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Die Liste (Kurzgeschichte)

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<strong>Die</strong> <strong>Liste</strong><br />

von Kurt In Albon<br />

D:\Data Center\Documents\Private\Stories\<strong>Die</strong> <strong>Liste</strong>.doc 1 29.12.2005


Er strich leicht mit seiner rechten über ihr weiches Haar. Sie lächelte. Er fühlte noch die Wärme an seinem<br />

Körper, ihre Wärme. Ihre Nähe liess ihn den Alltag vergessen.<br />

Er stand auf. Sie stützte sich auf ihren Ellenbogen und schaute ihm zu, wie er sich anzog.<br />

„Willst Du wirklich schon wieder weg?“ fragte sie. Es war immer dieselbe Frage, vor der er sich fürchtete, und<br />

dieselbe Lüge, wenn er antwortete.<br />

„Ich muss.“ sagte er. „Wenn ich nicht komme, setzen sie mich vielleicht auf die <strong>Liste</strong>.“<br />

Sie liess sich zurücksinken und starrte an die Decke. Er drehte sich um und schaute sie an, während er sein Hemd<br />

zuknöpfte. Er sah sie gern an, wenn sie unter dem dünnen Leintuch lag, wenn er ihre Formen nur erahnen durfte,<br />

sie nur in Gedanken streicheln konnte.<br />

„<strong>Die</strong> <strong>Liste</strong>.“ flüsterte sie verächtlich. „<strong>Die</strong> <strong>Liste</strong>. Immer nur die <strong>Liste</strong>. Was steht eigentlich nicht auf der <strong>Liste</strong>?“ <strong>Die</strong><br />

Frage war nicht direkt an ihn gerichtet. Er zuckte nur leicht mit den Schultern und band sich seine Krawatte. Sie<br />

sah ihm dabei zu. Seine Ruhe verwirrte sie. Sie passte nicht zu der Leidenschaft, die er noch vor kurzem gezeigt<br />

hatte.<br />

„Und wenn wir es einfach versuchen würden? Wenn Du nicht hingingest, wenn wir irgendwohin verschwinden<br />

würden, wenn...“<br />

„Sei ruhig!“ ermahnte er sie leise. Er hatte in seiner Bewegung innegehalten. Sie schien es nicht zu bemerken.<br />

„Wir könnten doch versuchen, ein Schiff zu nehmen, oder ein Flugzeug und dann fliegen wir irgendwohin, wo<br />

uns niemand...“<br />

„Schweig!“ schrie er. Seine Augen funkelten in schwerem Zorn. Sie sah ihn mit offenem Mund an. Er hatte sie<br />

noch nie angeschrieen. Eine Träne begann aus ihrem Augenwinkel zu fliessen, hinterliess eine glänzende Spur auf<br />

ihrer blassen Wange.<br />

„Verzeih'.“ sagte er und setzte sich zu ihr aufs Bett, küsste sie leicht, küsste ihre salzigen Tränen weg. Sanft<br />

drückte er ihren Kopf gegen seine Schulter.<br />

„Bitte - bitte sag so etwas nie wieder.“ flüsterte er eindringlich und sah in ihre grossen braunen Augen. „Nie<br />

wieder.“<br />

Sie schüttelte nur den Kopf, verstand nicht, noch immer kamen Tränen. Er berührte ihre Stirn mit den<br />

Fingerspitzen.<br />

„Du darfst so etwas nicht sagen, bitte!“ sagte er nocheinmal.<br />

„Aber - aber warum nicht?“ fragte sie mit erstickter Stimme. „Was ist so schlimm daran?“<br />

Er schaute ihr in die Augen. Sie erwiderte seinen Blick, ihr Gesicht, ihre ganze Haltung ein einziges Fragezeichen.<br />

Er wich ihrem Blick aus, flüchtete sich wieder in die Immunität, die man hat, wenn man seinem Gegenüber nicht<br />

in die Augen schaut. Er schüttelte den Kopf.<br />

D:\Data Center\Documents\Private\Stories\<strong>Die</strong> <strong>Liste</strong>.doc 2 29.12.2005


„Frag nicht.“ sagte er leise. „Ich - ich weiss es nicht. Aber wenn - wenn man auf die <strong>Liste</strong> kommt, dann lassen sie<br />

einen verschwinden. Ich will nicht, dass Du verschwindest.“<br />

Er schaute sie wieder an. Er glaubte einen leisen Funken von Verstehen in ihrem Gesicht zu erkennen, aber<br />

vielleicht hatte er sich auch nur getäuscht.<br />

Er nahm sein Jacket vom Haken und den Mantel. Sie hatte ihren starren Blick keine Sekunde von ihm abgewandt.<br />

Er spürte ihn wie einen Vorwurf in seinem Nacken. Langsam knöpfte er den Mantel zu. Dann drehte er sich<br />

wieder zu ihr um.<br />

Sie war aufgestanden, das Leintuch um sich gewickelt, kam sie auf ihn zu.<br />

Er nahm sie in den Arm, und sie war ganz leicht.<br />

„Ich liebe Dich.“ sagte sie.<br />

Er nickte.<br />

„Ja. Ich weiss.“ Seine Stimme klang rauh. Bevor er ging, küsste er sie noch einmal, und ihre Lippen schmeckten<br />

nach Trauben. Er nahm seine Tasche und verliess das Zimmer.<br />

Er war leer und ausgebrannt, er hörte seine eigenen Schritte nicht. Mechanisch setzte er einen Fuss vor den<br />

anderen.<br />

Das Kreischen der Zugsbremsen schmerzte heute nicht in seinen Ohren, und er setzte sich nicht an einen<br />

Fensterplatz.<br />

Irgendwann öffnete er seine Tasche und nahm einen Stapel Papiere daraus hervor. Er nahm den Deckel vom<br />

Füllfederhalter und schrieb ihren Namen zuunterst auf die <strong>Liste</strong>.<br />

Eine Träne verschmierte seine Schrift.<br />

Kurt In Albon, Eggerberg, den 21.1.1991 23 Uhr nachts.<br />

D:\Data Center\Documents\Private\Stories\<strong>Die</strong> <strong>Liste</strong>.doc 3 29.12.2005

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