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Prolog<br />
Lautlos zogen ihre riesigen Schwingen Kreise am Himmel und<br />
der helle Mondschein warf ihre bewegten Schatten auf das<br />
Geschehen. Das Flackern der vier Kerzen neben ihrem Kopf<br />
entstellte ihr liebliches Gesicht zu einer verzogenen Fratze. Zwei<br />
lächelnde Augen betrachteten sie. Ihr Rock war hochgeschoben<br />
und gab den Blick frei auf die gekräuselten Haare ihres<br />
Geschlechts. Trotz seiner schlecht verhüllten Verachtung, stand<br />
eine tiefe Befriedigung in seinem Gesicht, als er sein Werk<br />
begutachtete und die Lust, die sich seiner bemächtigte, es immer<br />
wieder zu tun, durchfuhr ihn wie ein wohliger Schauer. Aber sein<br />
Kopf war kühl, als flösse eisiges Wasser hindurch. Immer wieder<br />
hallten die Worte in seinen Ohren. Du bist Gottes Werkzeug, du<br />
bist der Auserwählte, diesem Treiben Einhalt zu gebieten und jetzt<br />
geh mit Gott mein Sohn. Er stopfte Nadel und Faden in seine<br />
Hosentasche, wandte sich, gedankenverloren aber sichtlich<br />
entspannt, ab, putzte sich seine Nase und verschwand im<br />
Schatten der großen Eiche.<br />
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Kapitel 1<br />
Noch wussten die Menschen nichts vom Unheil, welches über<br />
der ältesten Stadt der Schweiz wie dunkle Wolken heraufzog. In<br />
Chur nahm alles seinen gewohnten Gang. Die glühende<br />
Mittagssonne umfasste die Stadt mit ihren gierigen Pranken und<br />
ließ den Menschen Schweiß aus den Poren treten, wie wenn sie<br />
den letzten Tropfen aus ihren Leibern pressen wollte. So auch auf<br />
dem Kommando der Kantonspolizei, wo manch einer ein Stoßgebet<br />
gen Himmel sandte und den lieben Gott um den ersehnten<br />
Feierabend bat.<br />
Doch daraus wurde vorerst nichts. Im stadtnahen Wald fand<br />
man eine weibliche Leiche und die vierköpfige Spurensicherung<br />
war bereits auf dem Weg dorthin. Eilends stellte auch<br />
Chefadjutant Jan Monsch, dem man in solch seltenen Fällen gern<br />
die Leitung übertrug, eine vierköpfige Untersuchungsgruppe<br />
zusammen, die nun in Richtung Tatort aufbrach. Die Gruppe<br />
bestand aus Corina Barandun, Paul Vinzens, Erhard Caviezel und<br />
Niklaus Caderas. Die Meldung ging durch einen anonymen<br />
Telefonanruf ein, was auch immer das bedeuten mochte?<br />
Als Monsch mit seinen Leuten am Ort des Verbrechens eintraf,<br />
machte blankes Entsetzen die Runde. Die Leiche war auf einem<br />
Holzgestell aufgebahrt, flankiert von vier noch brennenden Kerzen<br />
und Monsch konnte sich denken, wie dieser Anblick bei Nacht<br />
ausgesehen haben musste. Er schätzte die Frau auf etwa zwanzig<br />
Jahre. Ihr Rock war hochgeschlagen und gab den Blick frei auf ihr<br />
Geschlecht. In beiden Händen und Füßen steckten Zehnernägel in<br />
einer Kruste gestockten Blutes. Aus ihrer Vagina ragte ein<br />
hölzernes Kruzifix mit einer geschnitzten Jesusfigur und auf ihrer<br />
Brust lag schön zusammengerollt, wie das Symbol einer Schlange,<br />
ein Rosenkranz. Unterhalb des Brustkorbs steckte ein Dolch bis<br />
zum Schaft in ihrem Fleisch und auf dem blutenden Haupt saß<br />
3
eine Dornenkrone. Doch was Monsch am meisten erschreckte,<br />
anstelle der Augen, gähnten ihm zwei riesige Löcher entgegen. Es<br />
war als ob sie nicht sehen durfte, was hier geschehen war.<br />
»Was denkst du?«, fragte Monsch Corina, die fassungslos neben<br />
ihm stand. Monsch schätzte Corina mehr als alle anderen der<br />
Ermittlungsgruppe. Mit ihren sechsundzwanzig Jahren, war sie<br />
bereits weiter als die Meisten, und wer ihr zu Nahe trat, machte<br />
Bekanntschaft mit ihrer Kampfkunst, die sie seit Jahren betrieb.<br />
Aber auch ihr Äußeres war eine Augenweide, welches durch ihre<br />
langen, dunklen Haare, die athletische Figur und ihre blauen<br />
Augen noch unterstrichen wurde. Wie alle anderen, nannte auch<br />
sie ihren Chef nicht beim Vornamen, sondern einfach nur Monsch.<br />
Sie war erst seit zwei Jahren bei der Kriminalpolizei und doch<br />
bereits Monsch' bestes Pferd im Stall.<br />
»Ritualmord?«, sagte Corina.<br />
»In diese Richtung könnte es gehen.« Monsch wandte sich an<br />
die Leiterin der Spurensicherung, gleichzeitig Pathologin, die sich<br />
breitbeinig an der Leiche zu schaffen machte und fragte: »Gibt es<br />
schon Hinweise auf die Identität?«<br />
»Nein«, antwortete Sabine Müller, »keine Ausweise, keine<br />
Geldbörse, nichts was auf ihre Herkunft hindeutet.«<br />
»Todeszeitpunkt?«<br />
»Etwa zwei Uhr morgens plus minus zwei Stunden. Das einzige<br />
was mir bekannt vorkommt sind die Kerzen, die habe ich schon<br />
mal irgendwo gesehen. Aber frag mich jetzt bitte nicht wo?«<br />
Vorsichtig entfernte Sabine Müller das Kruzifix und ließ es in<br />
einem Plastikbeutel verschwinden. Dann spreizte sie die Beine der<br />
Toten und drehte sich kopfschüttelnd zu Monsch. »Die Vagina ist<br />
zugenäht. Ob zuvor eine Penetration stattfand, weiß ich erst<br />
später.«<br />
»Kannst du etwas zur Todesursache sagen?«, fragte Monsch.<br />
4
»Verblutet ist sie jedenfalls nicht. Aber genaueres wird die<br />
Obduktion ergeben.«<br />
Monsch wandte sich an seine Mitarbeiter. »Ich sehe euch alle in<br />
einer halben Stunde im Konferenzraum. Du Corina, fährst mit mir<br />
zurück.«<br />
»Alles klar«, sagte Corina.<br />
Monsch drehte sich um und ging langsam Richtung Wagen,<br />
Corina im Schlepptau.<br />
»Was hältst du von der ganzen Geschichte?,« fragte Corina.<br />
»Schwer zu sagen. Auf jeden Fall ist der Täter verrückt.«<br />
»Oder die Täterin.«<br />
»Wie kommst du darauf, dass es eine Frau sein könnte?«<br />
»Ich weiß, es klingt unwahrscheinlich, war nur so eine Idee.<br />
Aber ausschließen können wir's natürlich nicht.«<br />
»Nein«, meinte Monsch, »aber was ist dir am meisten<br />
aufgefallen am Tatort?«<br />
Corina überlegte. »Denkst du an das Kruzifix?«<br />
»Genau, und wo war dieses verdammte Kreuz?«<br />
»Es steckte in ihrer Scheide.«<br />
»Und weiter?«<br />
»Der Rest der Vagina war zugenäht.«<br />
»Was sagt uns das?«<br />
»Entschuldige, aber ich weiß nicht was du meinst?«<br />
»Denk mal an eine Ordensschwester. Welcher Mann hat als<br />
einziger noch Zugang zu ihr?«<br />
»Nicht schlecht, Jesus Christus natürlich. Und du meinst der<br />
Mörder will uns sagen, dass jetzt nur noch dieser Jesus Zugang zu<br />
ihr hat und dafür musste sie sterben?«<br />
5
»So in etwa könnte ich mir ein mögliches Motiv vorstellen.«<br />
»Aber was ist mit der Dornenkrone und dem Messer im Bauch?«<br />
»Jesus soll ja für unsere Sünden gestorben sein. Aber wichtig ist<br />
hier, wie er gestorben ist. Er hat gelitten für unsere Sünden, und<br />
genau das sollte diese junge Frau auch.«<br />
»Das setzt aber voraus, dass sie welche hatte?«<br />
»Wer hat die nicht? Könnte aber auch sein, dass andere welche<br />
hatten und sie stellvertretend sterben musste. Aber darauf möchte<br />
ich eigentlich nicht hinaus.«<br />
»Worauf denn?«<br />
»Sie muss irgendetwas getan haben, was in den Augen des<br />
Mörders eine große Sünde ist.«<br />
Monsch suchte ein Taschentuch, konnte aber keins finden. Er<br />
wusste nur zu gut, um das Problem mit seiner Nase, die praktisch<br />
ununterbrochen lief. Die Angewohnheit, die sich daraus<br />
entwickelte, war mehr als lästig und das dauernde Hinaufziehen,<br />
für alle in seiner Umgebung, höchst unangenehm.<br />
»Du meinst, dass diese junge Frau zuviele<br />
Männerbekanntschaften pflegte.«<br />
»Etwas in der Art. Würde mich kaum wundern, wenn sie aus<br />
dem Milieu wäre. Aber lass uns hören, was die andern meinen, wir<br />
sind gleich da.« Monsch parkte den Wagen. Er war nicht ein<br />
sonderlich guter Autofahrer und zeigte bisweilen große Mühe,<br />
besonders wenn es ums Einparken ging. Dafür war sein Hirn<br />
große Klasse, Zusammenhänge zu erkennen. Mit seinen<br />
einsneunzig an Körpergröße überragte er die meisten im<br />
Polizeikommando. Er war eine durchaus attraktive Erscheinung,<br />
der auch die Narbe auf der Backe keinen Abbruch tat. Auch seine<br />
Methoden waren nicht immer nachvollziehbar und gewisse<br />
Mitarbeiter schüttelten des Öfteren den Kopf, um anschließend<br />
eines besseren belehrt zu werden. Die einzige Mitarbeiterin, die<br />
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ihm jeweils die Stange hielt, war Corina, aber das hatte auch<br />
andere Gründe. Trotz seiner erst siebenunddreißig Jahre war<br />
Monsch der klare Senior der Ermittlungstruppe, denn alle<br />
anderen, kamen als gut zehn Jahre jüngere Exemplare daher.<br />
Einzig Paul reichte, mit seinen einunddreißig Jahren, etwas<br />
näher an ihn heran, aber es war auch immer Paul, der sich<br />
lauthals gegen ihn stemmte. Seine stets zerzausten roten Haare<br />
sahen aus, wie ein achtlos hingeworfener Haufen rostiger Nägel.<br />
Man sah an seinem verdrießlichen Gesicht, welches er immer<br />
aufsetzte, wenn Monsch in der Nähe war, dass sie nicht auf der<br />
gleichen Party tanzten. In seiner Karrieregeilheit führte er sich<br />
bisweilen auf wie ein zweitklassiger Stierkämpfer in einer<br />
spanischen Arena. Es schien, als würde Monsch dem lieben Paul<br />
im Weg stehen, und daraus machte dieser auch keinen Hehl. In<br />
einem waren sich alle einig. Sie mochten Paul ungefähr so, wie<br />
eine saure Gurke zum Frühstück, aber das schien diesen nicht zu<br />
stören. Anderer Meinung zu sein wie Monsch, gehörte deshalb bei<br />
Paul zum guten Ton.<br />
Monsch mühte sich mit dem Kaffeeautomaten ab, der<br />
wiedereinmal weder das Getränk noch Wechselgeld ausspucken<br />
wollte, von einer Geldrückgabe ganz zu schweigen. Geduld war<br />
nicht seine Stärke und so war es denn auch nicht verwunderlich,<br />
dass der Automat jeweils ganz schön Haue bezog, wenn er<br />
wiedereinmal nicht so wollte wie Monsch dachte, und dass die<br />
Reparaturen des guten Stücks nicht schon seinem Gehalt<br />
abgezogen wurden, grenzte an ein kleines Wunder.<br />
Langsam trudelte die Ermittlungsgruppe ein. Monsch saß am<br />
oberen Ende des langen Tisches, dessen Ecken so abgewetzt<br />
waren, dass der Eindruck entstehen konnte, die Polizisten würden<br />
jedesmal die Kurve schneiden und einen Teil des guten Stücks<br />
mitnehmen.<br />
7
»Setzt euch bitte«, sagte Monsch. »Mord gehört nicht gerade zu<br />
unserem täglichen Geschäft, darum erwarte ich von allen hier<br />
größten Einsatz. Ihr alle wart am Tatort und ich möchte jetzt eure<br />
Meinung dazu. Erhard du kannst beginnen.«<br />
Es war natürlich Paul, der sich übergangen fühlte und sich<br />
gleich zu Wort meldete, doch daran störte sich längst niemand<br />
mehr.<br />
»Also für mich ist dieser Fall sonnenklar. Wir haben es hier mit<br />
einem Verrückten zu tun und damit basta.«<br />
»Mehr hast du dazu nicht zu sagen? Das ist nicht mehr als<br />
Ameisenscheiße«, sagte Monsch. Paul zuckte nur abschätzig mit<br />
den Schultern.<br />
»Was meinst du Erhard?«<br />
»Vielleicht ein religiöser Spinner?«<br />
»Also«, sagte Monsch, »ich möchte, dass ihr alle die<br />
Tatumstände zu etwas am Tatort in Bezug bringt. Was kommt euch<br />
spontan in den Sinn bei Kruzifix, Rosenkranz, Dornenkrone,<br />
zugenähter Vagina und einem Dolch, der seitlich im Bauch<br />
steckt?«<br />
»Was soll denn der Scheiß nun schon wieder«, meinte Paul<br />
sichtlich aufgebracht. »Es ist genauso gut möglich, dass uns der<br />
Mörder auf eine falsche Spur bringen will und das ganze nur<br />
inszeniert hat, um uns in die Irre zu leiten. Ich halte das sogar für<br />
sehr wahrscheinlich.«<br />
»Es ist in diesem Stadium der Ermittlungen grundsätzlich alles<br />
möglich«, sagte Monsch sichtlich genervt. Und jetzt macht euch<br />
an die Arbeit. Fünf Minuten, dann habe ich Antworten.«<br />
In diesem Moment ging die Türe auf und Staatsanwalt Enrico<br />
Weißmüller trat ein.<br />
»Lassen Sie sich nicht stören.« Er schritt demonstrativ durch<br />
8
den Raum, vermochte Monsch aber nicht zu verunsichern. Vor<br />
dem Fenster blieb er stehen und blickte hinaus. Er besaß die<br />
unangenehme Angewohnheit, auf die Zehenspitzen zu stehen und<br />
auf und ab zu wippen, wie wenn er seiner kleinen Statur zu mehr<br />
Achtung verhelfen wollte. Sein Mäusegesicht wurde von einer<br />
langen, spitzen Nase dominiert. In den Augen von Monsch war er<br />
nicht mehr als ein aufgeblasener kleiner Schnösel, der von<br />
Polizeiarbeit nicht die geringste Ahnung hatte und sich bei jeder<br />
passenden oder unpassenden Gelegenheit auf sein Jurastudium<br />
berief, wie wenn schon allein der Gedanke daran, Unfehlbarkeit<br />
vermitteln würde. Mit seinen einunddreißig Jahren war er auch<br />
noch ziemlich jung, doch dies schien seine Arroganz nicht zu<br />
schmälern. Ein Arroganz, die ihm scheinbar in die Wiege gelegt,<br />
und die sich meist dann bemerkbar machte, wenn er in<br />
Entscheidungsnotstand geriet.<br />
Sein Vater bekleidete das Amt eines Stadtrats und dieser<br />
Umstand verhalf ihm wahrscheinlich auch zu seiner jetzigen<br />
Position. Zwar sollten seine langsam ausfallenden Haare an den<br />
Schläfen Intelligenz markieren, doch es blieb bei einem Versuch.<br />
Er war bekannt dafür, vorschnelle Entscheidungen zu treffen,<br />
sofern er sich überhaupt für etwas entschied. Dass aus seiner<br />
Kehle mal was Vernünftiges drang, was nur annähernd zur Lösung<br />
eines Falles beitrug, war genau so unwahrscheinlich wie Wasser in<br />
der Wüste, und wenn sich dann doch einmal eine geistige Oase<br />
zeigte, war sie mit Sicherheit ausgetrocknet. Es war die<br />
Entscheidung seines Vaters, die ihn für den Anwaltsberuf gefügig<br />
machte, denn sein Rechtsempfinden lag jenseits von Gut und Böse.<br />
So verlegte er sich auch des Öfteren aufs Intrigieren, einer<br />
Tätigkeit, die ihm besser zu liegen schien. Bei den wenigen<br />
Pressekonferenzen glänzte er so lange mit Abwesenheit, bis der<br />
Fall gelöst war, und verkaufte dessen Aufklärung dann gleich so,<br />
wie wenn er im Alleingang dafür verantwortlich wäre.<br />
»Sie sollen sich nicht stören lassen«, ertönte es wieder aus<br />
9
Richtung Fenster.<br />
»Lass hören Corina«, sagte Monsch.<br />
»Ich habe etwas über unser Gespräch im Auto nachgedacht,«<br />
»Hab ich's mir doch gedacht, dass ihr zwei wieder eure höchst<br />
private Konferenz hattet?«, meldete sich Paul wiedereinmal.<br />
»Lass sie ausreden, du bist noch früh genug an der Reihe.«<br />
»Also«, begann Corina von vorn. Bei Dornenkrone kommen mir<br />
gleich die Gedanken an Schmerz, Bestrafung und Jesus. Der<br />
Rosenkranz, man betet ihn, wenn man gesündigt hat, so als Busse,<br />
wenn ich mich recht erinnere. Kirche kommt mir dabei in den<br />
Sinn, katholische Kirche. Beim Kruzifix, Abschreckung, Jesus,<br />
Symbol. Die zugenähte Vagina könnte das Zurückgeben der<br />
Jungfräulichkeit bedeuten.«<br />
»Was soll denn das Ganze«, unterbrach Paul. »Muss ich jetzt<br />
erst Theologie studieren, um einen Fall zu lösen?«<br />
»Quatsch nicht immer dazwischen«, ärgerte sich Monsch. »Das<br />
mit dem Zurückgeben der Jungfräulichkeit finde ich einen<br />
interessanten Ansatz. Etwas Geschehenes ungeschehen machen<br />
und durch den Tod künftig verhüten. Hat sonst noch jemand eine<br />
Anmerkung?«<br />
»Den Dolch erwähnten wir noch nicht«, meinte Niklaus. »Wenn<br />
wir bei der Religion bleiben, hatte unser Jesus genau dort auch<br />
eine Verletzung.«<br />
»Die war aber, so viel ich weiß nicht tödlich«, meckerte Paul.<br />
Monsch ging gar nicht erst auf ihn ein und sagte: »Paul, du<br />
beschäftigst dich mit der Identität der Toten. Wir sollten dringend<br />
in Erfahrung bringen, wer sie ist, damit wir weiterkommen.<br />
Erhard und Niklaus, ihr tragt alle Daten der SpuSi zusammen.<br />
Jedes kleinste Detail ist wichtig. Corina, du kommst mit mir in die<br />
Gerichtsmedizin.«<br />
10
»Die fette Beute bekommen natürlich der Chef und diese Zicke«,<br />
murmelte Paul.<br />
»Ist was?«<br />
»Nein, ich habe nur laut gedacht.«<br />
Weißmüller meldete sich zu Wort. »Ich verlange, dass dieser Fall<br />
schnellstmöglich aufgeklärt wird, haben Sie mich verstanden<br />
meine Damen und Herren? Ein Mord in unserer Stadt ist schlimm<br />
genug, und die Presse wird sich nicht mehr lange in Stillhalten<br />
üben. Resultate müssen her, wie auch immer. Also sitzt nicht<br />
untätig herum und fasst diesen Kerl endlich.«<br />
»Und, haben Sie eine Idee, wie wir das tun sollen?«, fragte<br />
Monsch.<br />
»Na wie wohl, durch effiziente Polizeiarbeit natürlich und das<br />
ist allein ihre Sache. In diesem Raum versteckt sich der Mörder<br />
mit Sicherheit nicht, also beschränken Sie Ihre Diskussionen auf<br />
das Nötigste.« Weißmüller wippte noch dreimal auf und ab, drehte<br />
sich um und verschwand. Monsch wusste nur zu genau, dass er<br />
aus dieser Ecke keine Hilfe erwarten konnte, aber er war nun<br />
einmal der Staatsanwalt und dagegen schien scheinbar kein Kraut<br />
gewachsen.<br />
Das Sitzungszimmer leerte sich allmählich und Corina und<br />
Monsch blieben allein zurück.<br />
»Die Müller hat doch die Kerzen erwähnt, und dass ihr diese<br />
bekannt vorkommen«, meinte Corina. »Sollten wir nicht versuchen<br />
herauszufinden, woher sie stammen? Wir könnten vielleicht sogar<br />
den Hersteller ermitteln?«<br />
»Ich denk darüber nach, gehen wir?«<br />
Die Gerichtsmedizin befand sich in den Räumlichkeiten des<br />
Kantonsspitals und da Corina wusste, wie sehr Monsch<br />
11
Parkhäuser hasste, bestand sie darauf, selbst zu fahren.<br />
Monsch drückte den Liftknopf und der Aufzug brachte sie zwei<br />
Stockwerke nach unten. Es roch nach Desinfektion und seine Nase<br />
begann wiedereinmal zu laufen. Er tat den obligaten langen<br />
Schneuzer und zog den Rest der schleimigen Angelegenheit<br />
genüsslich nach oben.<br />
»Gegen deinen Schnupfen solltest du wirklich mal etwas<br />
unternehmen«, meinte Corina.<br />
»Halb so wild«, sagte Monsch, während er die Türe zur<br />
Pathologie aufstieß. Wenn er auch schon eine gesehen hatte,<br />
genossen Leichen seinen Respekt, aber wahrscheinlich nur<br />
deshalb, weil sie in der kleinen Alpenstadt nicht allzu häufig<br />
auftauchten. Die Tote lag auf den Seziertisch und Sabine Müller<br />
war gerade dabei, den Brustkorb zu öffnen. Monsch schaute<br />
angewiderte zur Seite.<br />
Corina, der das weniger auszumachen schien, fragte keck: »Gibt<br />
es schon neue Erkenntnisse?«<br />
»Allerdings gibt es die«, sagte die Müller und schaute Corina<br />
kurz in die Augen. »Also wenn ihr mich fragt, kommt diese Frau<br />
eindeutig aus dem Milieu.«<br />
»Und woran erkennt man das?«, fragte Monsch, der sich wieder<br />
etwas gefangen hatte.<br />
»Der Zustand der Vagina deutet auf sehr häufigen<br />
Geschlechtsverkehr hin. Ich habe auch Spermaspuren gefunden,<br />
was darauf hindeutet, dass sie eine von jenen war, die es mit der<br />
Gesundheit nicht allzu ernst nehmen. Auch die Kleidung, die sie<br />
trug, würde zum Milieu passen. Sie war sehr auffällig geschminkt<br />
und … Sabine drehte die Leiche … hier am Po hat sie eine<br />
Tätowierung, die meines Erachtens für eine Frau eher<br />
ungewöhnlich ist. Sie stellt einen Geißbock dar, der von hinten<br />
12
eine Frau besteigt, der erigierte Penis ist deutlich zu sehen, hier<br />
ist das Foto dazu, vielleicht hilft es weiter bei der Identifizierung.<br />
Der Tod der jungen Frau ist durch Erwürgen eingetreten. Der<br />
Dolchstich wurde erst nach ihrem Tod ausgeführt. Für weitere<br />
Details müssen wir noch die Blut- und Urinuntersuchung<br />
abwarten, das ist alles, was ich bis jetzt sagen kann.«<br />
Monsch hatte etwas mehr erwartet, doch die Tätowierung war<br />
doch immerhin ein Anfang. »Corina, kannst du die Tattooläden in<br />
der Stadt abklappern, nachdem du mich abgesetzt hast?«<br />
Spontan kam Corina nur ein Laden in den Sinn und das war<br />
Grischa Piercing, und genau dorthin machte sie sich nun auf den<br />
Weg. Die vielen Jugendlichen, die sich dort versammelten,<br />
überraschten sie. Viele waren mit Sicherheit noch keine sechzehn<br />
Jahre alt. Ob die Eltern von ihrem Treiben wussten? Der Inhaber,<br />
ein etwa dreißigjähriger Mann, der praktisch ausschließlich aus<br />
Tattoos bestand, die auch vor seinen Gesicht nicht halt machten,<br />
begrüßte sie freundlich.<br />
»Mein Name ist Barandun, Kantonspolizei Graubünden.«<br />
»Und, habe ich etwas verbrochen?«, fragte der Besitzer, dessen<br />
Freundlichkeit auch gleich verblasste wie eine ausgeblasene<br />
Kerze.<br />
»Nein, wir suchen nach einem Tattoo, das vielleicht hier<br />
gemacht worden ist?« Corina zeigte ihm das Foto aus der<br />
Gerichtsmedizin.<br />
Der Ladenbesitzer schaute nachdenklich auf die Aufnahme,<br />
dann begann er den Kopf zu schütteln. »Hier ist das mit Sicherheit<br />
nicht gemacht worden, aber der Stil kommt mir sehr bekannt vor.«<br />
»Dann sagen Sie's mir, von wem ist es?«<br />
»Sieht mir nach Roland aus.<br />
13
»Roland, und wie noch?<br />
»Roland Luzi.«<br />
»Und wo finde ich diesen Roland Luzi?«<br />
»Mal hier mal dort. Ich weiß nicht, ob er einen festen Wohnsitz<br />
hat, ist aber häufig im Welschdörfli anzutreffen, wo er seine<br />
Einnahmen, wenn er denn wiedereinmal ein Tattoo gestochen hat,<br />
versäuft.«<br />
»Und wie sieht er aus?«<br />
»Etwa einssiebzig groß, ziemlich dick, blond und Bartträger.«<br />
»Genauer geht’s wohl nicht?«<br />
»Sie können ja fragen, die Leute dort, dürften ihn kennen.«<br />
»Und woher kennen Sie ihn?«<br />
»Er hat mal für mich gearbeitet, aber das ist schon eine ganze<br />
Weile her.«<br />
»Und warum arbeitet er nicht mehr für Sie?«<br />
»Weil er unzuverlässig ist und es mit der Hygiene nicht allzu<br />
genau nimmt.«<br />
Corina machte sich auf ins Welschdörfli, trug sich aber nicht mit<br />
der Illusion, um halb acht bereits jemanden anzutreffen. In einer<br />
mehr oder weniger verruchten Bar, bestellte sie sich eine Cola. In<br />
einer Ecke hingen ein paar Schnapsleichen, wie hingeworfene<br />
Kartoffelsäcke und gierten nach Nachschub, den sie<br />
wahrscheinlich nicht bezahlen konnten. Als der Wirt mit der Cola<br />
antanzte, fragte Corina. »Kennen Sie einen Roland Luzi?«<br />
»Ja, kenn ich, was ist mit ihm?«<br />
»Wo kann ich ihn finden?«<br />
»Wer will das wissen?«<br />
14
»Die Polizei.« Corina hielt ihm ihre Hundemarke unter seine<br />
Nasenflügel.<br />
»Ich weiß auch nicht, wo er sich rumtreibt. Er kommt nur noch<br />
selten her. Versuchen Sie's mal im Cacadu, wenn er flüssig ist,<br />
trifft man ihn dort am ehesten.«<br />
Das Cacadu, eine berühmte oder besser berüchtigte Bar, wo<br />
Freier nicht mehr ganz taufrische Huren abschleppen konnten,<br />
befand sich etwas außerhalb vom Welschdörfli. Schon beim<br />
Eintreten entdeckte Corina einen ziemlich dicken Mann mit<br />
Vollbart und steuerte direkt auf ihn zu.<br />
»Ich suche Roland Luzi, sind Sie das?«<br />
»Und wer sucht Roland Luzi?, antwortete der Mann, dessen<br />
übelriechende Fahne Corina fast eine Ohnmacht bescherte.<br />
»Die Polizei.«<br />
»Dann kannst du dich sicher ausweisen?«<br />
»Corina hielt ihm ihre Marke unter die Nase. »Sie sind Roland<br />
Luzi, hab ich recht?«<br />
»Und wenn, hab ich etwas verbrochen?<br />
»Das weiß ich nicht, aber wenn, werden wir es herausfinden.<br />
Ich zeige Ihnen jetzt ein Bild, und Sie sagen mir, ob Sie es<br />
wiedererkennen?« Sie hielt ihm das Foto hin und fragte:<br />
»Erkennen Sie es wieder?<br />
»Ach wissen Sie. Ich habe in meinem Leben schon so viele<br />
Tattoos gemacht, wie soll ich mich da an alle erinnern?«<br />
»Schauen Sie es sich genau an.« Corina war langsam genervt.<br />
»Könnte von mir sein.«<br />
»Ist es jetzt von Ihnen oder nicht?«<br />
»Ja, es ist von mir.«<br />
15
»Und wem haben Sie es gemacht?«<br />
»Das war glaub ich noch zu der Zeit, als ich bei Grischa Piercing<br />
arbeitete. Muss schon etwa zwei Jahre her sein. Ja jetzt erinnere<br />
ich mich. Es war eine junge Frau, sie kam mit ihrem Zuhälter, der<br />
hat auch das Motiv ausgesucht. Es war eine meiner letzten<br />
Kundinnen dort, anschließend hat er mich vor die Tür gesetzt.«<br />
»Und wie der heißt, der Zuhälter, wissen Sie nicht?«<br />
»Keine Ahnung, aber die im Studio schrieben alles auf.«<br />
Corina stand auf und verließ das Lokal. Zum Aufsuchen des<br />
Tattoo-Studios war es eindeutig zu spät, das musste bis Morgen<br />
warten.<br />
Kapitel 2<br />
Die Hitze machte eine kurze Pause und ein leichter Nieselregen<br />
hüllte die Stadt in einen feuchten Schleier. Die erste Sitzung des<br />
Ermittlerteams war auf elf Uhr angesetzt, genug Zeit für Corina,<br />
noch das Tattoo-Studio aufzusuchen.<br />
»Sie schon wieder?«, dröhnte eine Stimme aus dem<br />
Hintergrund. Vorsichtig bequemte sich der Besitzer nach vorne<br />
und lehnte sich an die Theke.<br />
»Ich habe Roland Luzi gefunden und er sagt, dass er besagtes<br />
Tattoo hier bei Ihnen gemacht hat.«<br />
»Und wann soll das gewesen sein? Er arbeitet seit zwei Jahren<br />
nicht mehr hier.«<br />
»Er sagt vor ziemlich genau zwei Jahren. Sie sei mit ihrem<br />
16
Zuhälter hier angekommen, und der hätte auch das Tattoo<br />
ausgesucht. Sie sei eine seiner letzten Kundinnen gewesen, bevor<br />
Sie ihn entlassen hätten.«<br />
Der Besitzer des Studios begann in seinen Unterlagen zu<br />
nesteln und stöhnte. »Wir schreiben natürlich nur die Namen der<br />
Kunden auf, und nicht welches Tattoo wir ihnen verpassen, aber<br />
ich kann mal nachsehen, wer seine letzten Kunden waren.«<br />
»Können Sie mir eine Kopie machen von all seinen Kunden in<br />
seinem letzten Arbeitsmonat?«<br />
»Kein Problem, aber das dürften nicht gerade viele sein, denn<br />
zum Arbeiten war er definitiv nicht geboren.«<br />
»Um so besser.«<br />
Die Ausbeute aus der Geschichte bestand dann aus ganzen fünf<br />
Namen und Adressen, die Corina dankend entgegennahm. Es<br />
waren drei Frauen und zwei Männer. Auch gut, dachte Corina,<br />
schon wieder eine kleine Einschränkung. Sie setzte sich in ihren<br />
Wagen, nahm das Handy und begann, die angegebenen Nummern<br />
anzurufen.<br />
Bei der ersten Nummer wurde sofort abgenommen und eine<br />
gehässige weibliche Stimme knurrte ein verächtliches »Ja« in den<br />
Apparat. Corina fragte zwei, drei Dinge, wusste schnell einmal,<br />
dass Fehlanzeige war und konnte einen Namen streichen. Bei den<br />
anderen beiden Nummern ging niemand ans Telefon, also<br />
beschloss sie zu den angegebenen Adressen zu fahren.<br />
Sie stand vor einem alten Wohnblock, der sich nach einigen<br />
Verbesserungen und einem neuen Anstrich sehnte und klingelte.<br />
Als sie keine Antwort erhielt, drückte sie einen anderen Knopf.<br />
»Ja, was ist?«, tönte es aus einem Fenster.<br />
»Ich suche Frau Mettler, die wohnt doch hier?«<br />
17
»Und, was wollen Sie von der kleinen Hure?«<br />
»Ich bin von der Polizei, wir suchen sie.«<br />
»Wurde aber auch Zeit, dass endlich etwas geschieht. Das geht<br />
hier jede Nacht zu, wie in einem Freudenhaus. Manchmal schleppt<br />
sie zwei oder drei Typen gleichzeitig an.«<br />
»Ich möchte aber wissen wo sie ist, und wann Sie sie zuletzt<br />
gesehen haben?«<br />
»Jetzt, wo Sie's sagen. Die war seit gestern nicht mehr hier und<br />
letzte Nacht war es seltsam ruhig.«<br />
»Darf ich raufkommen?«<br />
»Wenn's denn sein muss?«<br />
Das Haus sah innen noch schlimmer aus wie von außen. Im<br />
Eingangsbereich stapelte sich der Kehricht, die Wände waren<br />
schwarz, ein Geruch aus Alkohol, Pisse vermischt mit<br />
Angebranntem schlug ihr entgegen. Corina dachte an die<br />
Taschentücher, die Monsch immer fehlten und jetzt, wo sie<br />
dringend selbst eins brauchte, war Fehlanzeige. Die alte Frau<br />
stand bereits unter der Tür, als sie den zweiten Stock erreichte.<br />
Ihre Haare waren so fettig, als ob sie direkt aus einer Fritteuse<br />
käme, die Fingernägel waren abgekaut und die Schürze würde<br />
wahrscheinlich alleine stehen, wenn man sie in eine Ecke stellte.<br />
Corina schaute angewidert zur Seite.<br />
»Wann genau haben Sie Frau Mettler das letzte Mal gesehen?«<br />
»Das habe ich doch schon gesagt. Vor zwei Tagen.«<br />
»Können Sie sie mir beschreiben?«<br />
»Trägt immer Mini, ist ein eher kleines Ding, etwa einssechzig,<br />
lange blonde Haare, schlank, trägt meist mächtige Klunker an<br />
beiden Ohren. Ach ja, sie hat einen richtigen Schmollmund, aber<br />
den braucht sie wahrscheinlich, um die Männer zu bezirzen.«<br />
Die Beschreibung würde passen, dachte Corina. »Hat sie<br />
18
irgendwelche Freunde oder Bekannte?«<br />
»Woher soll ich denn das wissen? Sie wohnt ja erst zwei Jahre<br />
hier.«<br />
»Wo sie vorher gewohnt hat, wissen Sie nicht?«<br />
»Nein, woher auch, interessiert mich auch nicht.«<br />
»Gut, halten Sie sich zu unserer Verfügung, Sie sind im Moment<br />
die Einzige, die sie kennt.«<br />
»Können Sie mir vielleicht verraten, um was es eigentlich<br />
geht?«<br />
»Ja, vielleicht später.« Corina verabschiedete sich von der Alten<br />
und rannte die Treppe hinunter. Es war bereits halb elf, höchste<br />
Zeit ins Büro zurückzueilen.<br />
Monsch schaute vorwurfsvoll auf die Uhr, als Corina eintraf.<br />
»Können wir beginnen?«<br />
»Ja, ich weiß jetzt wer die Tote ist«, sagte Corina. »Sie heißt<br />
Sandra Mettler, war wohnhaft an der Ringstraße.«<br />
»Und wie hast du das rausgefunden?«<br />
»Ganz einfach, ich bin dem Tattoo gefolgt, welches sie auf ihrem<br />
Hintern hatte. Eine Nachbarin sagte mir, sie hätte sie seit zwei<br />
Tagen nicht mehr gesehen und die Personenbeschreibung, die sie<br />
von sich gab, stimmt auch. Sie musste eine Prostituierte sein, die<br />
es manchmal auch gern mit mehreren Männern trieb, nach<br />
Auskunft der Nachbarin.«<br />
»Gute Arbeit«, sagte Monsch, »dann wissen wir jetzt also, wo<br />
wir ansetzen müssen. Uns liegen mittlerweile Fotos der Toten vor.<br />
Ich möchte, dass ihr euch im Milieu umhört und die<br />
entsprechenden Fragen stellt.«<br />
»Das kann ja heiter werden«, meckerte Paul. »Weißt du<br />
19
eigentlich wieviel Leute sich dort herumtreiben?«<br />
»Ach Paul, wie langweilig wäre doch die ganze Polizeiarbeit<br />
ohne deine dauernden Kommentare«, sagte Monsch. »Und jetzt an<br />
die Arbeit, gilt für alle, auch für dich Paul. Um achtzehn Uhr<br />
treffen wir uns wieder und du Corina, bleibst noch einen Moment<br />
hier.«<br />
»Was denkst du?«, fragte Monsch.<br />
»Sieht mir ganz nach einer Aufräumaktion im Milieu aus«, sagte<br />
Corina. »Könnte eine interne Abrechnung sein, aber dagegen<br />
spricht eigentlich die Aufmachung der Leiche. Es sei denn, man<br />
will uns tatsächlich auf eine falsche Fährte führen.«<br />
»Wie dem auch sei«, sagte Monsch. »Auf alle Fälle hat dieser<br />
Mord mit dem Milieu zu tun, auf welche Weise auch immer.<br />
Eigentlich hoffe ich, dass es eine interne Abrechnung war.«<br />
»Warum das denn?«<br />
»Wenn es nicht so wäre, können wir mit Sicherheit in kurzer<br />
Zeit mit einem weiteren Opfer rechnen. Die Wahrscheinlichkeit,<br />
dass Ritualmörder Serientäter sind, ist ziemlich hoch, und wenn<br />
wir es hier mit einem solchen zu tun haben, dann wird’s ziemlich<br />
übel.«<br />
»Da hast du wohl recht.«<br />
Monsch' Telefon klingelte und er griff langsam nach dem Hörer.<br />
»Ja... Monsch.«<br />
»Sabine hier. Die Leiche ist weg.«<br />
»Was weg?«<br />
»Ja weg. Das Kühlfach ist leer. Es muss letzte Nacht passiert<br />
sein. Wir kontrollieren am Morgen natürlich nicht die ganzen<br />
20
Fächer, darum haben wir's erst jetzt festgestellt.«<br />
»Rühre nichts an, ich schicke die Spurensicherung vorbei.«<br />
»Corina, wir müssen los. Aus der Pathologie wurde die Leiche<br />
von Sandra Mettler gestohlen.«<br />
»Was sagst du da? Wer tut denn sowas?«<br />
»Das wüsste ich auch gern, ruf die Spurensicherung und dann<br />
komm, das möchte ich mir selbst ansehen.«<br />
Sabine kam ihnen entgegen, als sie in der Pathologie eintrafen.<br />
»Das ist mir in meiner ganzen Karriere noch nicht passiert. Wer<br />
stiehlt denn eine Leiche? Auf dem Rost liegt ein<br />
Kirchengesangbuch und darauf zusammengerollt ein Rosenkranz.<br />
Es ist aufgeschlagen beim Lied 'Großer Gott wir loben dich' und<br />
jetzt halt dich fest, es ist ein protestantisches Gesangbuch.«<br />
»Jetzt verstehe ich gar nichts mehr. Du meinst ein Rosenkranz<br />
auf einem protestantischen Gesangbuch?«<br />
Monsch überlegte. »Könnte das ein Hinweis sein? Wir müssen<br />
Leute zu allen evangelischen Institutionen in der Stadt schicken.<br />
Wir zwei gehen zur St. Martinskirche.«<br />
»Was soll denn das nun schon wieder«, sagte Sabine.<br />
»Einerseits haben wir es mit Kruzifixen und Rosenkränzen zu tun,<br />
und dann soll die Leiche in einer evangelischen Kirche sein? Da<br />
soll noch jemand schlau werden.«<br />
Zehn Minuten später trafen Monsch und Corina bei der St.<br />
Martinskirche ein. Noch von unterwegs hatte Monsch angerufen,<br />
damit die Türe geöffnet wurde und der Kirchenmesner stand<br />
bereits dort. Das Tor wurde geöffnet und sie sahen schon von<br />
weiten beim Taufstein einen braunen Sarg stehen. Sie gingen<br />
näher und Monsch und Corina streiften sich Gummihandschuhe<br />
21
über. Der Sarg war unverschlossen und der Deckel nur<br />
draufgelegt. Vorsichtig öffneten sie. Es war Sandra Mettler.<br />
»Verstehst du das?«, fragte Corina.<br />
»Was will der Mörder uns sagen?«, antwortete Monsch.<br />
»Sieh mal«, sagte Corina, »da steckt ein Zettel in ihrem Mund.«<br />
Sie griff danach und zog ihn vorsichtig heraus. Sie sollen ruhen,<br />
wo sie hingehören«, las Corina vor.<br />
»Wissen w ir, welchem Glauben Sandra Mettler angehörte?«<br />
»Sie war protestantisch«, sagte Corina.<br />
»Dann gehört sie ja tatsächlich hierhin. Aber warum denn der<br />
ganze Aufwand, sie wäre ja ohnehin da hingekommen.« Monsch<br />
konnte sich keinen Reim darauf machen und ließ die<br />
Spurensicherung ihre Arbeit tun. Sie verließen die Kirche und<br />
traten ins Freie.<br />
»Ich möchte zu gern wissen, was das alles soll? Warum nimmt<br />
jemand das Risiko auf sich, eine Leiche zu stehlen und sie in einer<br />
Kirche aufzubahren, und woher hat er den Sarg? Und dann noch<br />
etwas, arbeitet unser Täter vielleicht nicht allein? Klar mit einem<br />
kleinen Wagen kann man einen Sarg auch allein hierher fahren,<br />
aber trotzdem ist es eigenartig. Nur eines kann ich mit Sicherheit<br />
sagen, es war nicht sein letzter Mord.«<br />
»Was willst du jetzt tun?«, fragte Corina.<br />
»Wir sollten herausfinden, woher der Sarg stammt?«<br />
»Das dürfte nicht allzu schwierig sein, es gibt ja nur einen<br />
Bestatter in Chur.«<br />
Das Bestattungsunternehmen, welches sofort einen Vertreter in<br />
die Kirche schickte, konnte den Sarg nicht zuordnen. »Von uns ist<br />
der jedenfalls nicht«, meinte der Mann.<br />
22
Kapitel 3<br />
Nur wenig Licht drang ins Innere des Zimmers und ein<br />
modriger Gestank erfüllte die hinterste Ritze. An der Wand stand<br />
ein Bettgestell mit einer dünnen Matratze, welche die besten<br />
23
Zeiten längst hinter sich hatte und kaum zu einem erholsamen<br />
Schlaf einlud. Die kahlen Mauern zierte lediglich ein kleines<br />
Kruzifix, welches die seltenen Besucher durch seine Schlichtheit<br />
zu überzeugen suchte. Gegenüber stand ein kleiner Tisch mit einer<br />
aufgeschlagenen Bibel und daneben vier geschnitzte Jesusfiguren,<br />
ein Messer und vier kleine Kreuze. Vor dem Fenster kniete ein<br />
Mann. Sein Oberkörper war nackt und von unzähligen Striemen<br />
übersät. Ein Bußgürtel war um seinen Leib geschlungen, raubte<br />
ihm das Blut aus den Adern und seine nagelbesetzte Peitsche<br />
schlug unaufhörlich auf seinen Rücken. Der rote Saft floss auf den<br />
Boden und sammelte sich zu einer kleinen Pfütze. Eine große<br />
Fliege setzte sich auf seinen Kopf, doch das schien den Mann<br />
wenig oder gar nicht zu stören, dann versank er im Gebet. Eine<br />
Taube setzte sich auf's Fenstersims, flatterte kurz mit den Flügeln,<br />
doch auch dies schien den Mann nicht zu kümmern. Über seinen<br />
Handgelenken hing nun ein Rosenkranz, den er verloren anstarrte.<br />
Wie eine Maschine, die irgendwelche Teile ausspuckt, murmelte er<br />
sein Gebet herunter.<br />
Es klopfte an die Tür, sie öffnete sich und ein großer Mann trat<br />
ein, doch der betende Mann regte sich nicht.<br />
Der große Mann durchschritt das Zimmer und stellte sich hinter<br />
den Betenden. Er legte ihm die Hände auf die Schultern und sagte:<br />
»Du bist Gottes Werkzeug, du hast ihm einen großen Gefallen<br />
erwiesen, doch deine Aufgabe ist noch nicht beendet. Gott wird<br />
erst zufrieden sein, wenn auch das letzte sündige Schaf auf seinem<br />
Opferstock liegt. Brennen sollen sie dieses Mal, aber strafe auch<br />
die, welche an verbotenen Honigtöpfen naschen, und jetzt geh mit<br />
Gott mein Sohn und erfülle deinen Auftrag. Der Herr wird mit dir<br />
sein.«<br />
24
Kapitel 4<br />
Fast zwei Tage sind seit dem Leichenfund nun vergangen, und<br />
25
ein klares Motiv war noch immer nicht in Sicht, als die<br />
Ermittlungsgruppe am Abend erneut zusammentrat. Monsch<br />
glaubte zwar, dass das Milieu eine Rolle spielte und nicht außer<br />
acht gelassen werden sollte, war aber weit davon entfernt, das<br />
Motiv ausschließlich dort zu suchen. Besonders der Diebstahl der<br />
Leiche erhärtete diese These. Paul meldete sich als erster, denn<br />
wenn's ums Milieu ging, gebärdete er sich als Experte.<br />
»Ich habe sechs Zeugen befragt und die haben mir einhellig<br />
geantwortet, dass sich diese Mettler immer ohne Gummi ficken<br />
ließ.«<br />
»Wir haben mittlerweile auch die Blutuntersuchung der<br />
Pathologie vorliegen und demnach war sie HIV-positiv«, sagte<br />
Monsch. »Die DNA-Analyse des Spermas liegt morgen vor, aber<br />
ich würde nicht zuviel dafür geben, dass uns das zum Täter führt.«<br />
»Und warum nicht?«, fragte Paul.<br />
»Jetzt überleg doch mal. Wenn sie es den Freiern ohne Gummi<br />
besorgt hat, können dort problemlos mehrere DNA's zu finden<br />
sein, ohne dass gleich jeder der Täter sein muss. Wichtig wäre<br />
herauszufinden, wo sie jeweils auf ihre Freier wartete.«<br />
»Dazu kann ich was sagen«, meinte Erhard Caviezel. »Meine<br />
Zeugen haben ausgesagt, dass sie immer an der Rossbodenstraße<br />
stand.«<br />
»Gut Erhard. Ich möchte, dass wir heute Abend dort jedes<br />
Fahrzeug kontrollieren, welches bei einer der Damen anhält. Holt<br />
euch Hilfe von der Verkehrspolizei. Die Personalien der<br />
Fahrzeughalter sind aufzunehmen, das Foto muss gezeigt werden.<br />
Ich möchte wissen, wer schon mit unserer Toten zu tun hatte.«<br />
Die Rossbodenstraße ist eigentlich Autobahnzubringer und wird<br />
von Garagen auf der einen, und Groß- und Kleinbetrieben auf der<br />
anderen Seite beherrscht. Da vor acht Uhr abends dort niemand<br />
26
auftauchte, der nach einem Schäferstündchen gierte,<br />
versammelten sich auch die Stadtschwalben nicht vor dieser Zeit.<br />
Im Sommer verschob sich ihre Ankunftszeit gar noch etwas mehr<br />
nach hinten, der fehlenden Dunkelheit wegen. Monsch und Corina,<br />
flankiert von drei Verkehrspolizisten standen stadteinwärts, Paul<br />
Vinzens und Erhard Caviezel stadtauswärts und Niklaus Caderas<br />
patrouillierte auf der Straße. Es war offensichtlich noch etwas<br />
früh, denn bis jetzt hatten sich nur wenige Huren eingefunden. An<br />
guten Tagen konnte man auf diesem Straßenabschnitt gut und<br />
gern zehn oder mehr ausmachen und im Sommer standen sie<br />
ohnehin zahlreicher hier, doch bis zur Stunde glänzten gerade mal<br />
drei.<br />
Immer mal wieder gab es Vorstöße die Prostitution diesen Orts<br />
zu verbieten, doch gefruchtet haben diese Initiativen bisher nur<br />
wenig. Es gab immer wieder Leute, die meinten, das älteste<br />
Gewerbe der Welt ausmerzen zu müssen, doch ohne die geringste<br />
Aussicht auf Erfolg, und wenn doch, tauchten diese<br />
leichtbekleideten Gestalten wenig später andernorts auf.<br />
Die Geschäfte wurden dann jeweils im Schatten der großen<br />
Industriebetriebe erledigt, was auch vereinzelt Voyeure anlockte,<br />
die sich am lustvollen Treiben aufgeilten. Aber auch die Garagen<br />
und Geschäfte in dieser Gegend hatten langsam aber sicher die<br />
Nase voll, da sie jeden Morgen gefüllte Präservative<br />
zusammenkehren mussten.<br />
Mittlerweile war die Zahl der Mädchen auf fünf angewachsen<br />
und Monsch sah gerade den ersten Freier anhalten.<br />
»Es gibt Arbeit«, sagte er zu Corina, die das Gewicht von einem<br />
Fuß auf den anderen verlagerte. Es war ein weißer Renault mit<br />
Bündner Nummer. Monsch konnte nie ganz begreifen, wie man so<br />
offensichtlich anhalten konnte, an einem Ort, wo jeder die<br />
Autonummer sah, aber das war im Moment nicht sein Problem.<br />
Der Wagen fuhr weiter, das Mädchen hat offensichtlich nicht<br />
27
gefallen oder sie wurden sich nicht handelseinig und er hielt bei<br />
der nächsten. Als er wiederum losfuhr, zeigte ihm das Mädchen<br />
den Stinkefinger. Das Auto fuhr stadteinwärts, direkt auf Monsch<br />
und seine Gruppe zu, und ein Verkehrspolizist stellte sich mitten<br />
auf die Straße und hielt den Fahrer auf. Monsch trat zum Wagen.<br />
»Ihre Papiere bitte, Führer- und Fahrzeugausweis.« Der Mann<br />
machte einen gepflegten Eindruck und tat das von ihm Verlangte.<br />
Mit zitternder Hand streckte er Monsch seine Ausweise entgegen.<br />
»Sind Sie öfters hier, Herr Marti?«<br />
»Ich hoffe, dass Sie das jetzt nicht falsch verstehen, wollte doch<br />
nur mal sehen, wie das so ist.«<br />
»Aha, Sie wollten nur sehen, wie das so ist? Und, wie ist es?«<br />
»Na ja, es gibt Besseres.«<br />
»Herr Marti. Wir stehen nicht zu unserem Vergnügen hier. Es ist<br />
ein Mord geschehen und wir müssen von der Annahme ausgehen,<br />
dass das Mädchen von hier verschleppt wurde.«<br />
»Und was habe ich damit zu tun?«<br />
»Ich möchte nur wissen, ob Sie das erste Mal hier sind. Es ist zu<br />
Ihrem eigenen Vorteil, wenn Sie uns die Wahrheit sagen.«<br />
»Wollen Sie mir etwa einen Mord anhängen, nur weil ich mal<br />
kurz angehalten habe?«<br />
»Na ja, eigentlich haben Sie sogar zweimal angehalten.«<br />
»Und, ist das etwa verboten?«<br />
»Ich zeige Ihnen jetzt ein Foto und erwarte von Ihnen, dass Sie<br />
mir ehrlich antworten, ob Sie das Mädchen kennen?«<br />
Monsch reichte ihm die Fotografie.<br />
»Ist das das Mordopfer?“<br />
»Bitte beantworten Sie einfach meine Frage.«<br />
»Nun ja, gesehen habe ich sie auch schon.«<br />
28
»Sie sind also nicht das erste Mal hier?«<br />
»Na ja, ums genau zu sagen, nein.<br />
»Hatten Sie etwas mit der Dame? Es ist wirklich nur zu Ihrem<br />
Besten, wenn sie uns jetzt die Wahrheit sagen.«<br />
»Vor drei Tagen«, sagte Marti.<br />
»Was war vor drei Tagen?«<br />
»Ja eben, Sie wissen schon.«<br />
»Sie hatten also Sex mit ihr?«<br />
»Ja, so kann man es nennen.«<br />
»Hatten Sie ungeschützten Verkehr mit ihr?«<br />
Marti schluckte. »Ja, sie ist ja die Einzige hier, die sowas macht.<br />
Viele meiner Freunde kommen nur ihretwegen hierher.«<br />
»Sind Sie verheiratet?«<br />
»Was hat denn das damit zu tun?«<br />
»Ich empfehle Ihnen, sich dringend untersuchen zu lassen. Die<br />
Dame war HIV-positiv und Sie könnten sich durchaus angesteckt<br />
haben.«<br />
Marti wurde aschfahl im Gesicht und kleine Schweißtropfen<br />
zeigten sich auf seiner Stirn. »Was mach ich denn jetzt bloß?«<br />
»Lassen Sie sich untersuchen, vielleicht hatten Sie ja Glück.<br />
Wieviel Mal waren Sie denn mit der Dame intim?«<br />
»So zehnmal dürften es schon gewesen sein in den letzten<br />
Wochen.«<br />
»Wo fanden diese Begegnungen jeweils statt?«<br />
»Meist bei ihr zuhause.«<br />
Marti war Rechtsanwalt und besaß eine gutgehende Praxis in<br />
Chur. Seit zwölf Jahren war er verheiratet und ist Vater von drei<br />
29
Kindern. Des Öfteren besuchte er einschlägige Etablissements und<br />
seit er von einem Freund erfuhr, dass es an der Rossbodenstraße<br />
eine Hure gibt, die es einem auch ohne Gummi besorgte, auch oft<br />
hier anzutreffen. Völlig aufgelöst fuhr er weiter, nachdem ihm<br />
Monsch seine Ausweise ausgehändigt hatte, aber nichts war mehr<br />
wie vorher. Die Aussicht, sich infiziert zu haben, trieb ihn zur<br />
schieren Verzweiflung und die Möglichkeit auch seine Frau<br />
angesteckt zu haben, machte die Sache auch nicht besser. Er fuhr<br />
in die Stadt zurück und setzte sich in die nächste Bar.<br />
Seine Frau Ines war es längst gewohnt, dass er des Öfteren spät<br />
nach Hause kam, und er dachte gar nicht daran, ihr mitzuteilen,<br />
dass es später werden könnte. Er überlegte, wann er das letzte<br />
Mal mit Ines geschlafen hatte, kam aber zu keinem<br />
abschließenden Ergebnis. Und doch sah er die Schmach, die mit<br />
riesigen Klauen nach ihm griff, deutlich vor sich. Nicht nur seine<br />
Ehe stand auf dem Spiel, auch sein Ruf als guter Anwalt, wäre mit<br />
einem Schlag ruiniert und alles wegen einer blöden Nutte, die es<br />
verstand, seine geheimsten Wünsche zu befriedigen. Wünsche mit<br />
denen seine Ines nichts anzufangen wusste. Er dachte zurück, als<br />
er sie kennenlernte. Seit damals weigerte sie sich standhaft, den<br />
Seinen in den Mund zu nehmen. Sie hat mich ja förmlich zu den<br />
Nutten getrieben, versuchte er sich in einer halbherzigen<br />
Rechtfertigung, aber es wollte ihm nicht recht gelingen. Würde sie<br />
bei mir bleiben oder einfach die Kinder nehmen und mich<br />
verlassen? Was wird aus meiner Kanzlei? Ließ sich diese<br />
schreckliche Tatsache überhaupt verheimlichen? Fragen über<br />
Fragen beutelten sein Gewissen, aber er wusste keine Antwort.<br />
»Noch ein Bier bitte.«<br />
Die Ausbeute dieser nächtlichen Kontrolle war ziemlich<br />
ergiebig. Zehn Männer, die die Tote kannten, teils stadtbekannte<br />
Persönlichkeiten. Alle wurden zu einem Aids-Test geschickt und<br />
für den nächsten Tag zu einem Verhör gebeten, wo sie auch eine<br />
30
Speichelprobe abzugeben hatten. Bei Marti wurde dies direkt vor<br />
Ort erledigt, da dieser erklärte, den ganzen Morgen am Gericht zu<br />
sitzen. Die meisten von ihnen waren verheiratet und Monsch<br />
konnte nicht fassen, wie man in dieser Situation ungeschützten<br />
Verkehr praktizieren konnte. Er dachte an die Familien, die dabei<br />
zu Bruch gingen, an die Kinder, die unter einer solchen Tragödie<br />
zu leiden hatten, von der Gefährdung ganz zu schweigen. Was<br />
trieb solche Männer nur dorthin? War es das Unvermögen der<br />
eigenen Ehefrau, ihnen Befriedigung zu verschaffen oder andere<br />
Gründe, die hier eine Rolle spielten? Er wusste aus eigener<br />
Erfahrung, wie eintönig das Eheleben manchmal sein konnte, und<br />
auch er, lechzte öfters nach etwas Abwechslung. Aber deshalb<br />
gleich zu einer Hure gehen und dann noch ohne Schutz? Corina<br />
unterbrach ihn in seinen Gedanken.<br />
»Hast du dir schon mal überlegt, dass es auch ein Racheakt von<br />
einem Freier sein könnte, den sie angesteckt hat?«<br />
»Interessanter Gedanke, aber was soll dabei der ganze rituelle<br />
Zirkus?«<br />
»Vielleicht wollte der Mörder ein Zeichen setzen, als<br />
Abschreckung sozusagen.«<br />
»Wäre schön, wenn du Recht behieltest.«<br />
Es war morgens um halb neun, als Monsch ein Paket überreicht<br />
wurde. Langsam öffnete er und erstarrte. »Corina!« Sie kam<br />
gelaufen. »Was ist?«<br />
»Sieh mal.« Monsch hielt ihr das Paket vor's Gesicht und Corina<br />
erschrak. Im Paket lag ein Augapfel, der mit Sicherheit von der<br />
Toten stammte. Daneben ein Zettel auf dem stand: Verschließt nie<br />
eure Augen und wundert euch nicht, wenn das Sprichwort seine<br />
Vollendung findet.<br />
»Was will er uns damit sagen?«, fragte Monsch. »Was für ein<br />
31
Sprichwort? Ich werde einfach das Gefühl nicht los, dass dies<br />
nicht sein letzter Mord war.«<br />
»Da ist nur zu hoffen, dass du dich irrst. Übrigens, die DNA-<br />
Analyse des Spermas in der Scheide der jungen Frau liegt vor. Es<br />
sind gleich vier verschiedene, wie du vermutet hast.«<br />
»Gibt es jemanden, den wir schon in den Daten haben?«<br />
»Nein Fehlanzeige.«<br />
Während die Befragung der zehn Freier bei der Polizei in vollem<br />
Gange war, saß Marti verdrückt in der hintersten Ecke im<br />
Wartezimmer seines Hausarztes und harrte der Dinge, bis er an<br />
die Reihe kam. Er kam sich vor wie ein Leprakranker auf einer<br />
Insel und war davon überzeugt, dass die Seuche bereits von ihm<br />
Besitz ergriffen hatte. Zwar rechnete er mit einem schnellen<br />
Ergebnis, doch auch er wusste, dass der Test eine gewisse Zeit in<br />
Anspruch nahm. Wieder stiegen dunkle Ahnungen wie Schatten<br />
vor ihm auf, aber an diesem Schritt führte kein Weg vorbei. Dieser<br />
Gang war nicht nur mit Angst verbunden, er war ihm auch<br />
überaus peinlich. Er sah sich schon einsam und von allen verlassen<br />
in einem kleinen Zimmerchen sitzen, mit sich und der Welt<br />
abgeschlossen, als er gerufen wurde.<br />
»Was führt Sie zu mir?«, fragte Doktor Ehrbar. Marti, der sich<br />
alles andere als ehrbar fühlte und sichtlich verwirrt vor dem<br />
Schreibtisch saß, antwortete:<br />
»Ich möchte, dass Sie bei mir einen HIV-Test machen.«<br />
»Haben Sie dafür eine spezielle Veranlassung, wollen Sie eine<br />
Lebensversicherung abschließen?«<br />
Die Worte des Arztes klangen in seinen Ohren wie die göttliche<br />
Erlösung und so sagte er: »So ist es.«<br />
Marti konnte kein Blut sehen, weshalb man ihn auch nie beim<br />
32
Blutspenden sah, und auch diesmal erging es ihm nicht besser.<br />
Kaum war die Nadel gesetzt, kippte er schon vornüber.<br />
»Das kann vorkommen«, sagte der Arzt. »Bleiben Sie einen<br />
Moment liegen, das gibt sich.« Wieder tauchten die Vorahnungen<br />
wie Dämonen vor ihm auf, die mit ihren hässlichen Klauen nach<br />
ihm griffen. Angstschweiß trat ihm auf die Stirn, und er zitterte<br />
wie Espenlaub. Doktor Ehrbar legte ihm eine Manschette um den<br />
Oberarm und maß seinen Blutdruck. Hundertsiebzig zu<br />
fünfundneunzig. Das ist etwas gar hoch für ihr Alter. Ich werde<br />
Ihnen ein Medikament verschreiben und dann sollten Sie sich<br />
einer gründlichen Kontrolle unterziehen. Lassen Sie sich einen<br />
Termin geben. Wieder machten sich schreckliche Gedanken in<br />
seinem Kopf breit. War er etwa schon krank? Hat diese<br />
fürchterliche Krankheit von ihm bereits Besitz ergriffen? Hat sie<br />
schon zugeschlagen?<br />
Seine Beine trugen ihn kaum noch, als er vor der Praxis stand,<br />
doch die frische Luft schien ihm gut zu tun. Marti setzte sich in<br />
seinen Wagen und dachte nach. Zwei Tage hat der Doktor gemeint,<br />
dann könnte er anrufen und das Ergebnis erfahren. Zwei Tage<br />
Qual. Zwei Tage ständige Ungewissheit. Er war sich nicht sicher,<br />
ob er diese Zeit in seinem Büro arbeiten konnte, wo ihn die Akten<br />
förmlich anschrien. Aber es waren Fälle, die keinen Aufschub<br />
duldeten, wenn er keine Mandanten verlieren wollte, und das war<br />
das Letzte, was er sich in dieser Situation wünschte.<br />
Er fuhr in die Kanzlei, setzte sich an seinen Schreibtisch und<br />
fuhr den Computer hoch. Im Google gab er das Wort Aids ein, doch<br />
was er da zu lesen bekam, machte ihn auch nicht glücklicher.<br />
Immerhin war man schon so weit, dass man mit der Diagnose<br />
durchaus noch einige Jahre zu leben hatte, doch auch diese<br />
Erkenntnis befreite ihn kaum aus seinen unheilvollen Gedanken.<br />
Er sah die grinsende Fratze von Doktor Ehrbar, der ihm die<br />
schreckliche Wahrheit ins Gesicht schleuderte, den Gang zu seiner<br />
Frau, der dem nach Canossa nicht unähnlich sein würde, die<br />
33
Schmach, die auf ihn herabprasselte, wie eiergroße Hagelkörner<br />
und es kein Entrinnen gäbe.<br />
Er dachte an seine Mutter, diese gottesfürchtige Person, die ihm<br />
bei jeder Kleinigkeit, die Schrecken der Hölle vor Augen führte,<br />
und wie heiß es dort wäre, und dass genau er dorthin kommen<br />
würde, dessen war er sich sicher. An all die Leute, die in seiner<br />
Fantasie dort schmorten und ihre gellenden Schmerzensschreie<br />
gen Himmel sandten. Brennende Gestalten tauchten vor seinem<br />
geistigen Auge auf, die mit ihren schmerzverzerrten Fratzen vor<br />
sich hin sengten, und er war außerstande, sich gegen seine<br />
schrecklichen Gedanken zur Wehr zu setzen.<br />
34