Das Wort vorab - Caritas Wohn
Das Wort vorab - Caritas Wohn
Das Wort vorab - Caritas Wohn
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teilhaben<br />
am Leben<br />
im Gesamtverbund des <strong>Caritas</strong> <strong>Wohn</strong>- und Werkstätten im Erzbistum Paderborn e. V.<br />
Geschäftsbereich <strong>Wohn</strong>en<br />
Im Beziehungsfeld der sozialen Arbeit<br />
Lokale Teilhabe-Kreise<br />
Grenzen der Selbstbestimmung<br />
CWW-teilhaben 10 / März 2010
Aus dem Land<br />
<strong>Das</strong> <strong>Wort</strong> <strong>vorab</strong><br />
2<br />
Geschichten, die das<br />
Leben schreibt<br />
„Verbunden werden auch die Schwachen mächtig”, heißt es in<br />
Schillers „Wilhelm Tell”. Und am Umgang mit den Schwächsten<br />
muss sich die Gesellschaft messen lassen. Verbundenheit zählt<br />
auch bei der Arbeit mit und für Menschen mit Behinderung, denn<br />
diese Arbeit gelingt nur im Verbund. In dieser Ausgabe der „teilhaben<br />
am Leben” wollen wir diesen Verbund, also das Netzwerk<br />
der sozialen Arbeit, von verschiedenen Seiten beleuchten. Die<br />
Kostenträger kommen zu <strong>Wort</strong>, auch die Mitarbeiter, die gesetzlichen<br />
Betreuer und natürlich auch die Menschen mit Behinderung<br />
selbst. <strong>Das</strong> Feld der sozialen Arbeit ist weit, in den Artikeln wird<br />
die Verbundenheit hingegen ganz konkret geschildert.<br />
An einem Strick ziehen<br />
Bei dem Versuch, den Wert der sozialen Arbeit aus Sicht der<br />
Kosten- bzw. Leistungsträger zu bemessen, liegt die Verführung<br />
nahe, sich in Zahlen und Tabellen zu verirren und damit vielleicht<br />
den Blick auf das Wesentliche zu verlieren.<br />
Soziale Arbeit in der Behindertenhilfe unterstützt Menschen mit<br />
Behinderungen mit dem Ziel, sie am gesellschaftlichen Leben<br />
teilhaben zu lassen.<br />
Gerade in Einrichtungen der Behindertenhilfe konnten wir in den<br />
zurückliegenden Jahren erleben, wie sich die Lebensbedingungen<br />
für die Menschen verändert haben. Nur durch gemeinsame<br />
Bestrebungen aller Beteiligten (politischer Entscheidungsträger,<br />
Leistungsträger, Einrichtungsträger, den Mitarbeitern in sozialen<br />
Berufen in der Behindertenhilfe und den Menschen mit Behinderungen<br />
selbst und deren Interessenvertretern) konnten trotz<br />
finanzieller Engpässe die Lebensbedingungen der Menschen mit<br />
Behinderungen weiterentwickelt und damit verbessert werden.<br />
Die Begrifflichkeiten Recht auf Selbstbestimmung, Inklusion,<br />
individualisierte Hilfeerbringung, Ambulant Betreutes <strong>Wohn</strong>en<br />
usw., die auch in den letzten Ausgaben der teilhaben am Leben<br />
immer wieder aufgegriffen wurden, bestimmen das Handeln des<br />
Landschaftsverbandes Westfalen-Lippe (LWL) in der Position<br />
des Leistungsträgers.<br />
Der Wert der sozialen Arbeit wird sichtbar und spürbar, indem wir<br />
einzelne Veränderungen genau betrachten. So möchte ich gerne<br />
an den Bericht des Bundestagsabgeordneten Jürgen Herrmann<br />
aus der Dezember-Ausgabe der teilhaben am Leben erinnern, der<br />
beschreibt, dass die differenzierten Hilfeangebote seinem Sohn<br />
Mit dieser teilhaben am Leben halten Sie die zehnte Ausgabe in<br />
der Hand. Zu diesem kleinen Jubiläum schauen wir kurz zurück:<br />
„Mittendrin statt daneben”, lautete die Überschrift des ersten Artikels<br />
im Dezember 2007. Teilhabe, Integration, Inklusion, Selbstbestimmung<br />
– das sind die Schlagworte in der Behindertenhilfe.<br />
Sie gilt es mit Leben zu füllen. Dazu gehören die Einführung<br />
des Persönlichen Budgets oder die Internationale Klassifikation<br />
der Funktionsfähigkeit, Behinderung und Gesundheit (ICF). Sie<br />
wurden bereits in der teilhaben am Leben vorgestellt. Darüber<br />
hinaus haben die Autoren Einblicke in das Leben und Arbeiten<br />
von und mit Menschen mit Behinderung ermöglicht. Berichtet<br />
wurde von den Kindern des Heilpädagogischen Kindergartens St.<br />
Hildegard, auch über die Schüler der Laurentius-Schule, aus dem<br />
Alltag eines Arbeitnehmers in den Werkstätten und schließlich<br />
über das Leben als Rentner mit Behinderung. Es sind allesamt<br />
Geschichten aus dem Leben – sie sind und bleiben spannend und<br />
bunt. Sie zeigen uns, wie das Leben gelingt.<br />
Viel Spaß bei der Lektüre<br />
Sandra Wamers • Redaktionsleitung<br />
s.wamers@hpz-st-laurentius.de<br />
ein weitgehend selbstbestimmtes Leben ermöglichen. Es sind<br />
diese Erfolge im Zusammenwirken der Leistungsträger, der Leistungsanbieter<br />
und der Mitarbeiter aus den Bereichen der sozialen<br />
Arbeit, die den Wert beschreiben.<br />
Wir beobachten viele kleine und große Veränderungen, die sich<br />
auf den Alltag und das Lebensgefühl einzelner auswirken, z. B.<br />
Umzug aus einem Zwei-Bett- in ein Einzelzimmer, Umzug in<br />
eine eigene <strong>Wohn</strong>ung, intensive Förderung bei speziellen Behinderungsbildern,<br />
differenzierte Arbeitsangebote und Möglichkeiten<br />
der Tagesstrukturierung ...<br />
Und für die Liebhaber von Zahlen kann dokumentiert werden,<br />
dass der Landschaftsverband Westfalen-Lippe im Jahre 2008<br />
rund 1,7 Milliarden Euro für Menschen mit Behinderungen und<br />
für pflegebedürftige Menschen aufgewendet hat. Aus dieser Gesamtsumme<br />
wurden unter anderem Maßnahmen finanziert, die<br />
Menschen mit Behinderungen mehr Selbstbestimmung ermöglichen.<br />
Im Jahr 2008 wurden zum Beispiel 14.479 Menschen in<br />
ihrer eigenen <strong>Wohn</strong>ung unterstützt (2007: 12.424 Menschen).<br />
Weiterhin wurden über 20.000 <strong>Wohn</strong>heimplätze finanziert. Durch<br />
diese differenzierten Leistungsangebote wird versucht, die Aufwendungen<br />
in einem für die Gesellschaft tragbaren Rahmen zu<br />
halten.<br />
Anja Hentschel • Diplom Sozialarbeiterin<br />
bei der LWL-Behindertenhilfe Westfalen<br />
anja.hentschel@lwl.org<br />
• Alle Ausgaben der teilhaben am Leben können<br />
unter www.hpz-st-laurentius.de im Menü unter<br />
Mitteilen ~ Veröffentlichungen gelesen werden<br />
Teilhaben 10
Teilhaben 10<br />
Maria über Marie-Theres<br />
Die Schreibfreu(n)de sind passionierte Literaten mit und<br />
ohne Behinderung. Seit Februar 2009 treffen sich elf Bewohner<br />
des Hauses St. Marien in Schloss Neuhaus mit anderen<br />
Schreibern, um über Leben, Liebe und die großen Sinnfragen<br />
zu sprechen. Danach geht es gemeinsam ans Schreibwerk.<br />
Für die teilhaben am Leben berichtet Autorin Maria über ihr<br />
Freundin Marie-Theres.<br />
ĺch bin gerne mit Marie-Theres Reineke zusammen. <strong>Das</strong> ist eine,<br />
die mit der wir öfters raus fahren und etwas unternehmen. Die<br />
kenn’ ich schon lange. Sehr lange. Die hat uns mal eingeladen.<br />
Irgendwo zum Kaffeetrinken. Sie hat gesagt, dass wir nicht Frau<br />
Reineke sagen sollten. Wir sollten Marie-Theres sagen. Die ist<br />
eine gute Freundin. Mit der kann man sich mal aussprechen. Sie<br />
geht mit mir auch mal nach Libori. Und in die Kirche. In den<br />
Dom. Ich kann ihr alles erzählen. Die haben mehrere Kinder.<br />
Eines ist behindert.<br />
Hand in Hand und auf Augenhöhe<br />
Wir alle haben den Anspruch, Menschen mit Behinderung<br />
eine weitgehend selbstbestimmte und gleichberechtigte Teilhabe<br />
am Leben in Gemeinschaft zu ermöglichen. Damit dies gelingt,<br />
arbeiten viele zusammen. In unterschiedlichen Personenkonstellationen<br />
finden Gespräche statt: Mitarbeiter untereinander, dann<br />
mit Bewohnern, berufliche Mitarbeiter mit Ehrenamtlichen, Ehrenamtliche<br />
mit Bewohnern. Im Mittelpunkt stehen immer die<br />
Bewohner mit ihren Interessen und Bedürfnissen. Bei allem ehrlichen<br />
Bemühen müssen wir uns jedoch kritisch fragen, ob es uns<br />
in diesem Prozess ausreichend gelingt, unsere Bewohner als Experten<br />
ihres eigenen Lebens wahrzunehmen und zu respektieren.<br />
Im Alltag unserer Einrichtungen findet ein Umdenkungsprozess<br />
statt, der an unterschiedlichen Stellen spürbar ist.<br />
Die Häuser St. Marien, St. Heinrich und St. Kunigunde haben<br />
sich der Initiative „Am Leben in der Gemeinde teilhaben – lokaler<br />
Teilhabekreis“ angeschlossen. <strong>Das</strong> Besondere der Initiative<br />
ist, dass Menschen mit Behinderungen sich gemeinsam mit engagierten<br />
Mitbürgern und Mitarbeitern der Einrichtungen in einem<br />
Arbeitskreis für eine selbstbestimmte und gleichberechtigte<br />
Teilhabe am Leben der Gemeinde einsetzen. Dieser Arbeitskreis<br />
nennt sich „Lokaler Teilhabekreis“ (LTK). In ihm bringen sich<br />
Menschen mit Behinderungen mit ihren Interessen und Fähigkeiten<br />
ein. Mitarbeiter assistieren den Bewohnern und vernetzen<br />
konkrete Projekte mit den Einrichtungen sowie mit engagierten<br />
Mitbürgern, die das Netzwerk wiederum in das örtliche Gemeinwesen<br />
tragen. Damit die konkreten Aufgaben eines LTKs überschaubar<br />
bleiben, werden themenorientierte Kreise gegründet.<br />
Der erste Impuls geht von den Bewohnern aus. Ihre Ideen werden<br />
zuerst gesammelt. Um auch in diesem Prozess der Selbstbestimmung<br />
gerecht zu werden, informieren die Verantwortlichen die<br />
Bewohner über die Hintergründe und jeder entscheidet selbst,<br />
ob er mitmachen möchte. Bilden sich bei dem Ergebnis spezielle<br />
Themen heraus, wird ein LTK mit Personen gegründet, die<br />
Aus dem Land<br />
Marie-Theres macht das mit uns alles ehrenamtlich. Sie ist wirklich<br />
sehr nett und sie hilft einem. Immer. Sie tut viel lachen. Auf<br />
meinem 70-jährigen hat sie mir eine Kette mit lauter Pfennigstücken<br />
geschenkt. Marie-Theres sieht gut aus und ist wirklich nett.<br />
Wenn sie nicht mehr da wäre, dann wäre das für mich schrecklich.<br />
<strong>Das</strong> wäre echt schrecklich.<br />
Jaha, schrecklich. Dann würde ich sehr traurig sein. Ja, wenn<br />
man sich nicht mehr aussprechen kann, dann bin ich auch ganz<br />
komisch. Dann bin ich schlecht gelaunt. Weil ich Probleme habe,<br />
die mir auf dem Herzen liegen – die ich dann nicht aussprechen<br />
könnte. Ich fühle mich immer besser, wenn ich mit ihr geredet<br />
habe. Wenn ich mich mal im <strong>Wohn</strong>heim geärgert habe. <strong>Das</strong> erzähle<br />
ich ihr. Wenn Marie-Theres mich nicht gerne hätte, dann<br />
würde sie mich und Erika ja auch nicht einladen. Sie freut sich<br />
auf uns – denke ich.<br />
Maria • Schreibfreundin<br />
ehrenamt@cww-paderborn.de<br />
sich für eine verbesserte Teilhabe in dem jeweiligen Bereich engagieren<br />
möchten. Erste Erfahrungen sammeln die Häuser mit<br />
dem LTK „Hand in Hand“, der die Gründung und den Alltag<br />
der integrativen Fangemeinschaft des SC Paderborn 07 begleitet.<br />
Seit Anfang 2009 engagieren sich in der Gruppe 11 Personen<br />
mit und ohne Behinderung für die fußballbegeisterten Bewohner.<br />
Neu ist, dass Menschen mit Behinderungen gleichberechtigt mit<br />
engagierten Mitbürgern und Mitarbeitern in einem Arbeitskreis<br />
zusammenarbeiten. Jeder kann sich auf seine Weise einbringen<br />
und das Leben der Fangemeinschaft mitgestalten. Zugegeben,<br />
am Anfang war das gar nicht so einfach. In der Gründungszeit<br />
hatte sich die Gruppe oft zu viel vorgenommen. Nicht immer<br />
ist jeder mitgekommen. Aber sie lernen hinzu: Was können wir<br />
bewältigen? Wie kann jeder Schritt halten? Je länger die Gruppe<br />
zusammenarbeitet, umso kreativer und realistischer erkennt sie<br />
ihre Möglichkeiten. <strong>Das</strong> gegenseitige Vertrauen wächst. Zudem<br />
fällt auf: Je konkreter die Aufgaben, umso leichter können sich<br />
alle beteiligen. Bei einer Reflexion wurde deutlich: Alle haben<br />
Freude daran, sich miteinander für die Fangemeinschaft zu engagieren.<br />
Beim nächsten Treffen wird die erste große Mitgliederversammlung<br />
geplant.<br />
Träger der bundesweiten Initiative ist der Bundesfachverband<br />
<strong>Caritas</strong> Behindertenhilfe und Psychiatrie e. V. (CBP). Bundesweit<br />
haben sich mittlerweile 14 Träger angeschlossen. Von der<br />
Teilnahme an der Initiative erhoffen sich die Verantwortlichen der<br />
Häuser in Schloss Neuhaus Anregungen. Bei den Vernetzungstreffen<br />
der Verantwortlichen werden Erfahrungen ausgetauscht<br />
und das Konzept gemeinsam weiterentwickelt. Auch ein bundesweites<br />
Treffen aller Beteiligten ist geplant. Der LTK „Hand in<br />
Hand“ ist der erste Kreis – weitere folgen.<br />
Uschi Schräer-Drewer • Ehrenamtskoordinatorin<br />
ehrenamt@cww-paderborn.de<br />
• weitere Infos über die Initiative unter www.cbp.de<br />
3
Aus den Einrichtungen<br />
4<br />
Grenzen der Selbstbestimmung<br />
Die Behindertenbewegungen, ein Umdenken in der Gesellschaft<br />
sowie ein sehr verändertes Verständnis vom Begriff Behinderung<br />
führten zur Achtung und Förderung der Selbstbestimmung<br />
von Menschen mit Behinderung. Nicht mehr eine defizit-,<br />
sondern eine ressourcen-orientierte Perspektive stehen im Vordergrund<br />
allen professionellen Handelns. Selbstbestimmung ist<br />
heute ein wesentlicher Aspekt in der Behindertenhilfe. Menschen<br />
mit geistiger Behinderung ziehen in eigene <strong>Wohn</strong>ungen, haben<br />
über Beiräte Einfluss auf ihre <strong>Wohn</strong>situation in Betreuungseinrichtungen,<br />
nehmen aktiv am Hilfeplanprozess teil, formulieren<br />
Förderziele oder gestalten ihre Freizeit.<br />
Im Zuge dieser sehr positiven Entwicklungen haben sich zugleich<br />
die Anforderungen an die Mitarbeiter in der Behindertenhilfe<br />
verändert. Heute sind sie als Assistenten dazu aufgerufen, die<br />
Bedürfnisse ihrer Betreuten zu erkennen und bei der Erfüllung<br />
zu unterstützen. Zudem sind sie ständig dazu aufgefordert, auf<br />
Selbstständigkeit und Selbstbestimmung zu achten und diese zu<br />
fördern. Dieser Prozess klingt leichter, als er in der Praxis ist.<br />
Vom Assistenten sind vielfältige Kompetenzen gefordert, um in<br />
den verschiedensten Alltagssituationen professionell zu handeln.<br />
Sein Handeln steht im Spannungsfeld zwischen der im Vordergrund<br />
stehenden Selbstbestimmung des Menschen mit Behinderung<br />
und seiner eigenen Sorgfaltspflicht. Der Assistent muss<br />
einerseits die Selbstbestimmung fördern. Andererseits kann er<br />
in Situationen geraten, in denen er sorgfältig abwägen muss, ob<br />
mit einem bestimmten Verhalten möglicherweise eine schwere<br />
Gefährdung des Menschen mit Behinderung einhergeht. Dann<br />
ist er aufgefordert, darauf hinzuweisen und möglicherweise<br />
Eltern Hoffnung geben<br />
Gedanken, Überlegungen, Zweifel und vor allem der Wunsch,<br />
für das eigene Kind den richtigen Schritt zu tun – all das ist<br />
vorrangegangen, bevor Eltern im HPZ St. Laurentius nach einer<br />
Aufnahmemöglichkeit für ihr Kind fragen. Die Gespräche sind<br />
gefüllt mit Sorgen und Ängsten, Erwartungen und Hoffnungen.<br />
Viele Eltern berichten, dass sie sich lange überlegt haben anzurufen.<br />
Der erste Anruf wurde jedoch immer wieder verschoben.<br />
Der Griff zum Hörer ist der erste Schritt: Dann sprechen Eltern<br />
ganz offen über ihre Bedenken und ihre Ängste. „Ich weiß gar<br />
nicht, ob ich sie in eine Einrichtung geben kann. Was werden die<br />
anderen Leute sagen? Ich will mein Kind doch nicht abschieben.<br />
Versteht sie das? Wer tröstet sie nachts?“ Aber es kommt auch<br />
Trauer über die aktuelle Situation zum Ausdruck: „Mein Kind ist<br />
immer alleine. Die Nachbarskinder wollen nicht mit ihm spielen.<br />
Ich kann ihn nicht mehr fördern. Er soll doch auch mit Gleichaltrigen<br />
und Gleichgesinnten aufwachsen.“<br />
Resignation wird deutlich in Berichten von Zerstörungen ihres<br />
Kindes in der <strong>Wohn</strong>ung, von selbst- und fremdgefährdendem<br />
Verhalten: „Ich kann meine anderen Kinder nicht mehr schützen.<br />
Wir schließen ihn in seinem Zimmer ein. Er wirft mit Gegen-<br />
den gesetzlichen Vertreter einzuschalten. Gerade im Ambulant<br />
Betreuten <strong>Wohn</strong>en gibt es im Alltag Situationen, in denen ein<br />
Assistent den aufgezeigten Widerspruch zwischen Förderung<br />
der Selbstbestimmung und eigener Sorgfaltspflicht mit dem ihm<br />
anvertrauten Menschen mit Behinderung bearbeiten muss: Ist<br />
es beispielsweise in Ordnung, wenn jemand mit Diabetes sein<br />
Taschengeld immer wieder für Süßigkeiten ausgibt? Wie reagiert<br />
der Assistent, wenn jemand seine Körperhygiene nicht einhält?<br />
Im Kern geht es also um die Frage: „Wann sind die Grenzen der<br />
Selbstbestimmung erreicht?“ Diese Frage kann nicht generell<br />
beantwortet werden, die Alltagssituationen sind zu komplex.<br />
Wichtig ist in solchen Situationen, dass man sich den Konflikten<br />
und Fragen bewusst ist und entsprechend der individuellen<br />
Situation professionell agiert. Dabei macht gerade dieses „Sich<br />
bewusst Machen“ einen großen Teil der professionellen Haltung<br />
aus. Denn nur durch Selbstreflexion und indem die Situation in<br />
größerem Zusammenhang gesehen wird, ist man in der Lage,<br />
professionell zu handeln. Konkret bedeutet das für den Mitarbeiter:<br />
Er darf die Auseinandersetzung mit sich selbst nicht scheuen.<br />
Nur so kann etwa das Problem der Übertragung vermieden<br />
werden: „Übertrage ich nicht gerade meine Wertvorstellungen<br />
von Sauberkeit und Ordnung und nehme so ein Stück Selbstbestimmung?“<br />
An dieser Stelle hat der kollegiale und teaminterne Austausch<br />
große Bedeutung. Im Team können solche Fragen gestellt werden,<br />
um sich mit Werten und Konflikten auseinanderzusetzen.<br />
Und nicht zuletzt, um Antworten zu finden.<br />
Felix Trexler • Sozialarbeiter B.A.<br />
Betreuer ABW<br />
beratung-paderborn@cww-paderborn.de<br />
ständen nach mir, hat mir büschelweise Haare ausgerissen.“ Die<br />
fehlende Kraft, den steigenden Impulsdurchbrüchen des eigenen<br />
Kindes entgegenzutreten oder zu beeinflussen, wandelt sich in<br />
Hilflosigkeit. Zu der geistigen Behinderung ist eine Verhaltensauffälligkeit<br />
getreten – für Eltern und die Familie oftmals ein<br />
Kraftakt. Der erste Kontakt ist für die Eltern ein kleiner Hoffnungsfunke.<br />
Zeit, Lösungswege und eine positive Betrachtung<br />
der anstehenden neuen Situation sind in dem ersten Gespräch<br />
wichtig. Eltern von Kindern mit geistiger Behinderung und Doppeldiagnosen<br />
bedürfen besonderen Zuspruchs. Für alle ist wichtig,<br />
die Entscheidung, das Kind in eine Betreuungseinrichtung<br />
zu geben, nicht als Scheitern zu verstehen. Es ist die Chance in<br />
der momentanen Situation. Im Miteinander der Eltern und der<br />
professionellen Perspektive der <strong>Wohn</strong>gemeinschaft, der Schule<br />
und der Therapie erschließen sich oftmals Wege, welche dem<br />
Kind mit Behinderung die größtmögliche Unterstützung aufzeigen,<br />
die es für ein selbstbestimmtes und selbstständiges Leben<br />
in der Gemeinschaft benötigt. Gerade das Zusammenwirken der<br />
Beteiligten ermöglicht Eltern und Familienmitgliedern eine neue<br />
Sichtweise.<br />
Heike Schill-Fornefeld • Dipl. Sozialarbeiterin<br />
h.schill-fornefeld@hpz-st-laurentius.de<br />
Teilhaben 10
Zwischen Schutz und Selbstbestimmung<br />
Seit 1992 gibt es in Deutschland das neue Betreuungsgesetz.<br />
Die frühere und heute noch im Volksmund sogenannte Vormundschaft<br />
wurde abgeschafft, weil sie die Betroffenen entrechtet und<br />
entmündigt hat. Nach neuem Betreuungsrecht gilt der Grundsatz:<br />
Betreuung und Hilfe statt Entmündigung (§1901 BGB).<br />
Die Betreuungsstelle ist eine wichtige Instanz. Sie hat das Ziel,<br />
den betroffenen Personen den notwendigen Schutz und die erforderliche<br />
Fürsorge zu gewähren, ihnen aber zugleich auch ein<br />
größtmögliches Maß an Selbstbestimmung zu erhalten.<br />
Über das Betreuungsrecht sprach Daniela Rustemeyer von den<br />
Ambulanten <strong>Wohn</strong>- und Betreuungsformen mit Anja Schnückel<br />
und Angelika Schiller von der Betreuungsstelle des Kreises Höxter.<br />
Für wen gilt das Betreuungsrecht?<br />
Vom Betreuungsrecht betroffen sind erwachsene Menschen, die<br />
wegen einer psychischen Krankheit oder einer körperlichen, geistigen<br />
oder seelischen Behinderung ihre Angelegenheiten ganz<br />
oder teilweise nicht mehr selbst regeln können. Sie brauchen<br />
Hilfe.<br />
Wie wird über das Betreuungsrecht entschieden?<br />
<strong>Das</strong> Amtsgericht entscheidet über die Einrichtung einer Betreuung.<br />
Es wird aber nicht von selbst tätig, sondern erhält gewöhnlich<br />
von Dritten (Ärzte, ambulante Dienste, Verwandte) Hinweise,<br />
dass ein Betreuungsbedarf besteht und jemand allein nicht mehr<br />
zurecht kommt. Eine Betreuung wird nur für die Aufgabenkreise<br />
bestellt, bei denen der Betreute Hilfe benötigt. Aufgabenkreise<br />
können unter anderem sein: Aufenthaltsbestimmung, Gesundheitssorge,<br />
<strong>Wohn</strong>ungsangelegenheiten, Vermögenssorge, Rentenangelegenheiten,<br />
Vertretung gegenüber Behörden, Entscheidung<br />
über Heilbehandlung.<br />
Dabei beruht das Gerichtsbeschluss überwiegend auf zwei Entscheidungsgrundlagen.<br />
Es wird ein ärztliches Attest oder ein fachärztliches<br />
Gutachten eingeholt. <strong>Das</strong> gibt den Umfang der Hilfen<br />
für den Betroffenen an. Die<br />
zweite Entscheidungsgrundlage<br />
ist die Sachverhaltsaufklärung<br />
der Betreuungsstelle<br />
in Form eines Sozialberichts,<br />
worin die <strong>Wohn</strong>- und Lebenssituation<br />
und die wirtschaftliche<br />
Lage geschildert wird.<br />
Wir möchten betonen, dass<br />
die Betreuung für den Betroffenen<br />
eine wichtige Hilfe<br />
darstellt. Sie kann trotzdem<br />
als Eingriff empfunden werden,<br />
wenn etwa der zu Betreuende<br />
nicht einverstanden<br />
ist. Gegen den freien Willen<br />
des Betroffenen darf ein Be-<br />
Teilhaben 10<br />
treuer nicht bestellt werden.<br />
············· Auf einem Blick ·············<br />
• Im Januar wurden Eltern und Angehörige beim Neujahrsempfang<br />
begrüßt • Eine bessere Teilhabe am gesellschaftlichkulturellen<br />
Leben wird jetzt auch den Menschen mit Behinderung<br />
im Kreis Höxter ermöglicht: Seit Februar werden<br />
regelmäßige Sprechstunden des Familienunterstützenden<br />
Dienstes (FuD) der <strong>Caritas</strong> <strong>Wohn</strong>en im Erzbistum Paderborn<br />
gGmbH in der Warburger Beratungsstelle angeboten, Terminvereinbarungen<br />
unter (0 56 41) 7 47 74 14 • Auch in diesem<br />
Jahr besuchten die Karnevals-Regenten, Prinzessin Johanna<br />
I. die Wohltuende und Prinz Philipp I. der Einsatzbereite, die<br />
Laurentius-Schule zur Rosenmontags-Feier • Am Aschermittwoch<br />
waren die Rentner zur Messe und einem gemeinsamen<br />
Frühstück ins HPZ eingeladen •<br />
Aus den Einrichtungen<br />
Wer wird Betreuer und was hat er zu tun?<br />
Den Betreuer bestellt das Betreuungsgericht. Es können Angehörige,<br />
Ehrenamtliche oder ein Berufsbetreuer ausgewählt werden.<br />
Der gesetzliche Betreuer soll den Betreuten in dem ihm<br />
übertragenen Wirkungskreis vertreten. Er ist also ein gesetzlicher<br />
Vertreter. Er darf die Betreuung nicht auf die Erledigung des<br />
anfallenden Schriftverkehres beschränken. Er hat die Aufgabe,<br />
einen großen Teil der Betreuung durch persönliche Kontakte zu<br />
regeln. Nur so weiß der Betreuer, welche Vorstellungen der Betreute<br />
hat, was er gerne möchte und was er nicht will. Danach<br />
muss sich der gesetzliche Betreuer richten.<br />
Klingt nach einer anspruchsvollen Aufgabe.<br />
Der Gesetzgeber hat an den Betreuer hohe Ansprüche. Aber auch<br />
die Betreuten, deren Angehörige oder Betreuungseinrichtungen<br />
haben vielfältig Ansprüche, die nicht selten im Widerspruch zueinander<br />
stehen. Aufgrund von unterschiedlichen Erwartungshaltungen<br />
kann es zu Beschwerden kommen. Dann kann mitunter<br />
ein Betreuungswechsel beim Betreuungsgericht gestellt werden.<br />
Aber zurück zum Betreuer: Er soll den Betreuten im Rahmen<br />
seiner Fähigkeiten so unterstützen, dass er sein Leben nach eigenen<br />
Vorstellungen gestalten kann. <strong>Das</strong> Selbstbestimmungsrecht<br />
bleibt erhalten. Was dabei dem individuellen Wohl des Betreuten<br />
entspricht, wird vor dem Hintergrund seiner Lebenssituation und<br />
seinen grundsätzlichen Vorstellungen entschieden. Nur solchen<br />
Wünschen braucht und darf der Betreuer nicht entsprechen, durch<br />
die sich der Betreute schweren Schaden an Leib, Leben oder<br />
Vermögen zufügen würde.<br />
Können Sie abschließend ihre Aufgaben zusammenfassen?<br />
Die Betreuungsstelle hat den Auftrag, die Betreuer, vor allem<br />
die ehrenamtlichen, bei der Erfüllung ihrer anspruchsvollen Tätigkeit<br />
nicht allein zu lassen. Wir sind eine zuverlässige Stelle,<br />
die für Begleitung, Beratung und Hilfe sorgt. Wir unterstützen<br />
die gesetzlichen Betreuer dabei, in dem Spannungsfeld zwischen<br />
staatlichem Schutzauftrag und Achtung der Selbstbestimmung<br />
adäquat zu reagieren. Wir schauen auch, welche Ansprüche ein<br />
Betreuer dem Betreuten er-<br />
möglichen darf und wo er<br />
vielleicht gezwungen ist,<br />
Entscheidungen gegen seinen<br />
Willen zu treffen. Dafür<br />
ist die Voraussetzung der<br />
Einwilligungsvorbehalt nach<br />
§ 1903 BGB.<br />
Herzlichen Dank für das informative<br />
Gespräch.<br />
Daniela Rustemeyer •<br />
Diplom Sozialarbeiterin<br />
beratung-paderborn<br />
@cww-paderborn.de<br />
www.cww-paderborn.de<br />
5
Aus den Einrichtungen<br />
ĺch sehe das, was Du nicht<br />
siehst – und das ist gelb!<br />
Mit dieser Frage beginnt<br />
ein lustiges Kinderspiel.<br />
Die mitspielenden Kinder dürfen raten, was gesucht wird. Wer<br />
es als erster errät, der hat gewonnen. In vielen alten Sagen und<br />
Erzählungen der Völker wird von weisen Männern und Frauen erzählt,<br />
die über eine geheimnisvolle Gabe verfügen. Sie sehen die<br />
Zusammenhänge, die für andere verborgen bleiben. Man nennt<br />
sie: Seherinnen und Seher. Und was merkwürdig dabei ist: Oft<br />
waren sie blind. Sie können, obwohl sie blind sind, Dinge sehen,<br />
die Menschen mit gesunden Augen nicht wahrnehmen können.<br />
Nicht selten sind dies gerade die wichtigsten Dinge im Leben.<br />
Ich sehe das, was Du nicht siehst …<br />
Bei der Betrachtung der alten Bilder aus meinem Familienalbum<br />
kann ein Fremder ganz schnell zu der Erkenntnis kommen: Die<br />
vergilbten Aufnahmen meiner Kindheit gehören eigentlich der<br />
Vergangenheit an und längst in den Sperrmüll. Aber das Herz<br />
sieht mehr! Ich sehe das, was Du nicht siehst … Im Evangelium<br />
sagt Jesus zu dem Apostel Thomas: „Vertrau nicht nur auf deine<br />
Augen, sondern auf dein Herz.“ Selig sind die, die in den Zeiten<br />
Vom Zumuten und Loslassen<br />
Die Zeiten ändern sich und damit auch die Chancen. Auch<br />
Menschen mit einer geistigen Behinderung sollen so eigenständig<br />
wie möglich leben. Für entsprechende Unterstützung und Förderung<br />
sorgen lokale Leistungsanbieter wie der CWW Paderborn.<br />
Er bietet verschiedene <strong>Wohn</strong>- und Unterstützungsangebote, bei<br />
denen die Grenzen zwischen stationär und ambulant zunehmend<br />
verschwimmen werden, so dass das Leben von Menschen mit<br />
Behinderung in einer eigenen <strong>Wohn</strong>ung glücken kann. Konkret<br />
heißt das: Die Kostenträger gewährleisten nicht mehr die stationäre<br />
<strong>Wohn</strong>form, sondern erteilen die befristeten Kostenzusagen.<br />
Es wird jeweils in regelmäßigen Abständen geprüft, ob eine<br />
selbstständigere Lebensform möglich ist. In diesem Sinne wird<br />
entsprechend dem ausdrücklichen Wunsch des Menschen mit Behinderung<br />
und zum Schutz vor der eventuellen Eigenbeteiligung<br />
bei den Kosten empfohlen, einen befristeten Betreuungsvertrag<br />
zu schließen, der an die Kostenzusage geknüpft ist.<br />
Mitunter sorgen sich Eltern: Viele haben im Laufe ihrer Elternschaft<br />
gelernt, für ihr Kind zu kämpfen, um ihm Therapien<br />
zu ermöglichen. Geht dieser Kampf jetzt wieder neu los? Man<br />
dachte, alles sei bis ans Lebensende geregelt. Wie kann das erwachsene<br />
Kind mit seinen Handicaps den Alltag bewältigen?<br />
Diese Sorgen sind verständlich. Aber weder Eltern noch die<br />
Menschen mit Behinderung werden allein gelassen. Beratung<br />
gibt es vielfältig – vor Ort und ganz konkret. Diese erfolgt durch<br />
Personen mit unterschiedlichsten Professionen und Spezialkenntnissen.<br />
Niemand, der dazu nicht in der Lage ist, wird aus einem<br />
stationären <strong>Wohn</strong>verbund in eine selbstständige <strong>Wohn</strong>form entlassen.<br />
Niemand wird allein gelassen. Dennoch gestaltet sich der<br />
Prozess des Loslassens bei Kindern mit Behinderung schwierig.<br />
Sie werden immer stärker auf Unterstützung angewiesen sein als<br />
SEHEN, WAS ANDEREN VERBORGEN BLEIBT<br />
• De r Ge i s t l i c h e im p u l s •<br />
der Weltwirtschaftskrise,<br />
der steigenden Arbeitslosigkeit<br />
und der riesigen<br />
Verschuldung den Tsunami<br />
der menschlichen Werte mit dem Herzen sehen. Ich sehe das, was<br />
Du nicht siehst … In der Liturgie der Osternacht trägt der Priester<br />
in die dunkle Kirche die Osterkerze mit dem feierlichen Ruf:<br />
„Lumen Christi“. Unsere Augen sehen nur das kleine Licht der<br />
Kerze, aber unser Herz sieht die Geschichte eines jungen Mannes<br />
aus Nazareth, der sein Leben eingesetzt hat für uns, dessen<br />
Leben zerbrochen ist am Kreuz und der am dritten Tage von den<br />
Toten auferstanden ist. Mit den Augen unseres Herzens sehen<br />
wir, wie dieser Mann seine Liebe und Wärme austeilte an seine<br />
Freunde und sagte: „<strong>Das</strong> ist mein Leib, der für euch hingegeben<br />
wird“. Ich sehe das, was Du nicht siehst … Ein altes Foto aus<br />
dem Familienalbum, ein Erinnerungsstück, die Osterkerze, Brot<br />
und Wein. Wer mit den Augen des Herzens sieht, der entdeckt,<br />
was sich dahinter verbirgt. Jesus ist wahrhaftig von den Toten<br />
auferstanden.<br />
Monsignore Roman Kopetz • Geistlicher Rektor<br />
r.kopetz@hpz-st-laurentius.de<br />
andere. Neben dem Vertrauen in das eigene Kind und dem Wissen<br />
um seine Grenzen bedarf es des Vertrauens in die neue Wegbegleitung<br />
der Kinder. Viele positive Beispiele belegen, dass auch<br />
Menschen mit einer geistigen Behinderung in der Lage sind allein<br />
zu leben. Aber was heißt überhaupt allein? Viele leben in <strong>Wohn</strong>gemeinschaften,<br />
die ambulant betreut werden. Dort ergänzen und<br />
helfen sich die WG-Mitglieder. Angehörige und Eltern verlieren<br />
nicht an Wichtigkeit, bekommen aber auch nicht die alleinige<br />
Verantwortung übertragen. Jede neue Situation verunsichert,<br />
macht vielleicht Angst. Aber die Chance, die sich jetzt eröffnet,<br />
ist wunderbar. Wer einmal mit einem Menschen mit geistiger<br />
Behinderung gesprochen hat, der in einer eigenen <strong>Wohn</strong>ung lebt,<br />
erfährt, dass er erwachsener, selbstständiger und selbstbewusster<br />
geworden ist. Er genießt dieses neue Leben. Vielleicht sind die<br />
Lebensweisen nicht so, wie Eltern sie sich vorstellen. Entscheidend<br />
ist, dass ihr Kind zufrieden ist. Für Menschen mit einer<br />
geistigen Behinderung war es über Jahrzehnte keine bewusste<br />
Entscheidung, zuhause bei den Eltern zu leben. Ein Leben im<br />
Elternhaus war so lange normal, bis die Eltern selbst auf Unterstützung<br />
angewiesen waren. Selbstbestimmung hat auch hier zu<br />
einer Veränderung in der Denk- und Handelsweise von Eltern<br />
geführt. Menschen mit Behinderung gehen nach Abschluss der<br />
Schulzeit und dem Wechsel in ein Arbeitsverhältnis ebenfalls<br />
eigene Wege und suchen eine für sie stimmige <strong>Wohn</strong>form – wie<br />
jeder junge Mensch. <strong>Das</strong> belegen auch wissenschaftliche Studien:<br />
Menschen mit Behinderung möchten überwiegend in ihrer<br />
eigenen <strong>Wohn</strong>ung leben, zusammen mit einem Partner oder einer<br />
Partnerin. „Wird das alles gut gehen?“, diese Frage stellen sich<br />
alle Eltern beim Auszug ihrer Kinder – einerlei, ob mit oder ohne<br />
Behinderung.<br />
Anja Fecke • Seelsorgerin im CWW<br />
seelsorge-fecke@cww-paderborn.de<br />
6 Teilhaben 10
Serie<br />
Teilhaben 10<br />
Trainieren für das Leben<br />
Die Außenwohngemeinschaft (AWG) des Hauses St. Josef<br />
in Büren wurde am 27. Dezember 2004 eröffnet. Als alternative<br />
stationäre <strong>Wohn</strong>form bietet sie seitdem acht Menschen mit<br />
Behinderung den Rahmen für ein möglichst selbstbestimmtes<br />
Leben. <strong>Das</strong> zentrumsnah gelegene Haus wurde mit finanzieller<br />
Unterstützung der Aktion Mensch gekauft und teilweise barrierefrei<br />
umgebaut.<br />
<strong>Das</strong> Konzept der <strong>Wohn</strong>gemeinschaft beinhaltet insbesondere die<br />
Förderung der individuellen Entwicklung und der Selbstständigkeit<br />
der Bewohner in allen Lebensbreichen sowie die Selbstbestimmung<br />
jedes Einzelnen. Die AWG bietet dabei einen geschützten<br />
Rahmen – auch mit dem Ziel des Wechsels in eine ambulante<br />
<strong>Wohn</strong>form. Ebenerdig befindet sich eine Einliegerwohnung<br />
mit separatem Eingang, die von einem Paar bewohnt und zur<br />
Vorbereitung auf das ambulant betreute <strong>Wohn</strong>en genutzt wird.<br />
Über einige Stufen erreicht man den Eingang des Hauses, wo<br />
sechs Bewohner leben – in je eigenen Zimmern und gemeinsam<br />
genutzten Badezimmern. Der große <strong>Wohn</strong>- und Essraum bildet<br />
das Zentrum dieser familiären Gemeinschaft. Die Einliegerwohnung<br />
unterstützt die Selbstständigkeit im hauswirtschaftlichen<br />
Bereich sowie im Alltagsleben allgemein. Der Umgang mit Geld<br />
und die Führung eines Haushaltsbuches werden wöchentlich mit<br />
dem Betreuer geübt. Drei Betreuer und eine Betreuungshelferin<br />
unterstützen die acht Bewohner zu bestimmten Tageszeiten.<br />
Mehr als ein Buchstabe<br />
Am Anfang war der Traum vom selbstbestimmen Leben, in<br />
dem Menschen in Betreuungseinrichtungen wie „zu Hause“ leben.<br />
Aus dem Traum wurde ein Gesetz: das neue <strong>Wohn</strong>- und<br />
Teilhabegesetz, das die Philosophie der Selbstbestimmung verfolgt.<br />
Mit diesem Grundgedanken haben sich viele Bewohner und<br />
Mitarbeiter im Geschäftsbereich <strong>Wohn</strong>en beschäftigt. Aus diesen<br />
Gedanken sind Taten entstanden. Im gemeinsamen Projekt mit<br />
dem Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales des Landes<br />
Nordrhein-Westfalen (MAGS) hat der Künstler aus dem HPZ St.<br />
Laurentius, Manfred Henke, die komplizierten Sachverhalte des<br />
Gesetzes in Bildern umgesetzt. Auf dieser Grundlage wurden<br />
unter konzeptioneller Leitung von Ute Dohmann-Bannenberg die<br />
Medien in einfacher Sprache (Film, Hörbuch, DVD, PP-Präsentation)<br />
für das MAGS fertig gestellt, die landesweit vorgestellt<br />
werden und auf der Website des MAGS veröffentlicht werden.<br />
Durch die Kooperation mit Rolf Wahrenburg vom Kreis Höxter<br />
und dem Seniorenzentrum St. Johannes in Warburg konnten alle<br />
Akteure für den Film gewonnen werden. Es entstand eine Gemeinschaft<br />
von Menschen, die das Gesetz nicht nur als Buchstabe<br />
verstehen, sondern als eine Brücke zueinander, um in ein dialogisches<br />
Verstehen zu treten. Gleichzeitig wurde ein geschäftsbereichsübergreifender<br />
Qualitätszirkel Selbstbestimmung gegründet.<br />
Die Initiatoren: Anja Fecke, Seelsorgerin St. Heinrich und<br />
St. Kunigunde, Uschi Schräer-Drewer, Ehrenamtskoordinatorin<br />
St. Marien, Friedbert Krawinkel, Einrichtungsleitung St. Marien<br />
und St. Kilian, Schw. M. Janina Bessenich, Einrichtungsleitung<br />
Die Einrichtungen stellen sich vor<br />
Morgens bietet ein Betreuer Assistenz und steht als Ansprechpartner<br />
für aktuelle Belange oder Probleme zur Verfügung. Da<br />
die Bewohner Beschäftigte der Werkstätten St. Nikolaus in Büren<br />
sind, ist während ihrer Arbeitszeit von acht bis sechzehn Uhr in<br />
der Regel niemand in der AWG. Nach der Arbeit bis zum späten<br />
Abend steht den Bewohnern wieder ein Betreuer zur Seite.<br />
Nachts übernimmt der Spätdienst die Bereitschaft. Einmal in der<br />
Woche findet ein Gruppengespräch statt, in dem aktuelle Wünsche<br />
angesprochen werden und das bevorstehende Wochenende<br />
geplant wird. Einkaufslisten werden erstellt und Freizeitaktivitäten<br />
geplant. Bewohner und Betreuer haben gemeinsam einen<br />
Haushalts- und Aufgabenplan erarbeitet, der visuell ansprechend<br />
und zudem praktisch ist. Auf einer Drehscheibe stehen die jeweiligen<br />
Aufgaben, die die Bewohner selbstständig erledigen<br />
oder erlernen möchten, wie Wäschepflege oder Tischdienst. Jeder<br />
Bewohner hat eine Klammer mit seinem Namen, diese wird an<br />
die jeweilige Aufgabe geheftet. Regelmäßig werden die Klammern<br />
ausgetauscht. Die Aufgaben fördern die Selbstständigkeit<br />
und stärken das Selbstwertgefühl der Bewohner, wenn sie eigenständig<br />
erledigt wurden. Ein großer Vorteil der Zusammenarbeit<br />
zwischen AWG und Haus St. Josef besteht darin, dass Bewohner<br />
vorbereitet in die AWG einziehen können und die Wahrscheinlichkeit<br />
einer Fehlentscheidung minimiert wird.<br />
Tina Vahle-Wagener & Alexandra Gerken<br />
• Heilerziehungspflegerinnen im Haus St. Josef<br />
redaktion@st-josef-bueren.de<br />
HPZ St. Laurentius. Sie verfolgen das Ziel, die Selbstbestimmung<br />
der Menschen mit Behinderung im einrichtungsinternen<br />
Alltag zu vertiefen. Deshalb wurde ein Fortbildungskonzept für<br />
Mitarbeiter geschrieben. In Teams wird die Selbstbestimmung<br />
der Menschen mit Behinderung anhand von Alltagsbeispielen<br />
reflektiert. Die Selbstbestimmung soll noch lebhafter umgesetzt<br />
werden. Nicht nur nach dem Gesetz, sondern auch, weil dadurch<br />
die Menschlichkeit im Miteinander vertieft wird.<br />
Schw. M. Janina Bessenich, Franziskanerin<br />
• Einrichtungsleitung HPZ St. Laurentius-Warburg<br />
schw.janina@hpz-st-laurentius.de<br />
• Impressum CWW – Teilhaben 10 März / 2010 •<br />
Herausgeber: <strong>Caritas</strong> <strong>Wohn</strong>en im Erzbistum Paderborn gem. GmbH<br />
im Gesamtverbund des <strong>Caritas</strong> <strong>Wohn</strong>- und Werkstätten im Erzbistum Paderborn e. V.<br />
Geschäftsführer: Karl-Heinz Vogt<br />
Redaktion: Sandra Wamers<br />
Redaktionsteam: Schw. M. Janina Bessenich, Ute Dohmann-Bannenberg, Anja Fecke, Alexandra<br />
Gerken, Monsignore Roman Kopetz, Daniela Rustemeyer, Uschi Schräer-Drewer,<br />
Schreibfreundin Marie, Heike Schill-Fornefeld, Felix Trexler, Bettina Weinberg und Tina<br />
Vahle-Wagener.<br />
Titelbild: Bewohnerbeirat Dirk Pouri, Lehrerin Deborah Thiele und Schülerin Selina Rahman<br />
(v. l.) reichen sich nach der Kooperation zwischen dem HPZ und der Realschule Warburg<br />
die Hände.<br />
Druck: Schlosswerkstätten Paderborn<br />
Auflage: 2.000 Stck.<br />
Anschrift: <strong>Caritas</strong> <strong>Wohn</strong>en im Erzbistum Paderborn gem. GmbH<br />
• Stiepenweg 70 • 34414 Warburg • Tel. (0 56 41) 9 30 • www.cww-paderborn.de<br />
Namentlich gekennzeichnete Beiträge geben nicht unbedingt die Meinung des Herausgebers<br />
wieder. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck nur mit Genehmigung, die meist gern erteilt wird.<br />
Spendenkonto: Bank für Kirche und <strong>Caritas</strong> eG<br />
BLZ 472 603 07, Konto-Nr. 19 010 702<br />
Die Zeitung teilhaben am Leben kann auch als E-Paper unter wwww.hpz-st-laurentius.de<br />
heruntergeladen werden.<br />
7
Auf dem Weg<br />
8<br />
Kultur im Blick<br />
Ihre Privatssphäre ist sein Arbeitsplatz<br />
• DER ASSISTENT •<br />
Ein Mann aus der Wirtschaftswelt hat mit allem gebrochen und<br />
will nun etwas Soziales tun. Er sucht sich einen neuen Job bei<br />
einem ambulanten Dienst, als Assistent einer komplett gelähmten<br />
Frau. Sie braucht Hilfe – rund um die Uhr – um ein selbstbestimmtes<br />
Leben führen zu können. Ihre Privatsphäre wird damit<br />
sein Arbeitsplatz. Paul Plamper und Nils Kacirek erzählen vom<br />
Aufeinandertreffen eines ungleichen Paares. Im Mikrokosmos<br />
einer sozialen Dienstleistung spürt ihr neues Hörspiel den Machtstrukturen<br />
nach und führt uns in einen Konflikt, der die Grenzen<br />
zwischen behindert und nicht behindert aufzulösen scheint. <strong>Das</strong><br />
preisgekrönte Hörspiel stammt aus der Feder von Autor Paul Plamper<br />
und dem Komponisten Nils Kacirek.<br />
• Infos unter www.paulpamper.de<br />
Ein <strong>Wort</strong> auf<br />
dem Weg<br />
„Über Sein, Zeit,<br />
Gott und die Welt”<br />
Die Gesellschaft ist im Wandel, und in diesen Tagen wird<br />
einmal mehr über das derzeitige Profil der Politik nachgedacht.<br />
Ungeklärt ist jedoch, was dabei was bedingt: die Profillosigkeit<br />
der Wähler die Profillosigkeit der Parteien oder umgekehrt. Alles<br />
in allem wird auch der Einfluss der christlichen Lebenspraxis<br />
auf die Gesellschaft und damit auf kulturelle, wissenschaftliche,<br />
soziale, wirtschaftliche und politische Vorgänge, hinterfragt.<br />
Schnell wird auf die Auflösung klassischer Milieus der Vergangenheit<br />
hingewiesen beziehungsweise den parallel verlaufenden<br />
bürgerlichen wie religiösen Wandel. Alles wird augenscheinlich<br />
liberaler. Wechselwähler nehmen zu, eine klare Identität der<br />
Parteien und Gesellschaft ist kaum zu erkennen. <strong>Caritas</strong>unternehmen<br />
arbeiten ständig an ihrem Profil zwischen Wirksamkeit<br />
und Wirtschaftlichkeit. <strong>Caritas</strong> ist ein Unternehmen der tätigen<br />
Nächstenliebe, es ist ein Programm der Dienstgemeinschaft, es<br />
ist die Kirche und die Frohe Botschaft für alle Menschen. <strong>Caritas</strong><br />
ist „eine wirksame Anwältin und Solidaritätsstifterin für die<br />
Benachteiligten“ (vgl. Leitbild des Deutschen <strong>Caritas</strong>verbandes<br />
Kap. 1 „Ziele und Aufgaben“ und Satzung des Deutschen <strong>Caritas</strong>verbandes<br />
§ 6 „Zweck und Aufgaben“). <strong>Caritas</strong> bietet eine klare<br />
Leitkultur, eine Orientierung an Gott, bei der Entschlossenheit,<br />
Zielklarheit und Festigkeit zu den Grundsätzen gehört. <strong>Caritas</strong><br />
hat eine sozialethische, wirtschaftliche, aber vor allem eine spirituelle<br />
Dimension der Begegnung der Menschen mit Gott. Nichts<br />
geht irgendwie, sondern alles geschieht stets im Vertrauen auf<br />
Kultur im Kalender<br />
APRIL b I s JUNI 2010<br />
A P R I L: Am 2. April wird um 15 Uhr die Karfreitagsliturgie in der<br />
Laurentius-Kirche gefeiert. Die Feier der Osternacht wird am 3.<br />
April um 19 Uhr zelebriert. Sternengucker dürfen sich auf den<br />
24. April freuen: Ab 18 Uhr erklärt der Astronom Horst Thiel im<br />
Waldinformationszentrum Hammerhof in Scherfede-West die<br />
funkelnden Bilder am nächtlichen Firmament. Infos unter (0 56<br />
41) 93 285.<br />
MA I: Ab dem 7. Mai startet der Kurs „Spannend und entspannend<br />
– so ist das Leben” im Rahmen des Kooperationsprojekts<br />
„Lernen für das Leben – Leben lernen” zwischen dem HPZ und<br />
dem VHS-Zweckverband Diemel-Egge-Weser. <strong>Das</strong> Angebot:<br />
Abschalten vom Alltag und Entspannen im Snoezelen-Raum.<br />
Infos unter (0 56 41) 93 285.<br />
J U N I: Am 3. Juni findet die Fronleichnamsprozession statt. Am<br />
4. Juni können Menschen mit und ohne Behinderung den „Besuch<br />
in der Stille” wahrnehmen. Dieser findet in der Eremitage<br />
der Klus Edesson nahe Borgholz statt. Interessierte treffen sich<br />
um 14 Uhr an der HPZ-Verwaltung nach vorheriger Anmeldung<br />
unter (0 56 41) 93 285.<br />
Gottes Gnade. „<strong>Caritas</strong> ist empfangene und geschenkte Liebe.<br />
Sie ist ,Gnade’ (cháris)”. (Papst Benedikt XVI, Enzyklika CARI-<br />
TAS IN VERITATE) Aus dieser Grundüberzeugung ist immer<br />
wieder Standfestigkeit und Standhaftigkeit im Führen von Menschen<br />
und Organisationen notwendig. Dann sind die Angebote,<br />
besser die Dienstleistungen für den Mitmenschen, klar definiert,<br />
von den Kosten erkennbar und im Leistungsumfang der Notwendigkeit<br />
angepasst. Dann wissen die Menschen als Empfänger der<br />
Hilfeleistungen und als Mitarbeitende, woran sie sind. Helfen<br />
kann und will verändern – auch die Helfenden (Die deutschen<br />
Bischöfe Nr. 91: Berufen zur caritas). In diesem Sinn ist die engagierte<br />
Fachlichkeit stets aufgerufen, kreativ die Angebote im<br />
Interesse der Menschen weiterzuentwickeln. Gute – und damit<br />
auch immer ein Stück konservative – Unternehmensführung gibt<br />
es nicht ohne klar erkennbaren Lebenssinn, nicht ständig zu erneuernde<br />
Sicht auf Sein, Zeit, Gott und die Welt, Vergangenheit,<br />
Gegenwart und Zukunft, sondern im Mit-Leben und Mit-Wirken<br />
in der Dienstgemeinschaft nach dem Motto: „Unsere Hoffnung<br />
ist immer wesentlich auch die Hoffnung für die anderen. Als<br />
Christen sollten wir uns fragen: Wie kann ich anderen dienen,<br />
dass anderen der Stern der Hoffnung aufgeht?“ (Papst Benedikt<br />
XVI, Enzyklika SPE SALVI)<br />
Ihr<br />
Karl-Heinz Vogt •<br />
Geschäftsführer der <strong>Caritas</strong> <strong>Wohn</strong>en gem. GmbH,<br />
zugleich Vorstandsvorsitzender des CWW-Gesamtverbundes<br />
kh.vogt@cww-paderborn.de<br />
Teilhaben 10