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zett Sex macht Artbeit - Kulturzentrum Schlachthof

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THE 8 F o t o s : M ARINA LILIENTHAL<br />

9<br />

MA<br />

DIE ENTSTEHUNG DER<br />

HELENENSTRASSE<br />

Vor 140 Jahren wurde der Bauplan genehmigt, fünf Jahre später, am 1. Oktober 1878,<br />

wurde sie zu einem Pilotprojekt: die Helenenstraße im Bremer Steintor. In dieser<br />

sogenannten Kontrollstraße wurde die wachsende ›wilde‹ Prostitution zusammengeführt<br />

und unter staatliche Aufsicht gebracht. Vorangegangen waren dieser Entwicklung<br />

wiederholte Beschwerden und Petitionseingaben der Bürgerschaft an den Senat.<br />

Die Helenenstraße entsprach den Vorstellungen von Behörden<br />

und Polizei, die Wohnen und Arbeiten von Prostituierten<br />

an bestimmten Orten konzentrieren wollten. Sie argumentierten,<br />

dass die Ausweitung von Geschlechtskrankheiten und<br />

Typhus so besser zu verhindern sei. In der Realität wogen<br />

diese gesundheitlichen Vorteile die freiheitsbeschränkenden<br />

Maßnahmen gegenüber den Frauen allerdings nicht auf.<br />

Dennoch priesen Bremer Politiker stolz ihre Idee anhand<br />

eines Holzmodells auf internationalen Messen der Deutschen<br />

Gesellschaft zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten.<br />

Schon bald zeigten Städte in aller Welt Interesse am ›Bremer<br />

System‹ und entsandten Experten zur Begutachtung vor Ort.<br />

Der Bremer Bauunternehmer Carl Philip Weiland bot<br />

1878 der Stadt seine 26 Häuser in der Frankenstraße für die<br />

geplante ›Kasernierung der Prostituierten‹ an. Ursprünglich<br />

wollte er eine Durchgangsstraße zwischen Steintor und Auf<br />

der Kuhlen bauen, woran ihn jedoch die Witwe Helene Engelken<br />

hinderte, die sich weigerte ihr Haus zu verkaufen. So kam<br />

die mögliche Querung nicht zustande und es entstand eine<br />

Sackgasse, die sich für die Einrichtung als Kontrollstraße<br />

regelrecht anbot. Der Straßenname entstand dabei wohl aus<br />

Rache für die Vereitelung seines ursprünglichen Plans.<br />

Den Einblick in die Straße versperrte ein torähnliches<br />

Gebäude und eine Polizeiwache verhinderte Zuhälterei.<br />

Weiland wurde zur Auflage ge<strong>macht</strong>, sanitäre Anlagen einzurichten,<br />

die Rückseiten der Fenster mit undurchsichtigem<br />

Glas auszustatten und Veranden und Vorbauten zu beseitigen.<br />

Noch im selben Jahr bezogen 50 Prostituierte dort eine<br />

eigene Wohnung.<br />

N O R A S T Ö T Z N E R<br />

Nach geltendem Gesetz war Prostitution damals nur erlaubt, wenn die<br />

Frauen sich polizeilich meldeten und bestimmte Vorschriften einhielten.<br />

Dazu zählten Aufenthaltsverbote an öffentlichen Orten sowie das Fahren<br />

in Wagen ohne Verdeck. Polizeiliche und ärztliche Kontrollen gehörten<br />

zu ihrem Alltag und infizierte Frauen wurden in Krankenhäuser zwangseingewiesen.<br />

Entgegen offiziellen Aussagen belegen zeitgenössische Quellen,<br />

dass die Prostituierten keinesfalls alle freiwillig in die Helenenstraße zogen.<br />

Doch die Folgerung von offizieller Seite lautete schon bald: ›Die Vortheile,<br />

welche die Controlstrasse in sanitätspolizeilicher Hinsicht bietet, fordern<br />

dazu auf, entsprechend der grossen Ausdehnung der Stadt noch mehr<br />

Controlstrassen einzurichten, etwa in eine Gegend des Freihafens und eine<br />

in der Neustadt […]‹ 1 .<br />

Aufkommende Kritik wandte sich nun gegen die Einrichtung der Straße<br />

in einer derart bewohnten Gegend. Trotzdem lebten und arbeiteten in der<br />

Helenenstraße 1906 bereits 105 Frauen. In der Weimarer Republik<br />

kämpften dann vor allem weibliche Bürgerschaftsabgeordnete und Sozialpolitikerinnen<br />

gegen die staatlich kontrollierte Prostitution und die Existenz<br />

der Helenenstraße. Es gab in der Bürgerschaft heftige Debatten über<br />

Vor- und Nachteile der Kontrollstraße. Die kritischen Stimmen konnten sich<br />

durchsetzen: Zum 1.4.1927 wurde die offizielle Auflösung der Helenenstraße<br />

beschlossen.<br />

Daraufhin zogen Familien in die Straße, die nun wieder Frankenstraße<br />

hieß und in der die Prostitution illegal weitergeführt wurde, da einige<br />

Frauen ihre Häuser inzwischen erworben hatten. So wohnten 1931 neben<br />

58 Familien noch 48 Prostituierte in der Straße. Zwei Jahre später führten<br />

die Nazis die Kontrollstraße mit alter Funktion und Namen wieder ein.<br />

Nach 1945 wurde sie notdürftig instandgesetzt und blieb bis heute – trotz<br />

aller Umnutzungspläne – als Straße der Prostitution erhalten.<br />

1 Sonnenburg, Die Bremer Controlstraße,<br />

in: Archives of Dermatological<br />

Research 38 (1897), 1, S. 77–85,<br />

hier: S. 84, zitiert nach: Schöck-<br />

Quinteros/Dauks Sigrid: Der Fall<br />

Kolomak, Bremen, 2010, S. 327.<br />

Z u m We i t e r l e s e n<br />

| Eva Schöck-Quinteros/Sigrid Dauks:<br />

›Wußten Sie, daß Ihre Tochter Herrenverkehr<br />

hatte?‹ – Der Fall Kolomak,<br />

Bremen, 2010.<br />

| Elisabeth Meyer-Renschhausen:<br />

Weibliche Kultur und soziale Arbeit.<br />

Eine Geschichte der Frauenbewegung am<br />

Beispiel Bremens. 1810–1927, Köln, 1989.<br />

| Johann-Günther König: Die feine<br />

Bremer Art … Anmerkungen zur<br />

bremischen Sittengeschichte, Bremen,<br />

1982.<br />

F o t o : MARINA LILIENTHAL<br />

D I E R C K W I T T E N B E R G<br />

SEXAPPEAL FÜR<br />

DIE ÜBERSEESTADT<br />

›Die Taschen waren voller Geld‹ heißt das Buch, in dem Frauke Wilhelm die<br />

Hafen- und Rotlichtgeschichten von der Waller ›Küste‹ der 50er und 60er Jahre<br />

festgehalten hat. Auch in ihrer Rolle als Bardame Ramona Ariola lässt die 48-<br />

Jährige diese Zeit wieder aufleben. 2011 mischte sie für 72 Stunden die Hafenbar<br />

Krokodil auf. Derzeit ist sie mit der Hafenrundfahrt ›Golden City unterwegs‹<br />

und möchte, am liebsten noch in diesem Jahr, die legendäre Bar ›Golden<br />

City‹ vorübergehend wieder auferstehen lassen.<br />

Wie viel Nostalgie spielt bei der Beschäftigung mit der Waller<br />

›Küste‹ eine Rolle?<br />

Viele der Zuschauer, die zu meinen Veranstaltungen kommen,<br />

kommen erst einmal wegen der Nostalgie, um sich an diese Zeit<br />

zu erinnern, in der sie als Kleinbürger einen Anteil an der Entwicklung<br />

dieser Stadt hatten. Das ist Teil ihrer Identität, die mit dem<br />

Überseehafen zugeschüttet wurde.<br />

Ich glaube aber, dass es weit über das Erwecken von Nostalgie<br />

hinausgeht. Das Buch verknüpft Stadtgeschichte mit Erinnerungen,<br />

mit Nostalgischem, aber auch mit Verrücktem und einem Kapitel<br />

›Kapriolen der Stadtplanung‹. Das Konzept hinter den Veranstaltungen<br />

heißt: Kann man mit den Energien, die in dieser Hafengeschichte<br />

und in der besonderen Geschichte dieser Kleinbürger stecken –<br />

Plietschheit, Gemeinschaft, Aufbruch und Hang, aus Provisorischem<br />

etwas zu machen –, kann man mit diesen Qualitäten heute etwas<br />

zur Stadtentwicklung in der Überseestadt beitragen? Was das<br />

›Golden City‹ und die anderen Kneipen verkörpert haben – ich sage<br />

immer als Ramona: ›Titten, Theken, Temperamente‹, man kann<br />

aber auch sagen: ›Identität, Lebendigkeit, ein bisschen <strong>Sex</strong>appeal‹ –<br />

ist etwas, das der Überseestadt ganz, ganz eindeutig fehlt.<br />

Gibt es eine Anekdote, die besonders gut zusammenfasst, wie es<br />

damals an der Küste zuging?<br />

Einerseits gibt es den Mietwagenfahrer Bernie Becker und eine<br />

meiner liebsten Geschichten von ihm ist: Wenn die Finnen und<br />

die Norweger da waren und die ein halbes Jahr gefahren waren und<br />

dann ausgemustert hatten, dann kriegten die die ganzen Überstunden<br />

ausgezahlt. Also, deren Taschen waren wirklich voller Geld,<br />

das quoll raus. Eine andere Geschichte ist von einer Prostituierten,<br />

die sagte: ›Für mich ist das ein Geschäft. Der Freier zahlt und<br />

ich biete was. Aber dann woll’n se immer noch ein bisschen mehr<br />

und noch ein bisschen mehr. Dann hab ich gesagt: Pass mal auf,<br />

›Titten, Theken, Temperamente‹,<br />

man kann<br />

aber auch sagen:<br />

›Identität, Lebendigkeit,<br />

ein bisschen <strong>Sex</strong>appeal‹<br />

– ist etwas,<br />

das der Überseestadt<br />

ganz, ganz eindeutig<br />

fehlt. Bardame Ramona<br />

mein Freund: Jetzt gehst du nach Karstadt oder nach Hertie, willst<br />

dir’n Anzug kaufen und der kostet 300 Mark. Und du willst ein<br />

passendes Oberhemd, Schlips willst du auch noch und die passenden<br />

Schuhe. Sag mal, meinst du, das ist in den 300 Mark alles<br />

mit drin?‹ Und der sagt dann: ›Nee.‹ Und sie sagt: ›Siehste.‹<br />

Eine Frage, die im Buch auch aufgeworfen wird, ist die nach<br />

der Rolle der Frauen. Einerseits haben Frauen nach dem<br />

Krieg selbständig für ihre Familie gesorgt, wenn die Männer<br />

tot oder verletzt waren. Und andererseits gibt es das Bild<br />

von Prostitution, das von Elend und Zwang bestimmt ist. Was<br />

trifft denn eher zu?<br />

In der direkten Nachkriegszeit, als die Frauen durch Not gelernt<br />

hatten, dass sie ihren Mann stehen und sehen müssen, wie sie<br />

im zerstörten Walle zurechtkommen, da gab es eine kurze Zeit, in<br />

der die Möglichkeit, als Prostituierte Geld zu verdienen, nicht so<br />

stigmatisiert war wie später. Da muss es eine selbstbewusste Art<br />

von <strong>Sex</strong>arbeiterin gegeben haben, die auf eine Art das vorweggenommen<br />

hat, was nachher die Frauenbewegung wieder erstritten<br />

hat. Und dazwischen gab es eine Zeit, die in ganz Deutschland<br />

massiv von einem Sittenkampf gekennzeichnet war. Der hieß konkret:<br />

Frauen wieder raus aus der Arbeit, Frauen wieder ran an<br />

den Herd, Frauen auf keinen Fall in leitende Positionen. Das hieß<br />

auch: Alles, was selbstbestimmte <strong>Sex</strong>ualität hieß, als asozial zu<br />

stigmatisieren, und den Beruf der Prostituierten wieder als Hure,<br />

Nutte geringzuschätzen. Auf den Bildern im Buch sieht man,<br />

dass das Frauen sind, die selbstbewusst in ihrem Milieu – auch<br />

geschützt durch dieses Kneipenmilieu – ihrer Tätigkeit nachgegangen<br />

sind. Da kann es, genau wie heute, einige gegeben haben,<br />

für die das Not und eine ganz furchtbare Tätigkeit war, und es<br />

kann einige gegeben haben, die, genau wie heute, sagen: Das ist<br />

mein Beruf, das kann ich am besten, das will ich so machen.

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