen wir im 10-Jahresbericht<br />
von 1922. Zudem waren<br />
Hörgeräte zu dieser Zeit kaum im<br />
Gebrauch, weil sie unhandlich<br />
und störungsanfällig waren und<br />
öff entliches Aufsehen erregten.<br />
Von Anfang an konfessionell<br />
neutral<br />
Am 25. Oktober 1912 traf sich ein<br />
Grüppchen von Schwerhörigen am<br />
Stadelhofen in <strong>Zürich</strong>. Im Restaurant<br />
Olivenbaum erschienen von<br />
dreissig Geladenen nur vier Personen.<br />
Die Versammlung gründete<br />
Anna Eidenbenz verbrachte ihre Jugendjahre<br />
in einer kinderreichen Kaufmannsfamilie<br />
in <strong>Zürich</strong>. Als Diakonissin<br />
arbeitete sie in der Mariahalde des Mar-<br />
4 kannter Begriff , obwohl es damals tinstifts in Erlenbach ZH als Lehrerin. 5<br />
Fotos: Baugeschichtliches Archiv <strong>Zürich</strong><br />
Margarethe von Witzleben, galt als<br />
«Mutter der Tauben»<br />
Fortsetzung Seite 6
Sprechtraining in der Gehörlosenschule <strong>Zürich</strong> (heute Zentrum für Gehör und<br />
Sprache)<br />
den Verein und wählte einen siebenköpfi<br />
gen Vorstand. Zur Vorsitzenden<br />
bestimmte sie Schwester<br />
Anna Eidenbenz. Die Gründungsgruppe<br />
setzte sich mit Elan Ziele.<br />
Eine Bibliothek sollte für geistige<br />
Anregung sorgen. Das Vereinsmitglied<br />
Bietenholz hielt als Prediger<br />
monatlich eine Bibelstunde mit<br />
Andacht. Der neue Zürcher Verein<br />
stand von Anfang an allen Konfessionen<br />
off en – im Gegensatz zu den<br />
deutschen Hephata-Vereinen.<br />
Schon im ersten Jahr bot der Verein<br />
ein Programm mit Lektionen im<br />
Ablesen von Mundbewegungen<br />
für besseres Sprachverstehen an.<br />
Taubstummenlehrer unterstützen<br />
tatkräftig<br />
Schon vor 1920 hatten die Lehrerinnen<br />
und Lehrer der Taubstummenanstalt<br />
Wollishofen<br />
(heute Zentrum für Gehör und<br />
Sprache ZGSZ) ein vielversprechendes<br />
System entwickelt, mit<br />
dem sich Sprachlaute den Mundbewegungen<br />
zuordnen liessen.<br />
In der Schule konnten sie jedoch<br />
die neue Technik nicht anwenden,<br />
denn die hörbehinderten<br />
die sprachlichen Inhalte nicht erlernt<br />
und konnten mit den Mundbildern<br />
nichts anfangen. Die<br />
Taubstummenlehrer interessierten<br />
sich darum für die Arbeit im<br />
Hephata-Verein. Hier konnten sie<br />
mit spät ertaubten oder schwerhörig<br />
gewordenen Erwachsenen<br />
ihre neue Methode anwenden.<br />
Die Lehrer Paul Beglinger und<br />
Emil Bosshardt leiteten mit Hingabe<br />
die Ablesekurse. Sie nahmen<br />
am Vereinsleben teil und engagierten<br />
sich im Vorstand. In<br />
einer kritischen Zeit (1920–1925)<br />
übernahm Emil Bosshardt auch<br />
1912 – 2012<br />
das Präsidium.<br />
Was bedeutet Hephata?<br />
Hephata (Εφφαθα, altgriech.)<br />
bedeutet: «Öff ne dich!» (Markus-<br />
Evang. Kap. 7, 32–35). Jesus heilt<br />
einen Taubstummen: «Und sie<br />
brachten einen Tauben zu ihm<br />
(…) und (er) sprach zu ihm: Ephatha,<br />
das heisst: tu dich auf! Da taten<br />
sich seine Ohren auf, und die<br />
Bindung seiner Zunge löste sich,<br />
und er redete richtig.» (Zwingli-<br />
Foto: Zentrum für Gehör und Sprache<br />
Wanderlustige<br />
Hephata-Mitglieder<br />
gründeten<br />
den Wanderclub<br />
«Primula» und<br />
verbrachten im<br />
Sommer 1920<br />
zwei fröhliche<br />
Tage auf der Rigi.<br />
Die Hörbehinderung verbindet auch<br />
in der Freizeit<br />
Dem Hephata-Verein war es von<br />
Beginn an ein grosses Anliegen,<br />
die Schwerhörigen auch in ihrer<br />
Freizeitgestaltung zu unterstützen.<br />
Eine wichtige Rolle spielte<br />
dabei «die erbauliche Lektüre»,<br />
die zur Einrichtung einer kleinen<br />
Bibliothek führte. «Ein gutes<br />
Buch ist ein guter Freund, der uns<br />
über manche einsame oder trübe<br />
Stunde hinweghilft», heisst es im<br />
ersten Jahresbericht von 1913.<br />
Unterschiedliche<br />
Freizeitansichten<br />
Später wurden auch Lichtbild-<br />
Vorträge, musikalische Darbietungen,<br />
dramatische Spiele<br />
heiterer Art und sogar kinematographische<br />
Vorführungen angeboten.<br />
Im Sommer wurden gemeinsame<br />
Spaziergänge oder<br />
Ausfl üge durchgeführt. Die Wanderlust<br />
einiger Mitglieder war<br />
1920 Anlass zur Gründung eines<br />
Wanderklubs, der vorübergehend<br />
allerdings zur Spaltung des<br />
Vereins führte. Unterschiedliche<br />
Ansichten über die Freizeitgestaltung<br />
hatten sich also schon<br />
früh zum Spaltpilz entwickelt.<br />
Die Bibliothek, bildungsanregende<br />
Veranstaltungen, körperliche<br />
Tätigkeit und Geselligkeit blieben<br />
über all die Jahrzehnte die wichtigsten<br />
Freizeitangebote im Vereinsprogramm.<br />
Von 1923 bis 1980<br />
führte der Verein in verschiedenen<br />
Quartieren der Stadt eine<br />
◀ Ausfl ug nach Interlaken 1977 mit<br />
Lea Aegler-Kehrli, Gründerin Hephata<br />
Bern und langjährige Redaktorin<br />
Langlaufl ager in Einsiedeln, Januar 1984<br />
Strickstube, deren Ertrag zudem<br />
die Vereinskasse unterstützte.<br />
Engagement auch für Kinder<br />
und Jugendliche<br />
In den Gründungsstatuten war<br />
die «Jugendpfl ege» ein wichtiges<br />
Anliegen. So machte sich der Verein<br />
bei den Schulbehörden stark<br />
für besondere Schulklassen und<br />
die berufl iche Ausbildung von<br />
Schwerhörigen. Auch engagierte<br />
man sich für einen Kinderhort.<br />
1917 wurden die ersten Ablesekurse<br />
für schwerhörige Schüler<br />
und 1922 die ersten Sonderklassen<br />
für Schwerhörige in <strong>Zürich</strong><br />
eingeführt, die bis in die 1970er-<br />
Jahren Bestand hatten.<br />
1920–1928 gab es im Hephata-Verein<br />
auch eine Jugendgruppe. Junge<br />
Schwerhörige trafen sich meist<br />
überregional und waren auch im<br />
BSSV vertreten. Erst 1988 bildete<br />
sich wieder eine Jugendorganisation<br />
im Schwerhörigenverein <strong>Zürich</strong>:<br />
Die Freetime Group <strong>Zürich</strong><br />
(FGZ), die sich 2007 wieder auflöste.<br />
Diese Erfahrung zeigt, wie<br />
schwierig es ist, mit Jugendlichen<br />
dauerhafte Vereinsstrukturen<br />
aufzubauen, auch wenn die gemeinsame<br />
Erfahrung der Hörbehinderung<br />
einen Zusammenhalt<br />
Bibel, <strong>Zürich</strong>, 1966)<br />
6 Schülerinnen und Schüler hatten<br />
Monatsblatt BSSV (links im Bild) s c h a ff t .<br />
7
Von Hephata zu Pro Audito<br />
1912 1922 1932 1942 1952 1962 1972 1982 1992 2002 2012<br />
Hephata SVZ Fürsorgeverein für Schwerhörige<br />
Schwerhörigenverein <strong>Zürich</strong> SVZ<br />
Pro Audito <strong>Zürich</strong><br />
Unterhaltungskommission<br />
Hort<br />
Unterrichtskommission<br />
Wanderklub<br />
Jugendgruppe<br />
Kommission für geistige Anregung<br />
Hörmittelzentrale<br />
Heimstätte Strickstube<br />
Fürsorgekommission<br />
Tagesheim und Strick stube<br />
Kommission für kulturelle Veranstaltungen<br />
Freetime Group <strong>Zürich</strong> (FGZ)<br />
Beratung, Information,<br />
Animation<br />
1912 1922 1932 1942 1952 1962 1972 1982 1992 2002 2012<br />
Foto: Siemens<br />
1932/Bild ganz links: Vielhöranlage im<br />
Kino. Der Verein <strong>Zürich</strong> nahm im Zwinglisaal<br />
des «Glockenhof» in <strong>Zürich</strong> die erste<br />
Vielhöranlage der Schweiz in Betrieb.<br />
1929-1993: Während 64 Jahren verfügte<br />
der Verein über seine eigene Betreiberfirma,<br />
die Hörmittelzentrale <strong>Zürich</strong> AG.<br />
(Bild: Seestrasse 45, darüber die Räume<br />
des Vereins seit 1954).<br />
Ein Jahrhundert Sozialarbeit für<br />
besseres Hören<br />
Ein erster wichtiger Schritt für<br />
den neu gegründeten Verein war<br />
die Eröffnung einer Auskunftsstelle<br />
durch Schwester Anna Eidenbenz<br />
und Fräulein Hermine<br />
Kummer, die beide Gründungsmitglieder<br />
waren. Schon nach<br />
kurzer Zeit trafen zahlreiche Anfragen<br />
zu Hörapparaten, Heilmethoden,<br />
Ohrenärzten und Ablesekursen<br />
ein. Diese Auskunftsstelle<br />
bildete die Basis für das Vereinssekretariat<br />
und schliesslich auch<br />
für das schweizerische Zentralsekretariat<br />
für Schwerhörigen-Fürsorge<br />
des Bundes Schweizerischer<br />
Schwerhörigenvereine<br />
(BSSV). Die Anschaffung eines<br />
Hörapparates war mit hohen Kosten<br />
verbunden. Dadurch ergab<br />
sich insbesondere für Minderbemittelte<br />
der Bedarf nach finanzieller<br />
Unterstützung. Also wurde<br />
dafür gesorgt, dass der Verein die<br />
Hörapparate von der Firma Siemens<br />
& Halske mit einer Ver-<br />
kaufsprovision beziehen konnte.<br />
Ausserdem wurde ein Unterstützungsfonds<br />
aus freiwilligen<br />
Spenden geschaffen, um auch<br />
den finanziell schwächeren Mitgliedern<br />
den Kauf eines Hörgerätes<br />
oder die Teilnahme an einem<br />
Ablesekurses zu ermöglichen.<br />
Besonderes Engagement in<br />
der Wirtschaftskrise<br />
1920 kam es zur Spaltung des Vereins.<br />
Der Hephata-Vorstand löste<br />
sich im Konflikt auf. 1930 wurde<br />
unter Leitung des Arztes Karl<br />
Kistler ein neuer Verein mit dem<br />
Namen Fürsorgeverein für<br />
Schwerhörige gegründet. Dieser<br />
Name und dieser Präsident sollten<br />
für die folgenden 32 Jahre den<br />
Verein repräsentieren.<br />
In der Wirtschaftskrise der<br />
1930er-Jahre wurde eine Fürsorgekommission<br />
aufgebaut, die für<br />
arbeitslose Schwerhörige Be-<br />
8 hörige, z.B. an die Migros (Bild Lebensmitteltransport mit Zürcher Tram) 9<br />
Ausschuss<br />
Internet<br />
1912-2012: Geselligkeit<br />
spielte immer<br />
eine zentrale<br />
Rolle, wie auch bei<br />
diesem Anlass<br />
2011 in Engelberg.<br />
Fortsetzung Seite 10<br />
Während der Wirtschaftskrise vermittelte der Verein Stellen für arbeitslose Schwer
schäftigung und Verdienst suchte. Mit Erfolg, so beschäftigte<br />
beispielsweise die Migros bis zu 30<br />
Schwerhörige zur Anfertigung von Papiersäcken<br />
und Kartonnagen. Aber auch die «Schreibstube für<br />
Stellenlose» oder die «Versuchswerkstätten <strong>Zürich</strong>»<br />
und der Verein selbst boten Schwerhörigen Arbeit.<br />
Der Verein wurde als Beratungs-, Arbeitsvermittlungs-<br />
und Fürsorgestelle unentbehrlich. Die Finanzierung<br />
erfolgte über Mitgliederbeiträge sowie über<br />
private Fonds und Stiftungen. Unterstützt wurde<br />
ein breites Spektrum an Leistungen wie Absehkurse,<br />
Erholungsaufenthalte, Arbeitslosengeld für solche,<br />
die noch kein Versicherungsgeld bezogen, aber<br />
auch Zugaben für ältere und alleinstehende Schwerhörige.<br />
Neben der materiellen Fürsorge ist auch die<br />
seelische Unterstützung zu erwähnen. Denn<br />
Schwerhörigkeit ist oft mit Vereinsamung und weiteren<br />
Leiden verbunden.<br />
Von der Beratungsstelle zum<br />
«Beratungsstützpunkt»<br />
In den Krisen- und Kriegsjahren 1930–1945 stand<br />
der «Fürsorgeverein» für den sozialen Schutz und<br />
die Sicherheit der Hilfsbedürftigen. Mit dem wirt-<br />
schaftlichen Aufschwung und der Einführung der<br />
Sozialwerke AHV und IV war diese Ausrichtung<br />
plötzlich nicht mehr zeitgemäss. So wurde 1962 die<br />
Rückbenennung zu Schwerhörigen-Verein <strong>Zürich</strong><br />
beschlossen. Die Nachfrage nach Beratung und<br />
Sozialhilfe blieb aber über weitere Jahrzehnte<br />
bestehen. Dies verdeutlicht, dass die Probleme<br />
Schwerhöriger nicht allein durch Renten und Finanzierungsbeiträge<br />
an Hörgeräte gelöst werden<br />
können. Erst 2010 wurde die Stelle für Sozialarbeit<br />
vom Verein Pro Audito <strong>Zürich</strong> an die Beratungsstelle<br />
für Gehörlose im Gehörlosenzentrum übergeben.<br />
Geplant ist für die nächsten Jahre hingegen der Aufbau<br />
eines regionalen «Beratungsstützpunktes» in<br />
<strong>Zürich</strong> unter der Federführung von pro audito<br />
Schweiz. Hier sollen sich dereinst Betroff ene als Beraterinnen<br />
und Berater zur Beantwortung von Anfragen<br />
zur Verfügung stellen. In den Räumen von<br />
Pro Audito werden also in Zukunft weiterhin Beratungen<br />
stattfi nden, jedoch wieder auf Augenhöhe<br />
zwischen Hörbehinderten – hoff entlich in ebenso<br />
einfühlsamer und kompetenter Weise, wie dies in<br />
den Gründungsjahren mit den Pionierinnen Eidenbenz<br />
und Kummer der Fall gewesen war.<br />
Der Verein beschäftige in der Wirtschaftskrise arbeitslose Schwerhörige. In <strong>Zürich</strong> und in der ganzen Schweiz gingen Arbeitslose<br />
auf die Strasse um zu protestieren.<br />
Foto: Paul Senn (1901-1953)<br />
1912 – 2012<br />
1912–<br />
1921<br />
1922–<br />
1931<br />
1932–<br />
1941<br />
Eugenik (Heiratsverbot u.a.)<br />
1942–<br />
1951<br />
1952–<br />
1961<br />
Prägende Rolle von Medizin, Technik und Forschung<br />
Von Anfang an pfl egte der Verein enge Verbindungen<br />
zur Medizin, speziell zur Ohrenheilkunde. 1917<br />
wurde die Zürcher Universitätsklinik für Otorhinolaryngologie<br />
gegründet. Ihr Direktor und Chefarzt,<br />
Professor Felix R. Nager (1877–1953), war schon im<br />
ersten Jahr dem Hephata-Verein als Mitglied und<br />
später Vorstandsmitglied beigetreten. Während der<br />
gesamten 100 Jahre waren weitere Ohrenärzte im<br />
Vorstand tätig. 77 Jahre lang, von 1929 bis 2006, waren<br />
sie praktisch ohne Unterbruch Vereinspräsidenten.<br />
So war sicher gestellt, dass die Vereinsmitglieder<br />
jederzeit über die neusten Entwicklungen in der<br />
Behandlung von Ohrenleiden informiert waren und<br />
davon profi tieren konnten. In der Gründungszeit<br />
hatte die Medizin allerdings kaum etwas zur Verbesserung<br />
des Hörvermögens anzubieten.<br />
Medizinische und technische Fortschritte<br />
Die Rötelnimpfung war die erste wirksame Massnahme<br />
zur Verhinderung einiger Fälle von Ge-<br />
1962–<br />
1971<br />
1972–<br />
1981<br />
1982–<br />
1991<br />
Impfungen (z.B. Röteln)<br />
Reintonaudiometrie (Erwachsene)<br />
Verhaltensaudiometrie (Kinder)<br />
Steigbügeloperation<br />
burtstaubheit. Auch weitere medizinische Fortschritte<br />
kamen zur Anwendung: Die ersten<br />
hörverbessernden Operationen am Mittelohr (Steigbügel)<br />
ab den 1960er-Jahren, ab 1980 das Cochlea-<br />
Implantat, das bis 2011 schweizweit rund 2000 mal<br />
eingesetzt wurde.<br />
Heute kann die Ohrenheilkunde eine nachhaltige<br />
und wirksame Hörverbesserung durch Operationen<br />
anbieten. Diese führt allerdings oft nur in Verbindung<br />
mit einem Hörtraining zu einer guten<br />
Hörorientierung und Sprechsicherheit<br />
in der täglichen Kommunikation.<br />
Die Mehrheit der<br />
von Schwerhörigkeit Betrof- Betrof-<br />
fenen bleibt jedoch auch in<br />
Zukunft auf Hörgeräte angewiesen,<br />
von deren Fortschritten<br />
die Gründerinnen<br />
im Jahre 1912 nur träumen<br />
1912 – 2012<br />
konnten.<br />
1992–<br />
2001<br />
2002–<br />
2011<br />
Neugeborenen<br />
Hörscreening<br />
Evozierte Potentiale (BERA, EcochG) *<br />
OAE**<br />
CochleaImplantat (CI)<br />
■Prävention ■ Diagnose ■ Therapie * BERA: Brainstem Evoked Electric Reaction Audiometrie<br />
(Hirnstammaudiometrie)<br />
* EcochG: Electrocochleographie<br />
** OAE: Otoakustische Emissionen<br />
Div. Implantate
100 Jahre Kurswesen – eine von <strong>Menschen</strong> geprägte Geschichte<br />
Kurze Zeit nach der Gründung<br />
des Hephata-Vereines konnte der<br />
renommierte Taubstummenlehrer<br />
Paul Beglinger gewonnen werden,<br />
um dem Verein mit Rat und<br />
Tat zur Verfügung zu stehen. Er<br />
gilt als Pionier in der Entwicklung<br />
des Absehunterrichts und führte<br />
diesen schon bald auch im Hephata-Verein<br />
ein. Die Nachfrage<br />
war gross, sodass die Ausbildung<br />
von weiteren Lehrkräften von Beginn<br />
an eine wichtige Rolle spielte.<br />
Unter ihnen befanden sich<br />
auch Emil Bosshardt, der später<br />
die Leitung des Hephata-Vereins<br />
übernehmen sollte.<br />
Ausnahmeerscheinung<br />
Elly Rutishauser<br />
Eine Ausnahmeerscheinung unter<br />
den Lehrkräften war Elly Rutishauser,<br />
die ebenfalls von Schwerhörigkeit<br />
betroff en war. Sie<br />
arbeitete ursprünglich als Verkäuferin,<br />
doch zeigte sie schnell grosse<br />
Fähigkeiten im Ablesen, sodass<br />
in ihr der Wunsch reifte, diese<br />
wertvolle Fertigkeit weiterzuvermitteln.<br />
Es war von Bedeutung,<br />
dass gerade eine Schwerhörige<br />
durch ihre grosse Absehfertigkeit<br />
den Beweis lieferte, dass das Able-<br />
Freude am<br />
Ablesen: Unterricht<br />
mit Gigi<br />
Ménard an der<br />
Seestrasse 45<br />
sen für die Betroff enen eine grosse<br />
Hilfe sein kann. kann. Elly Rutishauser<br />
zeichnete aber auch ihre Gabe<br />
aus, das Vertrauen ihrer «Leidens«Leidensgefährten»<br />
in hohem Masse Masse zu zu gewinnen<br />
und ihnen nicht nur Lehrerin,<br />
sondern auch Beraterin und<br />
Seelsorgerin zu zu sein.<br />
Systematisch aufgebaute<br />
Kurse mit mit Schlussexamen<br />
Der Absehunterricht spielte in der<br />
Gründerzeit des Hephata-Vereins<br />
eine zentrale Rolle und trug so<br />
auch zu zu dessen Wachstum bei. bei.<br />
Man war damit off enbar auf ein<br />
grosses Bedürfnis gestossen. Die Die<br />
Zahl der Lehrkräfte stieg innert<br />
kurzer Zeit auf 6 Personen an. Und<br />
allein im Jahr 1914 wuchs der Verein<br />
von von 74 auf auf 117 117 Mitglieder. Die<br />
systematisch aufgebauten Kurse<br />
umfassten 40 Lektionen und wurden<br />
an der Waldmannstrasse<br />
durchgeführt. Das Kursgeld<br />
betrug 25 Franken.<br />
Zum Abschluss des<br />
Kurses Kurses absolvierten<br />
die Teilnehmer<br />
ein<br />
Examen im<br />
«Oliven«Olivenbaum». Elly Rutishauser<br />
(1876 – 1932) – die<br />
erste schwerhörige<br />
Ableselehrerin. Prof.<br />
Dr. Nager erkannte<br />
die didaktischen<br />
Fähigkeiten seiner<br />
Patientin und motivierte<br />
sie: «Es gibt<br />
einen Weg für Sie,<br />
auf dem Sie Ihren<br />
Leidensgenossen<br />
noch zum Segen<br />
werden können.»<br />
Etwas später folgten im «Glockenhof»<br />
fortlaufende Kurse. Wer den<br />
Kurs besuchte, bekam die Empfehlung,<br />
vor den Kursen auf zerstreuende<br />
Beschäftigungen wie<br />
das Bummeln in den Läden zu<br />
verzichten, um einen besseren<br />
Lernerfolg zu erzielen. Die Absehkurse<br />
waren so erfolgreich, dass<br />
sie auch im Zürcher Oberland, in<br />
Winterthur sowie in Basel, Bern,<br />
St. Gallen, Glarus und Schaffh ausen<br />
eingeführt wurden.<br />
Weiterentwicklung in der<br />
Absehmethodik<br />
Das Jahr 1924 war für die schweizerische<br />
Schwerhörigenbildung<br />
von besonderer Bedeutung. Die<br />
Ausbildung der Lehrkräfte erhielt<br />
unter der Leitung von Herrn Prof.<br />
Dr. Heinrich Hanselmann offi ziellen<br />
Charakter. Später gelangte die<br />
Ausbildung unter die Obhut der<br />
Schwerhörigen-Fürsorge des Bundes<br />
Schweizerischer Schwerhörigenvereine<br />
(BSSV), der heutigen<br />
pro audito Schweiz. 1936 wurde<br />
das Unterrichtswesen der Pro Au-<br />
HighIight in den 1970er-Jahren: die TV-<br />
Auftritte «Besser luege – meh gseh» im<br />
dito <strong>Zürich</strong> von Hans Petersen<br />
übernommen, einem besonders<br />
talentierten Lehrer, der dem herkömmlichen<br />
Absehunterricht<br />
neue Impuls und Erfolge bringen<br />
sollte. Dank der leistungsfähigeren<br />
Hörgeräte wurde neben dem<br />
reinen Ablesen immer mehr auch<br />
das Hören geschult. Hier war Petersen<br />
ein Pionier. Aufb auend auf<br />
den bereits anerkannten Methoden<br />
von Beglinger und Brauckmann<br />
hat er die bis heute in der<br />
ganzen Schweiz und auch im Ausland<br />
anerkannte «Zürcher Absehmethode»<br />
kreiert.<br />
Neue Impulse mit Gigi Ménard<br />
Eine begeisterte Schülerin von<br />
Hans Petersen war die während<br />
40 Jahren für Pro Audito <strong>Zürich</strong><br />
tätige Gigi Ménard. Sie kam Mitte<br />
der 1960er-Jahre zum Zürcher<br />
Verein, wo sie den Unterrichtsdienst<br />
neu aufb aute. Zusammen<br />
mit Hans Petersen gab sie den Ablesekursen<br />
ein neues Gesicht.<br />
Statt Strenge und Disziplin stand<br />
vermehrt die Freude am Ablesen<br />
im Mittelpunkt des Unterrichts.<br />
Ein Highlight waren in den<br />
1970er-Jahren die Fernsehauftritte<br />
von Gigi Ménard. Die junge<br />
Mutter von zwei Söhnen, ein<br />
Energiebündel mit grosser Ausstrahlung,<br />
erteilte in der beliebten<br />
Sendung Da Capo des Schweizer<br />
Fernsehens den Kurs «Besser<br />
luege – meh gseh» an die ganze<br />
Bevölkerung. Später führte Gigi<br />
Ménard Verständigungs- und Gedächtnistrainings<br />
ein.<br />
Eine permanente Entwicklung<br />
des Kursangebotes<br />
Das Kurswesen war in der<br />
100-jährigen Geschichte geprägt<br />
von aussergewöhnlichen Persön-<br />
des Absehunterrichts verfeinerten<br />
und optimierten. Einen grossen<br />
Einfl uss spielten in den vergangenen<br />
Jahrzehnten immer<br />
mehr auch neue technische und<br />
medizinische Erkenntnisse. So<br />
konnten dank neuer Hörsystemtechnologien<br />
und der Gehirnforschung<br />
neue Hör-, Gedächtnis-<br />
und Verständigungstrainings<br />
konzipiert werden, wo die Merk-<br />
und Reaktionsfähigkeit ein grösseres<br />
Gewicht bekamen. Pro Audito<br />
<strong>Zürich</strong> richtet sich heute an<br />
Dr.med. h.c.<br />
Hans Petersen,<br />
1904–1988<br />
Die <strong>Menschen</strong><br />
standen immer<br />
im Vordergrund<br />
Hans Petersen begleitete<br />
als 10-Jähriger<br />
seinen hörbehinderten<br />
Vater in einen Absehkurs.<br />
Dies war für ihn ein prägendes Erlebnis.<br />
Er liess sich zum Taubstummen- und<br />
Schwerhörigenlehrer ausbilden. Petersen<br />
entwickelte eine neue Absehmethode,<br />
die sich vermehrt auf die Erfassung<br />
der mundartlichen Umgangssprache<br />
konzentrierte. Ob Fachleute oder Betroffene,<br />
stets standen für den begnadeten<br />
Pädagogen die <strong>Menschen</strong> im Vordergrund.<br />
Wichtig war ihm die Stärkung der<br />
Selbsthilfe. Die Medizinische Fakultät der<br />
Universität <strong>Zürich</strong> verlieh ihm 1977 für<br />
seine Verdienste den Ehrendoktortitel.<br />
Emil Bosshardt,<br />
1897-1974<br />
Er steuerte den<br />
Verein in<br />
schwierigen<br />
Zeiten aus der<br />
Krise<br />
Emil Bosshardt<br />
kam 1913 als Taubstummenlehrer<br />
zum Hephata-Verein. Als<br />
sich der Verein 1920 in einer Krise befand<br />
Paul Beglinger,<br />
1863–1949<br />
Er erkannte,<br />
dass das Ablesen<br />
vom Mund<br />
eine grosse Erleichterung<br />
bringt<br />
Paul Beglinger ist<br />
ein Pionier der Schwerhörigenbildung in<br />
der Schweiz. Als junger Taubstummenlehrer<br />
erkannte er bereits in den 1880er-<br />
Jahren, dass das Ablesen vom Mund<br />
dem Schwerhörigen eine grosse Erleichterung<br />
bringt. 1913 kam er als Lehrer zum<br />
Hephata-Verein und führte den Absehunterricht<br />
ein. Er bildete weitere Lehrkräfte<br />
daus, sodass bald sechs Absehlehrkräfte<br />
zur Verfügung standen, unter<br />
ihnen auch Emil Bosshardt.<br />
Als sich 1920 fünf Schwerhörigen-Vereine<br />
zum Bund Schweizerischer Schwerhörigen-Vereine<br />
(BSSV) zusammenschlossen,<br />
übernahm er das Präsidium.<br />
Wegen seines hohen Verdienstes in der<br />
Ausbildung von Absehlehrkräften, insbesondere<br />
auch am Heilpädagogischen<br />
Seminar <strong>Zürich</strong>, verlieh ihm 1941 der<br />
12 Schweizer Fernsehen mit Gigi Ménard lichkeiten, welche die Methoden und sich aufzulösen drohte, übernahm er BSSV die Ehrenmitgliedschaft. 13<br />
Porträts<br />
alle <strong>Menschen</strong> mit Hörproblemen,<br />
unabhängig wie gravierend<br />
die Schwerhörigkeit ist. Das Angebot<br />
beinhaltet Informations-<br />
und Trainingskurse, die permanent<br />
den neusten Anforderungen<br />
angepasst werden. Die Schulung<br />
erfolgt durch Audioagoginnen,<br />
bei Bedarf auch mit lautsprachunterstützenden<br />
Gebärden. Es ist<br />
zu hoff en, dass sich das Kurswesen<br />
auch in Zukunft weiterentwickeln<br />
wird und ein breites Publikum<br />
davon profi tieren kann.<br />
das Steuer. Der 10-Jahresbericht aus dem<br />
Jahr 1922 umschreibt blumig, wie es Emil<br />
Bosshardt gelang, «das schwer gefährdete<br />
Fahrzeug wieder in ruhige und gesundende<br />
Bahnen zu lenken, da Klippen, Widerstände<br />
und Wetterwolken drohten».<br />
1912 – 2012
Der Hörapparat und die Eisenbahn, erzählt von Fanny Lichti<br />
Diese Geschichte spielt um 1913,<br />
als die Hörgeräte noch sehr viel<br />
primitiver waren als heute. Damals<br />
besuchten zwei Schwerhörige<br />
einen Leidensgenossen im Engadin<br />
und erzählten ihm<br />
begeistert, dass sie in <strong>Zürich</strong> einen<br />
Schwerhörigen-Verein gegründet<br />
hätten – den ersten im<br />
ganzen Lande!<br />
Doch der erwartete Applaus blieb<br />
aus! Skeptisch hob der Gastgeber<br />
an: «Wozu denn noch so ein Verein?<br />
Die Vereinsmeierei bringt<br />
nur Unfrieden, Mühe und Verdruss.<br />
Ich rate euch: Lasst davon<br />
ab!» Wir waren zu perplex und<br />
schwiegen kleinlaut.<br />
Auf der Rückreise traf ich zu meiner<br />
grossen Freude Schwester<br />
Anna Eidenbenz, jene Diakonisse,<br />
die den Ansporn zur Gründung<br />
unseres Zürcher Hephata-<br />
Vereins gegeben hatte. Nach der<br />
Begrüssung beschlossen wir —<br />
als brave Absehschülerinnen —<br />
unsere Hörapparate zu versorgen<br />
und die Konversation via Ablesen<br />
fortzusetzen.<br />
Empört erzählte ich Schwester<br />
Anna, was ich im Engadin zu hören<br />
bekommen hatte. Sie hörte<br />
mir mit tiefernster Miene zu.<br />
Mittlerweile waren die andern<br />
Passagiere in unserem Wagen unruhig<br />
geworden. Die Leute drehten<br />
die Köpfe nach allen Seiten;<br />
der Kondukteur tat das gleiche.<br />
Bei der nächsten Station betrat<br />
ein Bahnarbeiter mit Hammer<br />
und Zange den Wagen und suchte<br />
und suchte. Wir zwei Frauen<br />
verhielten uns passiv; wir trugen<br />
das Schutzzeichen für Schwerhörige<br />
und niemand sprach uns an.<br />
Bei der zweiten Station kam ein<br />
Eine Engandiner Bahnfahrt mit Schwester Anna Eidenbenz endete 1913 mit einem überraschenden Ausgang<br />
Foto: Rhätische Bahn<br />
anderer Bahnarbeiter, der suchte<br />
unter den Bänken, an der Decke,<br />
am elektrischen Licht, an der Heizung,<br />
überall! Alle Passagiere<br />
schauten gespannt zu — nur wir<br />
beiden dachten: das geht uns ja<br />
nichts an! In Filisur stiegen sämtliche<br />
Fahrgäste unseres Wagens<br />
aus. Auch wir folgten, denn eine<br />
Freundin von Schwester Anna erwartete<br />
sie hier; sie begrüsste uns<br />
herzlich und nach einigen Schritten<br />
fragte sie lachend: «Aber<br />
Anna, was für ä komischi Musig<br />
häsch du i dinere Täsche?» Erschrocken<br />
meinte Schwester<br />
Anna: «Nei aber au, han i vergässe,<br />
min Hörapparat abz’schtelle?» In<br />
jäh aufsteigendem Schuldbewusstsein<br />
blickte ich zum Zug zurück,<br />
auf dem gross angekreidet<br />
stand: «Geht zur Reparatur nach<br />
1912 – 2012<br />
Chur.»<br />
Porträt<br />
Hörgerät in<br />
Damentasche, 1914<br />
Schwester Anna Eidenbenz,<br />
1870–1934<br />
Anna Eidenbenz spielte bei der<br />
Gründung des Schweizer Hephata-<br />
Vereins eine prägende Rolle und beeinfl<br />
usste das Hörbehindertenwesen in der<br />
ganzen Schweiz. Ihr Ziel war es, die<br />
rechtliche Stellung der Schwerhörigen<br />
und deren Vernetzung untereinander zu<br />
verbessern. Die Diakonissin am Zürcher Neumünster-Spital<br />
war in jungen Jahren schwerhörig geworden und lernte in<br />
Deutschland das Werk zur Selbsthilfe kennen. So wurde sie<br />
Gründungspräsidentin des ersten Hephata-Vereins (1912–<br />
1916). Ab 1922 sass sie im Zentralvorstand des BSSV (heute<br />
pro audito Schweiz), daneben engagierte sie sich bei der<br />
Schwerhörigenfürsorge und leitete das 1924 gegründete<br />
Schwerhörigenheim. Wegen Krankheit musste sie nach und<br />
nach alle Ämter niederlegen.<br />
Fotos: Willi Haller<br />
Überall hatte<br />
Karl Rodel seine<br />
Freunde und<br />
Helfer<br />
Ein König, der Schwerhörige «versilberte»<br />
Die Geschichte des Hephata-Vereins<br />
und späteren Fürsorgevereins<br />
für Schwerhörige ist geprägt<br />
durch besondere Leistungen, die<br />
von aussergewöhnlichen <strong>Menschen</strong><br />
erbracht wurden. Viele leisteten<br />
ihren Beitrag auch im Hintergrund,<br />
unauff ällig und ganz<br />
im Stillen. Dazu gehörte auf spezielle<br />
Weise auch Karl Rodel. Der<br />
Schwerhörige war von Beruf Ausläufer<br />
in einer Buchhandlung,<br />
doch nutzte er seine Botengänge<br />
nicht nur für seine eigentliche Bestimmung.<br />
Er sammelte unterwegs<br />
auch Silberpapier und Zinntuben,<br />
die er aus Abfalleimern<br />
klaubte oder auf der Strasse liegend<br />
fand, weshalb er von allen<br />
auch «Silberkönig» genannt wurde.<br />
Was heute als wertloser Abfall<br />
gilt, war damals kostbares Rohmaterial.<br />
Insbesondere in den<br />
Kriegsjahren galten Staniol<br />
und andere Metalle als unersetzbares<br />
Gut, das man<br />
gegen ein nicht unbeachtliches<br />
Entgelt ein- ein-<br />
tauschen konnte. Karl Rodel<br />
ging dieser Sammeltätigkeit<br />
über 50 Jahre nach, um deren<br />
Erlös fortlaufend dem Fürsorgeverein<br />
für Schwerhörige zukommenkommen<br />
zu lassen. Später Später war<br />
es es das Sammeln Sammeln von von AluminiAluminiumdeckeli<br />
und Wissblechtuben<br />
sowie Rabattmarken und<br />
Silvapunkten, womit er jährjährlich mehr als tausend Franken<br />
in die Vereinskasse legen<br />
konnte. Insgesamt brachte er<br />
dem Verein über 50 000<br />
Franken ein. Dadurch ist der<br />
«Karl-Rodel-Fonds» entstanden<br />
und es konnten verschiedene<br />
Räumlichkeiten, die der Fürsorgeverein<br />
nutzte, zweckmässiger<br />
gestaltet werden. Wahrlich eine<br />
königliche Leistung! Anlässlich<br />
der General versammlung vom 7.<br />
Mai 1973 wurde Karl Rodel für<br />
seine aussergewöhnlichen Verdienste<br />
zum Ehrenmitglied des<br />
Schwerhörigen-Vereins <strong>Zürich</strong><br />
ernannt. Zwei Wochen später<br />
1912 – 2012<br />
starb er.<br />
Im Jahr 1921 führte der BSSV das Schutzabzeichen für Schwerhörige ein<br />
Heute 2012<br />
« Pro Audito <strong>Zürich</strong> hat ein off enes<br />
Herz und ist Sprachrohr für <strong>Menschen</strong>,<br />
deren Ohren Hilfe brauchen.»<br />
Christian A. Maranta, Normalhörend, Ohrenarzt<br />
« Wetten, dass ich mit meinen Hörsystemen<br />
im Lärm besser telefonieren kann,<br />
als jeder Normalhörende? Mit meinem<br />
kleinen Hörgerät kann ich ein Telefongespräch<br />
(kabellos) in beide Ohren verfolgen<br />
und via Software wird gesteuert, wie<br />
stark die Lautstärke an meinem Ohr sein<br />
soll. So kann ich also tatsächlich auch in<br />
der Disco telefonieren.»<br />
Thomas Stückelberger, Hörgeräteträger, CEO der<br />
Siemens Audiologie AG, Schweiz<br />
« Während meiner 20-jährigen Tätigkeit<br />
als Hörgeräteakustiker hat die Technologie<br />
der Hörsysteme ganz enorme<br />
Fortschritte gemacht. Damit die <strong>Menschen</strong><br />
mit Höreinbussen optimal profi -<br />
tieren können, ist unsere professionelle<br />
Fachkompetenz immer wichtiger geworden.»<br />
Peter Schmid, Normalhörend, Inhaber von Pro Auris<br />
und Hörgeräteakustiker<br />
« Dank Pro Audito wird jede Hilfe um<br />
zu Hören ermöglicht. Auch fi nanzielle<br />
Hilfen werden gesprochen.»<br />
Jasmin Rechsteiner, Hörgeräteträgerin,<br />
Miss Handicap 2010<br />
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