Globale Verwundbarkeiten und die Gefährdung »menschlicher ... - sef
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9<br />
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong><br />
<strong>»menschlicher</strong> Sicherheit«<br />
Bereits in den späten 1960er Jahren, also<br />
längst bevor das Schlagwort der Globalisierung<br />
in aller M<strong>und</strong>e war, leiteten<br />
Theoretiker der internationalen Beziehungen<br />
aus der Vermehrung <strong>und</strong> Verdichtung<br />
globaler Verflechtungen das<br />
Theorem der Komplexen Interdependenzen<br />
ab. John W. Burton (1972), der den<br />
Begriff der Weltgesellschaft (world society)<br />
in der internationalen Diskussion<br />
verankerte, ersetzte das vom politischen<br />
Realismus gezeichnete Billard-Kugel-<br />
Modell internationaler Beziehungen, in<br />
dem allein souveräne Nationalstaaten<br />
diplomatisch interagieren, durch das<br />
Spinngewebe-Modell. In <strong>die</strong>sem illus-<br />
trierten Modell des Spinngewebes [vgl.<br />
Abbildung 1] sind staatliche Akteure in<br />
Mehrebenen-Entscheidungssystemen in<br />
eine Vielzahl von Beziehungsgeflechten<br />
<strong>und</strong> transnationalen Aktivitäten von<br />
staatlichen <strong>und</strong> nicht-staatlichen, nationalen<br />
<strong>und</strong> internationalen Akteuren eingeb<strong>und</strong>en.<br />
Diese Einbindung in vielschichtige Interdependenzstrukturen<br />
hat zur Folge,<br />
dass <strong>die</strong> Souveränität der Entscheidung<br />
über das, was sich im Gefolge der Globalisierung<br />
der Waren- <strong>und</strong> Kapitalmärkte,<br />
weltweiter ökologischer <strong>Gefährdung</strong>en<br />
<strong>und</strong> der digitalen Revolution vollzieht,<br />
tendenziell aus dem nationalstaatlichen
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 10<br />
Regelungszugriff auswandert <strong>und</strong> auf<br />
globale Wirkungszusammenhänge abwandert.<br />
Deshalb wertete Ernst-Otto<br />
Czempiel (1969) <strong>die</strong> im Völkerrecht <strong>und</strong><br />
in der diplomatischen Rhetorik noch immer<br />
als »heilige Kuh« behandelte Souve-<br />
ränität schon 1969 zu einer »anachronistischen«<br />
Kategorie ab. Damals tauchte<br />
auch schon der Begriff der »Weltinnenpolitik«<br />
auf, der einen Vorboten der<br />
Diskussion über einen <strong>die</strong> Nationalstaaten<br />
überwölbenden Weltstaat bildete.<br />
Die interdependenztheoretische Entdeckung der<br />
Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
Eine Reihe von Weltproblemen (wie <strong>die</strong><br />
soziale Polarisierung in der Weltgesellschaft,<br />
das globale Bevölkerungswachstum,<br />
der Migrationsdruck aus den Armutsregionen,<br />
der globale Klimawandel,<br />
der internationale Terrorismus oder <strong>die</strong><br />
Instabilität der internationalen Finanzmärkte)<br />
hat potenziell weltweite Ausstrahlung<strong>sef</strong>fekte<br />
<strong>und</strong> kann globale Systemkrisen<br />
auslösen. Mit der Globalisierung<br />
von Ökonomie <strong>und</strong> Technologie,<br />
Kommunikation <strong>und</strong> Transportsystemen<br />
globalisieren sich auch Fehlentwicklungen.<br />
Probleme in scheinbar weit entfernten<br />
Regionen haben teils regionale, teils<br />
auch globale Bumerangeffekte.<br />
Es hängt vom wirtschaftlichen, politischen<br />
<strong>und</strong> militärischen Macht- <strong>und</strong><br />
Gestaltungspotenzial der einzelnen Akteure<br />
ab, wie stark <strong>die</strong> Phänomene der<br />
Verflechtung <strong>und</strong> Entgrenzung im Gefolge<br />
von Globalisierungsprozessen ihre<br />
Handlungsautonomie begrenzen <strong>und</strong><br />
wie verw<strong>und</strong>bar sie durch Wirkungszusammenhänge<br />
des Spinngewebes sind.<br />
Die Interdependenztheoretiker unterschieden<br />
zwischen Empfindlichkeit (sensitivity)<br />
<strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit (vulnerability)<br />
je nach Chancen <strong>und</strong> Optionen,<br />
auf internationale Krisen zu reagieren,<br />
ihre Kosten zu minimieren <strong>und</strong> Alternativen<br />
zu finden.<br />
Ein aktuelles Beispiel lieferte <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
zweier GUS-Staaten<br />
(Ukraine <strong>und</strong> Georgien) durch <strong>die</strong> Drosselung<br />
<strong>und</strong> Verteuerung von Gaslieferungen<br />
aus Russland, während <strong>die</strong> westeuropäischen<br />
Gasimporteure mit Reservelagern<br />
<strong>und</strong> mit der Diversifizierung der<br />
Lieferländer auf <strong>die</strong> kurzfristig akute<br />
<strong>und</strong> langfristig drohende Verknappung<br />
der Gasvorräte reagieren konnten bzw.<br />
können. Die Verteuerung von Erdöl <strong>und</strong><br />
Erdgas belastete zwar auch <strong>die</strong> Konjunktur,<br />
Aktienmärkte <strong>und</strong> Preisstabilität in<br />
den Industrieländern, traf aber vor allem<br />
<strong>die</strong> armen Entwicklungsländer, <strong>die</strong><br />
höhere Anteile ihrer Deviseneinnahmen<br />
für Energieimporte aufbringen müssen<br />
<strong>und</strong> sich entsprechend schwer tun, andere<br />
lebenswichtige Importe zu finanzieren<br />
<strong>und</strong> ihre Auslandsschulden zu begleichen.<br />
Dagegen konnte z. B. der »Exportweltmeister«<br />
Deutschland von den<br />
hohen Devisenbeständen <strong>und</strong> steigenden<br />
Importen der »Neureichen« in den Förder-<br />
<strong>und</strong> Exportländern von Erdöl/Erdgas<br />
auch profitieren. Die Empfindlichkeiten<br />
<strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> sind sehr<br />
ungleich verteilt.
11 Die interdependenztheoretische Entdeckung der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
Auch der Hegemon ist nicht gegen<br />
externe Schocks gefeit<br />
Der von Robert O. Keohane <strong>und</strong> Joseph<br />
S. Nye (1977) vorgelegte Klassiker der Interdependenztheorie<br />
belegte durch viele<br />
Beispiele <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen<br />
Empfindlichkeit <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit. Er<br />
zeigte, dass ein Hegemon wie <strong>die</strong> USA<br />
durch internationale Entwicklungen damals<br />
weniger verw<strong>und</strong>bar war als <strong>die</strong><br />
Vielzahl von Entwicklungsländern, <strong>die</strong><br />
auf Gedeih <strong>und</strong> Verderb auf internationale<br />
Überlebenshilfe angewiesen sind.<br />
Dieses trügerische Gefühl der eigenen<br />
Unverw<strong>und</strong>barkeit dank der militärischen<br />
<strong>und</strong> technologischen Überlegenheit<br />
beförderte <strong>die</strong> Hinwendung zum<br />
Unilateralismus. Dann kam ein Schock,<br />
<strong>und</strong> es zeichneten sich geostrategische<br />
Entwicklungen ab, <strong>die</strong> auch dem Kraft<br />
<strong>und</strong> Waffen strotzenden Mars Amerika,<br />
dessen Hypermacht, weltgeschichtlicher<br />
Übergröße <strong>und</strong> Einzigartigkeit Unilateralisten<br />
wie Robert Kagan (2003) huldigten,<br />
<strong>die</strong> Erfahrung der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
aufzwangen. Und mit ihm waren wesentliche<br />
Teile der OECD-Welt betroffen.<br />
Die Terroranschläge vom 11. September<br />
2001 zerstörten schlagartig <strong>die</strong><br />
Überzeugung der eigenen Unverw<strong>und</strong>barkeit<br />
<strong>und</strong> führten auch der übrigen<br />
Welt eine »globalisierte Unsicherheit«<br />
vor Augen, <strong>die</strong> auch durch Attentate an<br />
anderen Orten deutlich wurde. Was in<br />
New York <strong>und</strong> Washington, in Madrid<br />
oder auf Java geschah, offenbarte <strong>die</strong><br />
Verletzlichkeit der technischen Zivilisation,<br />
<strong>die</strong> in aller Welt einen hohen <strong>und</strong><br />
teuren Überwachungs- <strong>und</strong> Kontrollaufwand<br />
erforderlich machte. »9/11« veränderte<br />
schlagartig <strong>die</strong> Weltpolitik <strong>und</strong><br />
leitete einen weltweiten »Krieg gegen<br />
den Terror« ein, weil der transnational<br />
organisierte Terrorismus mit punktuel-<br />
len Aktionen <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit des<br />
globalen Systems vorführte. Der Vorrang<br />
der inneren Sicherheit machte weltweit,<br />
auch in gefestigten Demokratien,<br />
Gr<strong>und</strong>prinzipien der Rechtsstaatlichkeit<br />
(rule of law) <strong>und</strong> der Menschenrechte<br />
verw<strong>und</strong>bar. Lokale Terrorakte<br />
gegen Touristikziele hatten fatale Auswirkungen<br />
auf den Tourismus, der vielerorts<br />
<strong>die</strong> wichtigste Devisen- <strong>und</strong> Beschäftigungsquelle<br />
bildet, <strong>und</strong> auf Fluggesellschaften,<br />
<strong>die</strong> gefährdete Ziele <strong>und</strong><br />
Regionen anfliegen.<br />
Die Zahl der Attentate ist nennenswert:<br />
Laut Angaben des US National<br />
Counterterrorism Center kam es weltweit<br />
zu 11000 terroristischen Anschlägen,<br />
<strong>die</strong> 14600 Tote forderten; <strong>die</strong> materiellen<br />
Schäden der Anschläge vom<br />
11. September 2001 wurden auf über 30<br />
Mrd. US-$ geschätzt (Krugman 2004,<br />
S. 2); <strong>die</strong> erhöhte Verw<strong>und</strong>barkeit materialisiert<br />
sich in entsprechenden Versicherungsprämien.<br />
Opferzahl <strong>und</strong> materielle<br />
Folgen sind beachtlich. Zugleich<br />
liegen <strong>die</strong> Daten deutlich unter entsprechenden<br />
menschlichen <strong>und</strong> materiellen<br />
»Kosten« von Naturkatastrophen oder<br />
kriegerischen Konflikten. So forderte<br />
etwa der Tsunami Ende 2004 in Süd<strong>und</strong><br />
Südostasien ca. 250000 Menschenleben,<br />
das Erdbeben in Pakistan im<br />
Oktober 2005 mehr als 85000 Tote. Der<br />
langjährige Krieg in der Demokratischen<br />
Republik Kongo soll epidemiologischen<br />
Stu<strong>die</strong>n zufolge zum Verlust von<br />
etwa vier Millionen Menschenleben geführt<br />
haben.<br />
Vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong> ist es nicht allein<br />
das derzeit reale Ausmaß der<br />
Zerstörung, sondern <strong>die</strong> mentale Verunsicherung<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Erinnerung an <strong>die</strong><br />
Verw<strong>und</strong>barkeit moderner Gesellschaften,<br />
<strong>die</strong> den internationalen Terrorismus<br />
aus Sicht der Industrieländer zum
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 12<br />
höchstrangigen Sicherheitsrisiko am<br />
Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts macht.<br />
Entscheidend sind mithin nicht allein<br />
objektive Begebenheiten, sondern vielmehr<br />
gibt das Sicherheitsbedürfnis vieler<br />
Menschen den Ausschlag: Sie reagieren<br />
empfindlich auf ein ubiquitäres<br />
Bedrohungssyndrom, das ihnen <strong>die</strong><br />
Me<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Sicherheitspolitiker tagtäglich<br />
in Erinnerung rufen [vgl. Kapitel Internationaler<br />
Terrorismus <strong>und</strong> seine Folgen<br />
für <strong>die</strong> internationalen Beziehungen].<br />
Die économie dominante als<br />
weltwirtschaftlicher Stabilitäts- <strong>und</strong><br />
Unsicherheitsfaktor<br />
Nicht nur der transnationale Terrorismus<br />
erschüttert den Glauben an <strong>die</strong> eigene<br />
Unverw<strong>und</strong>barkeit. Darüber hinaus<br />
musste <strong>die</strong> energiehungrige économie<br />
dominante, <strong>die</strong> mit den eigenen Energievorräten<br />
verschwenderisch umgeht <strong>und</strong><br />
immer mehr von Energieimporten aus<br />
aller Welt abhängig wurde, erkennen,<br />
dass <strong>die</strong> Ressourcensicherheit zu einer<br />
Achillesferse ihres Wohlstandsmodells,<br />
ihrer Wirtschafts- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik<br />
wurde. Der Energie- <strong>und</strong> Sicherheitsexperte<br />
Michael T. Klare (2004) drohte<br />
dem »Öl-Junkie Amerika« an, dass <strong>die</strong><br />
Empfindlichkeit, <strong>die</strong> bereits aus der Verteuerung<br />
der Ölimporte resultierte, sich<br />
in eine gefährliche Verw<strong>und</strong>barkeit verwandeln<br />
könnte, weil das Wirtschafts<strong>und</strong><br />
Alltagsleben, also der American way<br />
of life, zunehmend von Ölimporten abhängt,<br />
<strong>die</strong> größtenteils aus instabilen Regionen<br />
kommen. Dort konkurrieren<br />
auch andere »Öl-Junkies« um den<br />
Zugang zu dem verknappenden<br />
Schmierstoff der Weltwirtschaft, noch<br />
mit Diplomatie (z. B. der Akzeptanz von<br />
korrupten Autokratien) <strong>und</strong> allerlei<br />
Lockangeboten (Krediten, Waffenlieferungen),<br />
aber auch mit einer Konfliktbereitschaft,<br />
<strong>die</strong> manche Beobachter<br />
schon als »neuen Kalten Krieg« deuten.<br />
Auch Europa wird von <strong>die</strong>sen Entwicklungen<br />
betroffen sein.<br />
Die von Energieimporten abhängige
13 Die janusköpfige Globalisierung<br />
Wachstumsdynamik in den USA stellt<br />
nicht nur einen Konjunkturmotor, sondern<br />
auch einen Unsicherheitsfaktor für<br />
<strong>die</strong> Weltwirtschaft dar, <strong>die</strong> empfindlich<br />
auf Konjunkturschwankungen der US-<br />
Ökonomie reagiert: Wenn <strong>die</strong> New Yorker<br />
Börse hüstelt, bekommen <strong>die</strong> Börsen<br />
in aller Welt Fieberanfälle. Einerseits<br />
spielt der seit Jahren boomende US-<br />
Markt für <strong>die</strong> EU- <strong>und</strong> Schwellenländer<br />
eine wichtige Rolle als Nachfrage- <strong>und</strong><br />
Wachstumsmotor, wobei gleichzeitig das<br />
eigene Leistungsbilanzdefizit Schwindel<br />
erregende Größenordnungen erreichte.<br />
Andererseits hätte eine Wachstumsdelle<br />
infolge weiter steigender Energiepreise,<br />
Zinssteigerungen oder Krisen auf dem<br />
Immobilienmarkt aufgr<strong>und</strong> von privaten<br />
Refinanzierungsproblemen gravierende<br />
Auswirkungen auf <strong>die</strong> gesamte Weltwirtschaft<br />
[vgl. Abschnitt Weltwirtschaft <strong>und</strong><br />
Rohstoffe]. Hier werden wechselseitige<br />
Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
deutlich, <strong>die</strong> unerwünschte, aber nur<br />
schwer vermeidbare Begleiterscheinungen<br />
der Globalisierung sind.<br />
Globalisierte Unsicherheit <strong>und</strong><br />
»Renuklearisierung«<br />
Die »globalisierte Unsicherheit«, <strong>die</strong><br />
durch den transnationalen Terrorismus<br />
in nahezu allen Weltregionen greifbar<br />
ist, wird durch neue <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
im Nuklearbereich verstärkt. Mittler-<br />
Die janusköpfige Globalisierung<br />
Die Vermehrung <strong>und</strong> Verdichtung<br />
grenzüberschreitender Wirtschaftsaktivitäten<br />
haben fast alle Ökonomien in<br />
globale Interdependenzen eingeb<strong>und</strong>en<br />
weile wird <strong>die</strong> »Renuklearisierung der<br />
internationalen Politik« für wahrscheinlich<br />
gehalten [vgl. Kapitel Proliferation<br />
<strong>und</strong> Kontrolle von Massenvernichtungswaffen].<br />
Die Frage der nuklearen Verletzbarkeit<br />
hatte über Jahrzehnte hinweg<br />
den Ost-West-Konflikt dominiert <strong>und</strong><br />
war in den 1990er Jahren in den Hintergr<strong>und</strong><br />
getreten. Auch waren Fortschritte<br />
bei der Kontrolle von Massenvernichtungswaffen<br />
zu verzeichnen: Argentinien,<br />
Brasilien <strong>und</strong> Südafrika haben<br />
ihre Nuklearwaffenprogramme abgebrochen.<br />
Libyen verfolgt als Gegenleistung<br />
für seine »Resozialisierung« in der<br />
internationalen Staatengemeinschaft<br />
keine Massenvernichtungsprogramme<br />
mehr; im Irak sind entsprechende Vorhaben<br />
nach dem Sturz von Saddam<br />
Hussein bis auf weiteres nicht zu erwarten.<br />
Doch zeigt <strong>die</strong> Nuklearrüstung<br />
Nordkoreas <strong>und</strong> Irans wie auch <strong>die</strong><br />
Möglichkeit, Terroristen <strong>und</strong> Kriminelle<br />
könnten radioaktive Substanzen<br />
für eine »schmutzige Bombe« verwenden,<br />
dass <strong>die</strong>se Bedrohung weiterhin real<br />
ist (Hochrangige Beratungsgruppe<br />
2004). Trotz diplomatischer Annäherung<br />
stellt der indisch-pakistanische Konflikt<br />
mit seiner nuklearen Komponente zudem<br />
nach wie vor eines der explosivsten<br />
Pulverfässer der Welt dar. Besorgnis<br />
erregend ist auch, dass der Einsatz nuklearer<br />
Waffen im Unterschied zu B- <strong>und</strong><br />
C-Waffen völkerrechtlich nicht geregelt<br />
ist.<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Spielräume nationalstaatlicher<br />
Wirtschaftspolitik verengt. Der vertraute<br />
Begriff der »Volkswirtschaft«<br />
wurde obsolet, weil wichtige Entschei-
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 14<br />
dungen über <strong>die</strong> Handels- oder Finanzpolitik<br />
von internationalen Organisationen<br />
(EU, EZB, WTO) getroffen <strong>und</strong><br />
von Clubs wie der G8 beeinflusst werden.<br />
Interdependenz bedeutet Verflechtung,<br />
aber auch Verw<strong>und</strong>barkeit durch<br />
externe Entscheidungen <strong>und</strong> Entwicklungen.<br />
Verw<strong>und</strong>bar durch Nachfrage<strong>und</strong><br />
Preisschwankungen auf den Gütermärkten<br />
sind im Besonderen <strong>die</strong> wenig<br />
diversifizierten Rohstoffökonomien, bei<br />
denen <strong>die</strong> wenig kalkulierbaren Preisschwankungen<br />
auf das ganze Wirtschaftsleben,<br />
auf <strong>die</strong> finanzpolitischen<br />
Spielräume <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Schulden<strong>die</strong>nstfähigkeit<br />
durchschlagen.<br />
Der zunehmend vernetzte Weltmarkt<br />
bildet eine Art von Weltgericht über das<br />
Wohl <strong>und</strong> Wehe <strong>und</strong> über <strong>die</strong> Wettbewerbsfähigkeit<br />
von Nationen. Auch <strong>die</strong><br />
alten Industrieländer <strong>und</strong> dort <strong>die</strong> alten<br />
Industrien gerieten unter wachsenden<br />
Konkurrenz- <strong>und</strong> Anpassungsdruck. Die<br />
Formel lautet: Adjust or <strong>die</strong>! Dieser Konkurrenzdruck<br />
zwingt zwar zur Veränderung<br />
nicht mehr wettbewerbsfähiger<br />
Strukturen, erzeugt technologischen<br />
Wandel <strong>und</strong> ökonomische Dynamik,<br />
produziert aber auch hohe soziale Kosten<br />
<strong>und</strong> in vielen Ländern Existenzängste,<br />
<strong>die</strong> nationale politische Systeme unter<br />
Legitimationsdruck setzen. Während<br />
<strong>die</strong> reichen Länder über Modernisierungspotenziale<br />
<strong>und</strong> finanzielle Ressourcen<br />
zur Abfederung sozialer Härten<br />
verfügen, sind insbesondere <strong>die</strong> ärmsten<br />
Entwicklungsländer Afrikas südlich der<br />
Sahara, aber auch viele Ökonomien<br />
mittleren Einkommensniveaus in Lateinamerika<br />
durch den globalen Wettbewerbsdruck<br />
überfordert.<br />
Chancen <strong>und</strong> Risiken, Gewinner <strong>und</strong><br />
Verlierer der Globalisierung<br />
Der Bericht der Enquete-Kommission<br />
des Deutschen B<strong>und</strong>estages zur »Globalisierung<br />
der Weltwirtschaft« dokumentierte,<br />
wie umstritten <strong>die</strong> Einschätzungen<br />
von Licht <strong>und</strong> Schatten, Chancen<br />
<strong>und</strong> Risiken der Globalisierung sind.<br />
Auch Berichte von internationalen Organisationen<br />
sind sich nicht einig: Während<br />
der Internationale Währungsfonds<br />
(IWF) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Weltbank, <strong>die</strong> WTO <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> OECD ihre positiven Wirkungen betonen,<br />
überwiegen in Berichten von<br />
UN-Organisationen eher <strong>die</strong> Schattenseiten.<br />
Die Apologeten der Globalisierung<br />
verkünden frohe Botschaften: Die Liberalisierung<br />
der Märkte habe eine Wachstum<br />
fördernde Wirkung, <strong>und</strong> mehr<br />
Wachstum bedeute mehr Wohlstand.<br />
Ihre Kritiker – allen voran Attac als transnational<br />
organisierte Avantgarde der<br />
Globalisierungskritiker – halten dagegen,<br />
dass ihre Wohltaten nur den Starken in<br />
der Weltwirtschaft, außerdem nur wenigen<br />
Schwellenländern <strong>und</strong> dort vielfach<br />
nur Minderheiten zugute kommen. Tatsächlich<br />
ist der Wohlstand immer ungleicher<br />
verteilt: Hatte das Pro-Kopf-Einkommen<br />
der Industrieländer 1981 das<br />
der ärmsten Länder noch um das 16-fache<br />
übertroffen, so war es 2003 bereits<br />
fast 23-mal so hoch [vgl. Kapitel Weltsozialpolitik<br />
<strong>und</strong> Entwicklung]. Kritiker der<br />
Globalisierung erhielten vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong><br />
gewichtige Rückendeckung<br />
von Joseph Stiglitz (2002), dem Nobelpreisträger<br />
für Wirtschaftswissenschaften,<br />
für den <strong>die</strong> Mehrheit der Entwicklungsländer<br />
<strong>und</strong> der dort lebenden<br />
Menschen im »Schatten der Globalisierung«<br />
liegt.<br />
Der Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeograf<br />
Fred Scholz (2000) zählte sogar <strong>die</strong>
15 Die janusköpfige Globalisierung<br />
»Masse der Weltbevölkerung«, <strong>die</strong> er dem<br />
über alle Weltregionen verstreuten<br />
»neuen Süden« zurechnete, zu der von<br />
der Globalisierung ausgegrenzten »Restwelt«.<br />
Der Human Development Report<br />
1999 diagnostizierte eine »Globalisierung<br />
ohne menschliches Gesicht«, <strong>die</strong><br />
einem großen Teil der Menschheit ein<br />
menschenwürdiges Dasein verwehrt.<br />
Das Vertrackte ist, dass Apologeten<br />
<strong>und</strong> Kritiker ihre Argumente mit einer<br />
Fülle von Daten untermauern können.<br />
Die Globalisierung hat Gewinner <strong>und</strong><br />
Verlierer, sowohl auf der Ebene der Staatenwelt<br />
als auch innerhalb der Gesellschaften,<br />
sowohl in der OECD-Welt als<br />
auch in der Dritten Welt. Sie bietet<br />
einerseits wettbewerbsfähigen Schwellenländern<br />
neue Chancen auf dem zunehmend<br />
deregulierten Weltmarkt <strong>und</strong> droht<br />
andererseits, ganze Regionen wirtschaftlich<br />
<strong>und</strong> politisch noch weiter ins Abseits<br />
zu drängen. Globalisierung bedeutet Integration<br />
<strong>und</strong> Fragmentierung, In- <strong>und</strong><br />
Exklusion, Globalismus <strong>und</strong> Parochialismus,<br />
also Rückbesinnung auf das Lokale<br />
<strong>und</strong> Eigene (»Glokalisierung«).<br />
Nach Prognosen der OECD <strong>und</strong> WTO<br />
werden fast alle Ländergruppen irgendwie<br />
von der Liberalisierung des Welthandels<br />
profitieren – möglicherweise mit<br />
Ausnahme der Rohstoffländer Afrikas<br />
südlich der Sahara, <strong>die</strong> in der Regel nur<br />
wenige Rohstoffe auf niedriger Verarbeitungsstufe<br />
mit entsprechend geringer<br />
Wertschöpfung exportieren können. Das<br />
Kapitel Internationale Rohstoffmärkte:<br />
steigende Preise <strong>und</strong> wachsendes Konfliktpotenzial<br />
zeigt allerdings, dass auch<br />
Afrika von der steigenden Nachfrage<br />
nach mineralischen Rohstoffen profitieren<br />
konnte. Der Nachfrageschub aus<br />
China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n führte hier zwar zu<br />
Preissteigerungen, birgt aber <strong>die</strong> Gefahr,<br />
Afrika auf <strong>die</strong> koloniale Rolle eines Rohstofflieferanten<br />
zurückzuwerfen, zu deren<br />
Überwindung <strong>die</strong> Entwicklungspolitik<br />
beitragen wollte. Während <strong>die</strong><br />
fernöstliche Wachstumsregion ihre Export-<br />
<strong>und</strong> Entwicklungserfolge vor allem<br />
der Produktion <strong>und</strong> Ausfuhr wettbewerbsfähiger<br />
Industriegüter <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />
verdankt, werden <strong>die</strong> Rohstoffländer<br />
noch weiter von der weltwirtschaftlichen<br />
Dynamik abgekoppelt.<br />
Afrika südlich der Sahara konnte auch <strong>die</strong><br />
von der EU den AKP-Staaten eingeräumten<br />
Handelspräferenzen kaum nutzen.<br />
Diese Abkoppelung ist jedoch kein Folgeproblem<br />
der Globalisierung, sondern<br />
eher eine Folge der internen Verfasstheit<br />
der Mehrzahl der Länder, ihrer zerrütteten<br />
politischen Strukturen <strong>und</strong> der damit<br />
verb<strong>und</strong>enen Unfähigkeit, im internationalen<br />
Wettbewerb zu bestehen <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> kolonialen Hypotheken zu überwinden.<br />
Die Globalisierung kann also nicht<br />
pauschal für <strong>die</strong> Verelendung <strong>und</strong> Ausbeutung<br />
von Menschen verantwortlich<br />
gemacht werden. Diese Warnung vor<br />
einer pauschalen Verteufelung hebelt jedoch<br />
nicht <strong>die</strong> Kritik aus, <strong>die</strong> das Entwicklungsprogramm<br />
der Vereinten Nationen<br />
(UNDP) an den sozialen Grausamkeiten<br />
der Globalisierung übte oder<br />
<strong>die</strong> World Commission on the Social<br />
Dimension of Globalization (2004) zum<br />
Urteil brachte, dass <strong>die</strong> von der Globalisierung<br />
verschärften globalen Ungleichheiten<br />
»moralisch unannehmbar <strong>und</strong><br />
politisch unhaltbar« seien:<br />
»Der derzeitige Prozess der Globalisierung<br />
führt zu unausgewogenen Ergebnissen,<br />
innerhalb von Ländern wie zwischen<br />
ihnen. Zwar wird Reichtum geschaffen,<br />
aber zu viele Länder <strong>und</strong> Menschen können<br />
nicht davon profitieren.«
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 16<br />
»Menschliche Sicherheit« in einer<br />
fragmentierten Welt<br />
Die bereits angesprochene »Globalisierung<br />
ohne menschliches Gesicht« bedeutet<br />
eine existenzielle Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
<strong>und</strong> einen Verlust von <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit«<br />
(human security). Der Begriff<br />
erfasst sowohl <strong>die</strong> Garantie der physischen<br />
<strong>und</strong> psychischen Integrität der<br />
Menschen (freedom from fear) als auch<br />
eine Befriedigung sozioökonomischer<br />
Gr<strong>und</strong>bedürfnisse (freedom from want)<br />
(Commission on Human Security 2003).<br />
Menschliche Sicherheit ergänzt das<br />
Konzept der »menschlichen Entwicklung«,<br />
insofern es dramatische Verschlechterungen<br />
von Lebenslagen für das<br />
Individuum in den Mittelpunkt rückt,<br />
<strong>die</strong> einer Antwort durch <strong>die</strong> internationale<br />
Gemeinschaft bedürfen. Mit anderen<br />
Worten: Menschliche Unsicherheit<br />
bezieht Verw<strong>und</strong>barkeit auf den Einzelnen<br />
<strong>und</strong> macht ihn bzw. sie zum normativen<br />
<strong>und</strong> empirischen Referenzpunkt.<br />
Besonders drastisch kommt <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong><br />
menschlicher Sicherheit darin<br />
zum Ausdruck, dass nach wie vor ein<br />
Fünftel der Weltbevölkerung – mehr als<br />
eine Milliarde Menschen – in extremer<br />
Armut lebt <strong>und</strong> mit weniger als einem<br />
US-$ pro Tag auskommen muss. Wie wenig<br />
<strong>die</strong> Lage sich durch <strong>die</strong> bloße Schaffung<br />
formaler Beschäftigungsverhältnisse<br />
verbessern lässt, zeigt eine weitere Zahl:<br />
Weltweit 2,85 Mrd. Menschen ver<strong>die</strong>nen<br />
derzeit in ihren formalen Beschäftigungsverhältnissen<br />
nicht genug, um <strong>die</strong><br />
Armutsschwelle von zwei US-$ pro Tag<br />
zu überwinden [vgl. Kapitel Weltsozialpolitik<br />
<strong>und</strong> Entwicklung; Armutsbekämpfung<br />
<strong>und</strong> Partizipation]. Allerdings gibt es<br />
einen positiven Trend: Der Anteil der in<br />
extremer Armut lebenden Menschen ist<br />
seit 1990 von 27,9 auf 21,1 % zurückgegangen<br />
– auch wenn einschränkend angemerkt<br />
werden muss, dass <strong>die</strong>s fast ausschließlich<br />
auf Fortschritte in China<br />
<strong>und</strong> Ostasien zurückzuführen ist <strong>und</strong> in<br />
anderen Weltregionen Stagnation oder<br />
gar Rückschritte vorherrschen [vgl.<br />
Kapitel Armutsbekämpfung <strong>und</strong> Partizipation].<br />
Chronische Mangelernährung ist eine<br />
der elementarsten Verletzungen<br />
menschlicher Sicherheit. 842 Mio.<br />
Menschen weltweit leiden darunter, wobei<br />
Südasien <strong>und</strong> Afrika südlich der Sahara<br />
in besonderem Maße betroffen<br />
sind. Eine Verschlechterung der Ernährungslage<br />
findet dabei insbesondere in<br />
Kriegszeiten statt. So ging in Angola <strong>die</strong><br />
Nahrungsmittelproduktion im Verlauf<br />
des Krieges um 44 % zurück. Erfreulicherweise<br />
ist aber in allen Weltregionen<br />
<strong>die</strong> Kindersterblichkeit bis zum Alter von<br />
fünf Jahren seit 1970 gesunken, so selbst<br />
in Afrika südlich der Sahara von 24 auf<br />
17 %.<br />
Besonders betroffen von den Negativerscheinungen<br />
einer fragmentierten<br />
Weltordnung sind Menschen in »fragilen<br />
Staaten«, in denen das Gewaltmonopol<br />
ero<strong>die</strong>rt ist <strong>und</strong> es dem Staat in wesentlichen<br />
Funktionsbereichen an Leistungsfähigkeit<br />
mangelt. Wie dramatisch <strong>die</strong><br />
Lage ist, hat das britische Department<br />
for International Development (DFID)<br />
aufgezeigt: Die Kindersterblichkeit liegt<br />
in fragilen Staaten doppelt, <strong>die</strong> Müttersterblichkeit<br />
sogar dreimal so hoch wie<br />
in anderen armen Ländern. Ein Drittel<br />
der Bevölkerung leidet unter Unterernährung.<br />
Die Wahrscheinlichkeit, dass<br />
<strong>die</strong> Millenniumsentwicklungsziele in<br />
<strong>die</strong>sen Bereichen umgesetzt werden können,<br />
liegt unter 20 % [vgl. Kapitel Fragile<br />
Staaten <strong>und</strong> globale Friedenssicherung].
17 Die janusköpfige Globalisierung<br />
Der globalisierte<br />
»Casino-Kapitalismus« erzeugt hier<br />
Empfindlichkeiten, dort<br />
<strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
In den 1990er Jahren wurden sieben regionale<br />
Finanzkrisen gezählt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> internationalen<br />
Finanzmärkte in Turbulenzen<br />
stürzten, weil es noch nicht gelungen<br />
ist, wirksame Regulierungssysteme<br />
für <strong>die</strong> dynamischen, zugleich aber instabilen<br />
Weltfinanzmärkte zu schaffen.<br />
Nach unterschiedlichen Schätzungen<br />
von internationalen Organisationen haben<br />
<strong>die</strong> Bankenkrisen Ende der 1990er<br />
Jahre in Mexiko fast 20 % des Bruttoinlandsprodukts<br />
(BIP), in Indonesien<br />
mehr als 50 %, in Südkorea 35 %, in Russland<br />
40 % <strong>und</strong> in Argentinien sogar<br />
etwa 60 % aufgezehrt. Während <strong>die</strong> westlichen<br />
Banken zwar einige Verluste hinnehmen<br />
mussten, <strong>die</strong> aber ihre Existenz<br />
nicht bedrohten, hatten <strong>die</strong> Bankenkrisen<br />
besonders in Indonesien <strong>und</strong> Argentinien<br />
schwere Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozial-<br />
krisen zur Folge, von denen sie sich lange<br />
nicht erholten. Die Enquete-Kommission<br />
des Deutschen B<strong>und</strong>estages zur<br />
»Globalisierung der Weltwirtschaft«<br />
(2002, S. 77) fasste <strong>die</strong> ökonomischen, sozialen<br />
<strong>und</strong> politischen Kosten von Finanzkrisen<br />
folgendermaßen zusammen:<br />
»Nationale <strong>und</strong> vor allem internationale<br />
Finanzkrisen sind mit großen<br />
volkswirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen sowie<br />
politischen Kosten verb<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> sich<br />
nur zum Teil in Geldgrößen beziffern<br />
lassen. Das soziale Leben verändert sich,<br />
auch wenn nach gewisser Zeit <strong>die</strong> Statistiken<br />
anzeigen, dass <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Finanzkrise<br />
entstandene ›Delle‹ bei Wachstum<br />
<strong>und</strong> Aktienkursen, bei Beschäftigung<br />
<strong>und</strong> Einkommen der Bevölkerungen<br />
aufgefüllt werden konnte . . . Es<br />
kann sogar sein, dass einige Schichten<br />
<strong>und</strong> Sektoren der Armen einer Gesellschaft<br />
von einer Finanzkrise profitieren<br />
(wenn beispielsweise <strong>die</strong> Nachfrage<br />
nach informell erzeugten Agrarprodukten<br />
steigt), während andere darunter zu
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 18<br />
leiden haben. Die Finanzkrisen differenzieren<br />
also zwischen ›arm‹ <strong>und</strong> ›reich‹<br />
<strong>und</strong> innerhalb der ›armen‹ Sektoren<br />
nochmals.«<br />
Die Krisenanfälligkeit des spekulativen<br />
»Casino-Kapitalismus«, der sich weitgehend<br />
von der Realwirtschaft abgekoppelt<br />
hat <strong>und</strong> nicht mehr vorrangig der<br />
Finanzierung von Handel <strong>und</strong> Dienstleistungen,<br />
sondern der buchstäblich<br />
grenzenlosen Jagd nach Spekulationsgewinnen<br />
<strong>die</strong>nt, widerspricht den Regeln<br />
einer »fairen Globalisierung«. Selbst der<br />
Großspekulant George Soros (1998)<br />
sprach unter dem Eindruck der Asien-<br />
Krise von 1997/98 von der »kapitalistischen<br />
Bedrohung« eines ungezügelten<br />
»Casino-Kapitalismus«. Auch der IWF<br />
betonte in seinem Global Financial Stability<br />
Report von 2002 <strong>die</strong> »großen Risiken«,<br />
denen das Weltfinanzsystem weiterhin<br />
ausgesetzt sei.<br />
Zu <strong>die</strong>sen Risiken zählt auch <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong><br />
der finanziellen Integrität <strong>und</strong><br />
Stabilität durch Geldwäsche. Sie ist mit<br />
der Liberalisierung, Deregulierung <strong>und</strong><br />
Globalisierung der Finanzmärkte zu<br />
einem Problem mit globalen Dimensionen<br />
geworden. Nicht nur ihr Umfang hat<br />
zugenommen, sondern auch <strong>die</strong> damit<br />
verb<strong>und</strong>enen Gefahren für <strong>die</strong> Wirtschaft,<br />
<strong>die</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> Politik<br />
sind gewachsen. Am 11. September 2001<br />
wurde offensichtlich, dass <strong>die</strong> »deregulierten<br />
Finanzmärkte nicht nur Vehikel<br />
der Wohlstandsmehrung in der Welt<br />
sind, sondern auch zur Finanzierung der<br />
organisierten Kriminalität <strong>und</strong> terroristischer<br />
Netzwerke missbraucht werden<br />
können« (Enquete-Kommission 2002,<br />
S. 79).<br />
Es gibt deshalb gute Gründe, warum<br />
<strong>die</strong> UNDP-Stu<strong>die</strong>ngruppe um Inge Kaul<br />
(2003) <strong>die</strong> Stabilität der internationalen<br />
Finanzmärkte zu den schutzbedürftigen<br />
global public goods zählte, weil globale Finanzkrisen<br />
nicht nur <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>feste des<br />
Weltfinanzsystems, das gewissermaßen<br />
das Rückgrat der Weltwirtschaft bildet,<br />
erschüttern, sondern auch viele Millionen<br />
Menschen in Armut stürzen können.<br />
Die Asienkrise von 1997 bildete auch<br />
den Ausgangspunkt für Bemühungen<br />
Japans <strong>und</strong> gleich gesinnter Länder, im<br />
Kontext des Millenniumsgipfels von<br />
2000 eine Commission on Human Security<br />
ins Leben zu rufen <strong>und</strong> u. a. eine<br />
verminderte Krisenanfälligkeit des internationalen<br />
Finanzsystems zu fordern.<br />
Dennoch ist es bisher den staatlichen <strong>und</strong><br />
privaten Managern der internationalen<br />
Finanzmärkte nicht gelungen, durch den<br />
Aufbau einer neuen internationalen Finanzarchitektur<br />
<strong>die</strong> Risiken <strong>und</strong> Verwerfungen<br />
internationaler Finanzkrisen mit<br />
ihren schweren wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen<br />
Folgekosten beherrschbar zu machen<br />
[vgl. Kapitel Internationale Finanzmärkte<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Verschuldung der USA].<br />
Nicht zuletzt vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong> haben<br />
sich <strong>die</strong> ostasiatischen Länder einschließlich<br />
Japan seit der Asienkrise mit<br />
Währungsreserven in Höhe von 2500<br />
Mrd. US-$ eingedeckt – vor allem in<br />
US-Dollar. Diese Schutzmaßnahme kann<br />
zugleich <strong>die</strong> US-amerikanische Ökonomie<br />
empfindlich treffen. Denn schon<br />
China mit Währungsreserven von 900<br />
Mrd. US-$ wäre in der Lage, <strong>die</strong> US-Finanzmärkte<br />
gezielt durcheinander zu<br />
bringen.<br />
Der Bericht der Enquete-Kommission<br />
des Deutschen B<strong>und</strong>estages zur »Globalisierung<br />
der Weltwirtschaft« belegt, dass<br />
es nicht an Vorschlägen mangelt, wie <strong>die</strong><br />
Probleme der internationalen Spekulation<br />
<strong>und</strong> Währungsmanipulation, der<br />
Geldwäsche oder der Steuerflucht, <strong>die</strong> allesamt<br />
<strong>die</strong> Regelungskompetenz von<br />
Nationalstaaten überfordern, durch in-
19 Die janusköpfige Globalisierung<br />
ternationale Kooperation bewältigt werden<br />
könnten. Es liegt an der Macht <strong>und</strong><br />
den Interessen international operierender<br />
Banken an möglichst wenigen staatlichen<br />
<strong>und</strong> internationalen Regulierungsvorgaben,<br />
dass bisher nur kleine Reformschritte<br />
zustande kamen, <strong>die</strong> im Kern<br />
auf Vorschlägen des Financial Stability<br />
Forum basierten.<br />
Normative Standards <strong>und</strong><br />
Demokratisierung<br />
Die »Interdependenz der Interdependenzen«<br />
hat nicht nur ökonomische <strong>und</strong> soziale,<br />
sondern auch politische <strong>und</strong> kulturelle<br />
Wechselwirkungen, von den später<br />
zu behandelnden ökologischen Empfindlich-<br />
<strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> ganz zu<br />
schweigen. Die beiden Autoren des Bestsellers<br />
über <strong>die</strong> »Globalisierungsfalle«<br />
(Martin/Schumann 1998) dämonisierten<br />
<strong>die</strong> Globalisierung als »Angriff auf<br />
Wohlstand <strong>und</strong> Demokratie«. In der<br />
Quadratur des Kreises zwischen Wettbewerbsfähigkeit,<br />
sozialer Gerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> Demokratie drohe Erstere zu obsiegen.<br />
Ralf Dahrendorf erkannte in einer<br />
»ungezügelten Globalisierung« <strong>die</strong> Gefahr<br />
wachsender gesellschaftlicher Desintegration<br />
<strong>und</strong> politischer Instabilität,<br />
<strong>die</strong> wiederum <strong>die</strong> Versuchung zu autoritären<br />
Problemlösungen verstärken<br />
könnte. Der Politologe Karl Kaiser (1998)<br />
schloss aus demokratietheoretischer<br />
Sicht nicht aus, dass »dem Sieg der Demokratie<br />
am Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
ihre schleichende Erosion im Gefolge der<br />
massiv wachsenden Globalisierung im<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>ert« folgen könnte, weil <strong>die</strong><br />
Verflechtung moderner Gesellschaften<br />
<strong>die</strong> demokratischen Kontrollmechanismen<br />
des überkommenen Territorialstaates<br />
untergrabe.<br />
Menschenrechtsgruppen befürchten,<br />
dass <strong>die</strong> Globalisierung viele Fortschritte<br />
in der normativen Ausgestaltung<br />
der Menschenrechtskataloge unterlaufen<br />
könnte: <strong>die</strong> sozialen Menschenrechte<br />
durch eine Verschlechterung der Lebens-<br />
<strong>und</strong> Arbeitsbedingungen im weltweiten<br />
Wettbewerb um Standortvorteile,<br />
<strong>die</strong> Frauenrechte durch eine noch<br />
größere Ausbeutung in den »Weltmarktfabriken«<br />
<strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Interkontinentalisierung<br />
des Frauenhandels, <strong>die</strong><br />
Kinderrechte durch <strong>die</strong> Ausweitung von<br />
Kinderarbeit. Frauenforscherinnen lasten<br />
der Globalisierung zusätzliche Belastungen<br />
für <strong>die</strong> »globalisierte Frau« an<br />
(Wichterich 1998).<br />
Die Enquete-Kommission zur »Globalisierung<br />
der Weltwirtschaft« zog auf der<br />
Gr<strong>und</strong>lage mehrerer Gutachten zur Situation<br />
der Frauen im Globalisierungsprozess,<br />
<strong>die</strong> einvernehmlich <strong>die</strong> »Gender-<br />
Blindheit« von ökonomischen Theorien<br />
<strong>und</strong> Statistiken beklagten, eine negative<br />
Bilanz <strong>und</strong> wagte eine nur skeptische<br />
Prognose, <strong>die</strong> im Kapitel Geschlechtergerechtigkeit<br />
<strong>und</strong> internationale Frauenbewegungen<br />
erhärtet wird. Auch wenn es in<br />
einigen Bereichen (so etwa bei der Bildung)<br />
erfreuliche Fortschritte gab, leiden<br />
Frauen nach wie vor in hohem Maße an<br />
menschlicher Unsicherheit. Besonders<br />
im häuslichen Bereich bleiben Frauen<br />
durch Gewalt verw<strong>und</strong>bar – Stu<strong>die</strong>n in<br />
über 50 Ländern haben im vergangenen<br />
Jahrzehnt ermittelt, dass 20 bis 50 % der<br />
Frauen betroffen sind.<br />
Die Öffnung der Märkte für Kapital,<br />
Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />
globalisierte Konkurrenz um Standortvorteile<br />
haben <strong>die</strong> Fähigkeiten von<br />
Staaten vermindert, soziale Standards<br />
durchzusetzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verhandlungsmacht<br />
von multinationalen Unternehmen<br />
gestärkt. Ihre transnationale Orga-
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 20<br />
nisation <strong>und</strong> ihre exit option beim Versuch<br />
von Gastländern, ihre Aktivitäten<br />
zu kontrollieren, haben auch <strong>die</strong> Organisationsmacht<br />
national organisierter Gewerkschaften<br />
geschwächt. Die von der<br />
WTO vorangetriebene Globalisierung<br />
zielt darauf ab, Hindernisse zu beseitigen,<br />
<strong>die</strong> sich weltweiter Investitionstätigkeit<br />
<strong>und</strong> dem weltweiten Absatz von<br />
Produkten in den Weg stellen, ohne<br />
Rücksicht darauf, unter welchen Wettbewerbsbedingungen<br />
<strong>die</strong>se Produkte hergestellt<br />
wurden. In <strong>die</strong>ser Rationalität<br />
des globalisierten Marktes sah auch <strong>die</strong><br />
UN-Kommission für wirtschaftliche, soziale<br />
<strong>und</strong> kulturelle Rechte (CESCR)<br />
das »Risiko, dass sie den zentralen Stellenwert<br />
mindert, der den Menschenrechten<br />
in der UN-Charta im Allgemeinen<br />
<strong>und</strong> in der Allgemeinen Erklärung<br />
der Menschenrechte im Besonderen eingeräumt<br />
wird«. Zugleich führt <strong>die</strong> ökonomische<br />
Globalisierung im Verb<strong>und</strong><br />
mit der sich herausbildenden Weltöffentlichkeit<br />
jedoch auch dazu, dass Arbeits-,<br />
Umwelt- <strong>und</strong> Menschenrechtsstandards<br />
in noch so entfernten Regionen<br />
<strong>und</strong> Winkeln der Weltwirtschaft<br />
weltweit problematisiert werden können.<br />
Multinationale Unternehmen, <strong>die</strong><br />
sich durch Standortverlagerungen den<br />
nationalen Regulierungssystemen der<br />
Industrieländer entziehen, werden in<br />
<strong>die</strong>sem Prozess sukzessive gegenüber<br />
internationalen Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs), Me<strong>die</strong>n <strong>und</strong> internationalen<br />
Organisationen rechenschaftspflichtig.<br />
Die Globalisierung zeichnet sich also<br />
durch eine janusköpfige Vieldeutigkeit<br />
aus, weil sie Risiken <strong>und</strong> Chancen enthält.<br />
Dies gilt auch für <strong>die</strong> Frage, ob sie<br />
<strong>die</strong> Menschenrechte <strong>und</strong> Überlebensfähigkeit<br />
von Demokratien gefährdet. Es<br />
hat sich herausgestellt, dass sie auch An-<br />
reize für Demokratisierung, zivilgesellschaftliches<br />
Engagement <strong>und</strong> zwischenstaatliche<br />
Kooperation schafft: Die Nationalstaaten<br />
werden ebenso wie global<br />
operierende Unternehmen international<br />
rechenschaftspflichtig, weil ihr Handeln<br />
zunehmend an weltweit gültigen<br />
Standards gemessen wird. Dafür sorgen<br />
sowohl <strong>die</strong> aus aller Welt berichtenden<br />
Me<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> eine kritische Weltöffentlichkeit<br />
hergestellt haben, als auch <strong>die</strong> zunehmend<br />
transnational vernetzten <strong>und</strong><br />
agierenden NGOs. Auch sie nutzen für<br />
ihre Aktionsformen <strong>die</strong> Potenziale der<br />
globalen Telekommunikation <strong>und</strong> der<br />
»Internet-Welt«.<br />
Der fast »offene Himmel« der globalen<br />
Telekommunikation sorgt in einer Art<br />
von »Kommunikationsguerilla« dafür,<br />
dass auch Diktaturen unter Legitimationsdruck<br />
gesetzt werden. Die Staatenwelt<br />
kann nicht mehr wie auf dem Wiener<br />
Kongress in diplomatischer Exklusivität<br />
schalten <strong>und</strong> walten, weil <strong>die</strong> Gesellschaftswelt<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Weltöffentlichkeit zu<br />
Machtfaktoren in den internationalen<br />
Beziehungen wurden. Man könnte <strong>die</strong>se<br />
Wirkungen <strong>und</strong> Einwirkungen der Globalisierung<br />
auf <strong>die</strong> internationalen Beziehungen<br />
auch als positive Version der<br />
Empfindlichkeit deuten.<br />
Dieser Trend drückt sich in einem empirisch<br />
nachweisbaren Anstieg demokratischer<br />
Herrschaft aus, der insbesondere<br />
in den Jahren zwischen 1985 <strong>und</strong><br />
1994 stattfand. Auch hat sich <strong>die</strong> Menschenrechtslage<br />
nennenswert verbessert.<br />
In den beiden schlechtesten Kategorien<br />
der fünfstufigen Political Terror<br />
Scale (PTS) fanden sich 2004 18 % der<br />
Länder; 1990 waren es noch 29 % gewesen<br />
[vgl. Kapitel Good Governance <strong>und</strong><br />
Menschenrechte – Bad Governance <strong>und</strong><br />
Korruption]. Zugleich droht bei Demokratisierungsprozessen<br />
häufig ein
21 Neue Instabilitäten im internationalen System durch den Aufstieg Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns<br />
Scheitern: Wie <strong>die</strong> State Failure Task Force<br />
(2003) zeigen konnte, sind Länder im<br />
Übergang von autoritären zu demokratischen<br />
Herrschaftsformen sieben Mal<br />
anfälliger für Gewalt <strong>und</strong> Staatsverfall als<br />
voll entwickelte Demokratien oder aber<br />
Autokratien. Auch leiden Menschen in<br />
einem Fünftel der Länder immer noch<br />
unter politischer Unfreiheit <strong>und</strong> gravierenden<br />
Menschenrechtsverletzungen.<br />
Neue Instabilitäten im internationalen System durch den<br />
Aufstieg Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns<br />
Viele Beobachter sind sich einig, dass der<br />
Aufstieg Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns in Weltwirtschaft<br />
<strong>und</strong> -politik das internationale<br />
System in den kommenden Jahrzehnten<br />
nachhaltig verändern wird.<br />
Beide Länder zeichnen sich durch lang<br />
andauerndes Wachstum aus, das an <strong>die</strong><br />
Wirtschaftsw<strong>und</strong>er der kleinen »Tigerstaaten«<br />
wie Südkorea, Taiwan <strong>und</strong> Singapur<br />
in den 1970er <strong>und</strong> 1980er Jahren<br />
erinnert. Doch nun drängen <strong>die</strong> beiden<br />
bevölkerungsstärksten Länder der Welt<br />
in <strong>die</strong> globale Wirtschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> Global<br />
Governance-Architektur <strong>und</strong> verändern<br />
deren Gr<strong>und</strong>muster. China ist innerhalb<br />
weniger Jahre zur drittgrößten Exportnation<br />
aufgestiegen, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> zweitgrößten<br />
Devisenreserven der Welt verfügt<br />
<strong>und</strong> zu den wesentlichen<br />
CO 2-Emittenten aufgeschlossen hat.<br />
In<strong>die</strong>n folgt mit einer Zeitverzögerung<br />
von etwa einem Jahrzehnt einem ähnlichen<br />
Pfad. Beide Länder spielen in der<br />
globalen Klimapolitik, innerhalb der<br />
WTO sowie als wichtige Rohstoffimporteure<br />
auch weltpolitisch eine immer<br />
wichtigere Rolle. Diese Strukturveränderungen<br />
können zu neuen Instabilitäten<br />
im internationalen System führen, aber<br />
bringen zugleich auch Chancen mit<br />
sich:<br />
● Gelingt es China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n, ihren<br />
wirtschaftlichen Aufstieg fortzusetzen,<br />
wäre ein Umbruch von der quasi-<br />
unilateralen Struktur des globalen<br />
Systems in Richtung einer multipolaren<br />
Machtkonstellation <strong>die</strong> Folge. Die<br />
Geschichte des Auf- <strong>und</strong> Abstiegs alter<br />
<strong>und</strong> neuer Mächte zeigt, dass solche<br />
Phasen der Machttransition in der<br />
Weltpolitik in der Regel Turbulenzen<br />
<strong>und</strong> Konflikte bis hin zum Krieg mit<br />
sich bringen. Der Westen, allen voran<br />
<strong>die</strong> USA, werden lernen müssen, mit<br />
den Machtansprüchen Chinas <strong>und</strong><br />
In<strong>die</strong>ns produktiv umzugehen. Die<br />
westliche Führungsmacht wird spüren,<br />
dass <strong>die</strong> Phase der »globalen<br />
Dominierung« (Brzezinski) durch <strong>die</strong><br />
einzige Supermacht nur ein kurzer historischer<br />
Moment war <strong>und</strong> neue Formen<br />
internationaler Kooperation entwickelt<br />
werden müssen, <strong>die</strong> den sich<br />
herausbildenden globalen Machtverteilungen<br />
entsprechen.<br />
● China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n stehen vor der Herausforderung,<br />
ihre neue Rolle als<br />
Global Governance-Akteure im Spannungsfeld<br />
von Eigeninteressen, tra<strong>die</strong>rten<br />
Zuschreibungen als »Sprecher<br />
des Südens« <strong>und</strong> wachsender globaler<br />
Verantwortung zu finden. In <strong>die</strong>sem<br />
Übergang von der westlichen zur<br />
stärker asiatisch geprägten Weltordnung<br />
dürften <strong>die</strong> Instabilitäten des<br />
internationalen Systems zunächst zunehmen,<br />
weil alte Machtstrukturen<br />
<strong>und</strong> etablierte internationale Organi-
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 22<br />
sationen an Bedeutung verlieren werden,<br />
worüber derzeit z. B. in den Bretton-Woods-Organisationen<br />
intensiv<br />
diskutiert wird, während neue Akteure,<br />
wie <strong>die</strong> Shanghai Organisation<br />
für Zusammenarbeit (SCO), in der<br />
China, Russland <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n ihre<br />
Energie- <strong>und</strong> Ressourcenpolitiken abstimmen,<br />
an Relevanz gewinnen. Gelingt<br />
in <strong>die</strong>ser Übergangsphase ein Interessenausgleich<br />
zwischen den USA,<br />
Europa, China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n, könnte <strong>die</strong><br />
Welt im Jahr 2020 stabiler sein als<br />
heute; doch genauso wahrscheinlich<br />
ist eine Renaissance des Wettbewerbs<br />
der großen Mächte um <strong>die</strong> Vorherrschaft<br />
in der globalen Politik.<br />
● Obwohl China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n zu relevanten<br />
Akteuren des globalen Systems<br />
heranwachsen, leben noch immer <strong>die</strong><br />
Hälfte der absolut Armen <strong>die</strong>ser Welt<br />
in <strong>die</strong>sen beiden Ländern. Die<br />
»menschliche Sicherheit« von etwa<br />
400 Mio. Chinesen <strong>und</strong> Indern bleibt<br />
prekär; ein Drittel der indischen Bevölkerung<br />
lebt z. B. mit weniger als<br />
1 US-$ pro Tag <strong>und</strong> damit unter der<br />
absoluten Armutsgrenze. Zugleich erhöhen<br />
<strong>die</strong> sich rasch modernisierenden,<br />
wettbewerbsfähigen <strong>und</strong> exportorientierten<br />
Wirtschaftssektoren<br />
Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns <strong>die</strong> soziale Unsicherheit<br />
in anderen Regionen der<br />
Welt. Beide Dynamiken sind in einer<br />
globalisierten Welt eng miteinander<br />
verb<strong>und</strong>en. Sollte z. B. in China <strong>die</strong> soziale<br />
Polarisierung zu einer Legitima-<br />
tionskrise des Staates <strong>und</strong> ernsthaften<br />
Aufständen führen, wären politische<br />
<strong>und</strong> ökonomische Turbulenzen <strong>und</strong><br />
Instabilitäten in ganz Asien <strong>und</strong> weltweit<br />
denkbar. Zugleich drohen aufgr<strong>und</strong><br />
der Exportwellen aus China<br />
<strong>und</strong> In<strong>die</strong>n protektionistische Abwehrversuche,<br />
nicht zuletzt der Industrieländer,<br />
<strong>die</strong> das Welthandelssystem<br />
gefährden könnten.<br />
● Soziale <strong>und</strong> politische Fortschritte in<br />
China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n sind also wichtig,<br />
um <strong>die</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> der politischen<br />
Systeme <strong>die</strong>ser beiden Länder<br />
einzuhegen <strong>und</strong> zugleich damit verb<strong>und</strong>ene<br />
Destabilisierungspotenziale<br />
im internationalen System zu reduzieren.<br />
Für China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n gilt zunehmend,<br />
was für <strong>die</strong> USA seit langem galt:<br />
Die Innenpolitiken <strong>die</strong>ser Giganten<br />
haben unmittelbare Auswirkungen auf<br />
<strong>die</strong> Weltpolitik. Vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong><br />
wären <strong>die</strong> europäischen Entscheidungsträger<br />
gut beraten, ihre<br />
Strategien gegenüber <strong>die</strong>sen beiden<br />
Ländern, <strong>die</strong> sich bisher vor allem auf<br />
klassische Entwicklungskooperation<br />
<strong>und</strong> Außenwirtschaftsförderung konzentrieren,<br />
auszubauen, um den neuen<br />
Realitäten gerecht zu werden.<br />
Die sich verändernde Rolle Chinas <strong>und</strong><br />
In<strong>die</strong>ns führt auch dazu, dass der Wettbewerb<br />
um Zugänge zu Energiequellen<br />
<strong>und</strong> zu für <strong>die</strong> industrielle Produktion<br />
wichtigen Ressourcen an Bedeutung gewinnt.
23 Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />
Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />
Vor einigen Jahren wurden aus der regional<br />
schon virulenten <strong>und</strong> künftig befürchteten<br />
globalen Wasserkrise Szenarien<br />
von kommenden »Wasserkriegen«<br />
abgeleitet. Schlagzeilen lauteten damals:<br />
»Wasser wird künftig knapper <strong>und</strong> wertvoller<br />
sein als Öl« oder – so ein Vizepräsident<br />
der Weltbank – »Die Kriege des<br />
21. Jahrh<strong>und</strong>erts werden vor allem um<br />
Wasser, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage allen Lebens <strong>und</strong><br />
Wirtschaftens, geführt werden«. Die<br />
Wasserkrise wurde nicht entschärft, <strong>und</strong><br />
es gibt an vielen Orten <strong>und</strong> zwischen<br />
mehreren Staaten Verteilungskonflikte<br />
um das knappe Gut Wasser, sei es zur<br />
Versorgung einer wachsenden Bevölkerung<br />
mit Trinkwasser oder zur Bewässerung<br />
landwirtschaftlicher Flächen. Bereits<br />
heute sind nach Angaben der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />
(WHO) 2 Mrd.<br />
Menschen von Wasserknappheit, davon<br />
1,1 Mrd. im Bereich des Trinkwassers,<br />
betroffen. Im Jahr 2050 werden nach Angaben<br />
des World Water Development Report<br />
(UNESCO-WWAP 2003) weiterhin<br />
mindestens zwei Milliarden Menschen<br />
unter Wasserknappheit leiden; im<br />
schlechtesten Fall steigt <strong>die</strong> Zahl sogar<br />
auf bis zu sieben Milliarden [vgl. Kapitel<br />
Umweltwandel <strong>und</strong> Konflikte].<br />
Inzwischen ist nicht mehr von drohenden<br />
»Wasserkriegen«, sondern häufiger<br />
von drohenden Energiekriegen <strong>die</strong> Rede.<br />
So kündigte der Spiegel (Nr. 13/2006) in<br />
einer meinungsbildenden Artikelserie ein<br />
»neues Zeitalter der Energiekonflikte«<br />
an:<br />
»Das Zeitalter dramatischer Verteilungskämpfe<br />
um <strong>die</strong> immer knapper<br />
werdenden, aber gleichzeitig in immer<br />
größeren Mengen benötigten Ressourcen.<br />
Das Zeitalter, in dem <strong>die</strong> internationale<br />
Politik zunehmend von Fragen der<br />
Energiesicherheit bestimmt wird, in dem<br />
<strong>die</strong> Karten für potenzielle Gewinner<br />
<strong>und</strong> Verlierer gerade neu gemischt werden.«<br />
Was der Spiegel in der ihm eigenen Art<br />
dramatisierte, wird auch von nüchternen<br />
Analytikern <strong>und</strong> Prognostikern des<br />
gegenwärtigen <strong>und</strong> künftigen Weltgeschehens<br />
mit kaum weniger dramatischen<br />
Bildern <strong>und</strong> Wortspielen beschrieben.<br />
Frank Umbach (2006) von der<br />
Deutschen Gesellschaft für Auswärtige<br />
Politik (DGAP) reflektierte über »Europas<br />
nächsten Kalten Krieg« <strong>und</strong> Michael<br />
T. Klare (2001) über eine durch <strong>die</strong> Ressourcenknappheit<br />
geprägte »neue Landkarte<br />
globaler Konflikte«. Diese Auguren<br />
eines »neuen Kalten Krieges« gehen gemeinsam<br />
davon aus, dass der weltweite<br />
Wettlauf um Ressourcen, vor allem um<br />
Erdöl <strong>und</strong> Erdgas, <strong>die</strong> geostrategischen<br />
Planspiele bestimmen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Machtverhältnisse<br />
zwischen den Staaten verändern<br />
wird. Alle Staaten <strong>und</strong> Staatengruppen,<br />
<strong>die</strong> existenziell auf Energieimporte<br />
angewiesen sind, geben inzwischen<br />
der Ressourcensicherheit höchste<br />
Priorität. Dies gilt auch für <strong>die</strong> EU (Umbach<br />
2006). Im Fernen Osten balgt sich<br />
<strong>die</strong> derzeit zweitgrößte, aber extrem von<br />
Rohstoffimporten abhängige Wirtschaftsmacht<br />
Japan mit der aufsteigenden<br />
Wirtschafts- <strong>und</strong> politischen Großmacht<br />
China noch mit diplomatischen<br />
Scharmützeln, gelegentlich aber auch mit<br />
mehr oder weniger versteckten Androhungen<br />
von Gewalt um umstrittene maritime<br />
Wirtschaftszonen <strong>und</strong> um Zugänge<br />
zu den sibirischen Rohstoffquellen.<br />
Die Verw<strong>und</strong>barkeit bekommt eine<br />
elementare Bedeutung, weil Energie <strong>die</strong><br />
bare Voraussetzung für <strong>die</strong> industrielle
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 24<br />
Produktions- <strong>und</strong> Lebensweise bzw. für<br />
Entwicklung ist. Viele Entwicklungsländer,<br />
<strong>die</strong> schon heute unter Energiearmut<br />
leiden, sind durch <strong>die</strong> gestiegenen Energiepreise,<br />
<strong>die</strong> Abbildung 2 illustriert,<br />
noch verw<strong>und</strong>barer als <strong>die</strong> Industrieländer,<br />
weil sie noch weniger als <strong>die</strong>se über<br />
Tabelle 1: Die zehn größten Erdölverbraucher<br />
Rang Land 1990 2000 2004<br />
in Mio. t<br />
1 USA 779,0 887,8 927,3<br />
2 VR China 116,6 219,8 308,6<br />
3 Japan 247,7 255,0 250,5<br />
4 Russland 198,8 123,5 131,8<br />
5 Deutschland<br />
125,6 129,4 123,2<br />
6 In<strong>die</strong>n 57,9 98,0 115,3<br />
7 Brasilien 58,4 100,1 101,7<br />
8 Kanada 78,4 93,0 100,1<br />
9 Südkorea 49,5 99,3 99,1<br />
10 Frankreich 89,4 95,2 95,2<br />
Welt 3 130,2 3 539,2 3 780,1<br />
Quelle: BP 2005<br />
Alternativen verfügen <strong>und</strong> kaum von der<br />
Kaufkraft der »Neureichen«, <strong>die</strong> sich<br />
mit Fabrikanlagen, Luxusgütern <strong>und</strong><br />
Waffen eindecken, profitieren können.<br />
Tabelle 1 zeigt, dass China seinen Erdölverbrauch<br />
aufgr<strong>und</strong> seines stürmischen<br />
Wirtschaftswachstums <strong>und</strong> seiner rasant<br />
voranschreitenden Motorisierung in<br />
den 15 Jahren von 1990 bis 2004 fast verdreifacht<br />
<strong>und</strong> In<strong>die</strong>n seinen verdoppelt<br />
hat. Dagegen war er in Deutschland sogar<br />
rückläufig <strong>und</strong> in Japan nur ein wenig<br />
höher.<br />
Energiereichtum als neue<br />
Machtressource <strong>und</strong> Achillesferse<br />
Die Verfügung über exportfähige Energieressourcen<br />
wird <strong>die</strong> Rollenverteilung<br />
in der Weltpolitik <strong>und</strong> Weltwirtschaft<br />
entscheidend beeinflussen <strong>und</strong> eine<br />
neue Geopolitik begründen. Dieser in der<br />
deutschen Politikwissenschaft lange verdrängte<br />
oder gar verpönte Begriff erlebt<br />
in der Diskussion über <strong>die</strong> Ressourcen-
25 Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />
sicherheit eine Renaissance. Hintergr<strong>und</strong><br />
ist u. a., dass schätzungsweise 70 % der<br />
Erdöl- <strong>und</strong> Ergasreserven in einem Raum<br />
lokalisiert sind, der von der arabischen<br />
Halbinsel über den kaspischen Raum in<br />
den Norden Russlands reicht [vgl. Abbildungen<br />
4 <strong>und</strong> 5]. Ähnlich wie bei anderen<br />
Rohstoffen – so etwa Eisenerz,<br />
Platin, Nickel <strong>und</strong> Aluminium – sind <strong>die</strong><br />
Ölmärkte oligopolistisch strukturiert<br />
[vgl. Kapitel Internationale Rohstoffmärkte:<br />
steigende Preise <strong>und</strong> wachsendes<br />
Konfliktpotenzial]. Die geostrategische<br />
Lage der Vorräte wie auch <strong>die</strong> Abhängigkeit<br />
von einigen wenigen Lieferländern<br />
verändert Sicherheitsdoktrinen<br />
<strong>und</strong> außenpolitische Prioritätenkataloge.<br />
Sie verschont auch Autokraten wie den<br />
Diktator Saparmurad Nijasow im rohstoffreichen<br />
Turkmenistan, der einen bizarren<br />
Personenkult pflegt, oder seinen<br />
nicht weniger korrupten Amtskollegen<br />
in Aserbaidschan (Ilcham Alijew), der<br />
den Ausgangspunkt der teuersten Öl-<br />
<strong>und</strong> Gaspipeline über Georgien zum türkischen<br />
Hafen Ceyhan kontrolliert, von<br />
politischen Sanktionen.<br />
Noch weniger ideologische Skrupel hat<br />
<strong>die</strong> chinesische Regierung bei ihrem<br />
weltweiten Versuch, sich den Zugang zu<br />
Energiequellen zu sichern. Sie blockierte<br />
UN-Sanktionen gegen den Sudan,<br />
weil sie – unter dem Schutz eigener Sicherheitskräfte<br />
– <strong>die</strong> Erdölquellen im Süden<br />
des Landes ausbeutet. Oder sie<br />
sprang in Angola, um sich Förderrechte<br />
zu sichern, mit einem Kredit in Höhe<br />
von 2 Mrd. US-$ ein, den <strong>die</strong> Weltbank<br />
mit Auflagen zur Bekämpfung der blühenden<br />
Korruption verbinden wollte.<br />
China investiert in Afrika <strong>und</strong> Lateinamerika<br />
in Rohstoffprojekte <strong>und</strong> kümmert<br />
sich dabei wenig um soziale oder<br />
ökologische Standards.<br />
Wer über Energiequellen verfügt, hat<br />
nicht nur eine Quelle des Reichtums,<br />
sondern auch einen Zugewinn an politischer<br />
Verhandlungsmacht. Öl ist erneut
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 26<br />
Tabelle 2: Öl <strong>und</strong> Bad Governance: Die 10 erdölreichsten Länder <strong>und</strong> ihr Abschneiden bei<br />
Demokratie <strong>und</strong> Regierungsführung<br />
Rang Land 1990 2000 2004 GHRV<br />
2004<br />
in Mio. t<br />
(1 bis 5)<br />
zu einer politischen Waffe geworden. In<br />
Lateinamerika wagt es der venezolanische<br />
Präsident Hugo Chavez, dank seiner<br />
Verfügungsgewalt über reiche Erdölquellen<br />
mit Fidel Castro zu paktieren<br />
<strong>und</strong> den »großen Bruder« im Norden<br />
durch allerlei verbale Attacken zu provozieren.<br />
Er kann sich <strong>die</strong>sen Affront<br />
leisten, weil <strong>die</strong> USA auf <strong>die</strong> Öllieferungen<br />
aus Venezuela angewiesen sind<br />
<strong>und</strong> ihren Ausfall nur schwerlich durch<br />
andere Bezugsquellen ersetzen könnten.<br />
Durch Störungen der Energiemärkte<br />
verw<strong>und</strong>bar sind jedoch nicht nur <strong>die</strong><br />
Importländer, sondern auch <strong>die</strong> Förder<strong>und</strong><br />
Exportländer. Die internationalen<br />
Rohstoffmärkte sind ein besonders sensibles<br />
Operationsfeld der »globalisierten<br />
Unsicherheit«. Schon heute sind<br />
Förderanlagen <strong>und</strong> Pipelines, <strong>die</strong> häufig<br />
mehrere Staaten durchqueren, immer<br />
wieder Anschlagsziele von Rebellen-<br />
Freiheits-<br />
Index<br />
2006<br />
(1 bis 7)<br />
1 Saudi-Arabien 35 164 35 259 35 423 3 6,5<br />
2 Kanada 779 634 24 071 1 1,0<br />
3 Iran 12 694 12 263 17 199 3 6,0<br />
4 Irak 13 417 15 095 15 430 5 5,5<br />
5 Kuwait 13 097 13 024 13 717 2 4,5<br />
6 VAE 12 892 12 851 12 851 2 6,0<br />
7 Venezuela 8 257 10 750 10 801 3 4,0<br />
8 Russland 6 760 6 609 8 163 4 5,5<br />
9 Libyen 3 005 3 888 5 140 3 7,0<br />
10 Nigeria 2 320 3 053 4 784 4 4,0<br />
Welt 135 734 139 626 173 338<br />
GHRV = Gross Human Rights Violations (Schwere <strong>und</strong> systematische Menschenrechtsverletzungen)<br />
Quellen: BP 2005; Freedom House 2006; Gibney 2006<br />
gruppen <strong>und</strong> terroristischen Organisationen,<br />
weil sie einen Lebensnerv von<br />
politischen Regimen treffen wollen <strong>und</strong><br />
können. So versucht eine regionale Rebellengruppe<br />
im Niger-Delta durch Anschläge<br />
auf Einrichtungen der Öl-Multis<br />
der nigerianischen Zentralregierung<br />
eine Beteiligung an der Ölrente <strong>und</strong><br />
eine regionale Autonomie abzutrotzen.<br />
Terroraktionen verhindern auch, dass<br />
<strong>die</strong> Ölförderung des Irak das Vorkriegsvolumen<br />
erreicht, den Wiederaufbau<br />
des Landes finanzieren <strong>und</strong> damit ein<br />
Kriegsziel erfüllen kann. Als besonders<br />
verw<strong>und</strong>bar durch den islamistischen<br />
Terrorismus gilt das morsche Herrschaftssystem<br />
Saudi-Arabiens, das auch<br />
durch massive Aufrüstung <strong>und</strong> <strong>die</strong> militärische<br />
Präsenz von US-Truppen nicht<br />
gegen den im eigenen Land rekrutierten<br />
<strong>und</strong> organisierten Terrorismus gefeit<br />
ist.<br />
Fast überall, wo <strong>die</strong> Ölrente <strong>die</strong> ökono-
27 Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />
mische Basis von Herrschaftssystemen<br />
bildet, steht es nicht gut um <strong>die</strong> Demokratie<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Menschenrechte. Die Ölrente<br />
ist ein Vehikel von mehr oder weniger<br />
feudalistischen Autokratien, aber<br />
zugleich auch deren Achillesferse. Sie<br />
können zur eigenen Machtsicherung<br />
den Ölhahn oder Gasleitungen nicht zudrehen,<br />
aber <strong>die</strong> Öl- <strong>und</strong> Gasleitungen<br />
sind sehr verw<strong>und</strong>bare Nervenstränge<br />
ihres Herrschaftssystems. Der »Fluch<br />
der Ressourcen«, der etwa bei Diamanten,<br />
Coltan, Edelhölzern oder Drogen<br />
maßgeblich <strong>die</strong> »neuen Kriege« finanziert<br />
[vgl. Kapitel Fragile Staaten <strong>und</strong><br />
globale Friedenssicherung], wirkt sich<br />
beim Öl anders aus: Politische Stabilität<br />
kann zwar in den meisten Fällen garantiert<br />
werden, doch ist eine demokratische<br />
Transformation blockiert (Basedau/Lacher<br />
2006). Dass mit Rohstoffreichtum<br />
auch konstruktiv umgegangen<br />
werden kann, zeigt beispielhaft Norwegen<br />
– ein Land, das <strong>die</strong> Erlöse aus Erdölexporten<br />
in einen eigenen Zukunftsfonds<br />
einspeiste, das Geld mittel- bis<br />
langfristig investierte <strong>und</strong> sowohl bei<br />
Demokratie- <strong>und</strong> Governance- als auch<br />
bei ökonomischen Indikatoren hervorragend<br />
abschneidet.<br />
Russland: Von der<br />
Energie-Supermacht zurück zur<br />
politischen Großmacht<br />
Erdöl <strong>und</strong> Erdgas avancierten zum politischen<br />
Machtinstrument, das auch als<br />
politische Waffe <strong>und</strong> Erpressungsmittel<br />
eingesetzt werden kann. Der russische<br />
Präsident Wladimir Putin nutzt gezielt<br />
den Energiereichtum seines Landes<br />
dazu, <strong>die</strong> Energie-Supermacht wieder zu<br />
einer politischen Großmacht zu machen<br />
(Rahr 2006). Als Hauptinstrument <strong>die</strong>ser<br />
Großmachtinteressen schmiedete er <strong>die</strong><br />
Energiekonzerne Lukoil (für Erdöl) <strong>und</strong><br />
Gasprom (für Erdgas), <strong>die</strong> nicht nur <strong>die</strong><br />
riesigen eigenen Reserven fördern <strong>und</strong><br />
vermarkten, sondern inzwischen auch<br />
auf allen regionalen Energiemärkten aktiv<br />
sind. Außerdem versucht der Kreml<br />
in Vertragswerken mit den rohstoffreichen<br />
GUS-Staaten (Kasachstan, Turkmenistan<br />
<strong>und</strong> Usbekistan), Russland <strong>die</strong><br />
Kontrolle über <strong>die</strong> Netze von Pipelines<br />
zu sichern, <strong>die</strong> als Lebensadern der Energiemärkte<br />
das Erdöl <strong>und</strong> Erdgas in <strong>die</strong><br />
Verbraucherländer in Europa <strong>und</strong> Asien<br />
transportieren.<br />
Diese über russisches Territorium verlaufenden<br />
Netzwerke könnten unterbrochen<br />
werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Energieversorgung<br />
Europas gefährden. Deshalb bekam<br />
<strong>die</strong> Ressourcensicherheit auch für<br />
EU-Strategen eine hohe Priorität, <strong>die</strong><br />
nach dem politischen Erpressungsversuch<br />
von Russland gegenüber der unbotmäßigen<br />
Ukraine Nachdruck erhielt,<br />
aber noch nicht in ein umfassendes Sicherheitskonzept<br />
mündete. Das Konzept<br />
der »erweiterten Sicherheit«, das ein von<br />
der B<strong>und</strong>esakademie für Sicherheitspolitik<br />
(2001) besorgtes Kompendium dokumentierte,<br />
wird künftig vermutlich<br />
stärker <strong>die</strong> Ressourcensicherheit im<br />
Blick haben.<br />
Die geostrategischen Planspiele der<br />
russischen Energie-Macht reichen noch<br />
weiter. Der Kreml betreibt aktiv <strong>die</strong> Aufwertung<br />
der Shanghai Organisation für<br />
Zusammenarbeit (SCO), in der <strong>die</strong> Großmächte<br />
Russland, China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n mit<br />
einigen Regionalmächten zusammenarbeiten,<br />
zu einer Art neuer OPEC, <strong>die</strong><br />
bald <strong>die</strong> alte OPEC aus ihrer energiepolitischen<br />
Schlüsselrolle verdrängen <strong>und</strong><br />
zu einem gewichtigen Akteur auf der<br />
weltpolitischen Bühne aufsteigen<br />
könnte. Frank Umbach (2006, S. 21f.) be-
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 28<br />
gründete <strong>die</strong>se mögliche Positions- <strong>und</strong><br />
Rollenverschiebung auf dem Weltenergiemarkt<br />
mit tief greifenden Auswirkungen<br />
auf <strong>die</strong> Weltpolitik folgendermaßen:<br />
»Der 11. September 2001 hat der SCO<br />
den notwendigen sicherheitspolitischen<br />
Schub gegeben. Nachdem <strong>die</strong> Belieferung<br />
der Weltmärkte mit Energieträgern<br />
aus den Ländern des Persischen<br />
Golfes <strong>und</strong> der alten OPEC durch <strong>die</strong><br />
steigende Gefahr des islamistischen Terrorismus<br />
unsicherer geworden ist, präsentiert<br />
sich <strong>die</strong> neue OPEC um Russland<br />
<strong>und</strong> den Kaspischen Raum als einzige<br />
Alternative zur Energieversorgung der<br />
Industriestaaten Europas, Amerikas<br />
<strong>und</strong> Asiens.«<br />
Die Gefahr globaler<br />
Ressourcenkonflikte<br />
Die gegenwärtigen <strong>und</strong> vorhersehbaren<br />
Entwicklungen auf den Weltenergiemärkten,<br />
<strong>die</strong> Machtverschiebungen in<br />
der Weltpolitik bewirken werden, belegen<br />
geradezu paradigmatisch <strong>die</strong> von den<br />
Interdependenztheoretikern konstruierte<br />
Unterscheidung zwischen Empfindlichkeit<br />
<strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit. Allerdings<br />
konnten sie unter den Bedingungen des<br />
»alten« Kalten Krieges noch nicht ahnen,<br />
dass auch <strong>die</strong> allenfalls empfindlich<br />
auf weltwirtschaftliche Entwicklungen<br />
reagierende OECD-Welt durch ihren nur<br />
durch Importe zu stillenden Energiehunger<br />
verw<strong>und</strong>bar geworden ist. Ein<br />
Blick auf <strong>die</strong> für Deutschland relevanten<br />
Gaspipelines zeigt beispielhaft, wo »neuralgische<br />
Punkte« liegen könnten [vgl.<br />
Abbildung 6].
29 Ökologische Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
Die Einsicht in <strong>die</strong> eigene Verw<strong>und</strong>barkeit<br />
hat zwar auch positive Lerneffekte.<br />
So setzt nun selbst <strong>die</strong> mit Ölinteressen<br />
eng verbandelte Bush-Administration<br />
auf <strong>die</strong> Förderung erneuerbarer<br />
Energien <strong>und</strong> auf das Energiesparen.<br />
Aber das von Michael T. Klare (2001) gezeichnete<br />
Konfliktszenario bleibt realistisch:<br />
Die energiehungrige militärische<br />
Supermacht – <strong>und</strong> nicht nur sie! –<br />
könnte versucht sein, für ihre Energiesi-<br />
cherheit auch ihr Militärpotenzial einzusetzen,<br />
mit dem sie weltweit operieren<br />
kann. Die Gefahr von globalen Ressourcenkonflikten<br />
ist also groß. Wasser ist<br />
zwar <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage allen Lebens, aber<br />
Energie <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage allen Wirtschaftens<br />
<strong>und</strong> moderner Lebensweisen. Am<br />
Beginn der industriellen Revolution lag<br />
<strong>die</strong> industrielle Nutzung von Energie,<br />
deren Reserven durch Übernutzung nun<br />
verknappen.<br />
Ökologische Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
Umweltgruppen aus aller Welt schlossen<br />
sich der Globalisierungskritik an, weil<br />
sie dem entfesselten Freihandel unterstellen,<br />
<strong>die</strong> globalen, regionalen <strong>und</strong> lokalen<br />
Umweltprobleme zu verschärfen. Der<br />
notorische Zeitkritiker Jean Ziegler<br />
(2003, S. 113) schlug heftig zu: »Die unsichtbare<br />
Hand des globalisierten Marktes<br />
zerstört nicht nur <strong>die</strong> menschlichen<br />
Gesellschaften. Sie mordet auch <strong>die</strong> Natur.«<br />
Die ökologische Kritik an der Globalisierung<br />
konzentriert sich auf <strong>die</strong> folgenden<br />
Entwicklungstrends:<br />
● Die Ausdehnung des Welthandels hat<br />
eine Vermehrung von Transportleistungen<br />
zu Land, zu Wasser <strong>und</strong> in der<br />
Luft zur Folge. Die Revolutionierung<br />
des Transportwesens verringerte zwar<br />
<strong>die</strong> Transportkosten <strong>und</strong> -zeiten, erhöhte<br />
aber <strong>die</strong> Umweltbelastungen<br />
durch höhere CO 2-Emissionen, <strong>die</strong><br />
eine Hauptursache für den Treibhau<strong>sef</strong>fekt<br />
<strong>und</strong> damit für den Klimawandel<br />
bilden.<br />
● Die Verschärfung der internationalen<br />
Konkurrenz könnte zum »Öko-<br />
Dumping« verleiten, wenn geringere<br />
Aufwendungen für den Umweltschutz<br />
zum Kosten- <strong>und</strong> Standortvor-<br />
teil werden. In- <strong>und</strong> ausländische Unternehmen<br />
sind dann in der Lage, mit<br />
geringeren Umweltkosten zu produzieren<br />
<strong>und</strong> zu entsprechend günstigen<br />
Preisen zu exportieren. Hier entsteht<br />
eine Verzerrung des Wettbewerbs, <strong>die</strong><br />
»Öko-Dumping« zu einem Wettbewerbsvorteil<br />
macht <strong>und</strong> bestraft, wer<br />
in den Umweltschutz investiert.<br />
China liefert ein abschreckendes Beispiel.<br />
Freihandel <strong>und</strong> Umweltschutz<br />
wären nur dann keine Gegensätze,<br />
wenn weltweit <strong>die</strong> externen Kosten<br />
der Umweltverschmutzung in <strong>die</strong><br />
Preise einkalkuliert, also internalisiert<br />
würden.<br />
● Die Liberalisierung des internationalen<br />
Agrarhandels verspricht zwar den<br />
Exportländern höhere Handelsgewinne,<br />
verführt sie aber zum Ausbau<br />
ökologisch fataler Monokulturen, zum<br />
Raubbau an den natürlichen Lebensgr<strong>und</strong>lagen<br />
<strong>und</strong> zur Vernachlässigung<br />
der Ernährungssicherung aus eigener<br />
Kraft.<br />
● Das Wachstum des Ferntourismus verschafft<br />
zwar den tropischen Zielländern<br />
Deviseneinkünfte, <strong>die</strong> häufig höher<br />
sind <strong>und</strong> mehr Arbeitsplätze schaf-
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 30<br />
fen als ihre Güterexporte, aber er vermehrt<br />
den Luftverkehr <strong>und</strong> vergrößert<br />
den Naturverbrauch. Der Sozialgeograf<br />
Karl Vorlaufer (1996, S. 229)<br />
beurteilte den »Tourismus der Reichen<br />
in <strong>die</strong> Länder der Armen« aus ökologischer<br />
<strong>und</strong> globaler Perspektive<br />
sehr kritisch: Die durch den wachsenden<br />
Flugtourismus verursachten Belastungen<br />
der Ökosysteme könnten<br />
»<strong>die</strong> Annahme einer nachhaltigen/<br />
zukunftsfähigen Entwicklung durch<br />
den Tourismus generell ad absurdum<br />
führen«.<br />
● Die OECD-Länder sind hauptverantwortlich<br />
für <strong>die</strong> Verschwendung von<br />
Ressourcen <strong>und</strong> für den globalen<br />
Klimawandel, der <strong>die</strong> existenzielle<br />
Verw<strong>und</strong>barkeit der ärmsten Länder<br />
erhöht. Deshalb sprechen Klimaforscher<br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Propheten einer globalen<br />
nachhaltigen Entwicklung mit<br />
guten Gründen von einem ökologischen<br />
Nord-Süd-Konflikt oder sogar<br />
von einer »ökologischen Aggression<br />
des Nordens gegen den Süden«.<br />
Doch schließen <strong>die</strong> »asiatischen Elefanten«<br />
China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n auf [vgl.<br />
Kapitel Ökologischer Fußabdruck <strong>und</strong><br />
»asiatische Elefanten«]. Das World<br />
Watch Institute führt an, dass mittlerweile<br />
75 % der biologischen Kapazitäten<br />
der Erde von den USA, der EU,<br />
Japan, China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n verbraucht<br />
werden (Flavin/Gardner 2006). Die<br />
globale Umweltpolitik ist ein Politikfeld,<br />
in dem <strong>die</strong> Entwicklungsländer,<br />
allen voran <strong>die</strong> dynamischen<br />
Schwellenländer, an Verhandlungsmacht<br />
gewonnen haben, weil der<br />
Norden beim Aushandeln <strong>und</strong> bei<br />
der Umsetzung von Umweltverträgen,<br />
<strong>die</strong> ihm wichtig sind, auf ihre<br />
Kooperation angewiesen ist (Biermann<br />
1998).<br />
● Die »erfolgreiche«, weltmarktorientierte<br />
Entwicklung Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns<br />
heizt den globalen Klimawandel<br />
noch schneller an, als in den 1990er<br />
Jahren prognostiziert wurde. Der Beitrag<br />
beider Länder zu den globalen<br />
CO 2-Emissionen könnte im Jahr 2030<br />
bei etwa 50 % liegen, wenn eine Abkopplung<br />
des Wachstums von den<br />
CO 2-Ausstößen nicht gelingt. Ohne<br />
wirksame globale Klimapolitik könnte<br />
<strong>die</strong> weltweite Klimaerwärmung bis<br />
Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts deutlich über<br />
<strong>die</strong> von Klimaexperten als Obergrenze<br />
definierte Zwei-Grad-Schwelle<br />
hinausgehen. Eine solche Entwicklung<br />
würde zu einer Verschärfung internationaler<br />
Ernährungskrisen, unkalkulierbaren<br />
Sturm- <strong>und</strong> Unwetterdynamiken,<br />
einer beschleunigten<br />
Ausbreitung der Wüsten <strong>und</strong> Süßwasserkrisen<br />
beitragen. Die <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
von Menschen, von betroffenen<br />
Staaten <strong>und</strong> des internationalen Systems<br />
insgesamt würden in <strong>die</strong>sem Prozess<br />
signifikant ansteigen. Die ökonomische<br />
Globalisierung kann also nur<br />
dann stabilisiert <strong>und</strong> deren Vorteile<br />
genutzt werden, wenn <strong>die</strong> Umweltverträglichkeit<br />
des Wirtschaftens erreicht<br />
wird.<br />
Erkenntnisse der<br />
Vulnerabilitätsforschung<br />
Der Abschnitt Umwelt <strong>und</strong> transnationale<br />
Risiken verdeutlicht <strong>die</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong>,<br />
<strong>die</strong> aus den globalen Umweltveränderungen,<br />
vor allem aus dem<br />
globalen <strong>und</strong> regionalen Klimawandel,<br />
resultieren. Die Auswirkungen des Klimawandels<br />
werden durch Berichte des<br />
UN-Umweltprogramms (UNEP) <strong>und</strong><br />
des International Panel on Climate
31 Ökologische Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
Change (IPCC), in dem der internationale<br />
Sachverstand der Klimaforscher<br />
versammelt ist, hinreichend belegt.<br />
Wissenschaftliche Modellprojektionen<br />
<strong>und</strong> inzwischen auch einige Spielfilme<br />
zeichnen Horrorszenarien, <strong>die</strong> ganze Inselgruppen<br />
dem Untergang weihen <strong>und</strong><br />
keine Weltregion verschonen. Dies ist<br />
eine existenzielle, durch menschliches<br />
Handeln bewirkte Verw<strong>und</strong>barkeit. Das<br />
Kapitel Klimawandel <strong>und</strong> globale Ges<strong>und</strong>heitsrisiken<br />
verdeutlicht, dass <strong>die</strong><br />
Ges<strong>und</strong>heitssysteme aller Weltregionen,<br />
obgleich in unterschiedlicher Härte <strong>und</strong><br />
Breitenwirkung, verw<strong>und</strong>bar geworden<br />
sind <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Langzeitwirkungen<br />
des Klimawandels noch verw<strong>und</strong>barer<br />
werden, weil mit ihm <strong>die</strong> Infektionskrankheiten<br />
wandern. Am dramatischsten<br />
ist dabei <strong>die</strong> Verbreitung der<br />
Tropenkrankheit Malaria <strong>und</strong> der in<br />
Europa von Zecken übertragenen Hirnhautentzündung(Frühsommer-Meningoenzephalitis,<br />
FSME). Von einer Malariainfektion<br />
sind nach Schätzungen der<br />
Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) ca.<br />
40 % der Weltbevölkerung bedroht,<br />
konkret: 2,4 Mrd. Menschen. Der Klimawandel<br />
wird <strong>die</strong> Zahl voraussichtlich<br />
erhöhen.<br />
Die natur- <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />
Vulnerabilitätsforschung, <strong>die</strong> sich aus<br />
der Katastrophenforschung entwickelte,<br />
unterscheidet drei Dimensionen der<br />
Vulnerabilität:<br />
● Die geophysikalische Vulnerabilität, <strong>die</strong><br />
durch <strong>die</strong> Tsunami-Katastrophe <strong>und</strong><br />
zahlreiche Erdbeben-Katastrophen<br />
verdeutlicht wurde, hebt auf <strong>die</strong> Exposition<br />
eines sozialen Systems oder<br />
einer Region gegenüber Naturkatastrophen<br />
ab. Naturkatastrophen verwandeln<br />
sich besonders in armen Gesellschaften,<br />
<strong>die</strong> sich nur einen rudimentären<br />
Katastrophenschutz leisten<br />
können, in soziale Katastrophen. Aber<br />
auch <strong>die</strong> reiche Gesellschaft der USA<br />
reagierte nicht gerade professionell auf<br />
<strong>die</strong> Katrina-Katastrophe am Golf von<br />
Mexiko. Die Kapitel im Abschnitt Umwelt<br />
<strong>und</strong> transnationale Risiken belegen<br />
nicht nur <strong>die</strong> wachsende Zahl von<br />
Naturkatastrophen, vor allem im Gefolge<br />
von Wetterextremen, <strong>die</strong> der Klimawandel<br />
verursacht, sondern auch<br />
den wachsenden Bedarf an humanitärer<br />
Hilfe zur notdürftigen Abmilderung<br />
der Verw<strong>und</strong>barkeit durch <strong>die</strong>se<br />
Katastrophen.<br />
● Die soziale Vulnerabilität manifestiert<br />
sich in der besonderen Anfälligkeit<br />
von Armutsgruppen gegenüber Umweltkrisen<br />
<strong>und</strong> in ihrer geringen Fähigkeit<br />
(coping capacity), mit ihnen<br />
umzugehen. Umso bedeutsamer ist,<br />
dass etwa <strong>die</strong> Hälfte der 49 ärmsten<br />
Entwicklungsländer in besonderem<br />
Maße katastrophengefährdet ist <strong>und</strong><br />
hier zwei Drittel der Todesfälle weltweit<br />
zu beklagen sind [vgl. Kapitel<br />
Ökologischer Fußabdruck <strong>und</strong> »asiatische<br />
Elefanten«]. Erdbeben wurden<br />
auch als class quakes bezeichnet, weil<br />
sie vor allem Armutsgruppen treffen,<br />
<strong>die</strong> sich keine einigermaßen sicheren<br />
Behausungen leisten können <strong>und</strong> auch<br />
in besonders gefährdeten Gebieten<br />
siedeln. Sie sind im Besonderen vom<br />
Mangel an Trinkwasser <strong>und</strong> Nahrungsmitteln<br />
bei längeren Trockenzeiten,<br />
von der voranschreitenden Desertifikation<br />
<strong>und</strong> Bodenerosion betroffen.<br />
Sie sind verw<strong>und</strong>bar, weil ihre<br />
Chancen, Umweltkrisen verschiedener<br />
Art, z. B. durch Migration, zu entgehen<br />
oder sie durch rasche Veränderungen<br />
ihrer Produktions- <strong>und</strong> Lebensweisen<br />
zu bewältigen, sehr begrenzt<br />
sind. Sie haben keine »Freiheit der<br />
Wahl« (freedom of choice), in der
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 32<br />
Amartya Sen, der Nobelpreisträger<br />
für Wirtschaftswissenschaften, den<br />
Sinn von Entwicklung erkannte.<br />
● Die differenzielle Vulnerabilität betont<br />
<strong>die</strong> unterschiedliche Betroffenheit<br />
von Regionen <strong>und</strong> Gruppen durch<br />
Umweltkrisen. Nach Berechnungen<br />
des UN-Umweltprogramms (UNEP)<br />
gibt es inzwischen mehr Umwelt- als<br />
Kriegsflüchtlinge. Prognosen sagen ein<br />
geradezu Furcht erregendes Anwachsen<br />
der umweltbedingten Fluchtursachen<br />
voraus, vor allem im Gefolge der<br />
Desertifikation, <strong>die</strong> ganze Völker bedroht.<br />
So schätzt <strong>die</strong> United Nations<br />
University (UNU-EHS 2005), dass <strong>die</strong><br />
Zahl der Menschen, <strong>die</strong> vor Umweltveränderungen<br />
fliehen, bis 2010 auf 50<br />
Mio. anwachsen wird [vgl. Kapitel<br />
Umweltwandel <strong>und</strong> Konflikte]. Die differenzielle<br />
<strong>und</strong> soziale Vulnerabilität<br />
überlappen <strong>und</strong> verstärken sich wechselseitig.<br />
Im Jahr 2005 trafen <strong>die</strong> verschiedenen<br />
<strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> zusammen, weshalb<br />
mitunter vom »Katastrophenjahr« gesprochen<br />
wurde. Die gesamte Nothilfe<br />
war mit knapp 12 Mrd. US-$ etwa doppelt<br />
so hoch wie im Schnitt der Jahre 2002<br />
bis 2004. Maßgeblich bedingt war <strong>die</strong>s<br />
durch <strong>die</strong> Tsunami-Katastrophe in<br />
Asien <strong>und</strong> das Erdbeben in Pakistan,<br />
doch auch <strong>die</strong> dramatische Flüchtlingskrise<br />
im Sudan hatte einen wesentlichen<br />
Anteil.<br />
Das Jahresgutachten 2005 des Wissenschaftlichen<br />
Beirats der B<strong>und</strong>esregierung<br />
<strong>Globale</strong> Umweltveränderungen<br />
(WBGU) präsentierte ausführlicher<br />
<strong>die</strong> Erkenntnisse der Vulnerabilitätsforschung<br />
<strong>und</strong> lieferte überzeugende<br />
Gründe, warum im Konzept der<br />
»Menschlichen Sicherheit« (human<br />
security) <strong>die</strong> Verschmutzung der Atmo-<br />
sphäre <strong>und</strong> der Weltmeere, <strong>die</strong> Zerstörung<br />
<strong>und</strong> Verknappung natürlicher<br />
Ressourcen <strong>und</strong> vor allem der Klimawandel<br />
neben ökonomischen, politischen<br />
<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Faktoren zu<br />
den Sicherheitsrisiken gezählt werden<br />
müssen.<br />
Räumliche, zeitliche <strong>und</strong> systemische<br />
Interdependenzen<br />
Es gibt räumliche Interdependenzen<br />
beim Überschwappen regionaler Wirtschafts-<br />
<strong>und</strong> Finanzkrisen auf <strong>die</strong> Weltwirtschaft,<br />
bei Auswirkungen lokaler<br />
Kriege auf <strong>die</strong> Nachbarstaaten, bei intra<strong>und</strong><br />
interkontinentalen Wanderungs<strong>und</strong><br />
Fluchtbewegungen, <strong>die</strong> zunehmend<br />
als Bedrohung der inneren Sicherheit<br />
wahrgenommen werden, oder bei den<br />
Auswirkungen der globalen Umweltveränderungen,<br />
<strong>die</strong> von Natur aus Regionen<br />
<strong>und</strong> Kontinente überschreiten.<br />
Es gibt auch zeitliche Interdependenzen:<br />
Was heute in den verschiedenen<br />
Politik- <strong>und</strong> Lebensbereichen geschieht<br />
oder unterlassen wird, hat Wirkungen<br />
in der nahen <strong>und</strong> fernen Zukunft; wer<br />
heute <strong>die</strong> natürlichen Ressourcen übernutzt,<br />
beeinträchtigt <strong>die</strong> Lebens- <strong>und</strong><br />
Entfaltungschancen künftiger Generationen;<br />
was heute noch eine Empfindlichkeit<br />
sein mag, kann sich morgen<br />
beim Verbrauch endlicher Ressourcen<br />
in eine Verw<strong>und</strong>barkeit verwandeln. Die<br />
Belastungen des Erdökosystems haben<br />
fatale Auswirkungen auf den gesamten<br />
Planeten <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> auf ihm lebenden<br />
Gesellschaften. Hier zeichnet sich eine<br />
systemische Interdependenz ab, bei<br />
der es um planetarische Existenzfragen<br />
geht. Mit der Verw<strong>und</strong>barkeit des Erdökosystems<br />
wird <strong>die</strong> Menschheit, wo<br />
sie auch leben <strong>und</strong> wie sie sich organisie-
33 Fazit <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />
ren mag, verw<strong>und</strong>bar. Es gibt eine<br />
unauflösbare »Interdependenz der<br />
Ordnungen«, für deren Analyse <strong>und</strong><br />
Fazit <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />
Das Management der Interdependenz,<br />
<strong>die</strong> Abfederung von <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>die</strong> Garantie menschlicher Sicherheit<br />
erfordern einen wiederbelebten<br />
<strong>und</strong> den Bedingungen der Globalisierung<br />
angepassten Multilateralismus. Global<br />
Governance ist zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
durch ein fragmentiertes UN-System,<br />
einen zunehmend hegemonialen<br />
Unilateralismus der Supermacht USA<br />
<strong>und</strong> eine mangelnde Einbindung der<br />
neuen asiatischen Aufsteiger geprägt.<br />
Die Partizipation von nicht-staatlichen<br />
Akteuren beschränkt sich auf ausgewählte<br />
Teilbereiche (v. a. Menschenrechte<br />
<strong>und</strong> soziale Entwicklung); private Wirtschaftsakteure<br />
definieren ansatzweise<br />
neue Verantwortlichkeiten im Prozess<br />
der Globalisierung. Doch krankt <strong>die</strong><br />
»partielle Privatisierung des Multilateralismus«,<br />
wie sie etwa im Global Compact<br />
praktiziert wird, an Legitimitätsdefiziten<br />
<strong>und</strong> führt eher zu korporatistischen<br />
Strukturen denn zu demokratisch<br />
kontrollierter Politik [vgl. Kapitel Bedeutungswandel<br />
des Multilateralismus].<br />
Das Mischungsverhältnis von Regulierung<br />
<strong>und</strong> Deregulierung variiert in <strong>und</strong><br />
zwischen den Handlungsfeldern von<br />
Global Governance erheblich. Im Bereich<br />
der Weltwirtschaft beispielsweise<br />
gab es in der Vergangenheit nennenswerte<br />
Fortschritte bei der stärkeren Institutionalisierung<br />
<strong>und</strong> Verrechtlichung<br />
im Rahmen der WTO. Zugleich stehen<br />
gr<strong>und</strong>legende Reformen zur verminderten<br />
Verw<strong>und</strong>barkeit auf den internatio-<br />
Verstehen Gunnar Myrdal 1974 den Nobelpreis<br />
für Wirtschaftswissenschaften<br />
erhielt.<br />
nalen Finanzmärkten nach wie vor aus,<br />
was gerade in Asien zu Selbsthilfemaßnahmen<br />
geführt hat.<br />
Im Bereich Weltfrieden waren <strong>die</strong><br />
Etablierung von Ad-hoc-Tribunalen<br />
(früheres Jugoslawien, Ruanda) <strong>und</strong> Sonderstrafgerichtshöfen<br />
(Sierra Leone <strong>und</strong><br />
Kambodscha) sowie <strong>die</strong> Einrichtung des<br />
Internationalen Strafgerichtshofs Meilensteine<br />
des Völkerrechts. Diese Entwicklungen<br />
gehen einher mit einer verdichteten<br />
Normbildung zugunsten einer<br />
responsibility to protect (ICISS 2001), <strong>die</strong><br />
<strong>die</strong> internationale Gemeinschaft bei gravierenden<br />
Menschenrechtsverletzungen<br />
hat <strong>und</strong> <strong>die</strong> eng mit der im Konzept<br />
Menschlicher Sicherheit verankerten<br />
freedom from fear (Human Security Centre<br />
2005) verknüpft ist. Aber es besteht<br />
weiterhin ein eklatantes Regelungsdefizit<br />
im Bereich der Massenvernichtungswaffen.<br />
Die USA, Großbritannien, Frankreich<br />
<strong>und</strong> Russland schließen allesamt<br />
einen nuklearen Erstschlag nicht aus,<br />
wenn gegnerische Staaten B- oder<br />
C-Waffen einsetzen oder mit terroristischen<br />
Mitteln drohen. Auch haben Experten<br />
in 15 Ländern weltweit militärische<br />
Programme zur Herstellung von<br />
ABC-Waffen feststellen können. Pakistan,<br />
Nordkorea <strong>und</strong> Iran sind besonders kritische<br />
Fälle. Die sicherheitspolitische Hegemonie<br />
der USA hat also nicht verhindern<br />
können, dass das Verw<strong>und</strong>barkeitspotenzial<br />
zugenommen hat.<br />
Normativer Referenzrahmen für neue<br />
Arrangements von Global Governance
<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 34<br />
bleibt letzten Endes das Wohlergehen des<br />
latent <strong>und</strong> real verw<strong>und</strong>baren Individuums.<br />
Der damit zusammenhängende Ansatz<br />
<strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« wurde in<br />
seiner zunehmenden Bedeutung zuletzt<br />
durch das Abschlussdokument des Millennium+5-Gipfels<br />
bestärkt (UN 2005).<br />
Die maßgeblich von Japan initiierte<br />
Commission on Human Security (2003)<br />
machte in ihrem Bericht Human Security<br />
Now deutlich, dass das Ziel menschlicher<br />
Sicherheit am besten durch <strong>die</strong><br />
Verbindung von effektivem Multilateralismus<br />
(top-down) <strong>und</strong> Empowerment-<br />
Maßnahmen zur Stärkung der bedrohten<br />
Individuen (bottom-up) erreicht werden.<br />
Kurzum: Es geht darum, »Menschen<br />
vor schwerwiegenden Bedrohungen, sowohl<br />
natürlicher als auch sozialer Art, zu<br />
schützen <strong>und</strong> Individuen <strong>und</strong> Gemeinschaften<br />
zu befähigen, informiert zwischen<br />
verschiedenen Möglichkeiten zu<br />
wählen <strong>und</strong> eigenverantwortlich zu handeln«<br />
(Ogata/Cels 2003, S. 274).<br />
Ein derartiges Empowerment bedeutet<br />
dabei gerade im Falle der zunehmenden<br />
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Anpassungsmechanismen (coping capacities)<br />
für Menschen <strong>und</strong> Institutionen zu<br />
stärken, damit <strong>die</strong>se auf neue Risiken<br />
einigermaßen angemessen reagieren <strong>und</strong><br />
<strong>die</strong> soziale Vulnerabilität vermindern<br />
können. Bildung <strong>und</strong> Erziehung kommt<br />
dabei eine besondere Bedeutung zu. Zugleich<br />
gehört zum Empowerment in einer<br />
globalisierten Welt zunehmend, dass<br />
auch in den marginalisierten Weltregionen<br />
Menschen Zugang zum Internet haben.<br />
Bislang sind 5,4 Mrd. Menschen von<br />
<strong>die</strong>ser zentralen Partizipationsmöglichkeit<br />
am Globalisierungsprozess ausgeschlossen<br />
[vgl. Kapitel Digital Divide –<br />
auf dem Weg zur Weltinformationsgesellschaft?].<br />
Diese »digitale Kluft« zu<br />
schließen, wird eine der zentralen Herausforderungen<br />
des kommenden Jahrzehnts<br />
werden, da Zugang zu Wissen in<br />
zunehmendem Maße darüber entscheidet,<br />
wer <strong>die</strong> Chance der Globalisierung<br />
nutzen kann oder unter ihren Bürden<br />
<strong>und</strong> Risiken leiden wird.<br />
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