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Einige Bemerkungen zu einer Kategorie bei Franz Kafka um 1912

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CASPAR BATTEGAY<br />

Ironie und Plötzlichkeit – <strong>Bemerkungen</strong> <strong>zu</strong> <strong>Franz</strong> <strong>Kafka</strong>s „Der plötzliche Spaziergang“<br />

Der Titel „Der plötzliche Spaziergang“ ist merkwürdig: Spazieren, das ist – nach Johann<br />

Christoph Adelungs Grammatisch-kritischem Wörterbuch – „<strong>zu</strong>r Aufheiterung des<br />

Gemüthes langsam gehen, besonders an der frischen Luft“, ein zweckfreies „müssig<br />

gehen“. Plötzlich hingegen bezeichnet das, „was unvermuthet ist oder auf einmal<br />

geschiehet“, also ein Zeitmodus, der dem Wesen des Spaziergangs entgegengesetzt ist. Die<br />

Zusammenstellung „Der plötzliche Spaziergang“ ist eine oxymoronartige Engführung,<br />

wo<strong>bei</strong> sie nicht ganz analog etwa <strong>zu</strong>m „beredten Schweigen“ ist, denn der Spaziergang –<br />

etwa im Flanieren Charles Baudelaires und Walter Benjamins – trägt in sich schon die<br />

Anlage <strong>zu</strong>r Plötzlichkeit. In meinem Beitrag möchte ich denn die im Titel sich öffnende<br />

Spannung, die vielleicht eine Wechselspannung ist, zwischen „plötzlich“ und<br />

„Spaziergang“genauer untersuchen. Erstens zeige ich, wie sich diese Spannung, die der<br />

Titel ankündigt, im Textverlauf spiegelt. Ich zeige zweitens, indem ich auf Karl Heinz<br />

Bohrers Schriften <strong>zu</strong>r Plötzlichkeit als gegen jegliche Konvention gerichtete <strong>Kategorie</strong> der<br />

literarischen Avantgarde verweise, wie <strong>Kafka</strong> eine bestimmte, <strong>um</strong> <strong>1912</strong> schon selbst<br />

konventionelle Rede von Plötzlichkeit bemüht, <strong>um</strong> diese und ihr Pathos dann ironisch <strong>zu</strong><br />

unterlaufen. Mit dieser Absage verbunden ist drittens die biographische Ebene des Textes,<br />

nämlich die im Frühjahr <strong>1912</strong> <strong>zu</strong> Ende gehende Freundschaft mit dem Schauspieler<br />

Jitzchak Löwy, mit dem <strong>Kafka</strong> oft auf abendlichen Spaziergängen unterwegs war und die<br />

<strong>bei</strong>m Vater den „Ärger“ hervorriefen, von dem im Text die Rede ist. Die Begeisterung für<br />

das jiddische Theater endet nur ein paar Monate vor dem Beginn des Briefwechsels mit<br />

Felice Bauer, der bekanntlich mit der Bekräftigung beginnt, eine gemeinsame<br />

Palästinareise unternehmen <strong>zu</strong> wollen. Dieser „plötzliche Spaziergang“ nach Eretz Israel<br />

bleibt ebenso bekanntlich aus und <strong>Kafka</strong> findet nach zionistischen Vorgaben nicht <strong>zu</strong>r<br />

„wahren Gestalt“, die die Verwirklichung des Entschlusses gemäß Text enthüllen würde.<br />

<strong>Kafka</strong>s Text führt über die „Gasse“ nur bis <strong>zu</strong> einem „Freund“ – und ist daher vielleicht,<br />

viertens, als kleines Lob der Freundschaftlichkeit <strong>zu</strong> lesen. Gegenüber familiärer oder<br />

nationaler Gemeinschaft steht das kleine Glück der Freunde.<br />

Internationale Tagung der Deutschen <strong>Kafka</strong>-Gesellschaft e.V. "Betrachtung" (Heidelberg, 18. - 20. Juli 2008)<br />

www.kafka-gesellschaft.de


Obwohl der kleine Text keineswegs auf eine „jüdische“ Sinnebene verweist, kann er in<br />

kulturzionistischem Kontext gelesen werden. Unter dem Eindruck von Nietzsches<br />

Rhetorik der Plötzlichkeit entwirft vor allem Martin Buber, unter anderem in seinen<br />

Prager Reden über das Judent<strong>um</strong> von 1909/10 eine Vison der „Jüdischen<br />

Erneuerung“:„[…] ich meine mit Erneuerung durchaus nichts Allmähliches und aus<br />

kleinen Veränderungen S<strong>um</strong>miertes, sondern etwas Plötzliches und Ungeheures,<br />

durchaus nicht Fortset<strong>zu</strong>ng und Verbesserung, sondern Umkehr und Umwandlung.“<br />

<strong>Kafka</strong> war zeitweise von der Idee <strong>einer</strong> jüdischen re-Authentifizierung begeistert – vor<br />

allem im Zusammenhang mit dem jiddischen Theater. Am Tag, an dem er den<br />

„Plötzlichen Spaziergang“ niederschreibt, besucht er eine Theateraufführung. Publiziert<br />

und entscheidend modifiziert wird der Text aber im Moment, in dem <strong>Kafka</strong> das Interesse<br />

für das jiddische Theater und Jitzchak Löwy <strong>zu</strong> verlieren beginnt. <strong>Kafka</strong> teilt weder die<br />

nietzscheanische Emphase des plötzlichen Weggehens, noch das zionistische Pathos des<br />

plötzlichen Heimkommens. Vielmehr ironisiert er – wie anhand des Textes <strong>zu</strong> zeigen ist –<br />

diese Visionen der Großartigkeit und Unmittelbarkeit. Einmal geschieht dies anhand des<br />

irritierenden Nebensatzes „hinten die Schenkel schlagend“, der eine groteske Gestalt<br />

evoziert, die mehr dem ‚schiefen Ghettojuden‘ als dem zionistischen ‚neuen Juden‘ gleicht.<br />

Andererseits passiert dies mit dem konventionell erscheinenden Schluss: „<strong>um</strong><br />

nach<strong>zu</strong>sehen, wie es ihm geht“. Ich meine, dass <strong>Kafka</strong> gegenüber dem im Text selbst<br />

ausgemalten Phantasma der plötzlichen Verwirklichung, das <strong>um</strong> <strong>1912</strong> in den<br />

verschiedensten ideologischen Strömungen her<strong>um</strong>geistert, eine Emphase des<br />

Zeitnehmens für die Freundschaft skizziert: Eine ironische Freundschaftlichkeit, die noch<br />

in der Widmung der Betrachtung „Für M.B.“ ihren Ausdruck findet.<br />

Caspar Battegay<br />

Hochschule für Jüdische Studien Heidelberg<br />

Friedrichstraße 9, 69117 Heidelberg<br />

caspar.battegay@hfjs.eu<br />

Internationale Tagung der Deutschen <strong>Kafka</strong>-Gesellschaft e.V. "Betrachtung" (Heidelberg, 18. - 20. Juli 2008)<br />

www.kafka-gesellschaft.de


Internationale Tagung der Deutschen <strong>Kafka</strong>-Gesellschaft e.V. "Betrachtung" (Heidelberg, 18. - 20. Juli 2008)<br />

www.kafka-gesellschaft.de

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