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Hugo Gaudig und die Mädchenbildung - Schulmuseum Leipzig

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<strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Mädchenbildung</strong><br />

Erziehungswissenschaftliche Fakultät<br />

Institut für Allgemeine <strong>und</strong> Vergleichende Pädagogik,<br />

Schulpädagogik <strong>und</strong> Pädagogische Psychologie<br />

Dr. Doris Flagmeyer<br />

<strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong> sei im Vergleich zu anderen „Großen der Reformpädagogik“ - Maria Montesso-<br />

ri, Peter Petersen, Berthold Otto - etwas in Vergessenheit geraten, stellt Sebastian Prüfer in<br />

seinem gerade erschienenen Buch fest, das er, ein Urgroßneffe, anlässlich des 150. Geburtsta-<br />

ges seines Verwandten verfasst hat. In der Tat: Eine „Google-Probe“ zeigt schnell, dass Mon-<br />

tessori <strong>und</strong> Petersen jeweils mit mehr als 1.300.000 Einträgen <strong>die</strong> Häufigkeitsliste anführen,<br />

gefolgt von Otto mit immerhin ca. 300.000 Nennungen, während <strong>Gaudig</strong> nur ca. 78.000 auf-<br />

weisen kann. Als Ursachen des Vergessens nennt Prüfer u.a. <strong>Gaudig</strong>s Ansatz der Mädchen-<br />

bildung, der auf Familie <strong>und</strong> Haushalt als Hauptbetätigungsfeld von Frauen abhebt <strong>und</strong> sich<br />

von den Nationalsozialisten so gut verwerten ließ, seine strikte Ablehnung der Koedukation<br />

sowie <strong>die</strong> Tatsache, dass. <strong>Gaudig</strong> „quer lag zu aktuellen Diskussionslinien“ (Prüfer 2010,<br />

S.9 f.).<br />

Diesen Gedanken aufgreifend, fällt ein Widerspruch ins Auge: <strong>Gaudig</strong>, der Reformpädagoge,<br />

der schülerorientierte Konzepte förderte, seinen Schülern –<strong>und</strong> später Schülerinnen- weitge-<br />

hende Freiräume in der Gestaltung ihrer Lernprozesse ließ, Freiarbeit praktizierte, sich gegen<br />

das lehrerzentrierte Unterrichtsgespräch wandte, <strong>die</strong> Lehrerfrage als kontraproduktiv charak-<br />

terisierte, <strong>die</strong> Schule als Lebenswelt begriff, so vieles praktizierte, was heute unter dem Label<br />

Öffnung von Schule <strong>und</strong> Unterricht als erstrebenswert gilt, dessen Schülerinnen durchaus für<br />

Frauen noch unübliche Berufe wählten, <strong>die</strong>ser Lehrer sollte Frauen auf Haus <strong>und</strong> Familie fest-<br />

geschrieben <strong>und</strong> sich so emanzipatorischen Bestrebungen der Frauen entgegen gestellt haben?<br />

Im folgenden werden einige „querliegende“ Auffassungen zur <strong>Mädchenbildung</strong> <strong>Gaudig</strong>s dar-<br />

gelegt <strong>und</strong> in den Diskussionen seiner Zeit gespiegelt. In einem weiteren Schritt wird gefragt,<br />

ob <strong>Gaudig</strong>s Gedanken letztlich zu einer gendersensiblen Didaktik führen.<br />

1


Vorab: Was veranlasste <strong>Gaudig</strong>, sich mit <strong>Mädchenbildung</strong> zu befassen? Aus seiner Biografie<br />

geht hervor, dass <strong>Gaudig</strong> an der Universität Halle-Wittenberg stu<strong>die</strong>rte <strong>und</strong> an den Francke<br />

schen Stiftungen ein Probejahr unter dem Herbartianer Otto Frick absolvierte. Nach mehrjäh-<br />

riger Tätigkeit am Realgymnasium in Gera kehrte <strong>Gaudig</strong> –wohl aus pekuniären Gründen- an<br />

den Ort seiner Probezeit zurück, um dort Direktor der Höheren Mädchenschule zu werden.<br />

Dies war ein Schritt, der von den Geraer Kollegen halb spöttisch, halb mitleidig als Abstieg<br />

betrachtet wurde. <strong>Gaudig</strong> indessen widmete sich mit der gleichen Gründlichkeit, mit der er<br />

seinen Unterricht an der Knabenschule vorbereitete, der neuen Aufgabe. Vielleicht regten<br />

auch <strong>die</strong> drei kleinen Töchter zu Hause sein Nachdenken über <strong>Mädchenbildung</strong> an. Seine<br />

Frau beschreibt jedenfalls in ihrem Erinnerungsbüchlein den Stolz des Vaters, seine Freude an<br />

der ges<strong>und</strong>en Entwicklung der Töchter, das Belauschen <strong>und</strong> Beobachten ihrer Eigenart <strong>und</strong><br />

ihres geistigen Lebens (vgl. Prüfer 2010).<br />

<strong>Gaudig</strong> forderte für Mädchen eine gleichwertige, nicht gleichartige Bildung. In den „Didakti-<br />

schen Ketzereien“ schrieb er, <strong>die</strong> Mädchenschullehrer sollten sich abgewöhnen, <strong>die</strong> höhere<br />

Knabenschule aus einer Froschperspektive zu betrachten, als sei allein <strong>die</strong> Knabenschule da-<br />

seinsberechtigt <strong>und</strong> von den Mädchenschullehrern nachzuahmen. Die höhere Mädchenschule<br />

müsse ein wenig „Ellbogengenie“ entdecken, d.h. sich durch eigene Energie den ihr gebüh-<br />

renden Platz sichern (<strong>Gaudig</strong> 1920, S. 132).<br />

Mit seinen Schriften reihte sich <strong>Gaudig</strong> in <strong>die</strong> Diskussionen seiner Zeit ein. Stritt man zuvor,<br />

ob für Mädchen <strong>die</strong> Familie als Bildungs- <strong>und</strong> Erziehungsinstanz ausreiche oder es der Schule<br />

bedürfe, ging es nunmehr um <strong>die</strong> Frage, welche Schulform für Mädchen <strong>die</strong> geeignete sei <strong>und</strong><br />

welche Stellung ihr im Schulsystem zukomme. Diese Auseinandersetzung wurde mit großer<br />

Schärfe zwischen den Interessenverbänden der männlichen Oberlehrer <strong>und</strong> den im Allgemei-<br />

nen Deutschen Lehrerinnenverein organisierten Lehrerinnen geführt. Zwar wurden unter-<br />

schiedliche Bildungsvorstellungen formuliert, letztlich beanspruchten aber beide Seiten <strong>die</strong><br />

höhere Mädchenschule für sich als Arbeitsfeld. Dabei wurden sowohl Gleichheit als auch<br />

Differenz der Geschlechter als Argumentationsstränge genutzt (vgl. Kleinau 1996, S. 113).<br />

Helene Lange, langjährige Vorsitzende des Allgemeinen Deutschen Lehrerinnenvereins, er-<br />

hob in ihrer Schrift „Die höhere Mädchenschule <strong>und</strong> ihre Bestimmung“ zwei Forderungen<br />

2


„mehr Beteiligung des weiblichen Elements“, vor allem in Deutsch <strong>und</strong> Religion, <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

„Ausbildung wissenschaftlicher Lehrerinnen“. Sie begründete <strong>die</strong>se mit den unterschiedlichen<br />

kulturellen Aufgaben von Männern <strong>und</strong> Frauen. Jene seien zur Mutterschaft bestimmt. Diese<br />

potentielle Möglichkeit bestimme weibliche Eigenarten wie den Zug zum Persönlichen, Kon-<br />

kreten, schnellere <strong>und</strong> tiefere Fühlung, Altruismus <strong>und</strong> Mitleid im Gegensatz zu der abstrakte-<br />

ren, spekulativen, auf das Systematische, Unpersönliche gerichtete Veranlagung des Mannes.<br />

Die Differenzierung der Geschlechter steige mit „erhöhter Kultur“. Lange forderte schließ-<br />

lich, <strong>die</strong> weibliche Eigenart solle zum Segen der Gesellschaft im häuslichen <strong>und</strong> außerhäusli-<br />

chen Bereich (sprich Schule) wirken. In den Mädchenschulen solle das „Princip der Kraftbil-<br />

dung“ (im Gegensatz zum Princip des Abschließens <strong>und</strong> Fertigmachens) gelten. Dieses erfor-<br />

dere notwendig Lehrerinnen, denn nur <strong>die</strong>se seien in der Lage, <strong>die</strong> weibliche Psyche „bis in<br />

<strong>die</strong> tiefsten Falten hinein“ zu verstehen. Allerdings stieß das Differenzprinzip an bildungspoli-<br />

tische Grenzen, so dass angesichts ungleicher Mittelverteilungen <strong>und</strong> fortwährender Un-<br />

gleichbehandlung der Geschlechter eine Abkehr von der Idee eines eigenständigen Mädchen-<br />

schulwesens erfolgte <strong>und</strong> Koedukation gefordert wurde (vgl. Kleinau 1996, S.115-118).<br />

Im Gegensatz zum Differenzprinzip stehen Auffassungen der Gleichheit, <strong>die</strong> zu Forderungen<br />

nach gleicher Bildung für Mädchen <strong>und</strong> Jungen <strong>und</strong> dem gleichberechtigten Zugang zum Be-<br />

rufsleben führen. Gleiche Bildung bedeutet letztlich Koedukation, Öffnung der Knabengym-<br />

nasien für Mädchen. Eine Vertreterin <strong>die</strong>ser Richtung, Hedwig Kettler, kritisierte <strong>die</strong> verbrei-<br />

tete Annahme einer angeborenen geistigen Unterlegenheit der Frau. Wie Ursula Scheu Jahr-<br />

zehnte später („Wir werden nicht als Mädchen geboren, sondern dazu gemacht“) meinte auch<br />

sie, Geschlecht sei ausschließlich eine soziale Konstruktion <strong>und</strong> schlug deshalb einen Tausch<br />

der Bildungsangebote - Töchterschulen für Jungen, Gymnasien für Mädchen - vor, um <strong>die</strong>se<br />

Hypothese zu überprüfen (vgl. Kleinau 1996, S.125-127). Das wurde natürlich nicht getan,<br />

<strong>und</strong> auch <strong>die</strong> Forderung nach Koedukation blieb zunächst wirkungslos.<br />

Beiden Ansätzen war gemeinsam, dass am Anfang eine Idee stand, für deren Umsetzung ent-<br />

sprechende schulische Bedingungen geschaffen werden sollten, aber real in jener Zeit nicht<br />

gestaltet werden konnten.<br />

Im Unterschied dazu hat <strong>Gaudig</strong> seine Ideen aus seiner langjährigen pädagogischen Praxis als<br />

Mädchenschullehrer <strong>und</strong> –leiter heraus entwickelt. Wie viele seiner Zeitgenossen <strong>und</strong> wohl<br />

auch Zeitgenossinnen sah er den „natürlichen Beruf der Frau“ als einen dreifachen- Gattin,<br />

Mutter <strong>und</strong> Hausverwalterin. Er betonte dessen Vorzüge- der Frau bleibe das moderne Spezia-<br />

3


listentum erspart <strong>und</strong> sie könne sich in schöner Vielseitigkeit entfalten. Er gestand den Frauen<br />

allerdings ausdrücklich das Recht auf eine individuelle Entscheidung gegen <strong>die</strong> Ehe zu, wies<br />

aber auch auf <strong>die</strong> Folgen einer solchen, nämlich <strong>die</strong> Gefährdung der Familie als unersetzliche<br />

Pflegestätte für <strong>die</strong> kindliche Persönlichkeit <strong>und</strong> als Gr<strong>und</strong>lage der bürgerlichen Kultur hin<br />

(vgl. <strong>Gaudig</strong> 1923, S.69). Mit <strong>die</strong>ser Sicht auf den „natürlichen Beruf der Frau“ kann <strong>Gaudig</strong><br />

der Vorwurf der Befangenheit im Zeitgeist <strong>und</strong> eines verengten Blicks– denn er hat wohl nur<br />

<strong>die</strong> bürgerliche Familie im Blick - nicht erspart werden. Spannend aus heutiger Perspektive ist<br />

seine Argumentation, dass der Versuch, Leben in der Familie <strong>und</strong> im Beruf zu vereinbaren, zu<br />

einem permanenten Konflikt führen, <strong>die</strong> „Seele der Frau vor das furchtbare Entweder –Oder<br />

eines unausgesetzten Gewissenskampfes“ stellen würde. Dass <strong>die</strong>ser „Gewissenskampf“<br />

Frauen noch Jahrzehnte später beschäftigen wird, hat er wohl nicht vorausgeahnt – dass er<br />

auch Männer berührt, würde ihn vermutlich sehr überraschen.<br />

Immer wieder argumentierte <strong>Gaudig</strong> schlüssig, dass, da sich Frauen in der Schule auf ihren<br />

„natürlichen Beruf“ vorbereiten müssen, der Staat, der der Familie als Gr<strong>und</strong>lage der bürger-<br />

lichen Kultur bedarf, in der Pflicht der Förderung höherer Mädchenschulen ist. Er lehnte Ko-<br />

edukation strikt ab. Seiner Meinung nach bringe eine Gemeinschaftserziehung für Mädchen<br />

nur Nachteile, da sich Unterrichtsinhalte <strong>und</strong>- methoden an den Knaben ausrichten – Jahr-<br />

zehnte später beschäftigt genau <strong>die</strong>se Voraussicht immer noch. Er forderte, <strong>die</strong> höhere Mäd-<br />

chenschule müsse sich in Lehrinhalten <strong>und</strong> methodischer Gestaltung an der weiblichen Eigen-<br />

art orientieren (Vgl. <strong>Gaudig</strong> 1912, S. 231 ff.). Diese beschrieb er in vielen Schriften, oft mit<br />

Bezug auf Meumann, einen Vertreter der experimentellen Psychologie, obwohl er den For-<br />

schungsstand als noch wenig gesichert einschätzte. Da er eine „doppelte Richtung der Bil-<br />

dungsarbeit“ (<strong>Gaudig</strong> 1920, S.76) vorschlug, konnte seiner Aufassung nach der wenig gesi-<br />

cherte Forschungsstand außer acht bleiben. Doppelte Richtung bedeutete für <strong>Gaudig</strong>, Stärken<br />

weiblicher Begabung besonders sorgfältig zu entwickeln, zugleich durch eine zulängliche<br />

Ausbildung weniger gut liegender Funktionen Einseitigkeit vermeiden. Einige Beispiele mö-<br />

gen das untersetzen: So hebt <strong>Gaudig</strong> <strong>die</strong> besondere Sprechlust <strong>und</strong> –gewandheit der Mädchen<br />

hervor. „Man lasse <strong>die</strong> Mädchen sich aussprechen <strong>und</strong> sorge dafür, dass sie es bald mit gutem<br />

Geschmack tun, der Sprachform Wert beilegen <strong>und</strong> das Sprechen unter ernsthafte Kontrolle<br />

nehmen“ (s.o., S. 42). Weiter heißt es in den „Didaktischen Ketzereien“, dass Mädchen“ visu-<br />

eller denken“ (s.o., S.77), ihre Wahrnehmungen umfassender <strong>und</strong> auch fehlerfreier sind. Diese<br />

Begabung ist kunstmäßig zu entwickeln, zugleich soll aber auch Geistespflege erfolgen, in-<br />

dem z. B. bei zusammengesetzten Gegenständen <strong>die</strong> geistige Tätigkeit nach der Anschauung<br />

auf <strong>die</strong> Anordnung der Teile <strong>und</strong> ihre Beziehungen gelenkt wird. Eine andere Begabung der<br />

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Mädchen ist <strong>die</strong> Lebhaftigkeit der Phantasie, <strong>die</strong> gewöhnt werden muss- <strong>Gaudig</strong> selbst nennt<br />

es <strong>die</strong> Paradoxie wagen (1920, S.79)- exakt zu gestalten. Dem weiblichen Geist sagen <strong>die</strong><br />

synthetischen, konkreten Funktionen mehr zu als <strong>die</strong> anlytischen. Erstere seien zu pflegen, um<br />

so Munterkeit, Lebhaftigkeit, Beweglichkeit <strong>und</strong> Frische des weiblichen Geists zu erhalten.<br />

Zugleich soll analytische Prüfung den Wert synthetischer Vorstellungsgebilde erkennen las-<br />

sen. <strong>Gaudig</strong> merkt weiterhin an, dass Mädchen schneller im Denken <strong>und</strong> Sprechen sind, sich<br />

eher einem Vielerlei von Dingen zuwenden, zu Unexakheit im Sprechen <strong>und</strong> Denken neigen,<br />

merkt auch Mängel im räumlichen Erfassen an-Qualitäten, <strong>die</strong> auch in der Gegenwart noch<br />

als „typisch weiblich“ charakterisiert werden. Bemerkenswert ist jedoch immer wieder seine<br />

„Doppelstrategie“, Vorzüge des Gegebenen zu nutzen <strong>und</strong> Einseitigkeiten zu vermeiden, eher<br />

auf <strong>die</strong> Stärken als <strong>die</strong> Schwächen oder Defizite zu blicken. Diese Doppelstrategie, <strong>die</strong> auf<br />

freies Tätigsein abhebt, scheint natürlich nicht nur für Mädchenschulen sinnvoll, auch Jungen<br />

können von einem solchen Vorgehen profitieren.<br />

In seinen Schriften thematisiert <strong>Gaudig</strong> vielfach <strong>die</strong> Stofffülle, <strong>die</strong> eine freie Betätigung der<br />

Geisteskraft behindert. „Wage es, unwissend zu sein“ möchte er den höheren Mädchenschu-<br />

len zurufen. Sie sollen kühlen Mut gewinnen, wenn gelärmt wird, dass irgendwelche höheren<br />

Töchter <strong>die</strong>s <strong>und</strong> jenes nicht wissen, was höhere Knaben wissen (vgl.<strong>Gaudig</strong> 1920, S.28). Es<br />

komme nur so viel Stoff in den Lehrplan, dass sich an ihm <strong>und</strong> in ihm energisches freies Den-<br />

ken <strong>und</strong> Arbeiten entwickeln kann. Dieser Stoff ist ohne Befangenheit <strong>und</strong> Rücksicht auf his-<br />

torische Überlieferung so auszuwählen, dass sich das Wesentliche der Gottes-, Menschen-<br />

<strong>und</strong> Naturerkenntnis erschließt. Eine Forderung, <strong>die</strong> wohl für Mädchen – <strong>und</strong> Knabenschulen<br />

zutrifft. Für <strong>die</strong> Mädchenschulen schlägt <strong>Gaudig</strong> vor, dass Lehrplaninhalte nicht nur nach<br />

ihrem Gewicht für eine Welterkenntnis bestimmt werden, sondern dass „der natürliche Zug<br />

des Interesses im Frauengeist“ zu beachten ist. Dieser gelte besonders dem persönlichen Le-<br />

ben <strong>und</strong> man könne ihm Rechnung tragen, indem man in Religion, Deutsch, Geschichte <strong>und</strong><br />

Fremdsprachen in <strong>die</strong> Höhen <strong>und</strong> Tiefen des Personenlebens einführt. Zugleich sei auch ein<br />

Gegengewicht zu schaffen zu schaffen durch <strong>die</strong> Beschäftigung mit Mathematik, Gesetzmä-<br />

ßigkeit in den Naturwissenschaften, Technik <strong>und</strong> der sozialen Frage des XX. Jahrh<strong>und</strong>erts.<br />

Bleibt wiederum festzustellen, dass auch <strong>die</strong> Forderungen inhaltlicher Akzentuierung auf <strong>die</strong><br />

Jungenschulen ohne weiteres übertragen werden können – das Wesentliche für Welterkennt-<br />

nis bestimmen <strong>und</strong> am Jungeninteresse anknüpfen.<br />

5


<strong>Gaudig</strong> sah es - eigene leidvolle Schülererfahrungen aufgreifend (vgl. <strong>Gaudig</strong> 1969) - als Vor-<br />

teil, dass <strong>die</strong> höheren Mädchenschulen nicht an das Berechtigungswesen angeschlossen wa-<br />

ren, weil so <strong>die</strong> Freude an den Inhalten <strong>und</strong> dem Tätigsein selbst als Motive wirkten <strong>und</strong> nicht<br />

nur das Schielen nach den Abschlüssen den Unterrichtsalltag bestimmten. Aus <strong>die</strong>sen Überle-<br />

gungen heraus stellte er auch eine Verknüpfung mit berufsbildenden Funktionen in Frage<br />

(vgl. <strong>Gaudig</strong> 1912, S. 215ff).<br />

<strong>Gaudig</strong> plä<strong>die</strong>rte für ein Lehrerkollegium, das sich aus Männern <strong>und</strong> Frauen zusammensetzt<br />

<strong>und</strong> folgte <strong>die</strong>ser Idee als Leiter einer höheren Mädchenschule. Er kritisierte Bestrebungen der<br />

Frauenbewegung, an <strong>die</strong>sen Schulen nur Lehrerinnen einzusetzen, weil nur <strong>die</strong>se <strong>die</strong> Mäd-<br />

chenseele verstehen könnten. Man solle aus der Mädchenseele kein Mysterium machen, son-<br />

dern not tue ein eindringliches psychologisches Studium <strong>und</strong> tüchtige Übung im Beobachten.<br />

Wiederum eine Forderung, <strong>die</strong> auch Jungenschulen gut tun würde.<br />

Fazit:<br />

So „quer“ zu den damaligen Diskussionen lag <strong>Gaudig</strong> wohl nicht. Nicht nur er bezog sich auf<br />

<strong>die</strong> Theorie der Geschlechterdifferenz, um sein Leitbild einer Mädchenschule zu entwickeln.<br />

Ausgehend vom Differenzprinzip, das er mit dem damaligen Kenntnisstand der Psychologie<br />

zu begründen suchte, <strong>und</strong> seinen pädagogischen Erfahrungen leitete er Gr<strong>und</strong>sätze für <strong>die</strong><br />

höhere Mädchenschule ab.<br />

Widerspruch rief damals seine Vorstellung vom „natürlichen Beruf“ der Frau <strong>und</strong> denkbaren<br />

Erwerbsberufen (Lehrerinnen, Erzieherinnen, Pflegerinnen) hervor. Aus heutiger Sicht emp-<br />

findet man angesichts <strong>die</strong>ser Vorstellung Befremden, sollte aber bedenken, dass damals auch<br />

Frauenrechtlerinnen <strong>die</strong>se Berufe in Erwägung zogen. Ein schlüssiges Konzept der Verein-<br />

barkeit von Familie <strong>und</strong> Beruf konnten auch sie nicht vorlegen. Heute, fast 100 Jahre später,<br />

verzeichnen wir immer noch typische Frauenberufe <strong>und</strong> beklagen zu wenig Ingenieurinnen,<br />

Naturwissenschaftlerinnen, Professorinnen, Managerinnen u.a.<br />

Betrachtet man <strong>Gaudig</strong>s Gedanken zur weiblichen Eigenart, so bestätigen heutige Erkenntnis-<br />

se der Psychologie, Neurobiologie <strong>und</strong> Kognitionswissenschaft viele seiner Annahmen. Es<br />

gibt geschlechtsspezifische Unterschiede bei menschlichen Lern- <strong>und</strong> Entwicklungsprozessen<br />

(vgl. Pinker 2008). Seine Schlussfolgerung einer „doppelten Richtung der Bildungsarbeit“,<br />

Stärken weiblicher Begabung besonders sorgfältig zu entwickeln <strong>und</strong> zugleich durch eine<br />

6


Förderung weniger gut ausgebildeter Fähigkeiten Einseitigkeit vermeiden, lässt sich auf <strong>die</strong><br />

Jungenbildung übertragen <strong>und</strong> kann einen gendersensiblen Umgang mir Schülerinnen <strong>und</strong><br />

Schülern begründen.<br />

Das Bestehen auf Monoedukation, das ihm vorgeworfen wurde, könnte neben der Überzeu-<br />

gung, nur so könne man den Mädchen gerecht werden, auch Bedingungen damaliger Schul-<br />

entwicklung geschuldet sein. Das Gymnasium für Knaben war seit fast 100 Jahren in festen<br />

Strukturen verhaftet – Jahrgangsklassen, Lehrplan, Unterrichtsfächer, Fachlehrer, St<strong>und</strong>en-<br />

plan, Zensuren, Abschlusszeugnisse mit Berechtigungen. Dagegen bot <strong>die</strong> höhere Mädchen-<br />

schule, neu entstanden <strong>und</strong> noch nicht in das Berechtigungssystem eingeb<strong>und</strong>en, dem Re-<br />

formpädagogen ungleich mehr Gestaltungsmöglichkeiten.<br />

Betrachtet man <strong>die</strong> Debatten um Koedukation heute, so ist zu konstatieren, dass das gemein-<br />

same Lernen von Jungen <strong>und</strong> Mädchen nicht den erhofften Gewinn gebracht hat. Insofern ist<br />

man geneigt, <strong>Gaudig</strong> zuzustimmen, zwar nicht zur Monoedukation zurückzukehren, aber seine<br />

Ideen für eine gendersensible Didaktik aufzunehmen.<br />

Literatur:<br />

<strong>Gaudig</strong>, H.: Die Idee der Persönlichkeit <strong>und</strong> ihre Bedeutung für <strong>die</strong> Pädagogik. Sonderausga-<br />

be. Unveränd. reprograf. Nachdruck d. Ausgabe <strong>Leipzig</strong> 1923. Wiss. Buchgesellschaft, 1965.<br />

<strong>Gaudig</strong>, <strong>Hugo</strong>: Didaktische Ketzereien. Teubner 1920<br />

<strong>Gaudig</strong>, <strong>Hugo</strong>: Die Schule der Selbsttätigkeit. Klinkhardt 1969<br />

<strong>Gaudig</strong>, <strong>Hugo</strong>: Höheres Mädchenschulwesen. In: Hinneberg, Paul. (Hrsg).: Die Kultur der<br />

Gegenwart. Ihre Entwicklung <strong>und</strong> ihre Ziele. Teubner 1912.<br />

Kleinau, Elke/ Opitz, Claudia: Geschichte der Mädchen- <strong>und</strong> Frauenbildung. Bd.2. Campus<br />

1996<br />

Kratochwil, Leopold: Pädagogisches Handeln bei <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>, Maria Montessori <strong>und</strong> Peter<br />

Petersen. Auer 1992<br />

Pinker, Susan: Das Geschlechterparadox. Über begabte Mädchen, schwierige Jungs <strong>und</strong> den<br />

wahren Unterschied zwischen Männern <strong>und</strong> Frauen. Deutsche Verlagsanstalt 2008<br />

Prüfer, Sebastian: <strong>Hugo</strong> <strong>Gaudig</strong>. Beiträge zum 150. Geburtstag. Projekte-Verlag 2010<br />

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