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Schaeben/Leseprobe: ES IST EIN HARTES LEBEN IN DER PROVINZ

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Holger <strong>Schaeben</strong> /<br />

Es ist ein hartes<br />

Leben in der<br />

provinz ///<br />

Aber einer<br />

musste es tun<br />

Nachrichten vom Erleben auf dem Land /<br />

UNSACHLICH<strong>ES</strong> SACHBUCH


Dieses Buch können Sie guten Gewissens kaufen, lesen,<br />

verschenken und weiterempfehlen. Es wurde von A bis Z von<br />

heimischen Arbeitskräften in reiner Landarbeit hergestellt:<br />

geschrieben im Bayerischen Oberland, lektoriert im Land<br />

Hamburg, kritisiert im Land Berlin, gestaltet im Rheinland,<br />

gedruckt und verlegt im Münsterland.<br />

HOLGER ScHAEBEn<br />

Es ist ein hartes Leben in der Provinz ///<br />

Aber einer musste es tun<br />

nachrichten vom Erleben auf dem Land /<br />

UnSAcHLIcH<strong>ES</strong> SAcHBUcH<br />

Schutzumschlag: christoph niermann


10<br />

Für Ki<br />

STADT<br />

LAnD<br />

TSchüSS<br />

Landleben – 2.150.000 Einträge lautete das Ergebnis meiner<br />

Suche im Internet. Aber 2.150.000 Ergebnisse ergeben noch<br />

kein Bild. Die Provinz als Lebensraum erschließt sich einem<br />

erst, wenn man tatsächlich versucht, in ihr zu leben. Land ist<br />

Lebensgefühl und Glaubensfrage – Stadt auch. Ich wollte mir<br />

die Chance zum Vergleich geben, wollte erleben, wie Land sich<br />

wirklich anfühlt. Und wäre uns nicht das echte Leben in die<br />

Quere gekommen, ich hätte von Idylle schreiben müssen.<br />

11


12<br />

InhALT<br />

STADTnachrichten<br />

Down-Under-Deutschland . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

LAnDnachrichten<br />

Ich seh den Sternenhimmel . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

Hausgeburt . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 25<br />

Orte im kollektiven Bewusstsein . . . . . . . . . . . 31<br />

Zorro was here . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 35<br />

Treckerland in Sicht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

Handwerk macht schmutzigen Boden . . . . . . . . 43<br />

Auf allen Wegen ist Unruh . . . . . . . . . . . . . . . 47<br />

Grüß Scott! . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 51<br />

Frequently Asked Questions . . . . . . . . . . . . . 53<br />

Ah – ein Stadtmensch! . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

Die unendliche Geschichte . . . . . . . . . . . . . . 61<br />

Soldier Boys. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 65<br />

Jesus Christ, Superstar . . . . . . . . . . . . . . . . . 69<br />

Der Herr der Fliegen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . 71<br />

Noch ein Bus, dann ist Schluss . . . . . . . . . . . . 75<br />

Landed Gentry . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

Die Stimmung nach dem Ansturm . . . . . . . . . . 85<br />

Schichtarbeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 78<br />

Bloß nicht nach innen schauen . . . . . . . . . . . . 91<br />

Migration, Integration, Assimilation . . . . . . . . . 95<br />

Abgründigkeiten im Gebirge . . . . . . . . . . . . . 99<br />

Leben in der Petrischale . . . . . . . . . . . . . . . 103<br />

Countryfizierung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 105<br />

Hinterm Berg oder hinterm Mond? . . . . . . . . 107<br />

Kein großes Aufheben – nirgends . . . . . . . . . 109<br />

TSchüSSnachrichten<br />

Der Homo urbanus . . . . . . . . . . . . . . . . . . 115<br />

Das gallische Dorf . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 117<br />

Alle Rhythmen des Lebens. . . . . . . . . . . . . . 121<br />

Der Umweg ist das Ziel . . . . . . . . . . . . . . . . 125<br />

Oh, wie schön ist Ammergau . . . . . . . . . . . . 127<br />

Die Ferne im Fernstudium . . . . . . . . . . . . . . 129<br />

Draußen ist in. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 133<br />

Der letzte Landgang . . . . . . . . . . . . . . . . . . 135<br />

Zurück in die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . 137<br />

EPILOG<br />

Sehnsucht orten . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 142<br />

13


14<br />

STADT<br />

15


16<br />

Down-Under-Deutschland<br />

1. nachricht<br />

„Da, wo Deutschland zu Ende ist, fängt jetzt unser neues Leben an.“<br />

„Da, wo die Welt zu Ende ist“, korrigierte mich meine Frau.<br />

Sie zu mir: „Wir ziehen nach Down-Under-Deutschland.“<br />

Ich zu ihr: „Das wird unser neuer Lebensmittelpunkt.“ Das<br />

ist am Arsch der Welt, hat meine Frau nicht gesagt, aber gedacht<br />

hatte sie es. Ich sah es ihr an.<br />

Ich zu mir: Wo ich hingehe, da willst auch du hingehen. So<br />

oder so ähnlich. Wir haben es uns vor dem Traualtar geschworen.<br />

Ende! Ende habe ich nicht gesagt, aber gedacht hatte ich<br />

es. Meine Frau sah es mir an. Abgesegnet von einer moralisch<br />

höheren Instanz war die Sache einfach unabwendbar. Und wir<br />

gingen dorthin, wohin ich gehen wollte. Ja, meine Frau ging mit.<br />

Ohne jedoch ihren Standpunkt zu verlassen. Der blieb in der<br />

Stadt. Für mich aber war erstmal alles im grünen Bereich. Grün<br />

ist eine schöne Farbe, ist sie doch auch als Farbe der Hoffnung<br />

bekannt.<br />

Wer jetzt glaubt, er bekäme von nun an ein zeitlich geregeltes<br />

Nacheinander der Vorgänge präsentiert, der kennt meine<br />

Frau noch nicht. Was in seiner Gesamtheit chronologisch aufeinander<br />

folgen müsste, hat für meine Frau nichts mit logisch und<br />

auch nichts mit chronologisch zu tun. Von ihrem Standpunkt<br />

aus betrachtet, stand das Ende von Anfang an im Mittelpunkt.<br />

Diese Satzkonstruktion, in der Ende, Anfang und Mittelpunkt<br />

bunt zusammengewürfelt sind, mag etwas über die Reihenfolge<br />

der Denkvorgänge im Kopf meiner Frau aussagen.<br />

Was ich dazu dachte? Wie wir unsere Pläne vom Umzug aufs<br />

Land auf die Reihe bekommen sollten, wenn wir jetzt schon<br />

andauernd vom Ende sprächen. Wann immer ich Freunden<br />

17


Monate vor dem Umzug von unserem Plan erzählte, war vom<br />

Ende die Rede. Meine Frau war es, die es aussprach.<br />

Ja, es ist ein bisschen wie das Ende der Welt, musste ich<br />

kleinlaut eingestehen. Gleichzeitig wollte ich damit klarstellen,<br />

dass auch ich Oberammergau nicht für den Nabel der Welt<br />

hielt. So naiv war ich dann auch wieder nicht. Aber es ist weltbekannt,<br />

fügte ich noch hinzu. Was erstens nicht zu widerlegen<br />

war und mich zweitens wieder in eine bessere Verhandlungsposition<br />

brachte.<br />

Zunächst wollte ich den Ort, den meine Frau das Ende der Welt<br />

nannte, gar nicht beim Namen nennen. Einfach, um möglichem<br />

Ärger zu entgehen. Unsere zukünftigen Nachbarn oder der Tourismusdirektor<br />

von Oberammergau hätten meinen Text lesen können.<br />

Unser Sohn wäre im Kindergarten infolgedessen gemoppt,<br />

in der Schule ausgegrenzt worden. Auf der Straße hätte man uns<br />

nicht gegrüßt. Beim Bäcker, beim Metzger nicht beachtet. Und<br />

meine Frau hätte Recht behalten: Das ist das Ende.<br />

Die Mehrheit unserer Freunde zollte uns Anerkennung, einige<br />

beneideten uns sogar. Wir würden etwas tun, von dem viele<br />

immer bloß redeten. Ich: Wir ziehen in den Süden. Meine Frau:<br />

Wir gehen nach unten. Ich: Wir sind freie Bürger in einem freien<br />

Land und ich bin Freiberufler, arbeiten kann ich überall. Sie<br />

wieder: Das ist das Ende.<br />

Was sie mit „das Ende“ genau meinte, sagte sie nicht. Aber<br />

ein Blick in ihr Gesicht genügte – und man bekam mehr als nur<br />

eine leise Ahnung davon. Nein, wir stritten nicht. Auch, wenn<br />

hier vielleicht der Eindruck entsteht. Wir vertraten nur unsere<br />

Standpunkte.<br />

Frauen sitzen lieber am Lagerfeuer, während Männer die<br />

Höhle auch mal verlassen wollen. Das steckt in uns drin, sprang<br />

mir ein anderer Freund zur Seite, als unsere Auswanderungspläne<br />

mal wieder Gesprächsthema waren.<br />

18<br />

Der Freund: Frauen und Männer können gar nicht anders.<br />

Frauen sind die Hüterinnen des Heims, Männer die Jäger. Ist<br />

also quasi ein Naturgesetz, ergänzte die Frau des Freundes in<br />

deutlich ironischem Ton – und solidarisierte sich mal eben mit<br />

meiner Frau.<br />

Ihr müsst das so sehen, holte ich aus: Nur vom Rand aus<br />

kann man die Mitte sehen; weiß überhaupt, wo sich die Mitte<br />

befindet. Meine Frau schwieg. Die Frau des Freundes antwortete<br />

statt ihrer: Ja, philosophisch betrachtet hätte ich wohl Recht.<br />

Aber geografisch gesehen ist die Mitte Deutschlands von dort<br />

verdammt weit weg.<br />

Dafür ist Italien ganz nah, konterte ich. Schuhe, Taschen,<br />

Designerklamotten.<br />

Meine Frau: Ha, das sind unfaire Mittel, die du einsetzt. Das<br />

zählt hier nicht.<br />

So kommen wir nicht weiter, meinte mein Freund. Du sagst<br />

es, sagte ich. Mit dieser Einstellung kommen wir nicht mal bis<br />

nach Köln. Schweigen. In dieses Schweigen schoss ich einen<br />

letzten Pfeil: Freunde von uns wandern gerade nach Australien<br />

aus. Was ist schon Bayern dagegen? Bayern ist Deutschland …<br />

Weiterhin Schweigen. Auch ich hielt jetzt meine Klappe und<br />

dachte, dass wir uns das vor dem Traualtar und vor Gott geschworen<br />

hatten: Wo ich hingehe, da willst auch du hingehen.<br />

So oder so ähnlich. Ende!<br />

Ja, ich war mir ganz sicher: Jetzt führte kein Weg mehr zurück.<br />

19


20<br />

LAnD<br />

21


42<br />

7. Nachricht<br />

Handwerk macht schmutzigen Boden<br />

Wir wussten nicht, was auf uns zukommen würde, als wir<br />

endlich alle Umzugskisten ausgepackt und alle Tassen im<br />

Schrank hatten. Wir waren fertig – fix und fertig. Ganz anders<br />

die Handwerker; leider waren die mit ihrem Werk noch längst<br />

nicht alle durch.<br />

Der Maler – wir hatten ihn „Fritz die Pottsau“ getauft, – derbe,<br />

aber es trifft den Charakter, kam zuerst. Ihm war aufgetragen<br />

worden, eine Mängelliste abzuarbeiten, die ihm der Architekt<br />

fein säuberlich aufgesetzt hatte: Anstriche nachbessern,<br />

Anstriche ausbessern; Fugen nachbessern, Fugen ausbessern;<br />

Restarbeiten durchführen, Zusatzaufträge ausführen.<br />

Mit einer Seelenruhe, einer verfilzten Decke, die als Spritzschutz<br />

dienen sollte, ging er ans Werk. Sein Gesichtsausdruck<br />

verriet, dass ihm die Spritzdecke wohl schon wichtig war, damit<br />

ihm hinterher niemand kommen könnte und behaupten, er<br />

habe nicht alles sorgfältig abgedeckt. Seinen Blick richtete er<br />

sodann von uns ab und in Richtung Zimmerdecke, an der noch<br />

einige Restarbeiten auszuführen waren. Er stieg auf eine kleine,<br />

farbbefleckte Holzleiter, wie sie jeder Maler ein Malerleben<br />

lang besitzt, tauchte den Pinsel in den Farbtopf und war fortan<br />

auch ganz in seine eigene Welt eingetaucht. Er hatte das Hier<br />

und Jetzt verlassen. Sein Blick folgte nur noch seinem Pinselstrich.<br />

Was abseits der Zimmerdecke und abseits der Spritzdecke<br />

passierte, lag abseits seiner Wahrnehmung. Hier war<br />

Ende für ihn. Dummerweise war hier auch Ende mit fein und<br />

säuberlich. Die oft nur stecknadelgroßen Spritz- und Tropfflecken<br />

auf dem Boden entdeckt man nie sofort. Eigentlich fallen<br />

sie zunächst gar nicht auf. Das weiß auch der Maler.<br />

43


Später – bei genauer Betrachtung – sind es Hunderte, Tausende.<br />

Als Bauherr hatte man gespannt die Arbeit des Meisters,<br />

nicht aber die Tropfen des Pinsels verfolgt. Das war ein Fehler<br />

gewesen. Während unser Michelangelo die Zimmerdecke<br />

mit absoluter Hingabe und nach allen Regeln der Malerkunst<br />

verschönerte, hinterließ er am Boden Farbspuren, die einen<br />

Jackson Pollock blass aussehen lassen würden – wenn der<br />

noch lebte. Als er noch lebte, hatte ihm seine Art zu malen –<br />

das Drip-Painting – den Spitznamen „Jack the Dripper“ eingebracht.<br />

Aber nicht nur das. Seine Kunst brachte ihm noch<br />

mehr ein; Bares nämlich, von dem er richtig gut leben konnte.<br />

Richtig ab gingen die Preise für seine Bilder aber erst viele Jahre<br />

nach seinem Tod. 2006 soll ein Amerikaner eines seiner Drip-<br />

Paintings für 140 Millionen Dollar an einen Mexikaner verkauft<br />

haben.<br />

Meine Frau und ich überlegten, ob wir „Fritz die Pottsau“,<br />

unseren Action-Painter, nicht einfach umbringen und aus seinen<br />

Tropfenbildern ordentlich Kapital schlagen sollten. Wir<br />

diskutierten wie wir es anstellen könnten. Er könne von der Leiter<br />

gefallen sein, meinte meine Frau. Genickbruch, geht schnell<br />

und ist glaubhaft. Der Gedanke versetzte uns in Erregung.<br />

Die Frage war nur, ob „Fritz die Pottsau“ auf unseren Fußböden<br />

schon genug rumgesaut hatte, dass wir nach Umsetzung<br />

unseres Planes den Chefredakteur des Art-Magazins anrufen<br />

könnten. Unsere Antwort fiel ernüchternd aus: eindeutig nein.<br />

Was „Fritz die Pottsau“ geschaffen hatte, war zuviel für unsere<br />

gestressten Nerven gewesen, aber eindeutig zu wenig, um damit<br />

den Kunstmarkt in Erregung zu versetzen. Zurück blieben<br />

wir mit unserer künstlichen Aufregung und etwa einer Million<br />

stecknadelgroßer Farbtropfen auf dem Boden.<br />

Unser Architekt hatte derlei Mängellisten übrigens noch an<br />

ein Dutzend weiterer Handwerker geschickt. Der Umfang der<br />

44<br />

Arbeiten belief sich auf insgesamt 41 Positionen. PutzTrockenbauWärmedämmfassadenocheinmal!<br />

Nach dem Auftritt von<br />

„Fritz die Pottsau“ konnten wir uns lebhaft vorstellen, was noch<br />

alles auf uns zukommen würde.<br />

45


56<br />

Ah – ein Stadtmensch!<br />

11. Nachricht<br />

Nie hätte ich gedacht, dass ich den eigentlich harmlosen Gruß<br />

„Schönes Wochenende!“ einmal als Drohung empfinden könnte.<br />

Als Städter hatte ich mir das Ende der Woche ja geradezu<br />

herbeigewünscht, denn vornehmlich an den Wochenenden<br />

fuhren meine Frau und ich hinaus ins Grüne; raus aus der Stadt,<br />

rein in die freie Natur. Schönes Wochenende – das bedeutete<br />

Nichtstun, Ruhe und Erholung; Spaziergänge, Biergärten und<br />

Parks. Die klassische Mittelschicht-Naherholung, wie man sie<br />

kennt. So machten wir es fast an jedem Wochenende – wir<br />

genossen diese Zeit. Aber die Wochenenden machten auch etwas<br />

mit uns. Zurück in der Stadt wünschten wir uns gleich wieder<br />

zurück aufs Land. Und da das Wünschen mit dem Träumen<br />

einhergeht, träumten wir wie viele andere auch den fernen<br />

Upperclass-Traum. Der Traum sah so aus: Inmitten gezähmter<br />

Natur steht unser Wochenenddomizil. Es ist ein Zweitwohnsitz.<br />

Ein Sommerhaus am See. Ein Landleben wie aus dem<br />

Bilderbuch. Das Wochenende – ein einziger Urlaubstraum.<br />

Ich kann nur jedem raten weiter zu träumen … es sei denn, er<br />

kann sich den Traum vom Doppelleben im Stadt- und Landhaus<br />

einfach mal so erfüllen. Wir gehörten jedenfalls nicht dazu.<br />

Ein Leben zwischen Stadt und Land war für uns in dieser Art<br />

nur geträumt möglich. Schlimmer noch: Statt es irgendwann<br />

zu einem Wochenendhaus zu bringen, hatten wir uns in eine<br />

Zwickmühle gebracht: Auf der einen Seite wurde unsere Lust<br />

auf ländliches Leben (vor allem meine) durch unsere stetigen<br />

Wochenendlandausflüge immer größer.<br />

Auf der anderen Seite war an ein Weekenddomizil mangels<br />

finanzieller Mittel nicht zu denken; und auch die zeitlichen<br />

57


Möglichkeiten, unserer Landlust mehr Raum zu verschaffen,<br />

wurden nicht größer. Unser Landwochenendraum beschränkte<br />

sich weiterhin auf zwei Tage: Samstag und Sonntag. Daran würde<br />

sich so schnell wohl auch nichts ändern. Eine Änderung des<br />

Wochenkalenders war sobald nicht zu erwarten. Die Siebentagewoche<br />

ist in Deutschland immerhin eine Angelegenheit des<br />

Deutschen Instituts für Normung e.V. Die Norm D<strong>IN</strong> 1355 legt<br />

fest, dass die Woche an einem Montag beginnt und an einem<br />

Freitag endet. Basta! Man sieht: In diesem Institut sitzen wahrlich<br />

keine Träumer.<br />

Und wir? Gar nicht mehr träumen, das wollten wir auch<br />

nicht. Irgendwo musste doch die Zwickmühle einen Ausgang<br />

haben, über dem der Satz stehen würde: Träume nicht dein<br />

Landleben, lebe deinen Landtraum. Geträumt, getan. Wir entschieden,<br />

der Stadt ganz den Rücken zu kehren und ganz aufs<br />

Land zu ziehen. Alles wollten wir hinter uns lassen, nicht nur für<br />

ein kurzes Wochenende. Und so gingen wir an die Arbeit, die<br />

vor uns lag: Sohn zeugen, Haus bauen, Landbewohner werden.<br />

Ich muss zugeben, dass meiner Frau die Sache eher suspekt<br />

war. Kind – ja. Haus – ja. Land – na ja. Sie hatte eine klassische<br />

Zweidrittel-Überzeugung. Dagegen stand ich mit meiner Dreidrittel-Überzeugung.<br />

Nach meinen demokratischen Maßstäben,<br />

erklärte ich mich zur Mehrheit.<br />

Weniger oder mehr – egal, wir brachen auf. Und wenn man<br />

aufbricht, Neuland zu entdecken, muss man sich von vielem<br />

verabschieden. Von lieben Freunden etwa oder von vertrauten<br />

Plätzen. Verabschieden muss man sich aber auch von liebgewonnenen<br />

Vorstellungen, die man vom Neuland hatte.<br />

Davon betroffen waren zum Beispiel auch meine Ideen vom<br />

sogenannten schönen Wochenende. Denn seitdem wir auf<br />

dem Land lebten, bestand unser schönes Wochenende weniger<br />

aus schönem Nichtstun. Landbewohner auf Zeit haben es<br />

58<br />

da besser. Sie können sich ganz dem dolce far niente hingeben.<br />

Sie legen sich in ihren brandneuen Designerliegestuhl und<br />

schmökern im aktuellen Gartenmagazin.<br />

Doch jedes Mal, wenn unser Nachbar mir ein schönes Wochenende<br />

wünschte, wusste ich: Es war wieder soweit. Es war<br />

Samstag. Der Motormäher wollte betankt werden. Der Ölstand<br />

geprüft. Der Rasen wollte gemäht werden. Stacheliges Unkraut<br />

und sonstige unerwünschte Sprösslinge wollten herausgezupft<br />

werden. Die Rasenkanten wollten geschnitten werden. Der<br />

Boden wollte mit Nährstoffen versorgt werden. An besonders<br />

heißen Wochenenden wollte das Grün zudem gewässert<br />

werden. Vorwitziges Kraut, das zwischen den Gehwegplatten<br />

herauslukte, wollte entfernt werden. Hecken wollten gestutzt<br />

werden. Büsche und Sträucher geschnitten. An Herbstwochenenden<br />

wollte Laub vom Rasen entfernt werden. Sammel- und<br />

Schnittgut wollte an einen dafür bestimmten Platz getragen<br />

werden. Mir war bewusst: Das alles sollte regelmäßig geschehen;<br />

mindestens einmal pro Woche, sonst würde einem nicht<br />

nur das Gras über den Kopf wachsen.<br />

Bei dermaßen intensiver Frischluftzufuhr unter freiem Himmel<br />

kam mir ein interessanter Gedanke: Gartenarbeit wirkt sich<br />

positiv auf die Gesundheit des Menschen aus, sie stärkt Ausdauer<br />

und Kraft, senkt den Blutdruck und baut Stress ab. Das<br />

war überall nachzulesen, aber nicht nur das. Wahre Wunder<br />

würde regelmäßige Gartenarbeit bei Parkinson- und Alzheimer-<br />

Patienten bewirken. Laut einschlägiger Literatur kämen auch<br />

Suchtentwöhnte und Essgestörte wieder ins Gleichgewicht.<br />

Rasenmähen als Naturarznei. Ich überlegte, ob es nicht<br />

schlau wäre, einen Aushang beim Dorfarzt oder in der hiesigen<br />

Alpenklinik zu platzieren. Womöglich würde sich ein Patient<br />

finden, der mir an den Wochenenden quasi auf Rezept<br />

zur Hand gehen würde. Ein Stadtmensch vielleicht, der zur<br />

59


Rekonvaleszenz einige Wochen in Oberammergau weilte.<br />

Später – gesundet und wieder zu Hause – würde er von vielen<br />

schönen Wochenenden erzählen und dass er bald einmal wieder<br />

zurückkehren wolle. Vielleicht sogar für immer.<br />

60<br />

Die unendliche Geschichte<br />

12. Nachricht<br />

Donnerwetter! Das machten sie richtig gut. Sogar Petrus spielte<br />

mit. Gleich am Anfang des Stücks überkommt einen der erste<br />

Schauer. Und zwar nicht durch Handauflegung mit anschließendem<br />

Wunder, sondern wegen eines Gewitters mit gleichzeitig<br />

herabstürzendem Regen. Diese perfekte Abstimmung zwischen<br />

Erde und Himmel bekommen einfach nur die Oberammergauer<br />

hin, und als Zuschauer ist man sofort gewillt –<br />

ob des himmlischen Auftakts – sein Glaubensbekenntnis zu<br />

erneuern.<br />

Um Premieren wird ja immer viel Theater gemacht. Diese<br />

fiel ins Wasser. Das Wetter war seit Tagen premierenunfreundlich<br />

gewesen und so gar nicht heiter. Fünf Grad plus im Wonnemonat<br />

Mai ließen Schlimmes erahnen. Ahnungsvolle Geschäftemacher,<br />

die dem etwas Positives abgewinnen wollten, hatten<br />

sich noch schnell mit einem ordentlichen Vorrat an billigem<br />

Fleece eingedeckt; auch total überzogene Preise verhinderten<br />

nicht, dass diese Decken im Ort schnell ausverkauft waren.<br />

So gehet hin und zieht euch warm an, möchte man dem Kardinal<br />

in den Mund legen, der passend zur meteorologischen Lage<br />

Wetter, Kardinal Friedrich Wetter, hieß, und der kurz vor dem 1.<br />

Akt der 1. Aufführung mit Horst Seehofer, Gebirgsbürgermeister<br />

Arno Nunn sowie Theatermacher Christian Stückl und Team erst<br />

mal hinter die Bühne verschwand, um gemeinsam mit jenen das<br />

Vaterunser zu beten. Ob er auch um besseres Wetter bat, ist nicht<br />

überliefert. Mit dem Amtsantritt des neuen Erzbischofs Reinhard<br />

Marx Anfang Februar 2008 hatte zwar nach einem Vierteljahrhundert<br />

die Amtszeit von Kardinal Wetter als Oberhirte des Erzbistums<br />

München und Freising geendet – aber Kardinal bleibt Kardinal.<br />

61


Noch etwas habe ich gelernt. In Grüß Gott! ist „Gott” nicht<br />

Akkusativ, sondern Nominativ. Deswegen ist die Antwort „...<br />

wenn Du ihn siehst” auch a bissel bled. Dazu muss man wissen,<br />

dass Grüß Gott! die verkürzte Form von Grüße dich Gott! ist und<br />

eigentlich Gott segne dich! bedeutet. Grüß Gott! ist also eine<br />

Wunschformel. Wer soll dich segnen? Gott. Nicht du sollst<br />

Gott grüßen, sondern er dich segnen. Und darum ist Gott nicht<br />

Akkusativ, sondern Nominativ. Alles klar?<br />

In Oberammergau ist Gott darüber hinaus noch etwas, kommunikativ<br />

nämlich. Das konnten wir vor, während und auch<br />

noch lange nach der Passionsspielzeit 2010 feststellen. Immer<br />

wenn wir von irgendwoher mit dem Auto nach Oberammergau<br />

zurückkehrten, begegnete uns Gottes Sohn plakativ am Ortseingang.<br />

„Passionsspiele 2010” stand auf dem Plakat, darüber<br />

war ein gekreuzigter antiker Holzchristus zu sehen. Die Qualen<br />

des Todeskampfes bestimmten seine Züge. Was nicht zu sehen<br />

war, war das Holzkreuz, an dem er hing. Und weil das Kreuz<br />

selbst ausgespart worden war, wirkten die scheinbar ins Nichts<br />

genagelten Hände so, als formten sie im Todeskampf das<br />

Victory-Zeichen. Die Medien hatten diese „Botschaft” sofort<br />

verstanden. Das Bild sei symbolisch für Oberammergau: Die<br />

Dörfler spielen die letzten Tage im Leben Jesu, verdienen daran<br />

einige Millionen und erlösen sich damit von ihren Schulden.<br />

Hätten die beiden Finger aneinander gelegen, hätte dies<br />

auf den Friedensgruß hingedeutet, den man Jesus zuschreibt:<br />

„Friede sei mit euch – Fürchtet euch nicht.” So oder so ist in<br />

Oberammergau, Gott sei Dank, am Ende immer noch alles gut<br />

gegangen.<br />

70<br />

Der Herr der Fliegen<br />

15. Nachricht<br />

Fliegen fliegen Fliegen hinterher. Sie folgen aber auch dem<br />

Menschen. Sie folgen dem Menschen über den gesamten Erdball.<br />

Wobei man das nicht wörtlich nehmen muss. Ich denke,<br />

dass sie schon vor unserer Ankunft in Oberammergau gewesen<br />

sein müssen. Ihre Flugrichtung richten sie nämlich nach ihren<br />

Vorlieben aus – vor allem Dung und Mist. Besonders in ländlichen<br />

Gegenden ist die Fliege darum ein lästiger Zeitgenosse. In<br />

Kuh- und Hühnerställen finden sie das ideale Lebensmilieu. Bei<br />

der Menge an Fliegen, die man auf dem Land antrifft, kommt<br />

man sich als Mensch fast wie ein Eindringling vor.<br />

Bekanntschaft machten wir mit Schwebfliegen, Schwingfliegen,<br />

Dasselfliegen, Dungfliegen und Pferdefliegen. Die<br />

bekannteste unter ihnen war wohl die Stubenfliege. Die Stubenfliege<br />

heißt Stubenfliege, weil sie gerne in der Stube –<br />

also nah beim Menschen lebt. Man weiß, dass sie sich schon<br />

in der „Stube“ der Neandertaler zu Hause fühlte und ihnen<br />

das Höhlendasein schwer machte. Seitdem verfolgt sie den<br />

modernen Menschen, treuer als ein Hund. Dabei können wir<br />

mit ihr so gar nichts anfangen. Sie ist nicht putzig, hat keine<br />

Kulleraugen und holt auch nicht das Stöckchen. Fliegen sind<br />

einfach nur lästig; viele sind sehr lästig. Auch wir fühlten uns<br />

verfolgt. Die Stubenfliege ist eben ein Kulturfolger. Alfred<br />

Brehm formulierte es 1884 in seinem Werk Brehm´s Tierleben<br />

so: „Kein Thier – das kann wohl ohne Übertreibung<br />

behauptet werden – ist dem Menschen ohne sein Zuthun<br />

und ohne ihn selbst zu bewohnen, ein so treuer, in der Regel<br />

recht lästiger, unter Umständen unausstehlicher Begleiter,<br />

als die Stubenfliege.“<br />

71


Zwischen Mai und Oktober machte die gemeine Stubenfliege<br />

aus unserem Haus eine Fliegenstube – sie und ihre gemeinen,<br />

zahlreichen Verwandten. Sie waren aufdringlich, weil sie sich<br />

uns immer wieder als Landeplatz aussuchten (vorzugsweise<br />

unsere Gesichter); nervtötend, weil sie ständig von unserem<br />

Teller mitessen wollten (vorzugsweise alles); aggressiv, weil<br />

sie uns Tag und Nacht umschwirrten (vorzugsweise, wenn wir<br />

unsere Ruhe suchten). Sie taten, wie sie es als Stubenfliegen in<br />

der Stubenfliegenkinderstube gelernt hatten: Tagsüber besetzen<br />

sie das ganze Haus. Sie hatten eine Antenne für alles, was<br />

essbar war. Nicht nur in der Küche fanden sie ihre Nahrung, sie<br />

saßen einfach überall. An ihren Vorderbeinen haben sie Härchen,<br />

mit denen sie schmecken können. Bei den Stubenfliegen<br />

geht der Geschmack also sozusagen durch die Beine, weshalb<br />

sie sich auf alles setzen. Abends zog es sie zum Licht; bevorzugt<br />

sammelten sie sich in der Leseecke, wo sie ekelhafte Fliegenmuster<br />

an Wand und Decke bildeten. Zwischendurch flogen<br />

sie ihre Attacken auf uns.<br />

Dass Stubenfliegen nicht sehr alt werden, ist nur ein schwacher<br />

Trost. Sie leben nicht länger als 15 bis 25 Tage, dann sterben<br />

sie. Früher sterben sie nur, wenn man ihnen mit roher Gewalt<br />

entgegentritt – mit roher Gewalt, einer Fliegenklatsche, aber<br />

ohne Gewissenbisse. So wird man sie schon vor ihrem natürlichen<br />

Ende wieder los. Aber nicht schnell. Ich war monatelang<br />

beschäftigt der Fliegen Herr zu werden, jedoch fest entschlossen,<br />

den Kampf bis zum Ende aufzunehmen – bis zum Ende der<br />

letzten Fliege. Pro Fliegensaison waren dazu zwischen fünf und<br />

zehn Fliegenklatschen im Einsatz. Keine Einzige überlebte – keine<br />

einzige Fliegenklatsche wohlgemerkt. Für einen derart intensiven<br />

Gebrauch war eine einzelne Klatsche nicht gebaut.<br />

Sie brachen alle irgendwann im Laufe ihres Einsatzes an derselben<br />

Stelle. Sie brachen sich den Hals.<br />

72<br />

Wenn man zart besaitet ist und die Fliegenklatsche aus „humanitären“<br />

Gründen ablehnt, kann man auch anders vorgehen. Ad<br />

eins: Fliegen mögen keinen Durchzug. Also immer schön Fenster<br />

und Türen offen lassen; mit Glück flüchten mehr Exemplare<br />

ins Freie, als neue in die Stube fliegen. Ad zwei: Fliegen mögen<br />

keine Kälte. Es reicht die Raumtemperatur auf unter zehn Grad<br />

zu senken, sprich unter die Betriebstemperatur der Fliegen. Im<br />

Sommer – also in der Zeit der Fliegen – braucht man demnach<br />

unbedingt eine Klimaanlage, die vierundzwanzig Stunden auf<br />

Höchstleistung läuft. Ad drei: Fliegen mögen keine Schwalben,<br />

aber Schwalben mögen Fliegen. Baut man sein Wohnzimmer<br />

zum Kuhstall um, hat man gute Chancen auf Stallschwalben –<br />

aber auch auf jede Menge Stubenfliegen.<br />

Zur Verteidigung der Stubenfliege kann ich leider nichts anführen,<br />

außer, dass sie nicht sticht. Die Stubenfliege gehört zur<br />

Familie der Echten Fliegen. Zur gleichen Familiebande zählen<br />

auch die Blutsauger unter den Fliegen, die gemeinen Stechfliegen.<br />

Aber das ist eine andere Geschichte, die mir noch im Kopf<br />

herumschwirrt.<br />

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