Friedrich Eduard Hugo Gaudig - Schulmuseum Leipzig
Friedrich Eduard Hugo Gaudig - Schulmuseum Leipzig
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<strong>Friedrich</strong> <strong>Eduard</strong> <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> (1860-1923)<br />
Eine Rückschau in die pädagogische Zukunft<br />
Sehr geehrter Oberbürgermeister!<br />
Sehr verehrte Frau Bauer! Liebe Familie <strong>Gaudig</strong>!<br />
Sehr geehrte Geburtstagsgäste!<br />
Jubiläen und Geburtstage sind unstrittig Tage der besonderen Erinne-<br />
rungen, z.B. an eine liebenswerte Person oder an einen bedeutenden<br />
Menschen, der uns mit seiner Biografie und seinen Leistungen fasziniert<br />
und angesprochen hat. Es sind Momente und Zeiten des Innehaltens,<br />
des Bedenkens und vor allem des öffentlichen Anerkennens und Dankens<br />
für Ideen, für Leistungen und Handlungsvorgaben, welche aufgrund ihrer<br />
zeitlosen Gültigkeit nachhaltige Spuren gezeichnet haben und denen wir<br />
im Prinzip nur folgen müssen.<br />
<strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>, an dessen 150. Geburtstag wir in diesen Tagen denken,<br />
gehört zu diesen Persönlichkeiten unserer Wissenschaftsdisziplin, die<br />
mich bereits vor 50 Jahren ob ihrer Klarheit in der Zielsetzung, in der Na-<br />
türlichkeit der Erziehungsidee und Erziehungspraxis als Lehramtsstuden-<br />
ten auf das Tiefste beeindruckt haben. Ich sehe in diesem Zusammen-<br />
hang einen meiner akademischen Lehrer, Professor Hubert Göbels, be-<br />
sonders nahe vor mir. Er war es, der uns Lehramtsstudenten das „Prinzip<br />
der Selbsttätigkeit“ und seine historische Entwicklung nahe gebracht hat<br />
– angefangen von Christian Gotthilf Salzmann (1741-1811), über Adolph<br />
Diesterweg (1740-1866), Johann Heinrich Pestalozzi (1748-1827), Jo-<br />
1
hann <strong>Friedrich</strong> Herbart (1776-1841), <strong>Friedrich</strong> Dittes (1829-1896) und in<br />
besonderer Ausprägung durch <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> (1860-1923). 1<br />
Der heutige Tag gehört allein <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>, der als herausragender<br />
Schulpädagoge gewirkt hat und den wir dankbar und ehrenvoll als Re-<br />
formpädagogen titulieren. Er hat nahezu ein Vierteljahrhundert die Schu-<br />
len unserer Stadt <strong>Leipzig</strong> maßgeblich geprägt.<br />
Gestatten Sie mir, dass ich im Rahmen des mir gewährten Kurzvortrags<br />
von 15 Minuten ausschließlich hier ansetze und mir besonders wichtig<br />
erscheinende Leistungen seines pädagogischen Vermächtnisses heraus-<br />
stelle. Meine differenzierteren Wahrnehmungen, Analysen und Einschät-<br />
zungen zu <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> habe ich in meinem Beitrag zur Festschrift hin-<br />
terlegt – wohl wissend, dass es dringend noch weiterer, hoch auflösen-<br />
der Quellenstudien bedarf.<br />
Der Begriff „Reformpädagogik“ ist sowohl als fachwissenschaftlicher<br />
Terminus als auch im allgemein umgangssprachlich pädagogischen Ver-<br />
ständnis grundsätzlich positiv belegt. Um jedoch keinerlei Missverständ-<br />
nisse aufkommen zu lassen, müssen wir in der gebotenen Redlichkeit<br />
betonen, dass keiner der so genannten Reformpädagogen in seinen je-<br />
weils unterschiedlichen Richtungen zu seinen Lebzeiten darum gewusst<br />
hat, ein Reformpädagoge“ zu sein, geschweige denn dieses für sich<br />
selbst in Anspruch genommen hätte– auch nicht <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>! Zu dieser<br />
generalisierenden und zugleich ehrenden Apostrophierung ist es erst mit<br />
dem differenzierten Beitrag von Herman Nohl zum Thema „Die pädago-<br />
1 Auffällig und bemerkenswert ist, dass – abgesehen von J. H. Pestalozzi – alle Pädagogen aus dem<br />
mitteldeutschen Raum stammen bzw. hier gewirkt haben!<br />
2
gische Bewegung in Deutschland“ gekommen. Dieser findet sich im Band<br />
I des „Handbuchs der Pädagogik“, welcher im Jahre 1933 erschien. 2<br />
Bei <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> verhielt es sich ein wenig anders. Es bedurfte nicht erst<br />
der um 10 Jahre zeitversetzten Würdigung. Im April 1924 erschien das<br />
viel beachtete Buch von Emil Saupe „Deutsche Pädagogen der Neuzeit“.<br />
Bereits hier erfährt das verdienstvolle Wirken von <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> eine um-<br />
fassende und respektvolle Anerkennung. 3<br />
<strong>Gaudig</strong> war mit seiner Schule, mit seiner Schularbeit und mit seinen<br />
Schülerinnen auf das engste verbunden sowie von seiner pädagogischen<br />
Aufgabe so erfüllt, dass er sowohl das Angebot für eine attraktive Positi-<br />
on im sächsischen Kultusministerium in Dresden als auch den Ruf an die<br />
Universität <strong>Leipzig</strong> als Professor in der Nachfolge des 1920 nach Berlin<br />
gegangenen <strong>Eduard</strong> Spranger ablehnte. Wenn auch durch spezifische<br />
Forschung noch nicht gesichert abgeklärt, gehört es zur Persönlichkeit<br />
<strong>Gaudig</strong>, dass er seine Gedanken weniger in abstrakt-begrifflicher Ablei-<br />
tung als vielmehr in lockerer Form und mehr im Stile von Essays entwi-<br />
ckelte. Er war „kein pädagogischer Systematiker“; er war vielmehr ein<br />
hoch engagierter Praktiker, der sich in seinem pädagogischen Bemühen<br />
ausschließlich der Förderung und Entwicklung des Individuums verpflich-<br />
tet wusste. 4 Mit diesem Hinweis wird sein persönlich umfassendes Wis-<br />
sen um die Wechselseitigkeit von Philosophie und Pädagogik und ihre<br />
2 Nohl, Herman: „Die pädagogische Bewegung in Deutschland“. In: Handbuch der Pädagogik. Hrsg. von Herman<br />
Nohl und Ludwig Pallat. Band 1: Die Theorie und Entwicklung des Bildungswesens. Langensalza 1933, S.<br />
302-374<br />
3 Saupe, Emil: Deutsche Pädagogen der Neuzeit. Ein Beitrag zur Geschichte der Erziehungswissenschaft zu<br />
Beginn des 20. Jahrhunderts. Oesterwieck am Harz, 1. und 2. Auflage 1924, S. 40-49.<br />
4 Vgl.ders., a.a.O., S. 34<br />
3
facettenreiche Bedeutung für den Erziehungsprozess von mir keineswegs<br />
in Frage gestellt. 5<br />
Innerhalb der „pädagogischen Bewegung“ ragt <strong>Gaudig</strong> im Vergleich zu<br />
anderen Vertretern auch nicht dadurch hervor, dass er etwa eine neue<br />
Schulorganisation geschaffen hätte, wie das z.B. bei Georg Kerschenstei-<br />
ner mit der Berufsschule und bei Hermann Lietz mit dem Landerzie-<br />
hungsheim der Fall war. Er hat auch nicht – wie etwa Berthold Otto oder<br />
Maria Montessori – mit einer zugespitzten Anthropologie und dem radika-<br />
len Bildungspostulat „Vom Kinde aus“ aufgewartet bzw. dieses pro-<br />
grammatisch verkündet. Was ihn vor allem reformerisch aktiv werden<br />
ließ war ein prinzipiell innerschulischer, ja eigentlich sogar ein aus-<br />
schließlich didaktisch-unterrichtsmethodischer Reformansatz.<br />
Es ist aus meiner Sicht, aus der Sicht eines Schulpädagogen der einzig<br />
richtige und zugleich in einer mittleren und langen Perspektive der einzig<br />
ehrliche Ansatz. Oder anders formuliert: Es kann nicht stets um neue<br />
Schulstrukturentscheidungen gehen, denen man charismatisch verhei-<br />
ßungsvoll und ungeprüft zukunftsgläubig die optimale Förderung der<br />
Kinder und Jugendlichen vorauseilend zuordnet. Das führt in aller Regel<br />
sehr rasch zu nicht reparablen pädagogischen Enttäuschungen.<br />
<strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> realisierte mit seiner Konzeption und deren konsequenter<br />
Anwendung in allen Unterrichtsfächern, in allen Jahrgangsstufen und Le-<br />
bensbereichen in der Tat eine zukunftsweisende innere Schulreform. Ich<br />
wünschte mir – und wahrhaftig nicht nur im Zusammenhang des Geden-<br />
kens seines 150. Geburtstages – ich wünschte mir, dass wir endlich ver-<br />
5 Dass ein solcher Vorwurf haltlos ist, ergibt sich aus <strong>Gaudig</strong>s Dissertationsschrift: „Die Grundprincipien der<br />
Ästhetik Schopenhauers“. Diss., Halle (Saale) 1883. 62 S.<br />
4
stehen und begreifen, was durch ihn überzeugend bewiesen wurde,<br />
nämlich dass die „freie geistige Tätigkeit“, die „Selbsttätigkeit“ und die<br />
„Selbständigkeit“ von Kindern und Jugendlichen Ergebnisse von Erzie-<br />
hungs- und Unterrichtsmethoden sind – und nicht die höchst fragwürdi-<br />
gen rhetorischen Geschenke anlässlich von Entlassfeierlichkeiten, wie<br />
z.B. dem Abitur. 6 Sie kennen den oftmals fast gnadenvoll vorgetragenen<br />
Satz: „Ab morgen dürft Ihr selbstständig sein!“<br />
Der Auftrag des Lehrers – und somit das konstitutive Charakteristikum<br />
einer Lehrerpersönlichkeit – besteht nicht in der Dressur und im „Ein-<br />
trichtern“ von kognitivem Wissen. Die „freie geistige Tätigkeit“ / das<br />
Prinzip der Selbsttätigkeit weckt im Schüler die Potentiale, um sich selbst<br />
Wissen zu erschließen und zu Erkenntnissen zu gelangen. Würden wir<br />
Lehrer das nur endlich begreifen! Wir meinen nach wie vor und allzu oft,<br />
dass die <strong>Gaudig</strong>’sche Methode des selbsttätigen Lernens nicht schnell<br />
genug zu den Ergebnissen führt, die wir für richtig halten bzw. die uns<br />
durch Lehrplanvorgaben in einem zeitlichen Rahmen zwingend vorge-<br />
schrieben werden. Oder anders formuliert: Wir sind schlicht zu ungedul-<br />
dig! Wir (ver-)trauen dem Kinde und dem Jugendlichen zu wenig, wir<br />
sind oftmals zu ängstlich – warum? vor wem?<br />
Auch in der universitären Lehrerbildung sind wir immer noch zu praxis-<br />
fern, um die Richtigkeit des selbsttätigen Lernens unseren Studierenden<br />
vorzuleben und überzeugend zu vermitteln. Sicherlich ist das eben Ge-<br />
6 Im Rahmen eines Seminars zum Thema „Erziehung zur Selbständigkeit“ habe ich einer Seminargruppe zur<br />
Aufarbeitung eines Teilaspektes die vorbereitende Aufgabe gestellt, Reden zusammenzutragen, die in jüngster<br />
Zeit anlässlich von Abiturfeierlichkeiten gehalten wurden. Nach wenigen Wochen lagen uns zur Analyse 150<br />
Reden vor. In 135 kam der wörtlich fast identische Satz vor: „Ab morgen dürft ihr selbständig sein!“ – Wenn<br />
also „Selbsttätigkeit“ und „Selbständigkeit“ zur Feiertagsgabe verkommen, könnte man – abgesehen davon, dass<br />
manche Satzbaumuster in Abschlussreden einem kaum korrigierbaren Ritual der Generationen geschuldet sind –<br />
von einen Offenbarungseid pädagogischer Arbeit sprechen – zumindest im Sinne <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>s..<br />
5
sagte etwas provokant: aber die „freie geistige Tätigkeit“ / das selbsttä-<br />
tige Lernen, das wir von unseren Schülern erwarten, setzt das Modell<br />
des entsprechend selbsttätigen Lehrers voraus. Und ein wesentliches E-<br />
lement des Berufsethos eines Lehrers besteht darin, dass er sein gesam-<br />
tes Handeln in die Antinomie von „Freiheit und Verantwortung“ 7 einge-<br />
bunden weiß.<br />
Auch wenn <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> dieses so explizit nicht formuliert hat, so ist<br />
doch wie folgt in seinem Sinne bilanzierend festzuhalten:<br />
Jeder Lehrer, der seinen Beruf verantwortlich gestaltet und lebt, macht<br />
sich schrittweise in seinem pädagogischen Handlungsfeld entbehrlich –<br />
und nicht deshalb, weil die Finanzminister nicht mehr in der Lage wären,<br />
das Gehalt zu zahlen.<br />
Oder anders formuliert:<br />
Der „pädagogische Auftrag“ des Lehrers ist mit dem Erreichen der Selb-<br />
ständigkeit seiner Schüler erfüllt. Sie sind in der Lage, sich neues Wissen<br />
mit adäquaten Methoden selbst zu erschließen – denn der „Schüler hat<br />
Methode“! Vielleicht klingt es etwas hypertroph: Aber <strong>Gaudig</strong> hat Recht!<br />
Der Beruf des Lehrers gehört zu den wenigen Berufsbildern innerhalb der<br />
384 in Deutschland anerkannten Berufe, die sich in ihrer „richtigen Aus-<br />
übung“ selbst entbehrlich machen.<br />
Dieses – und nur dieses war das Ziel <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>s. Es ist mehr als<br />
spannend, sich hierzu bei ihm zu vergewissern, und zwar in dem viel zu<br />
7 Vgl. hierzu im Detail auch Fauser, Peter: Pädagogische Freiheit in Schule und Recht. Weinheim / Basel 1986<br />
6
wenig beachteten Essay, der gleichsam am Vorabend der „Reichsschul-<br />
konferenz 1920“ verfasst wurde: „Schulreform? Gedanken zur Re-<br />
form des Reformierens“ (<strong>Leipzig</strong> 1920) sowie in seinem bereits 1917<br />
erschienenen zweibändigen Werk „Die Schule im Dienste der wer-<br />
denden Persönlichkeit“ (<strong>Leipzig</strong> 1917).<br />
Unstrittig werden – bei allen gegebenen Problemfeldern – in der gegen-<br />
wärtigen Lehre und Forschung im Bereich der Schulpädagogik in unse-<br />
rem Lande mit Blick auf die Gestaltung der Schulpraxis beachtenswerte<br />
Fortschritte erzielt. Ich erinnere in diesem Zusammenhang in Auswahl an<br />
das Grundsatzpapier zum „Offenen Unterricht“ im Freistaat Sachsen,<br />
welches die neue Lehrplangeneration begleitet.<br />
Wir kommen / wir wären jedoch bereits Riesenschritte weiter, wenn wir<br />
uns – bei entsprechender Transformierung des Gedankenguts in unsere<br />
Zeit – an der pädagogischen Konzeption / am „Modell <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>“ ori-<br />
entierten. Mir ist durchaus bewusst, dass es hier auch Kritisches wahrzu-<br />
nehmen und zu beachten gilt. Aber ein demokratisches Gemeinwesen,<br />
das seine zukunftsorientierte Substanz ausschließlich aus der „sozialen<br />
Leistungsschule“ speist, kann seine Kraft nur daraus ableiten, dass es<br />
mündig denkende und verantwortlich handelnde Lehrer gibt. – <strong>Hugo</strong><br />
<strong>Gaudig</strong> hat unsere Vision als Direktor der Höheren Mädchenschule und<br />
des Lehrerinnenseminars in <strong>Leipzig</strong> in den Jahren zwischen 1900 und<br />
1923 überzeugend vorgelebt.<br />
7