Psychische Misshandlung und Vernachlässigung - Zürcher ...
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<strong>Zürcher</strong> Fachstelle für Alkoholprobleme<br />
Erste Priorität Kinderschutz –<br />
Möglichkeiten <strong>und</strong> Grenzen<br />
Dr. med. Ulrich Lips, Klinischer Dozent,<br />
Leiter Kinderschutzgruppe <strong>und</strong><br />
Opferberatungsstelle des Kinderspitals Zürich<br />
Donnerstag, 10. Mai 2012
Warum Kinderschutz?<br />
Die Schweizerische B<strong>und</strong>esverfassung<br />
2. Titel: Gr<strong>und</strong>rechte, Bürgerrechte u. Sozialziele<br />
1. Kapitel: Gr<strong>und</strong>rechte<br />
Art. 11 Schutz der Kinder <strong>und</strong> Jugendlichen<br />
1. Kinder <strong>und</strong> Jugendliche haben Anspruch<br />
auf besonderen Schutz Ihrer Unversehrtheit <strong>und</strong><br />
auf Förderung ihrer Entwicklung.<br />
2. Sie üben ihre Rechte im Rahmen ihrer<br />
Urteilsfähigkeit aus.
Was konkret heisst „Kinder schützen“?<br />
• Gewährleisten /Schützen des Kindeswohls<br />
(„best interest of the child“)<br />
• Wiederherstellen des Kindeswohls
Was konkret heisst „Kinder schützen“?<br />
• Gewährleisten /Schützen des<br />
(„best interest of the child“)<br />
• Wiederherstellen des Kindeswohls<br />
Kindeswohls
„Definition“ Kindeswohl<br />
Voraussetzungen für eine optimale Entwicklung<br />
der Persönlichkeit des Kindes in folgenden<br />
Hauptaspekten:<br />
• affektive <strong>und</strong> intellektuelle<br />
• körperliche <strong>und</strong> psychische<br />
• soziale <strong>und</strong> rechtliche
Gefährdung des Kindeswohls<br />
Eine Gefährdung des Kindeswohls liegt vor, wenn<br />
die ernstliche Möglichkeit<br />
einer Beeinträchtigung<br />
des körperlichen, psychischen, geistigen oder<br />
sozialen Wohls vorauszusehen ist.<br />
(Ursachen unerheblich, Schuldfrage irrelevant)
Gefährdung des Kindeswohls<br />
Eine Gefährdung des Kindeswohls liegt vor, wenn<br />
die ernstliche Möglichkeit<br />
einer Beeinträchtigung<br />
des körperlichen, psychischen, geistigen oder<br />
sozialen Wohls vorauszusehen ist.<br />
(Ursachen unerheblich, Schuldfrage irrelevant)
Rechtsgr<strong>und</strong>lage bei Gefährdung des<br />
Kindeswohles<br />
Art. 307 ZGB<br />
Ist das Wohl des Kindes gefährdet <strong>und</strong> sorgen die<br />
Eltern nicht von sich aus für Abhilfe oder sind sie<br />
dazu ausserstande, so trifft die Kinder- <strong>und</strong><br />
Erwachsenen-Schutzbehörde die geeigneten<br />
Massnahmen zum Schutz des Kindes.
Definition von Kindsmisshandlung<br />
Kindsmisshandlung ist die<br />
• nicht zufällige, bewusste oder unbewusste<br />
• körperliche <strong>und</strong>/oder seelische Schädigung<br />
• durch Personen (Eltern, andere Erziehungsberechtigte,<br />
Dritte), Institutionen <strong>und</strong> gesellschaftliche Strukturen,<br />
• die zu Verletzungen, Entwicklungshemmungen oder zum<br />
Tode führt,<br />
• eingeschlossen die <strong>Vernachlässigung</strong> kindlicher<br />
Bedürfnisse.
Formen von Kindsmisshandlung<br />
• Körperliche <strong>Misshandlung</strong><br />
• <strong>Vernachlässigung</strong><br />
• <strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong><br />
• Sexuelle Ausbeutung<br />
• Münchhausen Stellvertreter-Syndrom
<strong>Misshandlung</strong>sformen in der Realität<br />
<strong>Psychische</strong><br />
<strong>Misshandlung</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong><br />
Münchhausen Stellvertreter-Syndrom<br />
Körperliche<strong>Misshandlung</strong><br />
Sexuelle<br />
Ausbeutung
Formen von Kindsmisshandlung<br />
• Körperliche <strong>Misshandlung</strong><br />
• <strong>Vernachlässigung</strong><br />
• <strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong><br />
• Sexuelle Ausbeutung<br />
• Münchhausen Stellvertreter-Syndrom
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> - Definition<br />
• Englisch: emotional abuse and neglect<br />
• Abgrenzung beachten:<br />
– <strong>Misshandlung</strong> (abuse): etwas aktiv tun<br />
– <strong>Vernachlässigung</strong> (neglect): etwas weglassen<br />
/ unterlassen, etwas nicht gewährleisten
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> -<br />
Abgrenzungsschwierigkeiten<br />
• Elterliches Verhalten<br />
gut adaequat unerwünscht schädigend
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> – Formen 1<br />
1. Form<br />
• Bezugsperson emotional nicht verfügbar,<br />
teilnahmslos, nicht empfänglich für kindliche<br />
Signale<br />
1 nach Glaser D. Child Abuse & Neglect 35 (2011) 866-875
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> – Formen 1<br />
2. Form<br />
• Feindliches, ablehnendes Verhalten gegenüber<br />
dem Kind<br />
• Entwertung durch Einstellung <strong>und</strong> Sprache<br />
1 nach Glaser D. Child Abuse & Neglect 35 (2011) 866-875
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> – Formen 1<br />
3. Form<br />
• Dem Entwicklungsstand nicht entsprechender<br />
Umgang mit dem Kind<br />
• Zu hohe oder zu tiefe Erwartungen<br />
• Harsche <strong>und</strong>/oder inkonsistente Bestrafungen<br />
• Exposition des Kindes mit verwirrenden oder<br />
traumatischen Zuständen <strong>und</strong> Abläufen<br />
(häusliche Gewalt, Rauschzustände,<br />
Bewusstseinsveränderung etc.)<br />
1 nach Glaser D. Child Abuse & Neglect 35 (2011) 866-875
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> – Formen 1<br />
4. Form<br />
• Diskrepanz zwischen kindlichen Bedürfnissen <strong>und</strong><br />
elterlichen Vorstellungen/Wünschen<br />
• Missbrauch des Kindes zur Verwirklichung<br />
elterlicher/narzisstischer Vorstellungen<br />
• Einbezug in elterliche Konflikte<br />
• Münchhausen Stellvertreter-Syndrom<br />
• Benutzen des Kindes zur Stabilisierung der<br />
eigenen psychischer Störung<br />
1 nach Glaser D. Child Abuse & Neglect 35 (2011) 866-875
<strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong> <strong>und</strong><br />
<strong>Vernachlässigung</strong> – Formen 1<br />
5. Form<br />
• Verhindern adäquater sozialer Kontakte<br />
1 nach Glaser D. Child Abuse & Neglect 35 (2011) 866-875
Formen bei Sucht-/Alkoholkranken<br />
Eltern<br />
• Bezugsperson emotional nicht verfügbar,<br />
teilnahmslos, nicht empfänglich für kindliche<br />
Signale<br />
• Exposition des Kindes mit verwirrenden oder<br />
traumatischen Zuständen <strong>und</strong> Abläufen<br />
(häusliche Gewalt, Rauschzustände,<br />
Bewusstseinsveränderung etc.)<br />
• Benutzen des Kindes zur Stabilisierung der<br />
eigenen psychischen Störung
Formen von Kindsmisshandlung<br />
• Körperliche <strong>Misshandlung</strong><br />
• <strong>Vernachlässigung</strong><br />
• <strong>Psychische</strong> <strong>Misshandlung</strong><br />
• Sexuelle Ausbeutung<br />
• Münchhausen Stellvertreter-Syndrom
<strong>Vernachlässigung</strong><br />
• Nichterfüllen kindlicher Gr<strong>und</strong>bedürfnisse:<br />
Essen, Kleidung, Hygiene<br />
• Mangelnde oder ungenügende Anregung<br />
• Mangelnde Aufsicht <strong>und</strong> Betreuung des<br />
Kindes<br />
• Missachtung der Ges<strong>und</strong>heit des Kindes
<strong>Psychische</strong> Folgen von<br />
Kindsmisshandlung : Allgemeines<br />
• Nicht jede <strong>Misshandlung</strong> muss dauerhafte<br />
psychische Folgen nach sich ziehen!<br />
• Das Risiko ist umso höher, je früher der Beginn, je<br />
länger die <strong>Misshandlung</strong>en, je näher die Beziehung<br />
zum Täter.<br />
• Wichtigste Schutzfaktoren für ges<strong>und</strong>e<br />
Weiterentwicklung nach <strong>Misshandlung</strong>: Soziales<br />
Netzwerk!<br />
• Es gibt keine wirklich spezifischen <strong>Misshandlung</strong>sfolgen<br />
im Sinne eines Beweises!
Hinweise auf psychische <strong>Misshandlung</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Vernachlässigung</strong> - Säuglinge<br />
• Gedeihstörung<br />
• Fehlendes soziales Lächeln<br />
• Regulationsstörungen<br />
• Stereotypien<br />
• Psychomotorische Retardierung inkl.<br />
Sprachentwicklungsverzögerung
Hinweise auf psychische <strong>Misshandlung</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Vernachlässigung</strong> - Kleinkinder<br />
• Gestörtes Sozialverhalten<br />
• Traurigkeit, Furchtsamkeit<br />
• Passivität, Rückzug<br />
• Aggressives Verhalten, Autoaggressivität<br />
• Distanzlosigkeit<br />
• Psychomotorische Retardierung inkl.<br />
Sprachentwicklungsverzögerung<br />
• Stereotypien
Hinweise auf psychische <strong>Misshandlung</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Vernachlässigung</strong> - Schulkinder<br />
• Gestörtes Sozialverhalten<br />
• Abnahme der Schulleistungen,<br />
Konzentrationsstörungen<br />
• Schulverweigerung<br />
• Depressives Verhalten<br />
• Aggressives Verhalten<br />
• Ängstlichkeit, Misstrauen, Schüchternheit<br />
• Suizidale Gedanken<br />
• Weglaufen<br />
• Delinquenz
500<br />
450<br />
400<br />
350<br />
300<br />
250<br />
200<br />
150<br />
100<br />
50<br />
0<br />
Anzahl Fälle<br />
1. Kinderschutzgruppe<br />
12<br />
1963-68<br />
1969-73<br />
34 31 34<br />
<strong>Misshandlung</strong>smeldungen 1963-2011<br />
1974-78<br />
1979-83<br />
1984<br />
1985<br />
Kinderschutzgruppe<br />
neu konstituiert<br />
10 15 ? ? 17<br />
1986<br />
1987<br />
1988<br />
1989<br />
Fälle von (Verdacht auf) Kindsmisshandlung<br />
im Kinderspital Zürich 1963 bis 2011<br />
26<br />
40<br />
1990<br />
1991<br />
Beratungsstelle Opferhilfegesetz<br />
ab 1.5.1994<br />
55 78 104<br />
143<br />
187<br />
Bildung von regionalen<br />
Kinderschutzgruppen<br />
265<br />
335 365 364 352<br />
1992<br />
1993<br />
1994<br />
1995<br />
1996<br />
1997<br />
1998<br />
1999<br />
2000<br />
Nicht kategorisiert Sicher Verdacht Nicht bestätigt<br />
388 411 412<br />
458<br />
396<br />
432<br />
402<br />
455<br />
419<br />
487 484<br />
2001<br />
2002<br />
2003<br />
2004<br />
2005<br />
2006<br />
2007<br />
2008<br />
2009<br />
2010<br />
2011
Gemeldete <strong>Misshandlung</strong>sformen 2011<br />
0.5%<br />
14%<br />
9%<br />
4.5%<br />
40%<br />
N=484<br />
32%<br />
körperliche <strong>Misshandlung</strong> sexueller Missbrauch<br />
<strong>Vernachlässigung</strong> psychische <strong>Misshandlung</strong><br />
Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom Risiko
Ziele des Kinderschutzes<br />
• Schutz des Kindes<br />
• Wiederherstellen eines sozialen Umfeldes, das<br />
dem Kindeswohl wieder förderlich ist ( resp. es<br />
nicht mehr gefährdet)
Kinderschutz - Gr<strong>und</strong>prinzipien<br />
• Nie alleine handeln<br />
• „Langsam führt schneller zum Ziel“,<br />
das heisst:<br />
– Schutz des Kindes sofort<br />
– weitere Schritte sorgfältig<br />
bedenken <strong>und</strong> absprechen
Konkretes Vorgehen - Möglichkeiten<br />
• Fakten schriftlich aufzeichnen<br />
• Darüber schlafen<br />
• Eine Fachperson / -stelle konsultieren (ev.<br />
anonym)
Wege des Vorgehens bei<br />
Kindsmisshandlungen<br />
1 2 3<br />
einvernehmlich<br />
- Beobachtung<br />
- Betreuung<br />
- Therapie<br />
- Kontrolle<br />
Kooperation mit<br />
Kindes- <strong>und</strong><br />
Erwachsenen-<br />
Schutzbehörde<br />
- Ermahnung/<br />
Weisungen<br />
- Beistandschaft<br />
- Obhutsentzug<br />
- Entzug der elterlichen<br />
Sorge<br />
<strong>und</strong> Einrichtung<br />
einer Vorm<strong>und</strong>schaft<br />
Kooperation mit<br />
Strafbehörde<br />
- Ermittlungen<br />
- Gerichtsverfahren<br />
- Urteil<br />
- ev. Bestrafung<br />
des Täters
Rechtslage / Berufsgeheimnis<br />
• Individuell je nach Berufsgruppe<br />
• Verschieden je nach Kanton
Dilemma des Kinderschutzes - Grenzen<br />
zu früh zu viel < > zu spät zu wenig<br />
Freud A./Goldstein J./Solnit A.J.: Das Wohl des Kindes. Grenzen<br />
professionellen Handelns, Frankfurt 1988
Kinder schützen heisst<br />
• die Augen offen haben<br />
• etwas unternehmen – auch etwas Unbequemes!