28.05.2013 Aufrufe

Globale Verwundbarkeiten und die Gefährdung »menschlicher ... - sef

Globale Verwundbarkeiten und die Gefährdung »menschlicher ... - sef

Globale Verwundbarkeiten und die Gefährdung »menschlicher ... - sef

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Erfolgreiche ePaper selbst erstellen

Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.

9<br />

<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong><br />

<strong>»menschlicher</strong> Sicherheit«<br />

Bereits in den späten 1960er Jahren, also<br />

längst bevor das Schlagwort der Globalisierung<br />

in aller M<strong>und</strong>e war, leiteten<br />

Theoretiker der internationalen Beziehungen<br />

aus der Vermehrung <strong>und</strong> Verdichtung<br />

globaler Verflechtungen das<br />

Theorem der Komplexen Interdependenzen<br />

ab. John W. Burton (1972), der den<br />

Begriff der Weltgesellschaft (world society)<br />

in der internationalen Diskussion<br />

verankerte, ersetzte das vom politischen<br />

Realismus gezeichnete Billard-Kugel-<br />

Modell internationaler Beziehungen, in<br />

dem allein souveräne Nationalstaaten<br />

diplomatisch interagieren, durch das<br />

Spinngewebe-Modell. In <strong>die</strong>sem illus-<br />

trierten Modell des Spinngewebes [vgl.<br />

Abbildung 1] sind staatliche Akteure in<br />

Mehrebenen-Entscheidungssystemen in<br />

eine Vielzahl von Beziehungsgeflechten<br />

<strong>und</strong> transnationalen Aktivitäten von<br />

staatlichen <strong>und</strong> nicht-staatlichen, nationalen<br />

<strong>und</strong> internationalen Akteuren eingeb<strong>und</strong>en.<br />

Diese Einbindung in vielschichtige Interdependenzstrukturen<br />

hat zur Folge,<br />

dass <strong>die</strong> Souveränität der Entscheidung<br />

über das, was sich im Gefolge der Globalisierung<br />

der Waren- <strong>und</strong> Kapitalmärkte,<br />

weltweiter ökologischer <strong>Gefährdung</strong>en<br />

<strong>und</strong> der digitalen Revolution vollzieht,<br />

tendenziell aus dem nationalstaatlichen


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 10<br />

Regelungszugriff auswandert <strong>und</strong> auf<br />

globale Wirkungszusammenhänge abwandert.<br />

Deshalb wertete Ernst-Otto<br />

Czempiel (1969) <strong>die</strong> im Völkerrecht <strong>und</strong><br />

in der diplomatischen Rhetorik noch immer<br />

als »heilige Kuh« behandelte Souve-<br />

ränität schon 1969 zu einer »anachronistischen«<br />

Kategorie ab. Damals tauchte<br />

auch schon der Begriff der »Weltinnenpolitik«<br />

auf, der einen Vorboten der<br />

Diskussion über einen <strong>die</strong> Nationalstaaten<br />

überwölbenden Weltstaat bildete.<br />

Die interdependenztheoretische Entdeckung der<br />

Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

Eine Reihe von Weltproblemen (wie <strong>die</strong><br />

soziale Polarisierung in der Weltgesellschaft,<br />

das globale Bevölkerungswachstum,<br />

der Migrationsdruck aus den Armutsregionen,<br />

der globale Klimawandel,<br />

der internationale Terrorismus oder <strong>die</strong><br />

Instabilität der internationalen Finanzmärkte)<br />

hat potenziell weltweite Ausstrahlung<strong>sef</strong>fekte<br />

<strong>und</strong> kann globale Systemkrisen<br />

auslösen. Mit der Globalisierung<br />

von Ökonomie <strong>und</strong> Technologie,<br />

Kommunikation <strong>und</strong> Transportsystemen<br />

globalisieren sich auch Fehlentwicklungen.<br />

Probleme in scheinbar weit entfernten<br />

Regionen haben teils regionale, teils<br />

auch globale Bumerangeffekte.<br />

Es hängt vom wirtschaftlichen, politischen<br />

<strong>und</strong> militärischen Macht- <strong>und</strong><br />

Gestaltungspotenzial der einzelnen Akteure<br />

ab, wie stark <strong>die</strong> Phänomene der<br />

Verflechtung <strong>und</strong> Entgrenzung im Gefolge<br />

von Globalisierungsprozessen ihre<br />

Handlungsautonomie begrenzen <strong>und</strong><br />

wie verw<strong>und</strong>bar sie durch Wirkungszusammenhänge<br />

des Spinngewebes sind.<br />

Die Interdependenztheoretiker unterschieden<br />

zwischen Empfindlichkeit (sensitivity)<br />

<strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit (vulnerability)<br />

je nach Chancen <strong>und</strong> Optionen,<br />

auf internationale Krisen zu reagieren,<br />

ihre Kosten zu minimieren <strong>und</strong> Alternativen<br />

zu finden.<br />

Ein aktuelles Beispiel lieferte <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

zweier GUS-Staaten<br />

(Ukraine <strong>und</strong> Georgien) durch <strong>die</strong> Drosselung<br />

<strong>und</strong> Verteuerung von Gaslieferungen<br />

aus Russland, während <strong>die</strong> westeuropäischen<br />

Gasimporteure mit Reservelagern<br />

<strong>und</strong> mit der Diversifizierung der<br />

Lieferländer auf <strong>die</strong> kurzfristig akute<br />

<strong>und</strong> langfristig drohende Verknappung<br />

der Gasvorräte reagieren konnten bzw.<br />

können. Die Verteuerung von Erdöl <strong>und</strong><br />

Erdgas belastete zwar auch <strong>die</strong> Konjunktur,<br />

Aktienmärkte <strong>und</strong> Preisstabilität in<br />

den Industrieländern, traf aber vor allem<br />

<strong>die</strong> armen Entwicklungsländer, <strong>die</strong><br />

höhere Anteile ihrer Deviseneinnahmen<br />

für Energieimporte aufbringen müssen<br />

<strong>und</strong> sich entsprechend schwer tun, andere<br />

lebenswichtige Importe zu finanzieren<br />

<strong>und</strong> ihre Auslandsschulden zu begleichen.<br />

Dagegen konnte z. B. der »Exportweltmeister«<br />

Deutschland von den<br />

hohen Devisenbeständen <strong>und</strong> steigenden<br />

Importen der »Neureichen« in den Förder-<br />

<strong>und</strong> Exportländern von Erdöl/Erdgas<br />

auch profitieren. Die Empfindlichkeiten<br />

<strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> sind sehr<br />

ungleich verteilt.


11 Die interdependenztheoretische Entdeckung der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

Auch der Hegemon ist nicht gegen<br />

externe Schocks gefeit<br />

Der von Robert O. Keohane <strong>und</strong> Joseph<br />

S. Nye (1977) vorgelegte Klassiker der Interdependenztheorie<br />

belegte durch viele<br />

Beispiele <strong>die</strong> Unterscheidung zwischen<br />

Empfindlichkeit <strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit. Er<br />

zeigte, dass ein Hegemon wie <strong>die</strong> USA<br />

durch internationale Entwicklungen damals<br />

weniger verw<strong>und</strong>bar war als <strong>die</strong><br />

Vielzahl von Entwicklungsländern, <strong>die</strong><br />

auf Gedeih <strong>und</strong> Verderb auf internationale<br />

Überlebenshilfe angewiesen sind.<br />

Dieses trügerische Gefühl der eigenen<br />

Unverw<strong>und</strong>barkeit dank der militärischen<br />

<strong>und</strong> technologischen Überlegenheit<br />

beförderte <strong>die</strong> Hinwendung zum<br />

Unilateralismus. Dann kam ein Schock,<br />

<strong>und</strong> es zeichneten sich geostrategische<br />

Entwicklungen ab, <strong>die</strong> auch dem Kraft<br />

<strong>und</strong> Waffen strotzenden Mars Amerika,<br />

dessen Hypermacht, weltgeschichtlicher<br />

Übergröße <strong>und</strong> Einzigartigkeit Unilateralisten<br />

wie Robert Kagan (2003) huldigten,<br />

<strong>die</strong> Erfahrung der Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

aufzwangen. Und mit ihm waren wesentliche<br />

Teile der OECD-Welt betroffen.<br />

Die Terroranschläge vom 11. September<br />

2001 zerstörten schlagartig <strong>die</strong><br />

Überzeugung der eigenen Unverw<strong>und</strong>barkeit<br />

<strong>und</strong> führten auch der übrigen<br />

Welt eine »globalisierte Unsicherheit«<br />

vor Augen, <strong>die</strong> auch durch Attentate an<br />

anderen Orten deutlich wurde. Was in<br />

New York <strong>und</strong> Washington, in Madrid<br />

oder auf Java geschah, offenbarte <strong>die</strong><br />

Verletzlichkeit der technischen Zivilisation,<br />

<strong>die</strong> in aller Welt einen hohen <strong>und</strong><br />

teuren Überwachungs- <strong>und</strong> Kontrollaufwand<br />

erforderlich machte. »9/11« veränderte<br />

schlagartig <strong>die</strong> Weltpolitik <strong>und</strong><br />

leitete einen weltweiten »Krieg gegen<br />

den Terror« ein, weil der transnational<br />

organisierte Terrorismus mit punktuel-<br />

len Aktionen <strong>die</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit des<br />

globalen Systems vorführte. Der Vorrang<br />

der inneren Sicherheit machte weltweit,<br />

auch in gefestigten Demokratien,<br />

Gr<strong>und</strong>prinzipien der Rechtsstaatlichkeit<br />

(rule of law) <strong>und</strong> der Menschenrechte<br />

verw<strong>und</strong>bar. Lokale Terrorakte<br />

gegen Touristikziele hatten fatale Auswirkungen<br />

auf den Tourismus, der vielerorts<br />

<strong>die</strong> wichtigste Devisen- <strong>und</strong> Beschäftigungsquelle<br />

bildet, <strong>und</strong> auf Fluggesellschaften,<br />

<strong>die</strong> gefährdete Ziele <strong>und</strong><br />

Regionen anfliegen.<br />

Die Zahl der Attentate ist nennenswert:<br />

Laut Angaben des US National<br />

Counterterrorism Center kam es weltweit<br />

zu 11000 terroristischen Anschlägen,<br />

<strong>die</strong> 14600 Tote forderten; <strong>die</strong> materiellen<br />

Schäden der Anschläge vom<br />

11. September 2001 wurden auf über 30<br />

Mrd. US-$ geschätzt (Krugman 2004,<br />

S. 2); <strong>die</strong> erhöhte Verw<strong>und</strong>barkeit materialisiert<br />

sich in entsprechenden Versicherungsprämien.<br />

Opferzahl <strong>und</strong> materielle<br />

Folgen sind beachtlich. Zugleich<br />

liegen <strong>die</strong> Daten deutlich unter entsprechenden<br />

menschlichen <strong>und</strong> materiellen<br />

»Kosten« von Naturkatastrophen oder<br />

kriegerischen Konflikten. So forderte<br />

etwa der Tsunami Ende 2004 in Süd<strong>und</strong><br />

Südostasien ca. 250000 Menschenleben,<br />

das Erdbeben in Pakistan im<br />

Oktober 2005 mehr als 85000 Tote. Der<br />

langjährige Krieg in der Demokratischen<br />

Republik Kongo soll epidemiologischen<br />

Stu<strong>die</strong>n zufolge zum Verlust von<br />

etwa vier Millionen Menschenleben geführt<br />

haben.<br />

Vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong> ist es nicht allein<br />

das derzeit reale Ausmaß der<br />

Zerstörung, sondern <strong>die</strong> mentale Verunsicherung<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Erinnerung an <strong>die</strong><br />

Verw<strong>und</strong>barkeit moderner Gesellschaften,<br />

<strong>die</strong> den internationalen Terrorismus<br />

aus Sicht der Industrieländer zum


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 12<br />

höchstrangigen Sicherheitsrisiko am<br />

Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts macht.<br />

Entscheidend sind mithin nicht allein<br />

objektive Begebenheiten, sondern vielmehr<br />

gibt das Sicherheitsbedürfnis vieler<br />

Menschen den Ausschlag: Sie reagieren<br />

empfindlich auf ein ubiquitäres<br />

Bedrohungssyndrom, das ihnen <strong>die</strong><br />

Me<strong>die</strong>n <strong>und</strong> Sicherheitspolitiker tagtäglich<br />

in Erinnerung rufen [vgl. Kapitel Internationaler<br />

Terrorismus <strong>und</strong> seine Folgen<br />

für <strong>die</strong> internationalen Beziehungen].<br />

Die économie dominante als<br />

weltwirtschaftlicher Stabilitäts- <strong>und</strong><br />

Unsicherheitsfaktor<br />

Nicht nur der transnationale Terrorismus<br />

erschüttert den Glauben an <strong>die</strong> eigene<br />

Unverw<strong>und</strong>barkeit. Darüber hinaus<br />

musste <strong>die</strong> energiehungrige économie<br />

dominante, <strong>die</strong> mit den eigenen Energievorräten<br />

verschwenderisch umgeht <strong>und</strong><br />

immer mehr von Energieimporten aus<br />

aller Welt abhängig wurde, erkennen,<br />

dass <strong>die</strong> Ressourcensicherheit zu einer<br />

Achillesferse ihres Wohlstandsmodells,<br />

ihrer Wirtschafts- <strong>und</strong> Sicherheitspolitik<br />

wurde. Der Energie- <strong>und</strong> Sicherheitsexperte<br />

Michael T. Klare (2004) drohte<br />

dem »Öl-Junkie Amerika« an, dass <strong>die</strong><br />

Empfindlichkeit, <strong>die</strong> bereits aus der Verteuerung<br />

der Ölimporte resultierte, sich<br />

in eine gefährliche Verw<strong>und</strong>barkeit verwandeln<br />

könnte, weil das Wirtschafts<strong>und</strong><br />

Alltagsleben, also der American way<br />

of life, zunehmend von Ölimporten abhängt,<br />

<strong>die</strong> größtenteils aus instabilen Regionen<br />

kommen. Dort konkurrieren<br />

auch andere »Öl-Junkies« um den<br />

Zugang zu dem verknappenden<br />

Schmierstoff der Weltwirtschaft, noch<br />

mit Diplomatie (z. B. der Akzeptanz von<br />

korrupten Autokratien) <strong>und</strong> allerlei<br />

Lockangeboten (Krediten, Waffenlieferungen),<br />

aber auch mit einer Konfliktbereitschaft,<br />

<strong>die</strong> manche Beobachter<br />

schon als »neuen Kalten Krieg« deuten.<br />

Auch Europa wird von <strong>die</strong>sen Entwicklungen<br />

betroffen sein.<br />

Die von Energieimporten abhängige


13 Die janusköpfige Globalisierung<br />

Wachstumsdynamik in den USA stellt<br />

nicht nur einen Konjunkturmotor, sondern<br />

auch einen Unsicherheitsfaktor für<br />

<strong>die</strong> Weltwirtschaft dar, <strong>die</strong> empfindlich<br />

auf Konjunkturschwankungen der US-<br />

Ökonomie reagiert: Wenn <strong>die</strong> New Yorker<br />

Börse hüstelt, bekommen <strong>die</strong> Börsen<br />

in aller Welt Fieberanfälle. Einerseits<br />

spielt der seit Jahren boomende US-<br />

Markt für <strong>die</strong> EU- <strong>und</strong> Schwellenländer<br />

eine wichtige Rolle als Nachfrage- <strong>und</strong><br />

Wachstumsmotor, wobei gleichzeitig das<br />

eigene Leistungsbilanzdefizit Schwindel<br />

erregende Größenordnungen erreichte.<br />

Andererseits hätte eine Wachstumsdelle<br />

infolge weiter steigender Energiepreise,<br />

Zinssteigerungen oder Krisen auf dem<br />

Immobilienmarkt aufgr<strong>und</strong> von privaten<br />

Refinanzierungsproblemen gravierende<br />

Auswirkungen auf <strong>die</strong> gesamte Weltwirtschaft<br />

[vgl. Abschnitt Weltwirtschaft <strong>und</strong><br />

Rohstoffe]. Hier werden wechselseitige<br />

Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

deutlich, <strong>die</strong> unerwünschte, aber nur<br />

schwer vermeidbare Begleiterscheinungen<br />

der Globalisierung sind.<br />

Globalisierte Unsicherheit <strong>und</strong><br />

»Renuklearisierung«<br />

Die »globalisierte Unsicherheit«, <strong>die</strong><br />

durch den transnationalen Terrorismus<br />

in nahezu allen Weltregionen greifbar<br />

ist, wird durch neue <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

im Nuklearbereich verstärkt. Mittler-<br />

Die janusköpfige Globalisierung<br />

Die Vermehrung <strong>und</strong> Verdichtung<br />

grenzüberschreitender Wirtschaftsaktivitäten<br />

haben fast alle Ökonomien in<br />

globale Interdependenzen eingeb<strong>und</strong>en<br />

weile wird <strong>die</strong> »Renuklearisierung der<br />

internationalen Politik« für wahrscheinlich<br />

gehalten [vgl. Kapitel Proliferation<br />

<strong>und</strong> Kontrolle von Massenvernichtungswaffen].<br />

Die Frage der nuklearen Verletzbarkeit<br />

hatte über Jahrzehnte hinweg<br />

den Ost-West-Konflikt dominiert <strong>und</strong><br />

war in den 1990er Jahren in den Hintergr<strong>und</strong><br />

getreten. Auch waren Fortschritte<br />

bei der Kontrolle von Massenvernichtungswaffen<br />

zu verzeichnen: Argentinien,<br />

Brasilien <strong>und</strong> Südafrika haben<br />

ihre Nuklearwaffenprogramme abgebrochen.<br />

Libyen verfolgt als Gegenleistung<br />

für seine »Resozialisierung« in der<br />

internationalen Staatengemeinschaft<br />

keine Massenvernichtungsprogramme<br />

mehr; im Irak sind entsprechende Vorhaben<br />

nach dem Sturz von Saddam<br />

Hussein bis auf weiteres nicht zu erwarten.<br />

Doch zeigt <strong>die</strong> Nuklearrüstung<br />

Nordkoreas <strong>und</strong> Irans wie auch <strong>die</strong><br />

Möglichkeit, Terroristen <strong>und</strong> Kriminelle<br />

könnten radioaktive Substanzen<br />

für eine »schmutzige Bombe« verwenden,<br />

dass <strong>die</strong>se Bedrohung weiterhin real<br />

ist (Hochrangige Beratungsgruppe<br />

2004). Trotz diplomatischer Annäherung<br />

stellt der indisch-pakistanische Konflikt<br />

mit seiner nuklearen Komponente zudem<br />

nach wie vor eines der explosivsten<br />

Pulverfässer der Welt dar. Besorgnis<br />

erregend ist auch, dass der Einsatz nuklearer<br />

Waffen im Unterschied zu B- <strong>und</strong><br />

C-Waffen völkerrechtlich nicht geregelt<br />

ist.<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Spielräume nationalstaatlicher<br />

Wirtschaftspolitik verengt. Der vertraute<br />

Begriff der »Volkswirtschaft«<br />

wurde obsolet, weil wichtige Entschei-


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 14<br />

dungen über <strong>die</strong> Handels- oder Finanzpolitik<br />

von internationalen Organisationen<br />

(EU, EZB, WTO) getroffen <strong>und</strong><br />

von Clubs wie der G8 beeinflusst werden.<br />

Interdependenz bedeutet Verflechtung,<br />

aber auch Verw<strong>und</strong>barkeit durch<br />

externe Entscheidungen <strong>und</strong> Entwicklungen.<br />

Verw<strong>und</strong>bar durch Nachfrage<strong>und</strong><br />

Preisschwankungen auf den Gütermärkten<br />

sind im Besonderen <strong>die</strong> wenig<br />

diversifizierten Rohstoffökonomien, bei<br />

denen <strong>die</strong> wenig kalkulierbaren Preisschwankungen<br />

auf das ganze Wirtschaftsleben,<br />

auf <strong>die</strong> finanzpolitischen<br />

Spielräume <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> Schulden<strong>die</strong>nstfähigkeit<br />

durchschlagen.<br />

Der zunehmend vernetzte Weltmarkt<br />

bildet eine Art von Weltgericht über das<br />

Wohl <strong>und</strong> Wehe <strong>und</strong> über <strong>die</strong> Wettbewerbsfähigkeit<br />

von Nationen. Auch <strong>die</strong><br />

alten Industrieländer <strong>und</strong> dort <strong>die</strong> alten<br />

Industrien gerieten unter wachsenden<br />

Konkurrenz- <strong>und</strong> Anpassungsdruck. Die<br />

Formel lautet: Adjust or <strong>die</strong>! Dieser Konkurrenzdruck<br />

zwingt zwar zur Veränderung<br />

nicht mehr wettbewerbsfähiger<br />

Strukturen, erzeugt technologischen<br />

Wandel <strong>und</strong> ökonomische Dynamik,<br />

produziert aber auch hohe soziale Kosten<br />

<strong>und</strong> in vielen Ländern Existenzängste,<br />

<strong>die</strong> nationale politische Systeme unter<br />

Legitimationsdruck setzen. Während<br />

<strong>die</strong> reichen Länder über Modernisierungspotenziale<br />

<strong>und</strong> finanzielle Ressourcen<br />

zur Abfederung sozialer Härten<br />

verfügen, sind insbesondere <strong>die</strong> ärmsten<br />

Entwicklungsländer Afrikas südlich der<br />

Sahara, aber auch viele Ökonomien<br />

mittleren Einkommensniveaus in Lateinamerika<br />

durch den globalen Wettbewerbsdruck<br />

überfordert.<br />

Chancen <strong>und</strong> Risiken, Gewinner <strong>und</strong><br />

Verlierer der Globalisierung<br />

Der Bericht der Enquete-Kommission<br />

des Deutschen B<strong>und</strong>estages zur »Globalisierung<br />

der Weltwirtschaft« dokumentierte,<br />

wie umstritten <strong>die</strong> Einschätzungen<br />

von Licht <strong>und</strong> Schatten, Chancen<br />

<strong>und</strong> Risiken der Globalisierung sind.<br />

Auch Berichte von internationalen Organisationen<br />

sind sich nicht einig: Während<br />

der Internationale Währungsfonds<br />

(IWF) <strong>und</strong> <strong>die</strong> Weltbank, <strong>die</strong> WTO <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> OECD ihre positiven Wirkungen betonen,<br />

überwiegen in Berichten von<br />

UN-Organisationen eher <strong>die</strong> Schattenseiten.<br />

Die Apologeten der Globalisierung<br />

verkünden frohe Botschaften: Die Liberalisierung<br />

der Märkte habe eine Wachstum<br />

fördernde Wirkung, <strong>und</strong> mehr<br />

Wachstum bedeute mehr Wohlstand.<br />

Ihre Kritiker – allen voran Attac als transnational<br />

organisierte Avantgarde der<br />

Globalisierungskritiker – halten dagegen,<br />

dass ihre Wohltaten nur den Starken in<br />

der Weltwirtschaft, außerdem nur wenigen<br />

Schwellenländern <strong>und</strong> dort vielfach<br />

nur Minderheiten zugute kommen. Tatsächlich<br />

ist der Wohlstand immer ungleicher<br />

verteilt: Hatte das Pro-Kopf-Einkommen<br />

der Industrieländer 1981 das<br />

der ärmsten Länder noch um das 16-fache<br />

übertroffen, so war es 2003 bereits<br />

fast 23-mal so hoch [vgl. Kapitel Weltsozialpolitik<br />

<strong>und</strong> Entwicklung]. Kritiker der<br />

Globalisierung erhielten vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong><br />

gewichtige Rückendeckung<br />

von Joseph Stiglitz (2002), dem Nobelpreisträger<br />

für Wirtschaftswissenschaften,<br />

für den <strong>die</strong> Mehrheit der Entwicklungsländer<br />

<strong>und</strong> der dort lebenden<br />

Menschen im »Schatten der Globalisierung«<br />

liegt.<br />

Der Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozialgeograf<br />

Fred Scholz (2000) zählte sogar <strong>die</strong>


15 Die janusköpfige Globalisierung<br />

»Masse der Weltbevölkerung«, <strong>die</strong> er dem<br />

über alle Weltregionen verstreuten<br />

»neuen Süden« zurechnete, zu der von<br />

der Globalisierung ausgegrenzten »Restwelt«.<br />

Der Human Development Report<br />

1999 diagnostizierte eine »Globalisierung<br />

ohne menschliches Gesicht«, <strong>die</strong><br />

einem großen Teil der Menschheit ein<br />

menschenwürdiges Dasein verwehrt.<br />

Das Vertrackte ist, dass Apologeten<br />

<strong>und</strong> Kritiker ihre Argumente mit einer<br />

Fülle von Daten untermauern können.<br />

Die Globalisierung hat Gewinner <strong>und</strong><br />

Verlierer, sowohl auf der Ebene der Staatenwelt<br />

als auch innerhalb der Gesellschaften,<br />

sowohl in der OECD-Welt als<br />

auch in der Dritten Welt. Sie bietet<br />

einerseits wettbewerbsfähigen Schwellenländern<br />

neue Chancen auf dem zunehmend<br />

deregulierten Weltmarkt <strong>und</strong> droht<br />

andererseits, ganze Regionen wirtschaftlich<br />

<strong>und</strong> politisch noch weiter ins Abseits<br />

zu drängen. Globalisierung bedeutet Integration<br />

<strong>und</strong> Fragmentierung, In- <strong>und</strong><br />

Exklusion, Globalismus <strong>und</strong> Parochialismus,<br />

also Rückbesinnung auf das Lokale<br />

<strong>und</strong> Eigene (»Glokalisierung«).<br />

Nach Prognosen der OECD <strong>und</strong> WTO<br />

werden fast alle Ländergruppen irgendwie<br />

von der Liberalisierung des Welthandels<br />

profitieren – möglicherweise mit<br />

Ausnahme der Rohstoffländer Afrikas<br />

südlich der Sahara, <strong>die</strong> in der Regel nur<br />

wenige Rohstoffe auf niedriger Verarbeitungsstufe<br />

mit entsprechend geringer<br />

Wertschöpfung exportieren können. Das<br />

Kapitel Internationale Rohstoffmärkte:<br />

steigende Preise <strong>und</strong> wachsendes Konfliktpotenzial<br />

zeigt allerdings, dass auch<br />

Afrika von der steigenden Nachfrage<br />

nach mineralischen Rohstoffen profitieren<br />

konnte. Der Nachfrageschub aus<br />

China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n führte hier zwar zu<br />

Preissteigerungen, birgt aber <strong>die</strong> Gefahr,<br />

Afrika auf <strong>die</strong> koloniale Rolle eines Rohstofflieferanten<br />

zurückzuwerfen, zu deren<br />

Überwindung <strong>die</strong> Entwicklungspolitik<br />

beitragen wollte. Während <strong>die</strong><br />

fernöstliche Wachstumsregion ihre Export-<br />

<strong>und</strong> Entwicklungserfolge vor allem<br />

der Produktion <strong>und</strong> Ausfuhr wettbewerbsfähiger<br />

Industriegüter <strong>und</strong> Dienstleistungen<br />

verdankt, werden <strong>die</strong> Rohstoffländer<br />

noch weiter von der weltwirtschaftlichen<br />

Dynamik abgekoppelt.<br />

Afrika südlich der Sahara konnte auch <strong>die</strong><br />

von der EU den AKP-Staaten eingeräumten<br />

Handelspräferenzen kaum nutzen.<br />

Diese Abkoppelung ist jedoch kein Folgeproblem<br />

der Globalisierung, sondern<br />

eher eine Folge der internen Verfasstheit<br />

der Mehrzahl der Länder, ihrer zerrütteten<br />

politischen Strukturen <strong>und</strong> der damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Unfähigkeit, im internationalen<br />

Wettbewerb zu bestehen <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> kolonialen Hypotheken zu überwinden.<br />

Die Globalisierung kann also nicht<br />

pauschal für <strong>die</strong> Verelendung <strong>und</strong> Ausbeutung<br />

von Menschen verantwortlich<br />

gemacht werden. Diese Warnung vor<br />

einer pauschalen Verteufelung hebelt jedoch<br />

nicht <strong>die</strong> Kritik aus, <strong>die</strong> das Entwicklungsprogramm<br />

der Vereinten Nationen<br />

(UNDP) an den sozialen Grausamkeiten<br />

der Globalisierung übte oder<br />

<strong>die</strong> World Commission on the Social<br />

Dimension of Globalization (2004) zum<br />

Urteil brachte, dass <strong>die</strong> von der Globalisierung<br />

verschärften globalen Ungleichheiten<br />

»moralisch unannehmbar <strong>und</strong><br />

politisch unhaltbar« seien:<br />

»Der derzeitige Prozess der Globalisierung<br />

führt zu unausgewogenen Ergebnissen,<br />

innerhalb von Ländern wie zwischen<br />

ihnen. Zwar wird Reichtum geschaffen,<br />

aber zu viele Länder <strong>und</strong> Menschen können<br />

nicht davon profitieren.«


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 16<br />

»Menschliche Sicherheit« in einer<br />

fragmentierten Welt<br />

Die bereits angesprochene »Globalisierung<br />

ohne menschliches Gesicht« bedeutet<br />

eine existenzielle Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

<strong>und</strong> einen Verlust von <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit«<br />

(human security). Der Begriff<br />

erfasst sowohl <strong>die</strong> Garantie der physischen<br />

<strong>und</strong> psychischen Integrität der<br />

Menschen (freedom from fear) als auch<br />

eine Befriedigung sozioökonomischer<br />

Gr<strong>und</strong>bedürfnisse (freedom from want)<br />

(Commission on Human Security 2003).<br />

Menschliche Sicherheit ergänzt das<br />

Konzept der »menschlichen Entwicklung«,<br />

insofern es dramatische Verschlechterungen<br />

von Lebenslagen für das<br />

Individuum in den Mittelpunkt rückt,<br />

<strong>die</strong> einer Antwort durch <strong>die</strong> internationale<br />

Gemeinschaft bedürfen. Mit anderen<br />

Worten: Menschliche Unsicherheit<br />

bezieht Verw<strong>und</strong>barkeit auf den Einzelnen<br />

<strong>und</strong> macht ihn bzw. sie zum normativen<br />

<strong>und</strong> empirischen Referenzpunkt.<br />

Besonders drastisch kommt <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong><br />

menschlicher Sicherheit darin<br />

zum Ausdruck, dass nach wie vor ein<br />

Fünftel der Weltbevölkerung – mehr als<br />

eine Milliarde Menschen – in extremer<br />

Armut lebt <strong>und</strong> mit weniger als einem<br />

US-$ pro Tag auskommen muss. Wie wenig<br />

<strong>die</strong> Lage sich durch <strong>die</strong> bloße Schaffung<br />

formaler Beschäftigungsverhältnisse<br />

verbessern lässt, zeigt eine weitere Zahl:<br />

Weltweit 2,85 Mrd. Menschen ver<strong>die</strong>nen<br />

derzeit in ihren formalen Beschäftigungsverhältnissen<br />

nicht genug, um <strong>die</strong><br />

Armutsschwelle von zwei US-$ pro Tag<br />

zu überwinden [vgl. Kapitel Weltsozialpolitik<br />

<strong>und</strong> Entwicklung; Armutsbekämpfung<br />

<strong>und</strong> Partizipation]. Allerdings gibt es<br />

einen positiven Trend: Der Anteil der in<br />

extremer Armut lebenden Menschen ist<br />

seit 1990 von 27,9 auf 21,1 % zurückgegangen<br />

– auch wenn einschränkend angemerkt<br />

werden muss, dass <strong>die</strong>s fast ausschließlich<br />

auf Fortschritte in China<br />

<strong>und</strong> Ostasien zurückzuführen ist <strong>und</strong> in<br />

anderen Weltregionen Stagnation oder<br />

gar Rückschritte vorherrschen [vgl.<br />

Kapitel Armutsbekämpfung <strong>und</strong> Partizipation].<br />

Chronische Mangelernährung ist eine<br />

der elementarsten Verletzungen<br />

menschlicher Sicherheit. 842 Mio.<br />

Menschen weltweit leiden darunter, wobei<br />

Südasien <strong>und</strong> Afrika südlich der Sahara<br />

in besonderem Maße betroffen<br />

sind. Eine Verschlechterung der Ernährungslage<br />

findet dabei insbesondere in<br />

Kriegszeiten statt. So ging in Angola <strong>die</strong><br />

Nahrungsmittelproduktion im Verlauf<br />

des Krieges um 44 % zurück. Erfreulicherweise<br />

ist aber in allen Weltregionen<br />

<strong>die</strong> Kindersterblichkeit bis zum Alter von<br />

fünf Jahren seit 1970 gesunken, so selbst<br />

in Afrika südlich der Sahara von 24 auf<br />

17 %.<br />

Besonders betroffen von den Negativerscheinungen<br />

einer fragmentierten<br />

Weltordnung sind Menschen in »fragilen<br />

Staaten«, in denen das Gewaltmonopol<br />

ero<strong>die</strong>rt ist <strong>und</strong> es dem Staat in wesentlichen<br />

Funktionsbereichen an Leistungsfähigkeit<br />

mangelt. Wie dramatisch <strong>die</strong><br />

Lage ist, hat das britische Department<br />

for International Development (DFID)<br />

aufgezeigt: Die Kindersterblichkeit liegt<br />

in fragilen Staaten doppelt, <strong>die</strong> Müttersterblichkeit<br />

sogar dreimal so hoch wie<br />

in anderen armen Ländern. Ein Drittel<br />

der Bevölkerung leidet unter Unterernährung.<br />

Die Wahrscheinlichkeit, dass<br />

<strong>die</strong> Millenniumsentwicklungsziele in<br />

<strong>die</strong>sen Bereichen umgesetzt werden können,<br />

liegt unter 20 % [vgl. Kapitel Fragile<br />

Staaten <strong>und</strong> globale Friedenssicherung].


17 Die janusköpfige Globalisierung<br />

Der globalisierte<br />

»Casino-Kapitalismus« erzeugt hier<br />

Empfindlichkeiten, dort<br />

<strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

In den 1990er Jahren wurden sieben regionale<br />

Finanzkrisen gezählt, <strong>die</strong> <strong>die</strong> internationalen<br />

Finanzmärkte in Turbulenzen<br />

stürzten, weil es noch nicht gelungen<br />

ist, wirksame Regulierungssysteme<br />

für <strong>die</strong> dynamischen, zugleich aber instabilen<br />

Weltfinanzmärkte zu schaffen.<br />

Nach unterschiedlichen Schätzungen<br />

von internationalen Organisationen haben<br />

<strong>die</strong> Bankenkrisen Ende der 1990er<br />

Jahre in Mexiko fast 20 % des Bruttoinlandsprodukts<br />

(BIP), in Indonesien<br />

mehr als 50 %, in Südkorea 35 %, in Russland<br />

40 % <strong>und</strong> in Argentinien sogar<br />

etwa 60 % aufgezehrt. Während <strong>die</strong> westlichen<br />

Banken zwar einige Verluste hinnehmen<br />

mussten, <strong>die</strong> aber ihre Existenz<br />

nicht bedrohten, hatten <strong>die</strong> Bankenkrisen<br />

besonders in Indonesien <strong>und</strong> Argentinien<br />

schwere Wirtschafts- <strong>und</strong> Sozial-<br />

krisen zur Folge, von denen sie sich lange<br />

nicht erholten. Die Enquete-Kommission<br />

des Deutschen B<strong>und</strong>estages zur<br />

»Globalisierung der Weltwirtschaft«<br />

(2002, S. 77) fasste <strong>die</strong> ökonomischen, sozialen<br />

<strong>und</strong> politischen Kosten von Finanzkrisen<br />

folgendermaßen zusammen:<br />

»Nationale <strong>und</strong> vor allem internationale<br />

Finanzkrisen sind mit großen<br />

volkswirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen sowie<br />

politischen Kosten verb<strong>und</strong>en, <strong>die</strong> sich<br />

nur zum Teil in Geldgrößen beziffern<br />

lassen. Das soziale Leben verändert sich,<br />

auch wenn nach gewisser Zeit <strong>die</strong> Statistiken<br />

anzeigen, dass <strong>die</strong> durch <strong>die</strong> Finanzkrise<br />

entstandene ›Delle‹ bei Wachstum<br />

<strong>und</strong> Aktienkursen, bei Beschäftigung<br />

<strong>und</strong> Einkommen der Bevölkerungen<br />

aufgefüllt werden konnte . . . Es<br />

kann sogar sein, dass einige Schichten<br />

<strong>und</strong> Sektoren der Armen einer Gesellschaft<br />

von einer Finanzkrise profitieren<br />

(wenn beispielsweise <strong>die</strong> Nachfrage<br />

nach informell erzeugten Agrarprodukten<br />

steigt), während andere darunter zu


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 18<br />

leiden haben. Die Finanzkrisen differenzieren<br />

also zwischen ›arm‹ <strong>und</strong> ›reich‹<br />

<strong>und</strong> innerhalb der ›armen‹ Sektoren<br />

nochmals.«<br />

Die Krisenanfälligkeit des spekulativen<br />

»Casino-Kapitalismus«, der sich weitgehend<br />

von der Realwirtschaft abgekoppelt<br />

hat <strong>und</strong> nicht mehr vorrangig der<br />

Finanzierung von Handel <strong>und</strong> Dienstleistungen,<br />

sondern der buchstäblich<br />

grenzenlosen Jagd nach Spekulationsgewinnen<br />

<strong>die</strong>nt, widerspricht den Regeln<br />

einer »fairen Globalisierung«. Selbst der<br />

Großspekulant George Soros (1998)<br />

sprach unter dem Eindruck der Asien-<br />

Krise von 1997/98 von der »kapitalistischen<br />

Bedrohung« eines ungezügelten<br />

»Casino-Kapitalismus«. Auch der IWF<br />

betonte in seinem Global Financial Stability<br />

Report von 2002 <strong>die</strong> »großen Risiken«,<br />

denen das Weltfinanzsystem weiterhin<br />

ausgesetzt sei.<br />

Zu <strong>die</strong>sen Risiken zählt auch <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong><br />

der finanziellen Integrität <strong>und</strong><br />

Stabilität durch Geldwäsche. Sie ist mit<br />

der Liberalisierung, Deregulierung <strong>und</strong><br />

Globalisierung der Finanzmärkte zu<br />

einem Problem mit globalen Dimensionen<br />

geworden. Nicht nur ihr Umfang hat<br />

zugenommen, sondern auch <strong>die</strong> damit<br />

verb<strong>und</strong>enen Gefahren für <strong>die</strong> Wirtschaft,<br />

<strong>die</strong> Gesellschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> Politik<br />

sind gewachsen. Am 11. September 2001<br />

wurde offensichtlich, dass <strong>die</strong> »deregulierten<br />

Finanzmärkte nicht nur Vehikel<br />

der Wohlstandsmehrung in der Welt<br />

sind, sondern auch zur Finanzierung der<br />

organisierten Kriminalität <strong>und</strong> terroristischer<br />

Netzwerke missbraucht werden<br />

können« (Enquete-Kommission 2002,<br />

S. 79).<br />

Es gibt deshalb gute Gründe, warum<br />

<strong>die</strong> UNDP-Stu<strong>die</strong>ngruppe um Inge Kaul<br />

(2003) <strong>die</strong> Stabilität der internationalen<br />

Finanzmärkte zu den schutzbedürftigen<br />

global public goods zählte, weil globale Finanzkrisen<br />

nicht nur <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>feste des<br />

Weltfinanzsystems, das gewissermaßen<br />

das Rückgrat der Weltwirtschaft bildet,<br />

erschüttern, sondern auch viele Millionen<br />

Menschen in Armut stürzen können.<br />

Die Asienkrise von 1997 bildete auch<br />

den Ausgangspunkt für Bemühungen<br />

Japans <strong>und</strong> gleich gesinnter Länder, im<br />

Kontext des Millenniumsgipfels von<br />

2000 eine Commission on Human Security<br />

ins Leben zu rufen <strong>und</strong> u. a. eine<br />

verminderte Krisenanfälligkeit des internationalen<br />

Finanzsystems zu fordern.<br />

Dennoch ist es bisher den staatlichen <strong>und</strong><br />

privaten Managern der internationalen<br />

Finanzmärkte nicht gelungen, durch den<br />

Aufbau einer neuen internationalen Finanzarchitektur<br />

<strong>die</strong> Risiken <strong>und</strong> Verwerfungen<br />

internationaler Finanzkrisen mit<br />

ihren schweren wirtschaftlichen <strong>und</strong> sozialen<br />

Folgekosten beherrschbar zu machen<br />

[vgl. Kapitel Internationale Finanzmärkte<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Verschuldung der USA].<br />

Nicht zuletzt vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong> haben<br />

sich <strong>die</strong> ostasiatischen Länder einschließlich<br />

Japan seit der Asienkrise mit<br />

Währungsreserven in Höhe von 2500<br />

Mrd. US-$ eingedeckt – vor allem in<br />

US-Dollar. Diese Schutzmaßnahme kann<br />

zugleich <strong>die</strong> US-amerikanische Ökonomie<br />

empfindlich treffen. Denn schon<br />

China mit Währungsreserven von 900<br />

Mrd. US-$ wäre in der Lage, <strong>die</strong> US-Finanzmärkte<br />

gezielt durcheinander zu<br />

bringen.<br />

Der Bericht der Enquete-Kommission<br />

des Deutschen B<strong>und</strong>estages zur »Globalisierung<br />

der Weltwirtschaft« belegt, dass<br />

es nicht an Vorschlägen mangelt, wie <strong>die</strong><br />

Probleme der internationalen Spekulation<br />

<strong>und</strong> Währungsmanipulation, der<br />

Geldwäsche oder der Steuerflucht, <strong>die</strong> allesamt<br />

<strong>die</strong> Regelungskompetenz von<br />

Nationalstaaten überfordern, durch in-


19 Die janusköpfige Globalisierung<br />

ternationale Kooperation bewältigt werden<br />

könnten. Es liegt an der Macht <strong>und</strong><br />

den Interessen international operierender<br />

Banken an möglichst wenigen staatlichen<br />

<strong>und</strong> internationalen Regulierungsvorgaben,<br />

dass bisher nur kleine Reformschritte<br />

zustande kamen, <strong>die</strong> im Kern<br />

auf Vorschlägen des Financial Stability<br />

Forum basierten.<br />

Normative Standards <strong>und</strong><br />

Demokratisierung<br />

Die »Interdependenz der Interdependenzen«<br />

hat nicht nur ökonomische <strong>und</strong> soziale,<br />

sondern auch politische <strong>und</strong> kulturelle<br />

Wechselwirkungen, von den später<br />

zu behandelnden ökologischen Empfindlich-<br />

<strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> ganz zu<br />

schweigen. Die beiden Autoren des Bestsellers<br />

über <strong>die</strong> »Globalisierungsfalle«<br />

(Martin/Schumann 1998) dämonisierten<br />

<strong>die</strong> Globalisierung als »Angriff auf<br />

Wohlstand <strong>und</strong> Demokratie«. In der<br />

Quadratur des Kreises zwischen Wettbewerbsfähigkeit,<br />

sozialer Gerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> Demokratie drohe Erstere zu obsiegen.<br />

Ralf Dahrendorf erkannte in einer<br />

»ungezügelten Globalisierung« <strong>die</strong> Gefahr<br />

wachsender gesellschaftlicher Desintegration<br />

<strong>und</strong> politischer Instabilität,<br />

<strong>die</strong> wiederum <strong>die</strong> Versuchung zu autoritären<br />

Problemlösungen verstärken<br />

könnte. Der Politologe Karl Kaiser (1998)<br />

schloss aus demokratietheoretischer<br />

Sicht nicht aus, dass »dem Sieg der Demokratie<br />

am Ende des 20. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

ihre schleichende Erosion im Gefolge der<br />

massiv wachsenden Globalisierung im<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>ert« folgen könnte, weil <strong>die</strong><br />

Verflechtung moderner Gesellschaften<br />

<strong>die</strong> demokratischen Kontrollmechanismen<br />

des überkommenen Territorialstaates<br />

untergrabe.<br />

Menschenrechtsgruppen befürchten,<br />

dass <strong>die</strong> Globalisierung viele Fortschritte<br />

in der normativen Ausgestaltung<br />

der Menschenrechtskataloge unterlaufen<br />

könnte: <strong>die</strong> sozialen Menschenrechte<br />

durch eine Verschlechterung der Lebens-<br />

<strong>und</strong> Arbeitsbedingungen im weltweiten<br />

Wettbewerb um Standortvorteile,<br />

<strong>die</strong> Frauenrechte durch eine noch<br />

größere Ausbeutung in den »Weltmarktfabriken«<br />

<strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Interkontinentalisierung<br />

des Frauenhandels, <strong>die</strong><br />

Kinderrechte durch <strong>die</strong> Ausweitung von<br />

Kinderarbeit. Frauenforscherinnen lasten<br />

der Globalisierung zusätzliche Belastungen<br />

für <strong>die</strong> »globalisierte Frau« an<br />

(Wichterich 1998).<br />

Die Enquete-Kommission zur »Globalisierung<br />

der Weltwirtschaft« zog auf der<br />

Gr<strong>und</strong>lage mehrerer Gutachten zur Situation<br />

der Frauen im Globalisierungsprozess,<br />

<strong>die</strong> einvernehmlich <strong>die</strong> »Gender-<br />

Blindheit« von ökonomischen Theorien<br />

<strong>und</strong> Statistiken beklagten, eine negative<br />

Bilanz <strong>und</strong> wagte eine nur skeptische<br />

Prognose, <strong>die</strong> im Kapitel Geschlechtergerechtigkeit<br />

<strong>und</strong> internationale Frauenbewegungen<br />

erhärtet wird. Auch wenn es in<br />

einigen Bereichen (so etwa bei der Bildung)<br />

erfreuliche Fortschritte gab, leiden<br />

Frauen nach wie vor in hohem Maße an<br />

menschlicher Unsicherheit. Besonders<br />

im häuslichen Bereich bleiben Frauen<br />

durch Gewalt verw<strong>und</strong>bar – Stu<strong>die</strong>n in<br />

über 50 Ländern haben im vergangenen<br />

Jahrzehnt ermittelt, dass 20 bis 50 % der<br />

Frauen betroffen sind.<br />

Die Öffnung der Märkte für Kapital,<br />

Güter <strong>und</strong> Dienstleistungen <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

globalisierte Konkurrenz um Standortvorteile<br />

haben <strong>die</strong> Fähigkeiten von<br />

Staaten vermindert, soziale Standards<br />

durchzusetzen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Verhandlungsmacht<br />

von multinationalen Unternehmen<br />

gestärkt. Ihre transnationale Orga-


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 20<br />

nisation <strong>und</strong> ihre exit option beim Versuch<br />

von Gastländern, ihre Aktivitäten<br />

zu kontrollieren, haben auch <strong>die</strong> Organisationsmacht<br />

national organisierter Gewerkschaften<br />

geschwächt. Die von der<br />

WTO vorangetriebene Globalisierung<br />

zielt darauf ab, Hindernisse zu beseitigen,<br />

<strong>die</strong> sich weltweiter Investitionstätigkeit<br />

<strong>und</strong> dem weltweiten Absatz von<br />

Produkten in den Weg stellen, ohne<br />

Rücksicht darauf, unter welchen Wettbewerbsbedingungen<br />

<strong>die</strong>se Produkte hergestellt<br />

wurden. In <strong>die</strong>ser Rationalität<br />

des globalisierten Marktes sah auch <strong>die</strong><br />

UN-Kommission für wirtschaftliche, soziale<br />

<strong>und</strong> kulturelle Rechte (CESCR)<br />

das »Risiko, dass sie den zentralen Stellenwert<br />

mindert, der den Menschenrechten<br />

in der UN-Charta im Allgemeinen<br />

<strong>und</strong> in der Allgemeinen Erklärung<br />

der Menschenrechte im Besonderen eingeräumt<br />

wird«. Zugleich führt <strong>die</strong> ökonomische<br />

Globalisierung im Verb<strong>und</strong><br />

mit der sich herausbildenden Weltöffentlichkeit<br />

jedoch auch dazu, dass Arbeits-,<br />

Umwelt- <strong>und</strong> Menschenrechtsstandards<br />

in noch so entfernten Regionen<br />

<strong>und</strong> Winkeln der Weltwirtschaft<br />

weltweit problematisiert werden können.<br />

Multinationale Unternehmen, <strong>die</strong><br />

sich durch Standortverlagerungen den<br />

nationalen Regulierungssystemen der<br />

Industrieländer entziehen, werden in<br />

<strong>die</strong>sem Prozess sukzessive gegenüber<br />

internationalen Nichtregierungsorganisationen<br />

(NGOs), Me<strong>die</strong>n <strong>und</strong> internationalen<br />

Organisationen rechenschaftspflichtig.<br />

Die Globalisierung zeichnet sich also<br />

durch eine janusköpfige Vieldeutigkeit<br />

aus, weil sie Risiken <strong>und</strong> Chancen enthält.<br />

Dies gilt auch für <strong>die</strong> Frage, ob sie<br />

<strong>die</strong> Menschenrechte <strong>und</strong> Überlebensfähigkeit<br />

von Demokratien gefährdet. Es<br />

hat sich herausgestellt, dass sie auch An-<br />

reize für Demokratisierung, zivilgesellschaftliches<br />

Engagement <strong>und</strong> zwischenstaatliche<br />

Kooperation schafft: Die Nationalstaaten<br />

werden ebenso wie global<br />

operierende Unternehmen international<br />

rechenschaftspflichtig, weil ihr Handeln<br />

zunehmend an weltweit gültigen<br />

Standards gemessen wird. Dafür sorgen<br />

sowohl <strong>die</strong> aus aller Welt berichtenden<br />

Me<strong>die</strong>n, <strong>die</strong> eine kritische Weltöffentlichkeit<br />

hergestellt haben, als auch <strong>die</strong> zunehmend<br />

transnational vernetzten <strong>und</strong><br />

agierenden NGOs. Auch sie nutzen für<br />

ihre Aktionsformen <strong>die</strong> Potenziale der<br />

globalen Telekommunikation <strong>und</strong> der<br />

»Internet-Welt«.<br />

Der fast »offene Himmel« der globalen<br />

Telekommunikation sorgt in einer Art<br />

von »Kommunikationsguerilla« dafür,<br />

dass auch Diktaturen unter Legitimationsdruck<br />

gesetzt werden. Die Staatenwelt<br />

kann nicht mehr wie auf dem Wiener<br />

Kongress in diplomatischer Exklusivität<br />

schalten <strong>und</strong> walten, weil <strong>die</strong> Gesellschaftswelt<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Weltöffentlichkeit zu<br />

Machtfaktoren in den internationalen<br />

Beziehungen wurden. Man könnte <strong>die</strong>se<br />

Wirkungen <strong>und</strong> Einwirkungen der Globalisierung<br />

auf <strong>die</strong> internationalen Beziehungen<br />

auch als positive Version der<br />

Empfindlichkeit deuten.<br />

Dieser Trend drückt sich in einem empirisch<br />

nachweisbaren Anstieg demokratischer<br />

Herrschaft aus, der insbesondere<br />

in den Jahren zwischen 1985 <strong>und</strong><br />

1994 stattfand. Auch hat sich <strong>die</strong> Menschenrechtslage<br />

nennenswert verbessert.<br />

In den beiden schlechtesten Kategorien<br />

der fünfstufigen Political Terror<br />

Scale (PTS) fanden sich 2004 18 % der<br />

Länder; 1990 waren es noch 29 % gewesen<br />

[vgl. Kapitel Good Governance <strong>und</strong><br />

Menschenrechte – Bad Governance <strong>und</strong><br />

Korruption]. Zugleich droht bei Demokratisierungsprozessen<br />

häufig ein


21 Neue Instabilitäten im internationalen System durch den Aufstieg Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns<br />

Scheitern: Wie <strong>die</strong> State Failure Task Force<br />

(2003) zeigen konnte, sind Länder im<br />

Übergang von autoritären zu demokratischen<br />

Herrschaftsformen sieben Mal<br />

anfälliger für Gewalt <strong>und</strong> Staatsverfall als<br />

voll entwickelte Demokratien oder aber<br />

Autokratien. Auch leiden Menschen in<br />

einem Fünftel der Länder immer noch<br />

unter politischer Unfreiheit <strong>und</strong> gravierenden<br />

Menschenrechtsverletzungen.<br />

Neue Instabilitäten im internationalen System durch den<br />

Aufstieg Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns<br />

Viele Beobachter sind sich einig, dass der<br />

Aufstieg Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns in Weltwirtschaft<br />

<strong>und</strong> -politik das internationale<br />

System in den kommenden Jahrzehnten<br />

nachhaltig verändern wird.<br />

Beide Länder zeichnen sich durch lang<br />

andauerndes Wachstum aus, das an <strong>die</strong><br />

Wirtschaftsw<strong>und</strong>er der kleinen »Tigerstaaten«<br />

wie Südkorea, Taiwan <strong>und</strong> Singapur<br />

in den 1970er <strong>und</strong> 1980er Jahren<br />

erinnert. Doch nun drängen <strong>die</strong> beiden<br />

bevölkerungsstärksten Länder der Welt<br />

in <strong>die</strong> globale Wirtschaft <strong>und</strong> <strong>die</strong> Global<br />

Governance-Architektur <strong>und</strong> verändern<br />

deren Gr<strong>und</strong>muster. China ist innerhalb<br />

weniger Jahre zur drittgrößten Exportnation<br />

aufgestiegen, <strong>die</strong> über <strong>die</strong> zweitgrößten<br />

Devisenreserven der Welt verfügt<br />

<strong>und</strong> zu den wesentlichen<br />

CO 2-Emittenten aufgeschlossen hat.<br />

In<strong>die</strong>n folgt mit einer Zeitverzögerung<br />

von etwa einem Jahrzehnt einem ähnlichen<br />

Pfad. Beide Länder spielen in der<br />

globalen Klimapolitik, innerhalb der<br />

WTO sowie als wichtige Rohstoffimporteure<br />

auch weltpolitisch eine immer<br />

wichtigere Rolle. Diese Strukturveränderungen<br />

können zu neuen Instabilitäten<br />

im internationalen System führen, aber<br />

bringen zugleich auch Chancen mit<br />

sich:<br />

● Gelingt es China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n, ihren<br />

wirtschaftlichen Aufstieg fortzusetzen,<br />

wäre ein Umbruch von der quasi-<br />

unilateralen Struktur des globalen<br />

Systems in Richtung einer multipolaren<br />

Machtkonstellation <strong>die</strong> Folge. Die<br />

Geschichte des Auf- <strong>und</strong> Abstiegs alter<br />

<strong>und</strong> neuer Mächte zeigt, dass solche<br />

Phasen der Machttransition in der<br />

Weltpolitik in der Regel Turbulenzen<br />

<strong>und</strong> Konflikte bis hin zum Krieg mit<br />

sich bringen. Der Westen, allen voran<br />

<strong>die</strong> USA, werden lernen müssen, mit<br />

den Machtansprüchen Chinas <strong>und</strong><br />

In<strong>die</strong>ns produktiv umzugehen. Die<br />

westliche Führungsmacht wird spüren,<br />

dass <strong>die</strong> Phase der »globalen<br />

Dominierung« (Brzezinski) durch <strong>die</strong><br />

einzige Supermacht nur ein kurzer historischer<br />

Moment war <strong>und</strong> neue Formen<br />

internationaler Kooperation entwickelt<br />

werden müssen, <strong>die</strong> den sich<br />

herausbildenden globalen Machtverteilungen<br />

entsprechen.<br />

● China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n stehen vor der Herausforderung,<br />

ihre neue Rolle als<br />

Global Governance-Akteure im Spannungsfeld<br />

von Eigeninteressen, tra<strong>die</strong>rten<br />

Zuschreibungen als »Sprecher<br />

des Südens« <strong>und</strong> wachsender globaler<br />

Verantwortung zu finden. In <strong>die</strong>sem<br />

Übergang von der westlichen zur<br />

stärker asiatisch geprägten Weltordnung<br />

dürften <strong>die</strong> Instabilitäten des<br />

internationalen Systems zunächst zunehmen,<br />

weil alte Machtstrukturen<br />

<strong>und</strong> etablierte internationale Organi-


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 22<br />

sationen an Bedeutung verlieren werden,<br />

worüber derzeit z. B. in den Bretton-Woods-Organisationen<br />

intensiv<br />

diskutiert wird, während neue Akteure,<br />

wie <strong>die</strong> Shanghai Organisation<br />

für Zusammenarbeit (SCO), in der<br />

China, Russland <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n ihre<br />

Energie- <strong>und</strong> Ressourcenpolitiken abstimmen,<br />

an Relevanz gewinnen. Gelingt<br />

in <strong>die</strong>ser Übergangsphase ein Interessenausgleich<br />

zwischen den USA,<br />

Europa, China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n, könnte <strong>die</strong><br />

Welt im Jahr 2020 stabiler sein als<br />

heute; doch genauso wahrscheinlich<br />

ist eine Renaissance des Wettbewerbs<br />

der großen Mächte um <strong>die</strong> Vorherrschaft<br />

in der globalen Politik.<br />

● Obwohl China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n zu relevanten<br />

Akteuren des globalen Systems<br />

heranwachsen, leben noch immer <strong>die</strong><br />

Hälfte der absolut Armen <strong>die</strong>ser Welt<br />

in <strong>die</strong>sen beiden Ländern. Die<br />

»menschliche Sicherheit« von etwa<br />

400 Mio. Chinesen <strong>und</strong> Indern bleibt<br />

prekär; ein Drittel der indischen Bevölkerung<br />

lebt z. B. mit weniger als<br />

1 US-$ pro Tag <strong>und</strong> damit unter der<br />

absoluten Armutsgrenze. Zugleich erhöhen<br />

<strong>die</strong> sich rasch modernisierenden,<br />

wettbewerbsfähigen <strong>und</strong> exportorientierten<br />

Wirtschaftssektoren<br />

Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns <strong>die</strong> soziale Unsicherheit<br />

in anderen Regionen der<br />

Welt. Beide Dynamiken sind in einer<br />

globalisierten Welt eng miteinander<br />

verb<strong>und</strong>en. Sollte z. B. in China <strong>die</strong> soziale<br />

Polarisierung zu einer Legitima-<br />

tionskrise des Staates <strong>und</strong> ernsthaften<br />

Aufständen führen, wären politische<br />

<strong>und</strong> ökonomische Turbulenzen <strong>und</strong><br />

Instabilitäten in ganz Asien <strong>und</strong> weltweit<br />

denkbar. Zugleich drohen aufgr<strong>und</strong><br />

der Exportwellen aus China<br />

<strong>und</strong> In<strong>die</strong>n protektionistische Abwehrversuche,<br />

nicht zuletzt der Industrieländer,<br />

<strong>die</strong> das Welthandelssystem<br />

gefährden könnten.<br />

● Soziale <strong>und</strong> politische Fortschritte in<br />

China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n sind also wichtig,<br />

um <strong>die</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> der politischen<br />

Systeme <strong>die</strong>ser beiden Länder<br />

einzuhegen <strong>und</strong> zugleich damit verb<strong>und</strong>ene<br />

Destabilisierungspotenziale<br />

im internationalen System zu reduzieren.<br />

Für China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n gilt zunehmend,<br />

was für <strong>die</strong> USA seit langem galt:<br />

Die Innenpolitiken <strong>die</strong>ser Giganten<br />

haben unmittelbare Auswirkungen auf<br />

<strong>die</strong> Weltpolitik. Vor <strong>die</strong>sem Hintergr<strong>und</strong><br />

wären <strong>die</strong> europäischen Entscheidungsträger<br />

gut beraten, ihre<br />

Strategien gegenüber <strong>die</strong>sen beiden<br />

Ländern, <strong>die</strong> sich bisher vor allem auf<br />

klassische Entwicklungskooperation<br />

<strong>und</strong> Außenwirtschaftsförderung konzentrieren,<br />

auszubauen, um den neuen<br />

Realitäten gerecht zu werden.<br />

Die sich verändernde Rolle Chinas <strong>und</strong><br />

In<strong>die</strong>ns führt auch dazu, dass der Wettbewerb<br />

um Zugänge zu Energiequellen<br />

<strong>und</strong> zu für <strong>die</strong> industrielle Produktion<br />

wichtigen Ressourcen an Bedeutung gewinnt.


23 Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />

Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />

Vor einigen Jahren wurden aus der regional<br />

schon virulenten <strong>und</strong> künftig befürchteten<br />

globalen Wasserkrise Szenarien<br />

von kommenden »Wasserkriegen«<br />

abgeleitet. Schlagzeilen lauteten damals:<br />

»Wasser wird künftig knapper <strong>und</strong> wertvoller<br />

sein als Öl« oder – so ein Vizepräsident<br />

der Weltbank – »Die Kriege des<br />

21. Jahrh<strong>und</strong>erts werden vor allem um<br />

Wasser, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage allen Lebens <strong>und</strong><br />

Wirtschaftens, geführt werden«. Die<br />

Wasserkrise wurde nicht entschärft, <strong>und</strong><br />

es gibt an vielen Orten <strong>und</strong> zwischen<br />

mehreren Staaten Verteilungskonflikte<br />

um das knappe Gut Wasser, sei es zur<br />

Versorgung einer wachsenden Bevölkerung<br />

mit Trinkwasser oder zur Bewässerung<br />

landwirtschaftlicher Flächen. Bereits<br />

heute sind nach Angaben der Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation<br />

(WHO) 2 Mrd.<br />

Menschen von Wasserknappheit, davon<br />

1,1 Mrd. im Bereich des Trinkwassers,<br />

betroffen. Im Jahr 2050 werden nach Angaben<br />

des World Water Development Report<br />

(UNESCO-WWAP 2003) weiterhin<br />

mindestens zwei Milliarden Menschen<br />

unter Wasserknappheit leiden; im<br />

schlechtesten Fall steigt <strong>die</strong> Zahl sogar<br />

auf bis zu sieben Milliarden [vgl. Kapitel<br />

Umweltwandel <strong>und</strong> Konflikte].<br />

Inzwischen ist nicht mehr von drohenden<br />

»Wasserkriegen«, sondern häufiger<br />

von drohenden Energiekriegen <strong>die</strong> Rede.<br />

So kündigte der Spiegel (Nr. 13/2006) in<br />

einer meinungsbildenden Artikelserie ein<br />

»neues Zeitalter der Energiekonflikte«<br />

an:<br />

»Das Zeitalter dramatischer Verteilungskämpfe<br />

um <strong>die</strong> immer knapper<br />

werdenden, aber gleichzeitig in immer<br />

größeren Mengen benötigten Ressourcen.<br />

Das Zeitalter, in dem <strong>die</strong> internationale<br />

Politik zunehmend von Fragen der<br />

Energiesicherheit bestimmt wird, in dem<br />

<strong>die</strong> Karten für potenzielle Gewinner<br />

<strong>und</strong> Verlierer gerade neu gemischt werden.«<br />

Was der Spiegel in der ihm eigenen Art<br />

dramatisierte, wird auch von nüchternen<br />

Analytikern <strong>und</strong> Prognostikern des<br />

gegenwärtigen <strong>und</strong> künftigen Weltgeschehens<br />

mit kaum weniger dramatischen<br />

Bildern <strong>und</strong> Wortspielen beschrieben.<br />

Frank Umbach (2006) von der<br />

Deutschen Gesellschaft für Auswärtige<br />

Politik (DGAP) reflektierte über »Europas<br />

nächsten Kalten Krieg« <strong>und</strong> Michael<br />

T. Klare (2001) über eine durch <strong>die</strong> Ressourcenknappheit<br />

geprägte »neue Landkarte<br />

globaler Konflikte«. Diese Auguren<br />

eines »neuen Kalten Krieges« gehen gemeinsam<br />

davon aus, dass der weltweite<br />

Wettlauf um Ressourcen, vor allem um<br />

Erdöl <strong>und</strong> Erdgas, <strong>die</strong> geostrategischen<br />

Planspiele bestimmen <strong>und</strong> <strong>die</strong> Machtverhältnisse<br />

zwischen den Staaten verändern<br />

wird. Alle Staaten <strong>und</strong> Staatengruppen,<br />

<strong>die</strong> existenziell auf Energieimporte<br />

angewiesen sind, geben inzwischen<br />

der Ressourcensicherheit höchste<br />

Priorität. Dies gilt auch für <strong>die</strong> EU (Umbach<br />

2006). Im Fernen Osten balgt sich<br />

<strong>die</strong> derzeit zweitgrößte, aber extrem von<br />

Rohstoffimporten abhängige Wirtschaftsmacht<br />

Japan mit der aufsteigenden<br />

Wirtschafts- <strong>und</strong> politischen Großmacht<br />

China noch mit diplomatischen<br />

Scharmützeln, gelegentlich aber auch mit<br />

mehr oder weniger versteckten Androhungen<br />

von Gewalt um umstrittene maritime<br />

Wirtschaftszonen <strong>und</strong> um Zugänge<br />

zu den sibirischen Rohstoffquellen.<br />

Die Verw<strong>und</strong>barkeit bekommt eine<br />

elementare Bedeutung, weil Energie <strong>die</strong><br />

bare Voraussetzung für <strong>die</strong> industrielle


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 24<br />

Produktions- <strong>und</strong> Lebensweise bzw. für<br />

Entwicklung ist. Viele Entwicklungsländer,<br />

<strong>die</strong> schon heute unter Energiearmut<br />

leiden, sind durch <strong>die</strong> gestiegenen Energiepreise,<br />

<strong>die</strong> Abbildung 2 illustriert,<br />

noch verw<strong>und</strong>barer als <strong>die</strong> Industrieländer,<br />

weil sie noch weniger als <strong>die</strong>se über<br />

Tabelle 1: Die zehn größten Erdölverbraucher<br />

Rang Land 1990 2000 2004<br />

in Mio. t<br />

1 USA 779,0 887,8 927,3<br />

2 VR China 116,6 219,8 308,6<br />

3 Japan 247,7 255,0 250,5<br />

4 Russland 198,8 123,5 131,8<br />

5 Deutschland<br />

125,6 129,4 123,2<br />

6 In<strong>die</strong>n 57,9 98,0 115,3<br />

7 Brasilien 58,4 100,1 101,7<br />

8 Kanada 78,4 93,0 100,1<br />

9 Südkorea 49,5 99,3 99,1<br />

10 Frankreich 89,4 95,2 95,2<br />

Welt 3 130,2 3 539,2 3 780,1<br />

Quelle: BP 2005<br />

Alternativen verfügen <strong>und</strong> kaum von der<br />

Kaufkraft der »Neureichen«, <strong>die</strong> sich<br />

mit Fabrikanlagen, Luxusgütern <strong>und</strong><br />

Waffen eindecken, profitieren können.<br />

Tabelle 1 zeigt, dass China seinen Erdölverbrauch<br />

aufgr<strong>und</strong> seines stürmischen<br />

Wirtschaftswachstums <strong>und</strong> seiner rasant<br />

voranschreitenden Motorisierung in<br />

den 15 Jahren von 1990 bis 2004 fast verdreifacht<br />

<strong>und</strong> In<strong>die</strong>n seinen verdoppelt<br />

hat. Dagegen war er in Deutschland sogar<br />

rückläufig <strong>und</strong> in Japan nur ein wenig<br />

höher.<br />

Energiereichtum als neue<br />

Machtressource <strong>und</strong> Achillesferse<br />

Die Verfügung über exportfähige Energieressourcen<br />

wird <strong>die</strong> Rollenverteilung<br />

in der Weltpolitik <strong>und</strong> Weltwirtschaft<br />

entscheidend beeinflussen <strong>und</strong> eine<br />

neue Geopolitik begründen. Dieser in der<br />

deutschen Politikwissenschaft lange verdrängte<br />

oder gar verpönte Begriff erlebt<br />

in der Diskussion über <strong>die</strong> Ressourcen-


25 Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />

sicherheit eine Renaissance. Hintergr<strong>und</strong><br />

ist u. a., dass schätzungsweise 70 % der<br />

Erdöl- <strong>und</strong> Ergasreserven in einem Raum<br />

lokalisiert sind, der von der arabischen<br />

Halbinsel über den kaspischen Raum in<br />

den Norden Russlands reicht [vgl. Abbildungen<br />

4 <strong>und</strong> 5]. Ähnlich wie bei anderen<br />

Rohstoffen – so etwa Eisenerz,<br />

Platin, Nickel <strong>und</strong> Aluminium – sind <strong>die</strong><br />

Ölmärkte oligopolistisch strukturiert<br />

[vgl. Kapitel Internationale Rohstoffmärkte:<br />

steigende Preise <strong>und</strong> wachsendes<br />

Konfliktpotenzial]. Die geostrategische<br />

Lage der Vorräte wie auch <strong>die</strong> Abhängigkeit<br />

von einigen wenigen Lieferländern<br />

verändert Sicherheitsdoktrinen<br />

<strong>und</strong> außenpolitische Prioritätenkataloge.<br />

Sie verschont auch Autokraten wie den<br />

Diktator Saparmurad Nijasow im rohstoffreichen<br />

Turkmenistan, der einen bizarren<br />

Personenkult pflegt, oder seinen<br />

nicht weniger korrupten Amtskollegen<br />

in Aserbaidschan (Ilcham Alijew), der<br />

den Ausgangspunkt der teuersten Öl-<br />

<strong>und</strong> Gaspipeline über Georgien zum türkischen<br />

Hafen Ceyhan kontrolliert, von<br />

politischen Sanktionen.<br />

Noch weniger ideologische Skrupel hat<br />

<strong>die</strong> chinesische Regierung bei ihrem<br />

weltweiten Versuch, sich den Zugang zu<br />

Energiequellen zu sichern. Sie blockierte<br />

UN-Sanktionen gegen den Sudan,<br />

weil sie – unter dem Schutz eigener Sicherheitskräfte<br />

– <strong>die</strong> Erdölquellen im Süden<br />

des Landes ausbeutet. Oder sie<br />

sprang in Angola, um sich Förderrechte<br />

zu sichern, mit einem Kredit in Höhe<br />

von 2 Mrd. US-$ ein, den <strong>die</strong> Weltbank<br />

mit Auflagen zur Bekämpfung der blühenden<br />

Korruption verbinden wollte.<br />

China investiert in Afrika <strong>und</strong> Lateinamerika<br />

in Rohstoffprojekte <strong>und</strong> kümmert<br />

sich dabei wenig um soziale oder<br />

ökologische Standards.<br />

Wer über Energiequellen verfügt, hat<br />

nicht nur eine Quelle des Reichtums,<br />

sondern auch einen Zugewinn an politischer<br />

Verhandlungsmacht. Öl ist erneut


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 26<br />

Tabelle 2: Öl <strong>und</strong> Bad Governance: Die 10 erdölreichsten Länder <strong>und</strong> ihr Abschneiden bei<br />

Demokratie <strong>und</strong> Regierungsführung<br />

Rang Land 1990 2000 2004 GHRV<br />

2004<br />

in Mio. t<br />

(1 bis 5)<br />

zu einer politischen Waffe geworden. In<br />

Lateinamerika wagt es der venezolanische<br />

Präsident Hugo Chavez, dank seiner<br />

Verfügungsgewalt über reiche Erdölquellen<br />

mit Fidel Castro zu paktieren<br />

<strong>und</strong> den »großen Bruder« im Norden<br />

durch allerlei verbale Attacken zu provozieren.<br />

Er kann sich <strong>die</strong>sen Affront<br />

leisten, weil <strong>die</strong> USA auf <strong>die</strong> Öllieferungen<br />

aus Venezuela angewiesen sind<br />

<strong>und</strong> ihren Ausfall nur schwerlich durch<br />

andere Bezugsquellen ersetzen könnten.<br />

Durch Störungen der Energiemärkte<br />

verw<strong>und</strong>bar sind jedoch nicht nur <strong>die</strong><br />

Importländer, sondern auch <strong>die</strong> Förder<strong>und</strong><br />

Exportländer. Die internationalen<br />

Rohstoffmärkte sind ein besonders sensibles<br />

Operationsfeld der »globalisierten<br />

Unsicherheit«. Schon heute sind<br />

Förderanlagen <strong>und</strong> Pipelines, <strong>die</strong> häufig<br />

mehrere Staaten durchqueren, immer<br />

wieder Anschlagsziele von Rebellen-<br />

Freiheits-<br />

Index<br />

2006<br />

(1 bis 7)<br />

1 Saudi-Arabien 35 164 35 259 35 423 3 6,5<br />

2 Kanada 779 634 24 071 1 1,0<br />

3 Iran 12 694 12 263 17 199 3 6,0<br />

4 Irak 13 417 15 095 15 430 5 5,5<br />

5 Kuwait 13 097 13 024 13 717 2 4,5<br />

6 VAE 12 892 12 851 12 851 2 6,0<br />

7 Venezuela 8 257 10 750 10 801 3 4,0<br />

8 Russland 6 760 6 609 8 163 4 5,5<br />

9 Libyen 3 005 3 888 5 140 3 7,0<br />

10 Nigeria 2 320 3 053 4 784 4 4,0<br />

Welt 135 734 139 626 173 338<br />

GHRV = Gross Human Rights Violations (Schwere <strong>und</strong> systematische Menschenrechtsverletzungen)<br />

Quellen: BP 2005; Freedom House 2006; Gibney 2006<br />

gruppen <strong>und</strong> terroristischen Organisationen,<br />

weil sie einen Lebensnerv von<br />

politischen Regimen treffen wollen <strong>und</strong><br />

können. So versucht eine regionale Rebellengruppe<br />

im Niger-Delta durch Anschläge<br />

auf Einrichtungen der Öl-Multis<br />

der nigerianischen Zentralregierung<br />

eine Beteiligung an der Ölrente <strong>und</strong><br />

eine regionale Autonomie abzutrotzen.<br />

Terroraktionen verhindern auch, dass<br />

<strong>die</strong> Ölförderung des Irak das Vorkriegsvolumen<br />

erreicht, den Wiederaufbau<br />

des Landes finanzieren <strong>und</strong> damit ein<br />

Kriegsziel erfüllen kann. Als besonders<br />

verw<strong>und</strong>bar durch den islamistischen<br />

Terrorismus gilt das morsche Herrschaftssystem<br />

Saudi-Arabiens, das auch<br />

durch massive Aufrüstung <strong>und</strong> <strong>die</strong> militärische<br />

Präsenz von US-Truppen nicht<br />

gegen den im eigenen Land rekrutierten<br />

<strong>und</strong> organisierten Terrorismus gefeit<br />

ist.<br />

Fast überall, wo <strong>die</strong> Ölrente <strong>die</strong> ökono-


27 Droht ein »neuer Kalter Krieg« um Ressourcen?<br />

mische Basis von Herrschaftssystemen<br />

bildet, steht es nicht gut um <strong>die</strong> Demokratie<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Menschenrechte. Die Ölrente<br />

ist ein Vehikel von mehr oder weniger<br />

feudalistischen Autokratien, aber<br />

zugleich auch deren Achillesferse. Sie<br />

können zur eigenen Machtsicherung<br />

den Ölhahn oder Gasleitungen nicht zudrehen,<br />

aber <strong>die</strong> Öl- <strong>und</strong> Gasleitungen<br />

sind sehr verw<strong>und</strong>bare Nervenstränge<br />

ihres Herrschaftssystems. Der »Fluch<br />

der Ressourcen«, der etwa bei Diamanten,<br />

Coltan, Edelhölzern oder Drogen<br />

maßgeblich <strong>die</strong> »neuen Kriege« finanziert<br />

[vgl. Kapitel Fragile Staaten <strong>und</strong><br />

globale Friedenssicherung], wirkt sich<br />

beim Öl anders aus: Politische Stabilität<br />

kann zwar in den meisten Fällen garantiert<br />

werden, doch ist eine demokratische<br />

Transformation blockiert (Basedau/Lacher<br />

2006). Dass mit Rohstoffreichtum<br />

auch konstruktiv umgegangen<br />

werden kann, zeigt beispielhaft Norwegen<br />

– ein Land, das <strong>die</strong> Erlöse aus Erdölexporten<br />

in einen eigenen Zukunftsfonds<br />

einspeiste, das Geld mittel- bis<br />

langfristig investierte <strong>und</strong> sowohl bei<br />

Demokratie- <strong>und</strong> Governance- als auch<br />

bei ökonomischen Indikatoren hervorragend<br />

abschneidet.<br />

Russland: Von der<br />

Energie-Supermacht zurück zur<br />

politischen Großmacht<br />

Erdöl <strong>und</strong> Erdgas avancierten zum politischen<br />

Machtinstrument, das auch als<br />

politische Waffe <strong>und</strong> Erpressungsmittel<br />

eingesetzt werden kann. Der russische<br />

Präsident Wladimir Putin nutzt gezielt<br />

den Energiereichtum seines Landes<br />

dazu, <strong>die</strong> Energie-Supermacht wieder zu<br />

einer politischen Großmacht zu machen<br />

(Rahr 2006). Als Hauptinstrument <strong>die</strong>ser<br />

Großmachtinteressen schmiedete er <strong>die</strong><br />

Energiekonzerne Lukoil (für Erdöl) <strong>und</strong><br />

Gasprom (für Erdgas), <strong>die</strong> nicht nur <strong>die</strong><br />

riesigen eigenen Reserven fördern <strong>und</strong><br />

vermarkten, sondern inzwischen auch<br />

auf allen regionalen Energiemärkten aktiv<br />

sind. Außerdem versucht der Kreml<br />

in Vertragswerken mit den rohstoffreichen<br />

GUS-Staaten (Kasachstan, Turkmenistan<br />

<strong>und</strong> Usbekistan), Russland <strong>die</strong><br />

Kontrolle über <strong>die</strong> Netze von Pipelines<br />

zu sichern, <strong>die</strong> als Lebensadern der Energiemärkte<br />

das Erdöl <strong>und</strong> Erdgas in <strong>die</strong><br />

Verbraucherländer in Europa <strong>und</strong> Asien<br />

transportieren.<br />

Diese über russisches Territorium verlaufenden<br />

Netzwerke könnten unterbrochen<br />

werden <strong>und</strong> <strong>die</strong> Energieversorgung<br />

Europas gefährden. Deshalb bekam<br />

<strong>die</strong> Ressourcensicherheit auch für<br />

EU-Strategen eine hohe Priorität, <strong>die</strong><br />

nach dem politischen Erpressungsversuch<br />

von Russland gegenüber der unbotmäßigen<br />

Ukraine Nachdruck erhielt,<br />

aber noch nicht in ein umfassendes Sicherheitskonzept<br />

mündete. Das Konzept<br />

der »erweiterten Sicherheit«, das ein von<br />

der B<strong>und</strong>esakademie für Sicherheitspolitik<br />

(2001) besorgtes Kompendium dokumentierte,<br />

wird künftig vermutlich<br />

stärker <strong>die</strong> Ressourcensicherheit im<br />

Blick haben.<br />

Die geostrategischen Planspiele der<br />

russischen Energie-Macht reichen noch<br />

weiter. Der Kreml betreibt aktiv <strong>die</strong> Aufwertung<br />

der Shanghai Organisation für<br />

Zusammenarbeit (SCO), in der <strong>die</strong> Großmächte<br />

Russland, China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n mit<br />

einigen Regionalmächten zusammenarbeiten,<br />

zu einer Art neuer OPEC, <strong>die</strong><br />

bald <strong>die</strong> alte OPEC aus ihrer energiepolitischen<br />

Schlüsselrolle verdrängen <strong>und</strong><br />

zu einem gewichtigen Akteur auf der<br />

weltpolitischen Bühne aufsteigen<br />

könnte. Frank Umbach (2006, S. 21f.) be-


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 28<br />

gründete <strong>die</strong>se mögliche Positions- <strong>und</strong><br />

Rollenverschiebung auf dem Weltenergiemarkt<br />

mit tief greifenden Auswirkungen<br />

auf <strong>die</strong> Weltpolitik folgendermaßen:<br />

»Der 11. September 2001 hat der SCO<br />

den notwendigen sicherheitspolitischen<br />

Schub gegeben. Nachdem <strong>die</strong> Belieferung<br />

der Weltmärkte mit Energieträgern<br />

aus den Ländern des Persischen<br />

Golfes <strong>und</strong> der alten OPEC durch <strong>die</strong><br />

steigende Gefahr des islamistischen Terrorismus<br />

unsicherer geworden ist, präsentiert<br />

sich <strong>die</strong> neue OPEC um Russland<br />

<strong>und</strong> den Kaspischen Raum als einzige<br />

Alternative zur Energieversorgung der<br />

Industriestaaten Europas, Amerikas<br />

<strong>und</strong> Asiens.«<br />

Die Gefahr globaler<br />

Ressourcenkonflikte<br />

Die gegenwärtigen <strong>und</strong> vorhersehbaren<br />

Entwicklungen auf den Weltenergiemärkten,<br />

<strong>die</strong> Machtverschiebungen in<br />

der Weltpolitik bewirken werden, belegen<br />

geradezu paradigmatisch <strong>die</strong> von den<br />

Interdependenztheoretikern konstruierte<br />

Unterscheidung zwischen Empfindlichkeit<br />

<strong>und</strong> Verw<strong>und</strong>barkeit. Allerdings<br />

konnten sie unter den Bedingungen des<br />

»alten« Kalten Krieges noch nicht ahnen,<br />

dass auch <strong>die</strong> allenfalls empfindlich<br />

auf weltwirtschaftliche Entwicklungen<br />

reagierende OECD-Welt durch ihren nur<br />

durch Importe zu stillenden Energiehunger<br />

verw<strong>und</strong>bar geworden ist. Ein<br />

Blick auf <strong>die</strong> für Deutschland relevanten<br />

Gaspipelines zeigt beispielhaft, wo »neuralgische<br />

Punkte« liegen könnten [vgl.<br />

Abbildung 6].


29 Ökologische Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

Die Einsicht in <strong>die</strong> eigene Verw<strong>und</strong>barkeit<br />

hat zwar auch positive Lerneffekte.<br />

So setzt nun selbst <strong>die</strong> mit Ölinteressen<br />

eng verbandelte Bush-Administration<br />

auf <strong>die</strong> Förderung erneuerbarer<br />

Energien <strong>und</strong> auf das Energiesparen.<br />

Aber das von Michael T. Klare (2001) gezeichnete<br />

Konfliktszenario bleibt realistisch:<br />

Die energiehungrige militärische<br />

Supermacht – <strong>und</strong> nicht nur sie! –<br />

könnte versucht sein, für ihre Energiesi-<br />

cherheit auch ihr Militärpotenzial einzusetzen,<br />

mit dem sie weltweit operieren<br />

kann. Die Gefahr von globalen Ressourcenkonflikten<br />

ist also groß. Wasser ist<br />

zwar <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage allen Lebens, aber<br />

Energie <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>lage allen Wirtschaftens<br />

<strong>und</strong> moderner Lebensweisen. Am<br />

Beginn der industriellen Revolution lag<br />

<strong>die</strong> industrielle Nutzung von Energie,<br />

deren Reserven durch Übernutzung nun<br />

verknappen.<br />

Ökologische Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

Umweltgruppen aus aller Welt schlossen<br />

sich der Globalisierungskritik an, weil<br />

sie dem entfesselten Freihandel unterstellen,<br />

<strong>die</strong> globalen, regionalen <strong>und</strong> lokalen<br />

Umweltprobleme zu verschärfen. Der<br />

notorische Zeitkritiker Jean Ziegler<br />

(2003, S. 113) schlug heftig zu: »Die unsichtbare<br />

Hand des globalisierten Marktes<br />

zerstört nicht nur <strong>die</strong> menschlichen<br />

Gesellschaften. Sie mordet auch <strong>die</strong> Natur.«<br />

Die ökologische Kritik an der Globalisierung<br />

konzentriert sich auf <strong>die</strong> folgenden<br />

Entwicklungstrends:<br />

● Die Ausdehnung des Welthandels hat<br />

eine Vermehrung von Transportleistungen<br />

zu Land, zu Wasser <strong>und</strong> in der<br />

Luft zur Folge. Die Revolutionierung<br />

des Transportwesens verringerte zwar<br />

<strong>die</strong> Transportkosten <strong>und</strong> -zeiten, erhöhte<br />

aber <strong>die</strong> Umweltbelastungen<br />

durch höhere CO 2-Emissionen, <strong>die</strong><br />

eine Hauptursache für den Treibhau<strong>sef</strong>fekt<br />

<strong>und</strong> damit für den Klimawandel<br />

bilden.<br />

● Die Verschärfung der internationalen<br />

Konkurrenz könnte zum »Öko-<br />

Dumping« verleiten, wenn geringere<br />

Aufwendungen für den Umweltschutz<br />

zum Kosten- <strong>und</strong> Standortvor-<br />

teil werden. In- <strong>und</strong> ausländische Unternehmen<br />

sind dann in der Lage, mit<br />

geringeren Umweltkosten zu produzieren<br />

<strong>und</strong> zu entsprechend günstigen<br />

Preisen zu exportieren. Hier entsteht<br />

eine Verzerrung des Wettbewerbs, <strong>die</strong><br />

»Öko-Dumping« zu einem Wettbewerbsvorteil<br />

macht <strong>und</strong> bestraft, wer<br />

in den Umweltschutz investiert.<br />

China liefert ein abschreckendes Beispiel.<br />

Freihandel <strong>und</strong> Umweltschutz<br />

wären nur dann keine Gegensätze,<br />

wenn weltweit <strong>die</strong> externen Kosten<br />

der Umweltverschmutzung in <strong>die</strong><br />

Preise einkalkuliert, also internalisiert<br />

würden.<br />

● Die Liberalisierung des internationalen<br />

Agrarhandels verspricht zwar den<br />

Exportländern höhere Handelsgewinne,<br />

verführt sie aber zum Ausbau<br />

ökologisch fataler Monokulturen, zum<br />

Raubbau an den natürlichen Lebensgr<strong>und</strong>lagen<br />

<strong>und</strong> zur Vernachlässigung<br />

der Ernährungssicherung aus eigener<br />

Kraft.<br />

● Das Wachstum des Ferntourismus verschafft<br />

zwar den tropischen Zielländern<br />

Deviseneinkünfte, <strong>die</strong> häufig höher<br />

sind <strong>und</strong> mehr Arbeitsplätze schaf-


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 30<br />

fen als ihre Güterexporte, aber er vermehrt<br />

den Luftverkehr <strong>und</strong> vergrößert<br />

den Naturverbrauch. Der Sozialgeograf<br />

Karl Vorlaufer (1996, S. 229)<br />

beurteilte den »Tourismus der Reichen<br />

in <strong>die</strong> Länder der Armen« aus ökologischer<br />

<strong>und</strong> globaler Perspektive<br />

sehr kritisch: Die durch den wachsenden<br />

Flugtourismus verursachten Belastungen<br />

der Ökosysteme könnten<br />

»<strong>die</strong> Annahme einer nachhaltigen/<br />

zukunftsfähigen Entwicklung durch<br />

den Tourismus generell ad absurdum<br />

führen«.<br />

● Die OECD-Länder sind hauptverantwortlich<br />

für <strong>die</strong> Verschwendung von<br />

Ressourcen <strong>und</strong> für den globalen<br />

Klimawandel, der <strong>die</strong> existenzielle<br />

Verw<strong>und</strong>barkeit der ärmsten Länder<br />

erhöht. Deshalb sprechen Klimaforscher<br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Propheten einer globalen<br />

nachhaltigen Entwicklung mit<br />

guten Gründen von einem ökologischen<br />

Nord-Süd-Konflikt oder sogar<br />

von einer »ökologischen Aggression<br />

des Nordens gegen den Süden«.<br />

Doch schließen <strong>die</strong> »asiatischen Elefanten«<br />

China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n auf [vgl.<br />

Kapitel Ökologischer Fußabdruck <strong>und</strong><br />

»asiatische Elefanten«]. Das World<br />

Watch Institute führt an, dass mittlerweile<br />

75 % der biologischen Kapazitäten<br />

der Erde von den USA, der EU,<br />

Japan, China <strong>und</strong> In<strong>die</strong>n verbraucht<br />

werden (Flavin/Gardner 2006). Die<br />

globale Umweltpolitik ist ein Politikfeld,<br />

in dem <strong>die</strong> Entwicklungsländer,<br />

allen voran <strong>die</strong> dynamischen<br />

Schwellenländer, an Verhandlungsmacht<br />

gewonnen haben, weil der<br />

Norden beim Aushandeln <strong>und</strong> bei<br />

der Umsetzung von Umweltverträgen,<br />

<strong>die</strong> ihm wichtig sind, auf ihre<br />

Kooperation angewiesen ist (Biermann<br />

1998).<br />

● Die »erfolgreiche«, weltmarktorientierte<br />

Entwicklung Chinas <strong>und</strong> In<strong>die</strong>ns<br />

heizt den globalen Klimawandel<br />

noch schneller an, als in den 1990er<br />

Jahren prognostiziert wurde. Der Beitrag<br />

beider Länder zu den globalen<br />

CO 2-Emissionen könnte im Jahr 2030<br />

bei etwa 50 % liegen, wenn eine Abkopplung<br />

des Wachstums von den<br />

CO 2-Ausstößen nicht gelingt. Ohne<br />

wirksame globale Klimapolitik könnte<br />

<strong>die</strong> weltweite Klimaerwärmung bis<br />

Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts deutlich über<br />

<strong>die</strong> von Klimaexperten als Obergrenze<br />

definierte Zwei-Grad-Schwelle<br />

hinausgehen. Eine solche Entwicklung<br />

würde zu einer Verschärfung internationaler<br />

Ernährungskrisen, unkalkulierbaren<br />

Sturm- <strong>und</strong> Unwetterdynamiken,<br />

einer beschleunigten<br />

Ausbreitung der Wüsten <strong>und</strong> Süßwasserkrisen<br />

beitragen. Die <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

von Menschen, von betroffenen<br />

Staaten <strong>und</strong> des internationalen Systems<br />

insgesamt würden in <strong>die</strong>sem Prozess<br />

signifikant ansteigen. Die ökonomische<br />

Globalisierung kann also nur<br />

dann stabilisiert <strong>und</strong> deren Vorteile<br />

genutzt werden, wenn <strong>die</strong> Umweltverträglichkeit<br />

des Wirtschaftens erreicht<br />

wird.<br />

Erkenntnisse der<br />

Vulnerabilitätsforschung<br />

Der Abschnitt Umwelt <strong>und</strong> transnationale<br />

Risiken verdeutlicht <strong>die</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong>,<br />

<strong>die</strong> aus den globalen Umweltveränderungen,<br />

vor allem aus dem<br />

globalen <strong>und</strong> regionalen Klimawandel,<br />

resultieren. Die Auswirkungen des Klimawandels<br />

werden durch Berichte des<br />

UN-Umweltprogramms (UNEP) <strong>und</strong><br />

des International Panel on Climate


31 Ökologische Empfindlichkeiten <strong>und</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

Change (IPCC), in dem der internationale<br />

Sachverstand der Klimaforscher<br />

versammelt ist, hinreichend belegt.<br />

Wissenschaftliche Modellprojektionen<br />

<strong>und</strong> inzwischen auch einige Spielfilme<br />

zeichnen Horrorszenarien, <strong>die</strong> ganze Inselgruppen<br />

dem Untergang weihen <strong>und</strong><br />

keine Weltregion verschonen. Dies ist<br />

eine existenzielle, durch menschliches<br />

Handeln bewirkte Verw<strong>und</strong>barkeit. Das<br />

Kapitel Klimawandel <strong>und</strong> globale Ges<strong>und</strong>heitsrisiken<br />

verdeutlicht, dass <strong>die</strong><br />

Ges<strong>und</strong>heitssysteme aller Weltregionen,<br />

obgleich in unterschiedlicher Härte <strong>und</strong><br />

Breitenwirkung, verw<strong>und</strong>bar geworden<br />

sind <strong>und</strong> durch <strong>die</strong> Langzeitwirkungen<br />

des Klimawandels noch verw<strong>und</strong>barer<br />

werden, weil mit ihm <strong>die</strong> Infektionskrankheiten<br />

wandern. Am dramatischsten<br />

ist dabei <strong>die</strong> Verbreitung der<br />

Tropenkrankheit Malaria <strong>und</strong> der in<br />

Europa von Zecken übertragenen Hirnhautentzündung(Frühsommer-Meningoenzephalitis,<br />

FSME). Von einer Malariainfektion<br />

sind nach Schätzungen der<br />

Weltges<strong>und</strong>heitsorganisation (WHO) ca.<br />

40 % der Weltbevölkerung bedroht,<br />

konkret: 2,4 Mrd. Menschen. Der Klimawandel<br />

wird <strong>die</strong> Zahl voraussichtlich<br />

erhöhen.<br />

Die natur- <strong>und</strong> sozialwissenschaftliche<br />

Vulnerabilitätsforschung, <strong>die</strong> sich aus<br />

der Katastrophenforschung entwickelte,<br />

unterscheidet drei Dimensionen der<br />

Vulnerabilität:<br />

● Die geophysikalische Vulnerabilität, <strong>die</strong><br />

durch <strong>die</strong> Tsunami-Katastrophe <strong>und</strong><br />

zahlreiche Erdbeben-Katastrophen<br />

verdeutlicht wurde, hebt auf <strong>die</strong> Exposition<br />

eines sozialen Systems oder<br />

einer Region gegenüber Naturkatastrophen<br />

ab. Naturkatastrophen verwandeln<br />

sich besonders in armen Gesellschaften,<br />

<strong>die</strong> sich nur einen rudimentären<br />

Katastrophenschutz leisten<br />

können, in soziale Katastrophen. Aber<br />

auch <strong>die</strong> reiche Gesellschaft der USA<br />

reagierte nicht gerade professionell auf<br />

<strong>die</strong> Katrina-Katastrophe am Golf von<br />

Mexiko. Die Kapitel im Abschnitt Umwelt<br />

<strong>und</strong> transnationale Risiken belegen<br />

nicht nur <strong>die</strong> wachsende Zahl von<br />

Naturkatastrophen, vor allem im Gefolge<br />

von Wetterextremen, <strong>die</strong> der Klimawandel<br />

verursacht, sondern auch<br />

den wachsenden Bedarf an humanitärer<br />

Hilfe zur notdürftigen Abmilderung<br />

der Verw<strong>und</strong>barkeit durch <strong>die</strong>se<br />

Katastrophen.<br />

● Die soziale Vulnerabilität manifestiert<br />

sich in der besonderen Anfälligkeit<br />

von Armutsgruppen gegenüber Umweltkrisen<br />

<strong>und</strong> in ihrer geringen Fähigkeit<br />

(coping capacity), mit ihnen<br />

umzugehen. Umso bedeutsamer ist,<br />

dass etwa <strong>die</strong> Hälfte der 49 ärmsten<br />

Entwicklungsländer in besonderem<br />

Maße katastrophengefährdet ist <strong>und</strong><br />

hier zwei Drittel der Todesfälle weltweit<br />

zu beklagen sind [vgl. Kapitel<br />

Ökologischer Fußabdruck <strong>und</strong> »asiatische<br />

Elefanten«]. Erdbeben wurden<br />

auch als class quakes bezeichnet, weil<br />

sie vor allem Armutsgruppen treffen,<br />

<strong>die</strong> sich keine einigermaßen sicheren<br />

Behausungen leisten können <strong>und</strong> auch<br />

in besonders gefährdeten Gebieten<br />

siedeln. Sie sind im Besonderen vom<br />

Mangel an Trinkwasser <strong>und</strong> Nahrungsmitteln<br />

bei längeren Trockenzeiten,<br />

von der voranschreitenden Desertifikation<br />

<strong>und</strong> Bodenerosion betroffen.<br />

Sie sind verw<strong>und</strong>bar, weil ihre<br />

Chancen, Umweltkrisen verschiedener<br />

Art, z. B. durch Migration, zu entgehen<br />

oder sie durch rasche Veränderungen<br />

ihrer Produktions- <strong>und</strong> Lebensweisen<br />

zu bewältigen, sehr begrenzt<br />

sind. Sie haben keine »Freiheit der<br />

Wahl« (freedom of choice), in der


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 32<br />

Amartya Sen, der Nobelpreisträger<br />

für Wirtschaftswissenschaften, den<br />

Sinn von Entwicklung erkannte.<br />

● Die differenzielle Vulnerabilität betont<br />

<strong>die</strong> unterschiedliche Betroffenheit<br />

von Regionen <strong>und</strong> Gruppen durch<br />

Umweltkrisen. Nach Berechnungen<br />

des UN-Umweltprogramms (UNEP)<br />

gibt es inzwischen mehr Umwelt- als<br />

Kriegsflüchtlinge. Prognosen sagen ein<br />

geradezu Furcht erregendes Anwachsen<br />

der umweltbedingten Fluchtursachen<br />

voraus, vor allem im Gefolge der<br />

Desertifikation, <strong>die</strong> ganze Völker bedroht.<br />

So schätzt <strong>die</strong> United Nations<br />

University (UNU-EHS 2005), dass <strong>die</strong><br />

Zahl der Menschen, <strong>die</strong> vor Umweltveränderungen<br />

fliehen, bis 2010 auf 50<br />

Mio. anwachsen wird [vgl. Kapitel<br />

Umweltwandel <strong>und</strong> Konflikte]. Die differenzielle<br />

<strong>und</strong> soziale Vulnerabilität<br />

überlappen <strong>und</strong> verstärken sich wechselseitig.<br />

Im Jahr 2005 trafen <strong>die</strong> verschiedenen<br />

<strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> zusammen, weshalb<br />

mitunter vom »Katastrophenjahr« gesprochen<br />

wurde. Die gesamte Nothilfe<br />

war mit knapp 12 Mrd. US-$ etwa doppelt<br />

so hoch wie im Schnitt der Jahre 2002<br />

bis 2004. Maßgeblich bedingt war <strong>die</strong>s<br />

durch <strong>die</strong> Tsunami-Katastrophe in<br />

Asien <strong>und</strong> das Erdbeben in Pakistan,<br />

doch auch <strong>die</strong> dramatische Flüchtlingskrise<br />

im Sudan hatte einen wesentlichen<br />

Anteil.<br />

Das Jahresgutachten 2005 des Wissenschaftlichen<br />

Beirats der B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>Globale</strong> Umweltveränderungen<br />

(WBGU) präsentierte ausführlicher<br />

<strong>die</strong> Erkenntnisse der Vulnerabilitätsforschung<br />

<strong>und</strong> lieferte überzeugende<br />

Gründe, warum im Konzept der<br />

»Menschlichen Sicherheit« (human<br />

security) <strong>die</strong> Verschmutzung der Atmo-<br />

sphäre <strong>und</strong> der Weltmeere, <strong>die</strong> Zerstörung<br />

<strong>und</strong> Verknappung natürlicher<br />

Ressourcen <strong>und</strong> vor allem der Klimawandel<br />

neben ökonomischen, politischen<br />

<strong>und</strong> ges<strong>und</strong>heitlichen Faktoren zu<br />

den Sicherheitsrisiken gezählt werden<br />

müssen.<br />

Räumliche, zeitliche <strong>und</strong> systemische<br />

Interdependenzen<br />

Es gibt räumliche Interdependenzen<br />

beim Überschwappen regionaler Wirtschafts-<br />

<strong>und</strong> Finanzkrisen auf <strong>die</strong> Weltwirtschaft,<br />

bei Auswirkungen lokaler<br />

Kriege auf <strong>die</strong> Nachbarstaaten, bei intra<strong>und</strong><br />

interkontinentalen Wanderungs<strong>und</strong><br />

Fluchtbewegungen, <strong>die</strong> zunehmend<br />

als Bedrohung der inneren Sicherheit<br />

wahrgenommen werden, oder bei den<br />

Auswirkungen der globalen Umweltveränderungen,<br />

<strong>die</strong> von Natur aus Regionen<br />

<strong>und</strong> Kontinente überschreiten.<br />

Es gibt auch zeitliche Interdependenzen:<br />

Was heute in den verschiedenen<br />

Politik- <strong>und</strong> Lebensbereichen geschieht<br />

oder unterlassen wird, hat Wirkungen<br />

in der nahen <strong>und</strong> fernen Zukunft; wer<br />

heute <strong>die</strong> natürlichen Ressourcen übernutzt,<br />

beeinträchtigt <strong>die</strong> Lebens- <strong>und</strong><br />

Entfaltungschancen künftiger Generationen;<br />

was heute noch eine Empfindlichkeit<br />

sein mag, kann sich morgen<br />

beim Verbrauch endlicher Ressourcen<br />

in eine Verw<strong>und</strong>barkeit verwandeln. Die<br />

Belastungen des Erdökosystems haben<br />

fatale Auswirkungen auf den gesamten<br />

Planeten <strong>und</strong> auf <strong>die</strong> auf ihm lebenden<br />

Gesellschaften. Hier zeichnet sich eine<br />

systemische Interdependenz ab, bei<br />

der es um planetarische Existenzfragen<br />

geht. Mit der Verw<strong>und</strong>barkeit des Erdökosystems<br />

wird <strong>die</strong> Menschheit, wo<br />

sie auch leben <strong>und</strong> wie sie sich organisie-


33 Fazit <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />

ren mag, verw<strong>und</strong>bar. Es gibt eine<br />

unauflösbare »Interdependenz der<br />

Ordnungen«, für deren Analyse <strong>und</strong><br />

Fazit <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />

Das Management der Interdependenz,<br />

<strong>die</strong> Abfederung von <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong><br />

<strong>und</strong> <strong>die</strong> Garantie menschlicher Sicherheit<br />

erfordern einen wiederbelebten<br />

<strong>und</strong> den Bedingungen der Globalisierung<br />

angepassten Multilateralismus. Global<br />

Governance ist zu Beginn des 21. Jahrh<strong>und</strong>erts<br />

durch ein fragmentiertes UN-System,<br />

einen zunehmend hegemonialen<br />

Unilateralismus der Supermacht USA<br />

<strong>und</strong> eine mangelnde Einbindung der<br />

neuen asiatischen Aufsteiger geprägt.<br />

Die Partizipation von nicht-staatlichen<br />

Akteuren beschränkt sich auf ausgewählte<br />

Teilbereiche (v. a. Menschenrechte<br />

<strong>und</strong> soziale Entwicklung); private Wirtschaftsakteure<br />

definieren ansatzweise<br />

neue Verantwortlichkeiten im Prozess<br />

der Globalisierung. Doch krankt <strong>die</strong><br />

»partielle Privatisierung des Multilateralismus«,<br />

wie sie etwa im Global Compact<br />

praktiziert wird, an Legitimitätsdefiziten<br />

<strong>und</strong> führt eher zu korporatistischen<br />

Strukturen denn zu demokratisch<br />

kontrollierter Politik [vgl. Kapitel Bedeutungswandel<br />

des Multilateralismus].<br />

Das Mischungsverhältnis von Regulierung<br />

<strong>und</strong> Deregulierung variiert in <strong>und</strong><br />

zwischen den Handlungsfeldern von<br />

Global Governance erheblich. Im Bereich<br />

der Weltwirtschaft beispielsweise<br />

gab es in der Vergangenheit nennenswerte<br />

Fortschritte bei der stärkeren Institutionalisierung<br />

<strong>und</strong> Verrechtlichung<br />

im Rahmen der WTO. Zugleich stehen<br />

gr<strong>und</strong>legende Reformen zur verminderten<br />

Verw<strong>und</strong>barkeit auf den internatio-<br />

Verstehen Gunnar Myrdal 1974 den Nobelpreis<br />

für Wirtschaftswissenschaften<br />

erhielt.<br />

nalen Finanzmärkten nach wie vor aus,<br />

was gerade in Asien zu Selbsthilfemaßnahmen<br />

geführt hat.<br />

Im Bereich Weltfrieden waren <strong>die</strong><br />

Etablierung von Ad-hoc-Tribunalen<br />

(früheres Jugoslawien, Ruanda) <strong>und</strong> Sonderstrafgerichtshöfen<br />

(Sierra Leone <strong>und</strong><br />

Kambodscha) sowie <strong>die</strong> Einrichtung des<br />

Internationalen Strafgerichtshofs Meilensteine<br />

des Völkerrechts. Diese Entwicklungen<br />

gehen einher mit einer verdichteten<br />

Normbildung zugunsten einer<br />

responsibility to protect (ICISS 2001), <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong> internationale Gemeinschaft bei gravierenden<br />

Menschenrechtsverletzungen<br />

hat <strong>und</strong> <strong>die</strong> eng mit der im Konzept<br />

Menschlicher Sicherheit verankerten<br />

freedom from fear (Human Security Centre<br />

2005) verknüpft ist. Aber es besteht<br />

weiterhin ein eklatantes Regelungsdefizit<br />

im Bereich der Massenvernichtungswaffen.<br />

Die USA, Großbritannien, Frankreich<br />

<strong>und</strong> Russland schließen allesamt<br />

einen nuklearen Erstschlag nicht aus,<br />

wenn gegnerische Staaten B- oder<br />

C-Waffen einsetzen oder mit terroristischen<br />

Mitteln drohen. Auch haben Experten<br />

in 15 Ländern weltweit militärische<br />

Programme zur Herstellung von<br />

ABC-Waffen feststellen können. Pakistan,<br />

Nordkorea <strong>und</strong> Iran sind besonders kritische<br />

Fälle. Die sicherheitspolitische Hegemonie<br />

der USA hat also nicht verhindern<br />

können, dass das Verw<strong>und</strong>barkeitspotenzial<br />

zugenommen hat.<br />

Normativer Referenzrahmen für neue<br />

Arrangements von Global Governance


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 34<br />

bleibt letzten Endes das Wohlergehen des<br />

latent <strong>und</strong> real verw<strong>und</strong>baren Individuums.<br />

Der damit zusammenhängende Ansatz<br />

<strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« wurde in<br />

seiner zunehmenden Bedeutung zuletzt<br />

durch das Abschlussdokument des Millennium+5-Gipfels<br />

bestärkt (UN 2005).<br />

Die maßgeblich von Japan initiierte<br />

Commission on Human Security (2003)<br />

machte in ihrem Bericht Human Security<br />

Now deutlich, dass das Ziel menschlicher<br />

Sicherheit am besten durch <strong>die</strong><br />

Verbindung von effektivem Multilateralismus<br />

(top-down) <strong>und</strong> Empowerment-<br />

Maßnahmen zur Stärkung der bedrohten<br />

Individuen (bottom-up) erreicht werden.<br />

Kurzum: Es geht darum, »Menschen<br />

vor schwerwiegenden Bedrohungen, sowohl<br />

natürlicher als auch sozialer Art, zu<br />

schützen <strong>und</strong> Individuen <strong>und</strong> Gemeinschaften<br />

zu befähigen, informiert zwischen<br />

verschiedenen Möglichkeiten zu<br />

wählen <strong>und</strong> eigenverantwortlich zu handeln«<br />

(Ogata/Cels 2003, S. 274).<br />

Ein derartiges Empowerment bedeutet<br />

dabei gerade im Falle der zunehmenden<br />

Literatur<br />

Basedau, Matthias/Wolfram Lacher 2006: A<br />

Paradox of Plenty? Rent Distribution and<br />

Political Stability in Oil States, GIGA Working<br />

Papers, Hamburg.<br />

Biermann, Frank 1998: Weltumweltpolitik<br />

zwischen Nord <strong>und</strong> Süd, Baden-Baden.<br />

BIS (Bank for International Settlements)<br />

2005: Triennial Central Bank Survey,<br />

Genf.<br />

BP 2005: Energie im Blickpunkt, BP Weltenergiestatistik,<br />

Juni.<br />

B<strong>und</strong>esakademie für Sicherheitspolitik 2001:<br />

Sicherheitspolitik in neuen Dimensionen<br />

– Kompendium zum erweiterten Sicherheitsbegriff,<br />

Hamburg.<br />

Ges<strong>und</strong>heits- <strong>und</strong> Umweltrisiken, <strong>die</strong><br />

Anpassungsmechanismen (coping capacities)<br />

für Menschen <strong>und</strong> Institutionen zu<br />

stärken, damit <strong>die</strong>se auf neue Risiken<br />

einigermaßen angemessen reagieren <strong>und</strong><br />

<strong>die</strong> soziale Vulnerabilität vermindern<br />

können. Bildung <strong>und</strong> Erziehung kommt<br />

dabei eine besondere Bedeutung zu. Zugleich<br />

gehört zum Empowerment in einer<br />

globalisierten Welt zunehmend, dass<br />

auch in den marginalisierten Weltregionen<br />

Menschen Zugang zum Internet haben.<br />

Bislang sind 5,4 Mrd. Menschen von<br />

<strong>die</strong>ser zentralen Partizipationsmöglichkeit<br />

am Globalisierungsprozess ausgeschlossen<br />

[vgl. Kapitel Digital Divide –<br />

auf dem Weg zur Weltinformationsgesellschaft?].<br />

Diese »digitale Kluft« zu<br />

schließen, wird eine der zentralen Herausforderungen<br />

des kommenden Jahrzehnts<br />

werden, da Zugang zu Wissen in<br />

zunehmendem Maße darüber entscheidet,<br />

wer <strong>die</strong> Chance der Globalisierung<br />

nutzen kann oder unter ihren Bürden<br />

<strong>und</strong> Risiken leiden wird.<br />

Burton, John W. 1972: World Society, Cambridge.<br />

Commission on Human Security 2003:<br />

Human Security Now, New York /<br />

Oxford.<br />

Czempiel, Ernst-Otto (Hg.) 1969: Die anachronistische<br />

Souveränität, Sonderheft<br />

der Politischen Vierteljahresschrift Nr. 1,<br />

S. 139 –163, Opladen.<br />

Deutscher B<strong>und</strong>estag (Hg.) 2002: Globalisierung<br />

der Weltwirtschaft, Opladen.<br />

Enquete-Kommission 2002: Schlussbericht<br />

der Enquete-Kommission des Deutschen<br />

B<strong>und</strong>estages zur »Globalisierung der Weltwirtschaft«<br />

(http://www.b<strong>und</strong>estag.de/


35 Fazit <strong>und</strong> Schlussfolgerungen<br />

gremien/welt/glob_end/<strong>die</strong>_enquete_<br />

kommission.html, 27. 6. 06).<br />

Flavin, Christopher/Gary Gardner 2006:<br />

China, India, and the New World Order,<br />

in: Worldwatch Institute 2006: The State of<br />

the World 2006. The Challenges of Global<br />

Sustainability, S. 3–23, London.<br />

Freedom House 2006: Freedom in the World<br />

2005 (http://www.freedomhouse.org/<br />

template.cfm?page=15&year=2005,<br />

27. 6. 06).<br />

Gibney, Mark 2006: The Political Terror Scale<br />

(http://www.unca.edu/politicalscience/<br />

images/Colloquium/faculty-staff/<br />

gibney.htm, 27. 6. 06).<br />

Hochrangige Beratungsgruppe für Bedrohungen,<br />

Herausforderungen <strong>und</strong> Wandel<br />

2004: Eine sicherere Welt: Unsere gemeinsame<br />

Verantwortung, Vereinte Nationen,<br />

Generalversammlung, Dokument<br />

A/59/565 (http://www.dgvn.de/pdf/<br />

High_Panel_Report_deutsch.pdf,<br />

10. 4. 05).<br />

Human Security Centre 2005: The Human Security<br />

Report 2005. War and Peace in the<br />

21 st Century, Oxford et al.<br />

(www.humansecurityreport.info/,<br />

22. 10. 05).<br />

ICISS (International Commission on Intervention<br />

and State Sovereignty) 2001: The<br />

Responsibility to Protect: Report of the International<br />

Commission on Intervention<br />

and State Sovereignty, Ottawa.<br />

Jacobson, Harold K. 1979: Networks of Interdependence.<br />

International Organizations<br />

and the Global Political System, New York.<br />

Kagan, Robert 2003: Macht <strong>und</strong> Ohnmacht,<br />

Berlin.<br />

Kaiser, Karl 1998: Globalisierung als Problem<br />

der Demokratie, in: Internationale Politik,<br />

Nr. 4, S. 3–11.<br />

Kaul, Inge/Pedro Conceicao/Katell le Goulven<br />

2003: Providing Global Public Goods,<br />

New York.<br />

Keohane, Robert O./Joseph S. Nye 1977:<br />

Power and Interdependence. World Politics<br />

in Transition, Boston.<br />

Klare, Michael T. 2001: Resource Wars: The<br />

New Landscape of Global Conflict, New<br />

York.<br />

Klare, Michael T. 2004: Blood and Oil: The<br />

Dangers and Consequences of America’s<br />

Growing Dependency on Imported Petroleum,<br />

New York.<br />

Krugman, Paul 2004: The Cost of Terrorism:<br />

What Can We Know?, Commissioned<br />

Briefing Notes for the CIGI/CFGS L20 Project,<br />

»The Nexus of Terrorism and WMDs:<br />

Developing a Consensus«, The Princeton<br />

Project on National Security, Princeton<br />

University.<br />

Martin, Hans-Peter/Harald Schumann 1998:<br />

Die Globalisierungsfalle, 10. Auflage,<br />

Reinbek.<br />

Messner, Dirk/Franz Nuscheler 2003: Das<br />

Konzept Global Governance. Stand <strong>und</strong><br />

Perspektiven, INEF-Report Nr. 67, Duisburg.<br />

Ogata, Sadako/Johan Cels 2003: Human Security<br />

– Protecting and Empowering the<br />

People, Global Governance, 9 (3),<br />

S. 273 –282.<br />

Rahr, Alexander 2006: Die neue OPEC, in: Internationale<br />

Politik, Nr. 2, S. 15 –23.<br />

Scholl, Stefan 2006: Die Gasölme<strong>die</strong>nbankkolchose.<br />

Außen- <strong>und</strong> Innenansichten<br />

eines russischen Energiegiganten, in: Internationale<br />

Politik, Nr. 2, S. 24–31.<br />

Scholz, Fred 2000: Perspektiven des »Südens«<br />

im Zeitalter der Globalisierung, in:<br />

Geographische Zeitschrift, Bd.88,<br />

S. 1–20.<br />

Soros, George 1998: Die Krise des globalen<br />

Kapitalismus: offene Gesellschaft in Gefahr,<br />

Berlin.<br />

State Failure Task Force 2003: State Failure<br />

Task Force Report. Phase III Findings,<br />

College Park, MD: University of Maryland,<br />

Center for International Development &<br />

Conflict Management<br />

(http://www.cidcm.umd.edu/inscr/<br />

stfail/SFTF%20Phase%20III%20<br />

Report%20Final.pdf, 10. 10. 04).<br />

Stiglitz, Joseph 2002: Die Schatten der Globalisierung,<br />

Berlin.<br />

Umbach, Frank 2006: Europas nächster Kalter


<strong>Globale</strong> <strong>Verw<strong>und</strong>barkeiten</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Gefährdung</strong> <strong>»menschlicher</strong> Sicherheit« 36<br />

Krieg, in: Internationale Politik, Nr. 2,<br />

S. 6–14.<br />

UNDP 1999: Human Development Report<br />

1999. Globalization with a Human Face,<br />

Oxford et al.<br />

UNESCO-WWAP 2003 Water for People, Water<br />

for Life. The United Nations World<br />

Water Development Report, Barcelona.<br />

UN 2005: Outcome document of the High-level<br />

Plenary Meeting of the General Assembly<br />

of September 2005 submitted by<br />

the President of the General Assembly,<br />

New York<br />

(http://www.un.org/ga/59/hl60_<br />

plenarymeeting.html, 20. 5. 06).<br />

UNU-EHS 2005: As Ranks of »Environmental<br />

Refugees« Swell Worldwide, Calls Grow<br />

for Better Definition, Recognition, Support,<br />

Presseerklärung, 12. Oktober<br />

(http://www.ehs.unu.edu, 2. 3. 06).<br />

Vorlaufer, Karl 1996: Tourismus in Entwicklungsländern,<br />

Darmstadt.<br />

WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der B<strong>und</strong>esregierung<br />

<strong>Globale</strong> Umweltveränderungen)<br />

2005: Armutsbekämpfung durch<br />

Umweltpolitik, Heidelberg/Berlin.<br />

WHO/UNICEF 2005: Water for Life. Make<br />

it happen. Joint Monitoring Programme<br />

for Water Supply and Sanitation, WHO,<br />

Genf.<br />

World Commission on the Social Dimension<br />

of Globalization 2004: A Fair Globalization<br />

– Creating Opportunities for All, The<br />

Report of the World Commission<br />

(http://www.ilo.org/public/english/<br />

fairglobalization/report/index.htm,<br />

27. 6. 06).<br />

Wichterich, Christa 1998: Die globalisierte<br />

Frau, Reinbek.<br />

Ziegler, Jean 2003: Die neuen Herrscher der<br />

Welt, München.<br />

Franz Nuscheler, Tobias Debiel,<br />

Dirk Messner

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!