Die Millennium-Entwicklungsziele - sef
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EINE Welt<br />
Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden<br />
Band 20<br />
<strong>Die</strong> STIFTUNG ENTWICKLUNG UND FRIEDEN wurde<br />
1986 auf Initiative von Willy Brandt unter Mitwirkung des damaligen<br />
Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten<br />
Johannes Rau gegründet.<br />
<strong>Die</strong> überparteiliche und gemeinnützige Stiftung plädiert für<br />
eine politische Neuordnung in einer Welt, die zunehmend<br />
durch die Globalisierung geprägt ist. <strong>Die</strong> Arbeit der Stiftung<br />
beruht auf drei Prinzipien: globale Verantwortung, überparteilicher<br />
und interkultureller Dialog sowie interdisziplinäres Verstehen<br />
von Interdependenzen.<br />
Für diese Orientierung bürgen die führenden Persönlichkeiten<br />
der Stiftung. Dem Kuratorium stehen die Ministerpräsidenten<br />
der vier Stifterländer Nordrhein-Westfalen, Berlin,<br />
Brandenburg und Sachsen vor. Dem Vorstand gehören<br />
als Vorsitzender Staatssekretär a. D. Volker Kähne und seine<br />
Stellvertreter Staatssekretär a. D. Dr. Klaus <strong>Die</strong>ter Leister und<br />
Prof. em. Dr. Franz Nuscheler an. Vorsitzender des Beirates ist<br />
Prof. Dr. <strong>Die</strong>ter Senghaas. Geschäftsführerin der Stiftung ist<br />
Dr. Michèle Roth.
Franz Nuscheler / Michèle Roth (Hg.)<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Entwicklungspolitischer<br />
Königsweg oder ein Irrweg?<br />
Mit einem Vorwort von<br />
Minister Armin Laschet<br />
EINE Welt-<br />
Texte der Stiftung Entwicklung<br />
und Frieden
EINE Welt. Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden.<br />
Lektorat: Dr. Thomas Siebold<br />
Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />
<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />
Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im<br />
Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />
ISBN-10: 3-8012-0364-6<br />
ISBN-13: 978-3-8012-0364-1<br />
Titelfoto: Make Poverty History-Marsch am 2. Juli 2005 in Edinburgh<br />
Picture Alliance/dpa/Chris Radburn<br />
Copyright © 2006 by Stiftung Entwicklung und Frieden<br />
Gotenstraße 152, D-53175 Bonn, http://www.<strong>sef</strong>-bonn.org<br />
Alle Rechte: Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz Nachfolger GmbH<br />
Dreizehnmorgenweg 24, D-53175 Bonn<br />
Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten<br />
Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel, Ulm<br />
Printed in Germany 2006
Inhalt<br />
Vorwort 11<br />
Einleitung<br />
FRANZ NUSCHELER, MICHÈLE ROTH 15<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>:<br />
ihr Potenzial und ihre Schwachstellen<br />
Eine kritische Zusammenfassung<br />
Kontroverse Debatte über die MDGs 16 – Weichenstellungen<br />
zum UN-<strong>Millennium</strong>-Projekt 17 – Make Poverty History: Mehr<br />
als alter Wein in neuen Schläuchen? 20 – Ansatz- und Schwerpunkte<br />
der Kritik 23 – Ist das Glas halb voll oder halb leer? 37 –<br />
Zusammenfassung: Königsweg oder Irrweg? 39<br />
Erster Teil:<br />
Was wurde bislang erreicht?<br />
THOMAS FUES 44<br />
Ist das Glas halb voll oder halb leer?<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> in den<br />
einzelnen Weltregionen<br />
Umsetzungsstand bei den MDGs 46 – Kritische Faktoren für die<br />
Erreichung der MDGs 53 – Fazit und Ausblick 57<br />
RICHARD BRAND 61<br />
Mehr Worte als Taten?<br />
Der deutsche Beitrag zur Erfüllung der <strong>Millennium</strong>-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Das Aktionsprogramm 2015 62 – Armutsbekämpfung, MDG-<br />
Orientierung und Wirkungsmonitoring 67 – Geringe Ressour-<br />
5
cenmobilisierung zur Entwicklungsfinanzierung 71 – Entwicklungspolitische<br />
Kohärenz 76 – Schlussbemerkung 78<br />
JUTTA KRANZ-PLOTE 81<br />
Chancen und Herausforderungen bei der operativen<br />
Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Eine Innenperspektive<br />
Ein verbindlicher Referenzrahmen für die strategische Ausrichtung<br />
der deutschen Entwicklungszusammenarbeit 81 – <strong>Die</strong><br />
deutsche EZ im Kontext der internationalen Prozesse zur<br />
Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-Agenda 84 – Eigenverantwortung<br />
der Entwicklungsländer und Partnerorientierung der<br />
Geber 85 – <strong>Die</strong> deutsche EZ als Teil der internationalen Gebergemeinschaft<br />
89 – <strong>Die</strong> Wirksamkeit der EZ als entscheidendes<br />
Qualitätsmerkmal 90 – Politikkohärenz als Voraussetzung für<br />
erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit 95 – Fazit 96<br />
MICHÈLE ROTH 98<br />
Armutsbekämpfung durch Massenmobilisierung?<br />
<strong>Die</strong> Kampagnen zu den <strong>Millennium</strong>-Entwicklungs zielen<br />
Zwischen Kooperation und Konkurrenz: die MDG-Kampagnen<br />
99 – Versuche einer Wirkungsanalyse 109 – »Cui bono außer<br />
Bono?« – Zur Kritik an den Kampagnen 112 – Fazit 114<br />
Zweiter Teil:<br />
Nur kurieren an Symptomen?<br />
UWE HOLTZ 118<br />
<strong>Die</strong> Zahl undemokratischer Länder halbieren!<br />
Armutsbekämpfung durch Demokratie, Menschenrechte und<br />
good governance<br />
<strong>Die</strong> MDGs: Fortschritt, aber fehlende politische Dimension 118<br />
– Was bedeuten Entwicklung und Demokratie? 122 – <strong>Die</strong> »dritte<br />
Welle der Demokratisierung« 124 – Demokratie in der Mil-<br />
6
lennium-Erklärung, aber nicht in den MDGs 125 – Demokratie,<br />
Menschenrechte und good governance als Voraussetzung und<br />
Ziel für die Realisierung der MDGs 127 – Plädoyer für eine Ergänzung<br />
des MDG-Zielkatalogs 132 – Schlussfolgerungen 135<br />
KARIN KÜBLBÖCK 138<br />
Schmerztherapie statt Ursachenbekämpfung?<br />
Eine strukturelle Kritik an den <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>n<br />
Entstehung der Ziele 138 – Fortschritt oder Rückschritt? 140<br />
– Quick fixes für Armut? 142 – Armut als technisches Problem –<br />
Entpolitisierung der Armutsdebatte 143 – Armut getrennt von<br />
Reichtum? 144 – Ausblendung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen<br />
146 – Beschränkte Partnerschaft 149 – Schlussfolgerungen<br />
151<br />
FRANZ NUSCHELER 155<br />
Sinnentleerung des Prinzips Nachhaltigkeit<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> haben eine ökologische<br />
Lücke<br />
Das Umweltproblem ist ein Kernproblem internationaler Entwicklung<br />
156 – Analyse der Problemlage, die dem MDG 7<br />
zugrunde liegt 157 – Statt gemeinsamer »globaler Verantwortung«<br />
ein Feilschen um Positionsvorteile 160 – <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
als Referenzdokument 161 – Der diffuse Inhalt<br />
des MDG 7: Verflüchtigung des Leitbildes der globalen nachhaltigen<br />
Entwicklung 163 – Vorschläge zur Verkoppelung von<br />
Umwelt- und Entwicklungspolitik 167 – Fazit: Wider den Ungeist<br />
der ökologischen Bedenkenlosigkeit 169<br />
VERONIKA WITTMANN 173<br />
Gender und die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Empowerment ohne Veränderung der Machtstrukturen?<br />
<strong>Die</strong> feministische Kritik an den MDGs 173 – Gender in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung:<br />
ein rudimentärer Bereich 177 – <strong>Die</strong> Entmys-<br />
7
tifizierung der MDGs durch den Gender-Blick 179 – Fort- und<br />
Rückschritte bei der Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit<br />
182 – Ausblick auf 2015: Ohne Empowerment von Frauen<br />
wird kein MDG-Ziel erreicht werden 189<br />
Dritter Teil:<br />
Herausforderungen<br />
STEPHAN KLINGEBIEL 194<br />
Mit einem big push aus der Armutsfalle?<br />
Der Sachs-Bericht ist kein Patentrezept<br />
Afrika im Mittelpunkt der Debatte über eine neue Entwicklungspolitik<br />
194 – <strong>Die</strong> »Armutsfalle«: Ein Erklärungsansatz für<br />
Afrika südlich der Sahara? 197 – Wie viel Hilfe hilft Afrika südlich<br />
der Sahara? 200 – Wie wichtig ist Governance in Afrika südlich<br />
der Sahara? 202 – Wirksamere Entwicklungspolitik 203<br />
ROSS HERBERT 207<br />
Wachstumsziele statt <strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Afrika braucht eine andere Reformagenda<br />
<strong>Die</strong> MDGs können Afrikas wirkliche Probleme nicht lösen 208 –<br />
Kernpunkte für afrikanische <strong>Millennium</strong>-Wachstumsziele 212<br />
– <strong>Die</strong> politische Reformagenda 219 – Afrika braucht eine andere<br />
Reformagenda 221<br />
EVELINE HERFKENS, MANDEEP BAINS 223<br />
Damit die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> nicht nur eine<br />
Vision bleiben<br />
Herausforderungen für den Norden<br />
Fortschritte bei der Umsetzung der MDGs 224 – Mehr Mittel<br />
für die Entwicklungszusammenarbeit 229 – Qualitativ bessere<br />
Entwicklungszusammenarbeit 231 – Schuldenerlasse 234 – Gerechtere<br />
Handelsregeln 235 – Fazit 239<br />
8
Anhang<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> mit<br />
Zielvorgaben und Indikatoren 242<br />
Autorinnen, Autoren und Herausgeber 249<br />
9
Vorwort<br />
Das Ereignis schrieb Geschichte – nicht nur in Deutschland.<br />
Doch am Tag des Mauerfalls 1989 glaubten zunächst nur wenige<br />
daran, dass auch dem Ost-West-Konflikt ein rasches Ende<br />
beschieden sein würde. Umso größer war die Freude, als die<br />
globale Wende tatsächlich einsetzte – nicht zuletzt deshalb,<br />
weil auch die Krisengebiete und armen Länder des Südens<br />
nach dem plötzlichen Ende des Kalten Krieges auf Frieden,<br />
Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung hoffen konnten.<br />
Aber es kam anders. Ein weltweiter Entwicklungsschub,<br />
die »Friedensdividende«, blieb aus. Kurz vor der Jahrtausendwende<br />
mussten die Vereinten Nationen eine bittere Bilanz ziehen:<br />
Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut,<br />
immer mehr Menschen müssen hungern, und die Schere zwischen<br />
reichen und armen Staaten vergrößert sich zusehends.<br />
Gewiss, die 1990er Jahre waren geprägt von einer intensiven<br />
Debatte über nachhaltige Entwicklung. Sie schärfte etwa<br />
das Bewusstsein für die globalen Umweltveränderungen. Außerdem<br />
wurde das Phänomen der Globalisierung eingehend<br />
untersucht und auf Chancen und Risiken abgeklopft. Was jedoch<br />
am Ende dieses Jahrzehnts bei nüchterner Betrachtung<br />
übrig blieb, war kaum mehr als die Erkenntnis, dass alle bisherigen<br />
Entwicklungsanstrengungen die extreme Armut nur in<br />
Ansätzen lindern konnten.<br />
Politische Beschlüsse zur Bekämpfung der Armut blieben<br />
aber zunächst aus. Es mussten andere Faktoren hinzukommen,<br />
um den Handlungsdruck auf die Weltgemeinschaft zu erhöhen.<br />
Dazu gehörte die Aufbruchsstimmung, die vom Jahrtausendwechsel<br />
ausging. Nur so ist zu erklären, dass es gelang,<br />
am 8. September 2000 die »<strong>Millennium</strong>-Erklärung der Vereinten<br />
Nationen« und in ihrer Folge die acht <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
(MDGs) zu verabschieden – ein Novum in der<br />
Geschichte der Entwicklungspolitik.<br />
11
In jüngster Zeit werden die MDGs aber zunehmend kritisch<br />
diskutiert. <strong>Die</strong>se Auseinandersetzung ist wichtig, weil sie hilft,<br />
die <strong>Entwicklungsziele</strong> weiterzuentwickeln. Doch trotz berechtigter<br />
Kritik: Es sollte nicht vergessen werden, dass sich die<br />
Weltgemeinschaft auf ganz konkrete Ziele und einen verbindlichen<br />
Zeitrahmen zur Bekämpfung der Armut festlegt hat.<br />
Allein das war ein großer Schritt vorwärts – weg von den zahlreichen<br />
wohl klingenden, aber unverbindlichen Erklärungen<br />
der Vergangenheit. Selbst die Gründungsmitglieder der Stiftung<br />
Entwicklung und Frieden (SEF) wollten an globale Beschlüsse<br />
zunächst nicht so recht glauben. So heißt es in einer<br />
vom SEF-Vorstand in den 1980er Jahren formulierten Zielsetzung:<br />
»Uns eint die Vision einer Welt ohne Grenzen und Vorurteile,<br />
ohne Hunger und Angst vor Zerstörung. Wir sind uns bewusst, dass<br />
diese Vision weder heute noch morgen verwirklicht werden kann.<br />
Aber wir wollen uns dafür einsetzen, schrittweise jenem Ziel näher<br />
zu kommen. <strong>Die</strong> Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob wir uns<br />
als Weltbürger begreifen und in globaler Verantwortung handeln.«<br />
Doch zurück in die Gegenwart: Mit der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
verfügen wir über einen konkreten Leitfaden für unser<br />
künftiges entwicklungspolitisches Handeln. Aber wir erreichen<br />
die MDGs nur, wenn sich alle entwicklungspolitischen<br />
Akteure bis 2015 gemeinsam auf die acht <strong>Entwicklungsziele</strong><br />
konzentrieren.<br />
<strong>Die</strong> G8, die EU und die Bundesregierung schufen mit der<br />
Entscheidung, die Quote für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit<br />
(Official Development Assistance, ODA) bis 2015 stufenweise<br />
auf 0,7 % zu erhöhen und weit reichende Schuldenerlasse<br />
zu gewähren, auch einen finanziellen Grundstein für die<br />
armutsorientierte Entwicklungszusammenarbeit. Auch wenn<br />
die ODA-Quote zunächst vor allem durch die Schuldenerlasse<br />
stieg, werden die weiteren Steigerungen künftig doch frisches<br />
Geld bringen. Das freilich setzt voraus, dass die Regierungen<br />
im Norden ihre Verpflichtungen gegenüber den Entwicklungs-<br />
12
ländern einhalten – was angesichts hoch verschuldeter öffentlicher<br />
Haushalte nicht einfach sein wird.<br />
Nordrhein-Westfalen, neben Berlin, Brandenburg und Sachsen<br />
Stifter der Stiftung Entwicklung und Frieden, konzentriert<br />
seine internationale Entwicklungszusammenarbeit ebenfalls<br />
auf die MDGs. So pflegen wir gute Beziehungen zu zahlreichen<br />
Entwicklungsländern und fördern die entwicklungspolitische<br />
Bildungsarbeit. Nordrhein-Westfalen ist in diesem Bereich der<br />
größte Akteur unter den Bundesländern.<br />
Freilich müssen wir uns darauf konzentrieren, eine den<br />
Möglichkeiten unseres Landes angemessene Praxis der Entwicklungspolitik<br />
zu entwerfen und umzusetzen. <strong>Die</strong>s kann<br />
nur gelingen durch die Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft<br />
und der Zivilgesellschaft sowie durch die Nutzung landesspezifischer<br />
Standortpotenziale. Für Nordrhein-Westfalen<br />
steht das <strong>Millennium</strong>ziel 8, der Aufbau einer Internationalen<br />
Entwicklungspartnerschaft, im Mittelpunkt. Dabei legen wir<br />
den Schwerpunkt auf Afrika südlich der Sahara, eine Region,<br />
die in besonderem Maße unter Armut leidet. <strong>Die</strong> Konzentration<br />
auf ein Gebiet erlaubt es uns auch, unsere eigenen Förderprogramme<br />
zielgerichteter umzusetzen und die Aktivitäten<br />
unserer Partner aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft besser<br />
einzubinden. Eine wichtige Rolle werden dabei künftig die<br />
rund 65.000 in unserem Land lebenden Menschen aus Afrika<br />
südlich der Sahara spielen. Ihre Potenziale als »Brückenbauer«<br />
sind bislang noch weitgehend ungenutzt. Es geht nicht nur um<br />
die privaten Rücküberweisungen von hier lebenden Zuwanderern,<br />
die für viele arme Länder Afrikas eine wichtige Einnahmequelle<br />
darstellen und die öffentliche Entwicklungshilfe<br />
mittlerweile übertreffen, sondern vor allem darum, stabilere<br />
Kommunikationsbeziehungen zu afrikanischen Ländern herzustellen,<br />
kulturelle und sprachliche Barrieren zu verkleinern<br />
und die Rückkehr zu erleichtern.<br />
Es gibt aber noch weitere gute Gründe, die Kooperation<br />
mit Afrika auszubauen. Nordrhein-Westfalen ist das deutsche<br />
13
Nord-Süd-Land. Fast alle wichtigen entwicklungspolitischen<br />
Einrichtungen sind bei uns zu Hause. Außerdem verfügen<br />
wir mit Bonn über den einzigen UN-Standort in Deutschland.<br />
Kurzum: <strong>Die</strong> Entwicklungspolitik und ihre Institutionen bereichern<br />
unser Land wie kaum ein anderes Politikfeld.<br />
Aber auch als Exportland ist es für Nordrhein-Westfalen<br />
wichtig, gute Beziehungen zu Afrika aufzubauen. <strong>Die</strong> Möglichkeiten<br />
der Zusammenarbeit sind vielfältig. Einen Schwerpunkt<br />
soll der Energiesektor bilden, in dem Nordrhein-Westfalen<br />
über besonders umfangreiche Erfahrungen verfügt. Im<br />
Bereich der erneuerbaren Energien zum Beispiel bieten sich<br />
eine Reihe von Kooperationen mit dem südlichen Afrika an.<br />
Und mit Blick auf die Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2010<br />
in Südafrika werden wir unsere Partnerprovinz Mpumalanga<br />
bei ihren Vorbereitungen als Austragungsort unterstützen.<br />
Nordrhein-Westfalen wird sich aber nicht an den MDGs<br />
festklammern. Ziele wie Gute Regierungsführung, Frieden<br />
und Sicherheit sind für uns genauso wichtig. Gerade mit unseren<br />
Erfahrungen als Bundesland können wir Impulse für<br />
den Dezentralisierungs- und Demokratisierungsprozess in den<br />
Entwicklungsländern geben.<br />
Uns ist es ein wichtiges Anliegen, den Blick über den Tellerrand<br />
zu richten. Deshalb engagiert sich Nordrhein-Westfalen<br />
in der Stiftung Entwicklung und Frieden. So entsteht wichtiges<br />
Know-how zu allen zentralen Fragen der globalen Entwicklung<br />
und Friedenssicherung. In diesem Sinne wird auch das<br />
vorliegende Buch den Blick auf die MDGs schärfen und einen<br />
Beitrag dazu leisten, dass die weltweite Armutsbekämpfung<br />
ihre Wirkung entfaltet.<br />
14<br />
Armin Laschet<br />
Minister für Generationen, Familie, Frauen und<br />
Integration des Landes Nordrhein-Westfalen<br />
Mitglied im Kuratorium der Stiftung Entwicklung<br />
und Frieden
FRANZ NUSCHELER, MICHÈLE ROTH<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>:<br />
ihr Potenzial und ihre Schwachstellen<br />
Eine kritische Zusammenfassung<br />
In einer Flut von Reden und Publikationen, die bei Google schon<br />
Millionen Webseiten füllen, finden sich viele Wortschöpfungen,<br />
um die Bedeutung der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong><br />
Development Goals, MDGs) in der Geschichte der internationalen<br />
Entwicklungspolitik hervorzuheben. Da war gar die<br />
Rede von einem neuen »Mantra« (Martens 2005). <strong>Die</strong>ses geheimnisvolle<br />
Wort kommt aus dem Sanskrit und bedeutet laut<br />
Fremdwörter-Duden eine als »wirkungskräftig geltende religiöse<br />
Formel«. <strong>Die</strong> Betonung liegt auf »wirkungskräftig geltend«,<br />
also auf dem quasi-religiösen Glauben, dass die Formel auch<br />
praktische Wirkungskraft entfaltet. Christa Wichterich (2005)<br />
entdeckte in den MDGs einen »entwicklungspolitischen Katechismus«,<br />
der ebenfalls religiös untermauerte Ge- und Verbote<br />
enthält und bei Zuwiderhandeln Strafen androht.<br />
<strong>Die</strong> MDGs haben offensichtlich die Bedeutung einer Beschwörungsformel<br />
gewonnen, die sowohl den Glauben als<br />
auch die Hoffnung stärkt, dass die acht MDGs (vgl. Anhang)<br />
im geplanten Zeitraum erreicht werden können; dass also eine<br />
Halbierung der in extremer Armut lebenden Menschen in den<br />
noch verbleibenden zehn Jahren trotz einer wachsenden Weltbevölkerung<br />
möglich sein wird. <strong>Die</strong> auf dem <strong>Millennium</strong>+5-<br />
Gipfel vom September 2005 vorgelegten Zwischenbilanzen<br />
nährten allerdings die Zweifel, dass die Ziele auch dort erreicht<br />
werden können, wo die Statistiken internationaler Organisationen<br />
in den ersten fünf Jahren wenig Fortschritte oder gar<br />
Rückschritte registrierten. Wie der Beitrag von Thomas Fues<br />
15
zeigt, ist das Glas in globaler Perspektive schon halb voll, aber<br />
bei einer regionalen Aufschlüsselung der Daten an manchen<br />
Orten nicht einmal halb leer.<br />
<strong>Die</strong> Mantra-Formel verlor ihre Geltung als »wirkungskräftig«,<br />
aber nicht ihre Funktion als Beschwörungsformel: Denn<br />
dies ist gewiss, dass eine Erfolge nachweisende Politik der Armutsbekämpfung<br />
für eine nationale und internationale Entwicklungspolitik,<br />
die nicht den letzten Rest ihrer ohnehin angeschlagenen<br />
Glaubwürdigkeit und Legitimation verlieren<br />
möchte, die Nagelprobe bildet. Umfragen haben immer wieder<br />
zutage gefördert, dass die Menschen prinzipiell immer noch –<br />
obgleich angesichts wachsender Sozialprobleme im eigenen<br />
Land immer weniger – auch eine höhere Entwicklungshilfe akzeptieren<br />
würden, sofern sie davon überzeugt werden können,<br />
dass sie wirklich bei den Armutsgruppen ankommt.<br />
Kontroverse Debatte über die MDGs<br />
Es geht in diesem Sammelband weder um eine Romantisierung<br />
noch um eine Entmystifizierung des MDG-Mantra, sondern<br />
um eine nüchterne Bestandsaufnahme und Antwort auf<br />
die Titelfrage, ob die MDGs einen entwicklungspolitischen<br />
Königsweg oder eher einen Irrweg beschritten haben. Anders<br />
formuliert: Erweist sich der programmatische große Wurf bei<br />
näherem Hinsehen als ein letztlich hilfloses Kurieren an Symptomen<br />
der Armut? Oder gleichen sie gar, wie Ross Herbert vom<br />
South African Institute of International Affairs bissig kommentiert,<br />
einer politischen Camouflage, die von den wirklichen Problemen<br />
ablenkt?<br />
Zwar kommen die Beiträge überwiegend zu einer kritischen<br />
Bewertung einzelner MDGs und des »Gesamtkunstwerkes«<br />
des MDG-Kataloges, aber nicht deshalb, weil sie das<br />
Ziel der Armutsbekämpfung nicht teilen, sondern weil sie in<br />
den MDGs nicht den richtigen Weg zu diesem Ziel erkennen<br />
16
können. <strong>Die</strong> Kritik gilt also nicht dem Ziel, sondern dem vom<br />
MDG-Zielkatalog aufgestellten Wegweiser.<br />
Nach Einschätzung des Sachs-Reports (2005, 2) sind die<br />
MDGs »die am breitesten unterstützten, umfassendsten und<br />
konkretesten Vorgaben zur Verringerung der Armut, die die<br />
Welt je aufgestellt hat«. Breit unterstützt und konkret sind sie<br />
sicherlich, aber umfassend ist allenfalls die <strong>Millennium</strong>-Erklärung.<br />
Ein Hauptkritikpunkt dieses Bandes ist deshalb, dass<br />
sich von den vier in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung formulierten<br />
grundlegenden, interdependenten Herausforderungen, denen<br />
sich die internationale Gemeinschaft stellen muss – nämlich<br />
Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Armutsbekämpfung,<br />
Schutz der Umwelt sowie Menschenrechte, Demokratie<br />
und good governance –, drei in den MDGs nicht oder nicht<br />
angemessen wiederfinden. Auch andere, für eine erfolgreiche<br />
Armutsbekämpfung höchst relevante, jedoch politisch brisante<br />
Themen wurden im MDG-Katalog ausgespart.<br />
<strong>Die</strong> Kritik zeigt, dass die allseitigen Bekenntnisse zu den<br />
MDGs keineswegs alle entwicklungspolitischen Kontroversen<br />
in einem allseitigen Konsens aufgehoben haben. Der vorliegende<br />
Sammelband zielt auf eine Rekonstruktion dieser Kontroversen<br />
und auf eine Überprüfung der Frage, welche Wirkungskraft<br />
die Mantra-Formel als »wirkungskräftig geltende<br />
religiöse Formel« in der praktischen Entwicklungspolitik entfalten<br />
konnte.<br />
Weichenstellungen zum UN-<strong>Millennium</strong>-Projekt<br />
Was die Staats- und Regierungschefs in der <strong>Millennium</strong>-<br />
Erklärung unterzeichneten, war schon vorher in vielen UN-<br />
Dokumenten und Berichten von internationalen Kommissionen<br />
enthalten. Es war also nicht neu, was plötzlich als Mantra<br />
der internationalen Entwicklungspolitik entdeckt wurde.<br />
Schon in den 1970er Jahren, als sich die Weltbank, damals unter<br />
17
der Leitung von Robert McNamara, auf einen Kampf gegen die<br />
»absolute Armut« mittels einer Grundbedürfnisstrategie einschwor,<br />
überschlugen sich die UN-Organisationen und nationalen<br />
Entwicklungsbehörden mit den folgenden Ziel- und Willenserklärungen:<br />
»Nahrung für alle« (Welternährungsorganisation),<br />
»Gesundheit für alle« (Weltgesundheitsorganisation),<br />
»Bildung für alle« (UNESCO) oder sogar »Arbeit für alle« (Internationale<br />
Arbeitsorganisation). <strong>Die</strong>se hoch gesteckten Ziele<br />
sollten schon bis Ende des vergangenen Jahrhunderts erreicht<br />
werden. Auch die so genannten UN-Entwicklungsdekaden<br />
waren voll gepackt mit hohen Zielsetzungen, die am Ende der<br />
Dekaden jedes Mal unerfüllt blieben.<br />
Dann kam zu Beginn der 1980er Jahre, eingeleitet durch die<br />
Verschuldungskrise vieler Entwicklungsländer, die ordnungspolitisch<br />
vom Washington-Konsensus unterlegte »neo-liberale<br />
Wende«, die auch der als »Armenpolitik« diskreditierten<br />
Grundbedürfnisstrategie den schnellen Garaus machte. Mit ihr<br />
kamen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der<br />
Weltbank mit dem Knüppel der Kreditverweigerung durchgesetzten<br />
Strukturanpassungsprogramme, die den zusätzlich<br />
von hohen Ölpreissteigerungen heimgesuchten Schuldnerländern<br />
makroökonomische Struktur- und Sparpolitiken aufzwangen.<br />
Sie forderten vor allem den Armutsgruppen ab, den<br />
ohnehin engen Gürtel noch enger zu schnallen. Der erzwungene<br />
Abbau von Subventionen für Grundnahrungsmittel und<br />
Medikamente erschwerte das Überleben, die Einführung von<br />
Schulgebühren senkte die Einschulungsraten. Hier ging es um<br />
die basic needs des nackten Überlebens.<br />
Es waren damals neben den Nichtregierungsorganisatio nen<br />
(NGOs), die weltweit Kampagnen gegen diese Politik organisierten,<br />
auch UN-Organisationen wie das UN-Entwicklungsprogramm<br />
(UNDP) und das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF),<br />
die eine »Strukturanpassung mit menschlichem Gesicht« ohne<br />
allzu große soziale Grausamkeiten forderten. <strong>Die</strong> Länder der<br />
Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-<br />
18
wicklung (OECD), die nach der weltpolitischen Zeitenwende<br />
vom Ballast des Kalten Krieges befreit waren, konnten Berichte<br />
nicht mehr ignorieren, die eine Verschärfung des Armutsproblems<br />
und der in der »globalen Risikogesellschaft«<br />
(Ulrich Beck) auch auf sie zurück wirkenden armutsbedingten<br />
Folgeprobleme belegten. Sie erklärten bereits auf dem Kopenhagener<br />
Weltsozialgipfel von 1995 einen »Krieg gegen die Armut«<br />
mit dem – freilich illusionären – Ziel ihrer weltweiten<br />
»Ausrottung«. Gleichzeitig drängten sie die mächtigen Bretton<br />
Woods-Institutionen, in denen sie mit ihren überlegenen Kapitalanteilen<br />
das Sagen haben, zu Kursänderungen ihrer mit harten<br />
Konditionen ausgestatteten Kreditpolitik. Schon ein Jahr<br />
später formulierte die OECD in ihrem Strategiepapier »Shaping<br />
the 21 st Century« das Kernziel der MDGs, die Halbierung<br />
der statistisch errechneten Armutsquote (also des Anteils von<br />
Menschen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als<br />
1 US-$ pro Tag).<br />
Zur Vorgeschichte der MDGs gehören die folgenden Erfahrungen<br />
und Weichenstellungen:<br />
Erstens die Erfahrung, dass die vielen Milliarden Dollar,<br />
die in den Süden flossen, das Anwachsen der Armut in einigen<br />
Weltregionen nicht aufhalten konnten und aus diesem<br />
Ver elendungswachstum auch dem reichen Norden Risiken erwachsen.<br />
Zweitens die Konsequenz, welche die OECD schon 1996<br />
aus den Handlungsempfehlungen des Kopenhagener Weltsozialgipfels<br />
zog: nämlich die Willenserklärung zu einer Halbierung<br />
der Armutsquote.<br />
Drittens die Folgerungen, die die Bretton Woods-Institutionen<br />
auf ihrer gemeinsamen Jahrestagung vom Herbst 1999 aus<br />
dem Kurswechsel ihrer Anteilseigner zogen. Innovativ war vor<br />
allem ihr neuer Ansatz zum Schuldenmanagement, der in den<br />
Poverty Reduction Strategy Papers (PRSPs) verankert wurde und<br />
erstmals zivilgesellschaftliche Akteure beteiligte.<br />
19
Viertens konnten die MDGs auf den Vereinbarungen aufbauen,<br />
die auf der Serie von Weltkonferenzen der 1990er Jahre<br />
im internationalen Konsens getroffen wurden. <strong>Die</strong>se Weltkonferenzen,<br />
auf denen die NGOs nicht mehr an Katzentische abgedrängt,<br />
sondern in die Verhandlungen einbezogen wurden,<br />
waren keine folgenlosen Rituale des internationalen Konferenztourismus,<br />
sondern in der Tat »Baustellen für Global Governance«<br />
(Fues/Hamm 2001).<br />
Weder das Kernziel Nr. 1, die Halbierung der Armutsquote,<br />
noch die weiteren Einzelziele im MDG-Zielkatalog können irgendeine<br />
Originalität beanspruchen. Man kann sie eher als<br />
einen »ultimative[n] Kraftakt der UN, um die Serie gescheiterter<br />
Entwicklungskonzepte mit einem pragmatischen Hauruck-Verfahren<br />
zu beenden« (Wichterich 2005), sowie als einen<br />
Versuch dieser häufig kritisierten Weltorganisation deuten,<br />
durch eine spektakuläre Initiative ihre eigene Existenzberechtigung<br />
nachzuweisen. Auch deshalb engagieren sich Eveline<br />
Herfkens, die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für<br />
die <strong>Millennium</strong> Campaign, und ihre Kollegin Mandeep Bains in<br />
diesem Sammelband vehement für die MDGs.<br />
Make Poverty History:<br />
Mehr als alter Wein in neuen Schläuchen?<br />
Den Kritikern fallen viele Formulierungen ein, um das »Mantra«<br />
der MDGs zu entmystifizieren. Sind sie wirklich nicht mehr als<br />
»viel Lärm um nichts« oder »alter Wein in neuen Schläuchen«?<br />
Es gibt mehrere Gründe, in ihnen doch etwas Neues und einen<br />
entwicklungspolitischen Befreiungsschlag zu entdecken, der<br />
aus den Orientierungs- und Legitimationsproblemen herausführen<br />
könnte, in welche die internationale Entwicklungspolitik<br />
nach der Verflüchtigung der geostrategischen Schubkraft,<br />
die ihr die Interessenlogik des Kalten Krieges verschafft hatte,<br />
geraten war.<br />
20
Erstens: Es ist zwar richtig, dass alle Ziele und Forderungen,<br />
welche die MDGs in einem entwicklungspolitischen Achteck<br />
zusammenfassen, schon in diversen UN-Dokumenten und<br />
Absichtserklärungen von Weltkonferenzen auftauchten. Aber<br />
keiner dieser Forderungskataloge erhielt den Nachdruck, den<br />
die in New York versammelten Repräsentanten der Staatengemeinschaft<br />
der <strong>Millennium</strong>-Erklärung und den aus ihr abgeleiteten<br />
MDGs verliehen. Nach Ansicht von UN-Generalsekretär<br />
Kofi Annan haben die MDGs bereits das »Antlitz der<br />
internationalen Entwicklungspolitik« verändert.<br />
Zweitens: Sechs der acht MDGs wurden erstmals – und im<br />
Unterschied zu früheren ebenso ambitionierten, aber unverbindlichen<br />
Absichtserklärungen – mit quantitativen und damit<br />
auch überprüfbaren Ziel- und Zeitvorgaben zu ihrer Verwirklichung<br />
gehärtet. <strong>Die</strong>s ist neu und setzt die entwicklungspolitischen<br />
Entscheidungsträger unter erheblichen Handlungsdruck.<br />
Drittens: Nie zuvor schienen sich alle Akteure über einen<br />
entwicklungspolitischen Zielkatalog so einig zu sein. Aber es<br />
stellte sich bald heraus, dass die Einigkeit über das Ziel keineswegs<br />
die Einigkeit über Mittel und Wege einschließt, wie dieses<br />
Ziel zu erreichen ist. So reaktivierten die Erfolge in China und<br />
Indien bei der Armutsbekämpfung die alte trickle down-Streitfrage,<br />
ob die Armut am erfolgreichsten durch ein möglichst hohes<br />
Wirtschaftswachstum bekämpft werden kann.<br />
Viertens: Nie zuvor wurden sowohl die Entwicklungs- als<br />
auch die Industrieländer so nachdrücklich angehalten, nationale<br />
Strategien zur Armutsbekämpfung zu erarbeiten. In<br />
Deutschland geschah dies bemerkenswert schnell durch das<br />
auch von der NGO-Szene gelobte »Aktionsprogramm 2015«,<br />
das alle Ressorts in einen Verpflichtungskatalog einband, aber<br />
dem BMZ die Führungsrolle zuwies (vgl. den Beitrag von<br />
Brand).<br />
Fünftens: Eine wichtige Innovation enthalten nicht die<br />
MDGs selbst, sondern ein Instrument zu den im MDG 8 gefor-<br />
21
derten Schuldenerlassen: nämlich das in den PRSPs verankerte<br />
Erfordernis der gesellschaftlichen Partizipation bei ihrer Gestaltung.<br />
Schuldenerlasse spielen für die Armutsbekämpfung<br />
eine wichtige Rolle, weil sie besonders die ärmsten und hoch<br />
verschuldeten Länder (HIPC) vom Druck befreien, erhebliche<br />
Anteile ihrer knappen Devisenerlöse für den Schuldendienst<br />
aufbringen zu müssen. Ebenso wichtig ist, dass nicht nur Bürokratien,<br />
sondern auch betroffene gesellschaftliche Gruppen<br />
mitentscheiden dürfen, für welche Zwecke die nach Schuldenerlassen<br />
verfügbaren Mittel verwendet werden sollen. Auf<br />
diese Weise wird möglich, was die zivilgesellschaftliche Entwicklungslobby<br />
schon lange gefordert hatte: Entschuldung für<br />
Entwicklung und für die Bekämpfung der Armut.<br />
Sechstens: <strong>Die</strong> Verkündung der MDGs förderte breite öffentliche<br />
Kampagnen und gab der entwicklungspolitischen<br />
Bildungsarbeit einen kräftigen Schub. Selten zuvor beteiligten<br />
sich neben der buntscheckigen NGO-Gemeinde auch Ministerien,<br />
Bundesländer (wie NRW), Kommunen, Kirchen und<br />
Medien mit vielerlei Aktivitäten an einer Kampagne wie der<br />
von den Vereinten Nationen weltweit organisierten <strong>Millennium</strong><br />
Campaign. VENRO, der Dachverband entwicklungspolitischer<br />
NGOs, organisierte und koordinierte zusammen mit Herbert<br />
Grönemeyer die nationale NGO-Kampagne Deine Stimme gegen<br />
Armut. <strong>Die</strong> Tatsache, dass mit Armin Laschet ein Landesminister<br />
und mit Eveline Herfkens eine UN-Repräsentantin<br />
Beiträge zu diesem Sammelband beisteuern, belegt dieses auf<br />
verschiedenen politischen Handlungsebenen verankerte Engagement<br />
für die MDGs.<br />
<strong>Die</strong> Unterstützung durch Popstars wie Bob Geldorf, Bono<br />
und Herbert Grönemeyer zur Mobilisierung der Massen wurde<br />
allerdings, wie der Beitrag von Michèle Roth zeigt, auch kritisch<br />
und gelegentlich gar höhnisch kommentiert. Unter anderem<br />
wurde den beteiligten Stars unterstellt, mehr für das eigene<br />
Image von Wohltätern der Menschheit als für die Sache<br />
zu werben. Welche Motive sie auch dazu bewogen haben mö-<br />
22
gen, gegen die Armut in der Welt auf die Bühne zu gehen: Sie<br />
haben mehr Menschen erreicht als alle Informationskampagnen<br />
von UN-Organisationen, Ministerien und NGOs es alleine<br />
vermocht hätten. Angesichts des ernüchternden demoskopischen<br />
Nachweises, dass nach Umfragen von Euro barometer<br />
Ende 2004 nur 12 % der Europäer etwas mit den MDGs anzufangen<br />
wussten, ist der unerwünschte Nebeneffekt einer Personalityshow<br />
zu verschmerzen.<br />
Neu waren also nicht so sehr die Inhalte der MDGs, sondern<br />
das weltweite Echo, das sie auslösten. Es gab bisher in der<br />
internationalen Entwicklungspolitik keinen so großen Konsens<br />
und kein vergleichbares Momentum, feierliche Absichtserklärungen<br />
in rasche Taten umzusetzen. <strong>Die</strong>sem Zweck diente<br />
auch die Verdichtung der <strong>Millennium</strong>-Erklärung auf konkrete<br />
und mittels Indikatoren überprüfbare Ziele. <strong>Die</strong> MDGs mögen<br />
inhaltlich »alter Wein in neuen Schläuchen« gewesen sein, aber<br />
diese neuen Schläuche verliehen dem alten Inhalt hohe Aktualität<br />
und Dringlichkeit.<br />
Ansatz- und Schwerpunkte der Kritik<br />
<strong>Die</strong> internationale Diskussion über die MDGs hebt in der Regel<br />
die oben erwähnten positiven Aspekte hervor, reibt sich<br />
aber zunehmend auch an einigen Schwachstellen. <strong>Die</strong> Gewichtung<br />
von Lob und Kritik hängt dabei sowohl von subjektiven<br />
Wertentscheidungen als auch von entwicklungsstrategischen<br />
Überlegungen ab, die auf entwicklungstheoretische Debatten<br />
der vergangenen Jahrzehnte zurückgreifen. <strong>Die</strong> Leitfrage lautet:<br />
Bilden die MDGs den entwicklungspolitischen Königsweg<br />
für das beginnende 21. Jahrhundert oder erweisen sie sich nach<br />
einer nüchternen Analyse der sozio-ökonomischen und politischen<br />
Strukturen in den Zielländern und der internationalen<br />
Rahmenbedingungen eher als ein Irrweg? Dabei ist eine<br />
von Jutta Kranz-Plote in diesem Band betonte Einschränkung<br />
23
wichtig: <strong>Die</strong> MDGs beschreiben »Mindestvoraussetzungen für<br />
ein menschenwürdiges Leben«, stellen aber keine »umfassende<br />
Entwicklungsagenda« dar.<br />
»Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«<br />
(Willy Brandt)<br />
Das friedens- und entwicklungspolitische Credo von Willy<br />
Brandt, dem Friedensnobelpreisträger und Gründer der Stiftung<br />
Entwicklung und Frieden (SEF), lautete: Ohne Frieden<br />
gibt es keine Entwicklung und ohne Entwicklung gibt es keinen<br />
Frieden. <strong>Die</strong>ses Credo liegt auch der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
zugrunde, wird aber im MDG-Zielkatalog gänzlich ausgeblendet.<br />
Seine Konstrukteure hätten bei der Friedens- und<br />
Konfliktforschung aussagefähige Indikatoren abrufen können,<br />
um den Schlüsselproblemen der Friedenssicherung und politischen<br />
Stabilisierung fragiler Staatsgebilde einen dem Problemdruck<br />
angemessenen Stellenwert zu geben.<br />
Welche elementare Bedeutung die Friedenssicherung für<br />
die Bekämpfung der Massenarmut hat, kann am Beispiel<br />
des an mineralischen Rohstoffen ungemein reichen, aber von<br />
Warlords und räuberischen Milizen terrorisierten sowie von<br />
externen Beutemachern ausgeplünderten Kongo ver deutlicht<br />
werden. <strong>Die</strong>ses potenziell reiche Land im Zentrum Afrikas<br />
könnte die Armut aus eigener Kraft überwinden – könnte,<br />
wenn ihm mit internationaler Hilfe die Wiederherstellung einer<br />
funktionierenden Staatlichkeit und politische Stabilisierung<br />
gelingen würden; und wenn es außerdem die entäußerte<br />
Verfügungsgewalt über seinen Ressourcenreichtum zurück gewinnen<br />
könnte. Darüber hinaus ist dann allerdings good governance<br />
die bare Voraussetzung, dass dieser Reichtum auch der<br />
Bevölkerung zugute kommt.<br />
Ähnlich verhält es sich bei anderen fragilen oder schon kollabierten<br />
Staatsgebilden (failing states), zu denen in Afrika süd-<br />
24
lich der Sahara ein Viertel aller Staaten gezählt wird (Debiel/<br />
Werthes 2006). Sie sind allesamt beim Human Development Index<br />
und beim Poverty Index von UNDP oder beim neuen Bertelsmann<br />
Transformation Index an das Ende der Ranking-Tabellen<br />
zurückgefallen. Wie dramatisch die Lage in dieser Ländergruppe<br />
ist, belegte das britische Department for International Development<br />
(DFID) mit Zahlen: <strong>Die</strong> Müttersterblichkeit beispielsweise<br />
liegt hier dreimal so hoch wie in anderen armen Ländern.<br />
<strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeit, dass die MDGs in diesen Ländern umgesetzt<br />
werden können, schätzt das DFID auf unter 20 %.<br />
Es ist also nicht nachvollziehbar, warum sich die MDGs<br />
auch bei den Zielvorgaben und Indikatoren über das Kardinalproblem<br />
der Sicherheit ausschweigen. VENRO hat hierzu<br />
erste Anregungen entwickelt und schlägt unter anderem eine<br />
Beschränkung des Waffenhandels und die Reduzierung der<br />
nationalen Rüstungsausgaben als konkrete Ziele vor (VENRO<br />
2006, 7). Allerdings kann die kontrollierte Lieferung von militärischen<br />
Ausrüstungsgütern sinnvoll und notwendig sein, um<br />
nationale Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, das staatliche<br />
Gewaltmonopol und die innere Sicherheit zu bewahren.<br />
Keine Entwicklung ohne good governance,<br />
Demokratie und Menschenrechte<br />
Der UN-Generalsekretär räumte in seinem programmatischen<br />
Bericht zum <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel unter dem Titel »In Larger<br />
Freedom« der Demokratie und den Menschenrechten einen<br />
ebenso hohen Stellenwert wie der Entwicklung und der Friedenssicherung<br />
ein. Dagegen hatte die diplomatische Rücksichtnahme<br />
der MDG-Konstrukteure auf die politischen Empfindlichkeiten<br />
vieler Entwicklungsländer abermals zur Folge,<br />
dass das Grundübel bad governance, vor allem in Gestalt der alle<br />
Lebensbereiche und politischen Entscheidungsebenen durchdringenden<br />
Korruption, verschwiegen wird. Uwe Holtz er-<br />
25
kennt in seinem Beitrag im Zurückfallen der MDGs hinter die<br />
starken Bekenntnisse der <strong>Millennium</strong>-Erklärung und vieler anderer<br />
internationaler Konferenzbeschlüsse zu Demokratie und<br />
Menschenrechten die entscheidende Schwach- und Bruchstelle.<br />
Für ihn bildet eine auf der Achtung der Menschenrechte<br />
beruhende Demokratie die Voraussetzung dafür, dass die Armen<br />
zu ihren Rechten kommen können.<br />
Stephan Klingebiel verweist in seinem Beitrag auf empirische<br />
Nachweise, dass in Afrika good governance die wirtschaftliche<br />
Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst und in einer engen<br />
Wechselwirkung mit der Anfälligkeit für Gewaltkonflikte<br />
steht. Und was folgt aus dem Mangel an diesen politischen<br />
Voraussetzungen? Selbst wenn die reichen Länder aufbringen<br />
sollten, was ihnen Jeffrey Sachs in seinem Bericht zum <strong>Millennium</strong>-Projekt<br />
abverlangte, nämlich eine sofortige Verdoppelung<br />
und bis 2015 eine Verdreifachung des derzeitigen Volumens<br />
öffentlicher Entwicklungsgelder (Official Development<br />
Assistance, ODA), könnten diese mangels funktionierender<br />
Rechts- und Verwaltungsstrukturen nicht sinnvoll eingesetzt<br />
werden. Afrika galt deshalb schon als over-aided. Eine Erfolge<br />
versprechende Armutsbekämpfung setzt die Überwindung<br />
schlechter Regierungsführung, die Bekämpfung des vielerorts<br />
wuchernden Krebsgeschwürs der Korruption und die Herstellung<br />
rechtsstaatlicher Verhältnisse voraus. Erst dann können<br />
externe Subsidien zur Verwirklichung der MDGs beitragen.<br />
Uwe Holtz stellt eine bemerkenswerte Korrelation her: <strong>Die</strong><br />
Halbierung undemokratischer, schlecht regierter Staaten mit<br />
einem hohen Grad der Korruption könnte die von den MDGs<br />
angestrebte Halbierung der Armut eher bewirken als eine Verdoppelung<br />
der ODA. Deshalb plädiert er nachdrücklich für<br />
die Ergänzung des MDG-Zielkatalogs um ein neuntes MDG,<br />
das lautet: »Diktaturen überwinden«. Allerdings ist angesichts<br />
der Stimmenverteilung in UN-Gremien die Realisierung dieser<br />
Forderung ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem sollte angemerkt<br />
werden, dass das emphatische Plädoyer für das univer-<br />
26
selle Leitbild der parlamentarischen Demokratie auch Antworten<br />
auf die alte entwicklungs- und demokratietheoretische<br />
Streitfrage geben muss, unter welchen sozio-ökonomischen<br />
und sozio-kulturellen Bedingungen ein solches Modell überhaupt<br />
funktionieren kann.<br />
<strong>Die</strong> Entwicklungspolitik hatte immer ein Problem mit<br />
schlecht regierten und korrupten Regimen. Das Problem, das<br />
sich auch bei der Umsetzung der MDGs stellt, liegt darin, dass<br />
politische Sanktionen nicht die ohnehin malträtierte Bevölkerung<br />
treffen sollen. Dann bleibt nur die von Uwe Holtz aufgezeigte<br />
Konsequenz, dass die bi- und multilaterale Gebergemeinschaft<br />
mehr Energie in die politische Stabilisierung fragiler<br />
Staatswesen und in die Förderung rechtsstaatlicher und<br />
demokratischer Strukturen investiert, um Voraussetzungen<br />
zu schaffen, dass die ODA nicht in Fässern ohne Böden verschwindet.<br />
Soziale Ungleichheit als<br />
verschwiegene Ursache von Armut<br />
Vor einigen Jahren rang sich die Weltbank, die politische Bewertungen<br />
zu scheuen pflegt, zu der mit Daten unterfütterten<br />
Aussage durch, dass in Lateinamerika schon eine gerechtere<br />
Besteuerung der oberen Einkommensgruppen genügend Mittel<br />
für eine wirksame Armutsbekämpfung aus eigener Kraft<br />
mobilisieren könnte. Auch ihre Bewunderung für das »ostasiatische<br />
Wunder« versah sie mit dem Hinweis, dass hier die<br />
Armut deshalb deutlich verringert werden konnte, weil das<br />
wirtschaftliche Wachstum für eine aktive Sozialpolitik genutzt<br />
wurde. <strong>Die</strong> internationalen Einkommensstatistiken belegen,<br />
dass der Anteil der 20 % reichsten Privathaushalte am nationalen<br />
Einkommen nicht nur in Lateinamerika, sondern auch<br />
in Afrika südlich der Sahara deutlich über dem Durchschnitt<br />
der Industrieländer liegt (Fues 2006). Es gibt deshalb nicht nur<br />
27
das ethische Postulat der Gerechtigkeit, sondern auch entwicklungspolitische<br />
Gründe, warum der Weltentwicklungsbericht<br />
2006 der Weltbank das Thema der Gleichheit (equity) in den<br />
Mittelpunkt stellte.<br />
Karin Küblböck wertet in ihrem Beitrag die MDGs zu einer<br />
»Schmerztherapie« ab, die Krankheitsbeschwerden nur lindert,<br />
aber die Krankheit nicht heilt. Ihre Diagnose wird durch die<br />
Tatsache erhärtet, dass die MDGs die internen und internationalen<br />
Ausprägungen sozialer Ungleichheit und die Ungerechtigkeiten<br />
in der Verteilung von Ressourcen völlig tabuisieren.<br />
Viele empirische Studien, auf die Küblböck hinweist, belegen,<br />
dass extreme Ungleichheit nicht nur ein Wachstumshindernis<br />
darstellt, weil sie die Kaufkraft von Bevölkerungsmehrheiten<br />
schmälert und große Teile der Bevölkerung von produktiven<br />
Tätigkeiten ausschließt, sondern auch die extreme Armut verfestigt.<br />
<strong>Die</strong> altbekannten Argumente der Wachstumstheoretiker,<br />
die im neoliberalen Washington-Konsensus wieder aufgefrischt<br />
wurden, waren seit den 1950er Jahren immer wieder Gegenstand<br />
heftiger wirtschafts- und entwicklungstheoretischer<br />
Kontroversen: Eine Umverteilung der Wachstums gewinne<br />
verringere die Spar- und Investitionsrate, weil die Armen jeden<br />
zusätzlichen Dollar konsumieren würden, oder gefährde<br />
gar die politische Stabilität, weil sich die Besitzer von Produktionsmitteln<br />
nicht widerstandslos schröpfen ließen – als ob sich<br />
die Nichtbesitzer von Produktionsmitteln auf Dauer widerstandslos<br />
schröpfen lassen. <strong>Die</strong> Geschichte der sozialen Marktwirtschaft<br />
lässt den Schluss zu, dass solche Argumente »theoretisch<br />
dünn, empirisch falsch und in der Praxis zynisch« sind<br />
(Berner 2005, 248).<br />
Hier stellt sich auch die Frage, ob die Fundamentalkritik von<br />
Ross Herbert an der MDG-Strategie und sein Plädoyer für eine<br />
Wachstumsstrategie für Afrika mehr überzeugen kann als die<br />
Vorschläge des Sachs-Berichts. Herbert wirft den MDGs übermäßige<br />
Vereinfachung und falsche Schwerpunktsetzung vor.<br />
28
Sie würden die Aufmerksamkeit von Investitionen ablenken,<br />
die das Wachstum und den Arbeitsmarkt direkt ankurbeln. Er<br />
stellt deshalb einen Katalog von <strong>Millennium</strong>-Wachstumszielen<br />
auf. Sein Beitrag stellt ein provozierendes Kontrastprogramm<br />
zur MDG-Programmatik dar, das sich weitgehend mit den Forderungen<br />
des jüngsten UNCTAD-Berichts über die am wenigsten<br />
entwickelten Länder (LDCs) deckt. <strong>Die</strong> UN-Konferenz für<br />
Handel und Entwicklung (UNCTAD) warnt ebenfalls davor,<br />
mehr Geld in ein falsches Entwicklungsmodell mit sozialpolitischem<br />
Fokus zu pumpen und fordert einen Paradigmenwechsel,<br />
der die Förderung produktiver Kapazitäten in den Mittelpunkt<br />
rückt (UNCTAD 2006, 283ff.). Konkret fordert sie eine<br />
Ergänzung des MDG-Zielkatalogs für die LDCs beispielsweise<br />
um eine Wachstumsrate von 7 % oder eine Investitionsquote<br />
von 25 % (jeweils pro Jahr, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt)<br />
(UNCTAD 2006, 30).<br />
Nicht vergessen werden darf jedoch die Erkenntnis, dass<br />
Wachstum zwar notwendig ist, allein das Armutsproblem<br />
aber nicht lösen kann, weil es nur dann nach der trickle down-<br />
Annahme zu den Armutsgruppen durchsickert, wenn diese<br />
mittels einer aktiven Sozial- und Umverteilungspolitik an den<br />
Wachstumserfolgen beteiligt werden. So forderte Social Watch<br />
die Regierungen vor dem <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel zu einer Politik<br />
der Reduzierung von Ungleichheiten auf, einschließlich einer<br />
»redistributiven Steuerpolitik« (Social Watch Deutschland<br />
2005, 55).<br />
Ohne Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen<br />
keine Überwindung der Armut<br />
<strong>Die</strong> Kernthese des Beitrags von Franz Nuscheler lautet: <strong>Die</strong><br />
Imperative der Nachhaltigkeit, welche die <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
zu den vier prioritären Handlungsfeldern zählt, erhielten<br />
im MDG-Zielkatalog nicht den Stellenwert, den ihnen bereits<br />
29
die Rio-Konferenz von 1992 gegeben hatte. Das Jahresgutachten<br />
2005 des »Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung<br />
Globale Umweltveränderungen« (WBGU) über »Armutsbekämpfung<br />
durch Umweltpolitik« liefert hierzu zahlreiche unterstützende<br />
Argumente.<br />
Viele Menschen sind inzwischen existenziell durch Umweltkrisen<br />
verschiedenen Ursprungs mehr bedroht als durch<br />
Kriege. So übersteigt die Zahl der Umweltflüchtlinge, die der<br />
Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen entfliehen müssen, inzwischen<br />
die Zahl der Kriegsflüchtlinge – und sie wird nach<br />
Prognosen internationaler Organisationen weiter dramatisch<br />
ansteigen. Arme Menschen leiden nicht nur besonders unter<br />
lokalen Umweltproblemen wie Wasserverschmutzung oder<br />
Bodendegradation, die ihre Lebensgrundlagen und ihre Gesundheit<br />
bedrohen, sondern auch unter den Folgen des Klimawandels.<br />
Sie haben nicht zuletzt gravierende Auswirkungen<br />
auf die Gesundheit (Sauerborn 2006).<br />
Eine offensive Klimapolitik über das Kioto-Regelwerk hinaus<br />
ist deshalb für eine langfristig Erfolg versprechende<br />
Verwirklichung der MDGs wichtiger oder zumindest ebenso<br />
wichtig wie das Bohren von vielen Brunnen im Sahel, die bald<br />
versanden werden; die Umsetzung der »Wüstenkonvention«<br />
ist für die langfristige Ernährungssicherung ebenso wichtig<br />
wie viele mehr oder weniger erfolgreiche Agrarprojekte. Es<br />
war konsequent, dass die britische NGO Christian Aid angesichts<br />
der apokalyptischen Folgen des Klimawandels forderte,<br />
dem MDG-Zielkatalog die Reduktion der CO 2 -Emissionen als<br />
neuntes MDG hinzuzufügen (Christian Aid 2006, 3; vgl. auch<br />
VENRO 2006, 8).<br />
Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine<br />
globale nachhaltige Entwicklung eine Energiewende, vor<br />
allem durch eine stärkere Nutzung von erneuerbaren Energien<br />
voraussetzt (WBGU 2003). <strong>Die</strong>sen Zusammenhang ignoriert<br />
das MDG 7, das die environmental sustainability sichern soll. Es<br />
ignoriert auch das gravierende Problem der Energiearmut, also<br />
30
den Tatbestand, dass etwa zwei Milliarden Menschen keinen<br />
Zugang zu sauberer Energie in Form von Elektrizität haben.<br />
Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben gezeigt,<br />
dass jährlich rund 900.000 Kinder und 700.000 Erwachsene,<br />
unter ihnen vor allem Frauen, an der Vergiftung von Innenräumen<br />
durch das Verbrennen von Biomasse (Holz, Tierdung)<br />
sterben.<br />
Dass die Imperative der Nachhaltigkeit eher den Rang einer<br />
pflichtschuldigen Marginalie denn einen dem Problem<br />
angemessenen Stellenwert erhielten, liegt auch an der unterschiedlichen<br />
Interessenlage von Industrie- und Entwicklungsländern.<br />
Letztere halten den Umweltschutz noch immer für einen<br />
postmaterialistischen Luxus, der die eigene Entwicklung<br />
und Ressourcennutzung behindert; und sie können mit guten<br />
Gründen darauf verweisen, dass die OECD-Länder für den<br />
Klimawandel und für die Verschwendung knapper und nichterneuerbarer<br />
Ressourcen hauptverantwortlich sind. Auf diese<br />
Weise verflüchtigt sich der »Geist von Rio«, der Umwelt und<br />
Entwicklung in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht<br />
hatte.<br />
<strong>Die</strong> Entproblematisierung des Bevölkerungswachstums<br />
Jeder der jährlich vom Weltbevölkerungsfonds (UNFPA) vorgelegten<br />
Berichte belegt mit einer Fülle von Daten, dass die Geburtenraten<br />
zwar auch in den Entwicklungsländern deutlich<br />
sinken, aber immer noch dort am höchsten sind, wo die Statistiken<br />
die größte Armut ausweisen. In Afrika südlich der Sahara<br />
leben drei Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.<br />
Dort wird die Bevölkerung von heute rund 750 Mio. bis zur<br />
Jahrhundertmitte auf geschätzte 1,7 Mrd. anwachsen, sich also<br />
mehr als verdoppeln – falls die internationalen Programme zur<br />
Bildungs- und Gesundheitsförderung sowie zur Familienplanung<br />
nicht doch noch eine Trendumkehr bewirken.<br />
31
<strong>Die</strong> Statistiken belegen einen eindeutigen Zusammenhang<br />
zwischen der Verbesserung der Sozialindikatoren (Lebenserwartung<br />
bei Geburt, Kindersterblichkeit und Alphabetisierungsrate)<br />
und der Verringerung des Bevölkerungswachstums,<br />
gleichzeitig eine Korrelation zwischen der Entwicklung der Bildungs-<br />
und Gesundheitssysteme und dem Gebrauch von Verhütungsmitteln.<br />
Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass mit<br />
steigendem Bildungsstand von Männern und Frauen die Kinderzahl<br />
sinkt und Familienplanung zu einer gesellschaftlichen<br />
Norm wird. <strong>Die</strong> entwicklungs- und bevölkerungspolitischen<br />
Erfolgsländer in Ost- und Südostasien, in Afrika auch der Inselstaat<br />
Mauritius, haben gezeigt, dass nur eine Kombination<br />
von sozialer Entwicklung und Familienplanung das Bevölkerungswachstum<br />
unter eine bedrohliche Marke drücken kann.<br />
Hohes Bevölkerungswachstum belastet die verknappenden<br />
Ressourcen von Lebensraum, Nahrung und Wasser sowie<br />
die Bildungs- und Gesundheitssysteme zusätzlich; eine<br />
Verringerung der Massenarmut ohne massive und gezielte Investitionen<br />
in die Familienplanung wird nicht möglich sein.<br />
Wir schließen uns zwar nicht der populären Dramatisierung<br />
der »Bevölkerungsexplosion« an, die in Unkenntnis der vielfältigen<br />
Ursachen von Armut diese vor allem der »B-Bombe«<br />
anlastet. Dennoch dürfen wir uns nicht der empirisch hinreichend<br />
belegten Einsicht verschließen, dass Armut das Bevölkerungswachstum<br />
anschiebt und dieses wiederum die Überwindung<br />
von Armut erschwert.<br />
Es ist deshalb schwer nachvollziehbar, dass die MDGs<br />
dieses entwicklungspolitische Schlüsselproblem nicht anpacken.<br />
Beim Indikator zur Empfängnisverhütung (Indikator 19<br />
zum MDG 6) geht es allein um die Benutzung von Kondomen<br />
zur HIV-Prävention. Es fehlt der Rückgriff auf den »Kairo-Prozess«,<br />
der 1994 von der Weltbevölkerungskonferenz eingeleitet<br />
wurde. Das von dieser Konferenz verabschiedete Aktionsprogramm<br />
gab überzeigende Hinweise, was nationale Regierungen<br />
und internationale Entwicklungsagenturen zur »re-<br />
32
produktiven Gesundheit«, zur wirksamen Eindämmung des<br />
Bevölkerungswachstums und damit auch zum Erreichen der<br />
MDGs tun müssten. Es enthält alle Kernelemente der MDGs 1<br />
bis 6, stellt aber einen entwicklungs- und bevölkerungspolitischen<br />
Zusammenhang her, den der MDG-Zielkatalog vermissen<br />
lässt.<br />
Gender: eine Schmalspuragenda im MDG-Zielkatalog<br />
»Armut ist weiblich« – diese oft zitierte Feststellung verweist<br />
auf die Tatsache, dass Frauen am häufigsten von Armut betroffen<br />
sind. Ohne aktive Beteiligung von Frauen wird deshalb<br />
keine Strategie der Armutsbekämpfung erfolgreich sein können.<br />
Dabei reicht es keinesfalls aus, wie Veronika Wittmann<br />
in ihrem Beitrag deutlich macht, die Stärkung der Frauen auf<br />
ein einzelnes MDG zu beschränken. Geschlechtergerechtigkeit<br />
muss vielmehr als übergreifendes, umfassendes Konzept – als<br />
Querschnittsthema – verstanden werden. Zwar kann es als Erfolg<br />
gewertet werden, dass die Förderung der Gleichstellung<br />
der Geschlechter und das Empowerment von Frauen Eingang<br />
in den MDG-Zielkatalog gefunden haben. Doch die Einschränkung<br />
dieses Ziels auf die Gleichstellung in der Schulbildung,<br />
auf dem formellen Arbeitsmarkt und in nationalen Parlamenten<br />
durch die Indikatoren zu MDG 3 haben in der Frauenbewegung<br />
zu Vorwürfen wie »Schmalspuragenda« oder »Täuschungsmanöver«<br />
geführt. Kritisiert wird unter anderem, dass<br />
überprüfbare Zielquoten, zum Beispiel ein 30 %-Anteil von<br />
Frauen in Parlamenten, gänzlich fehlen.<br />
Auch Empowerment-Indikatoren sind nicht zu finden. Birte<br />
Rodenberg (2005, 65) verweist beispielsweise auf diskriminierende<br />
Erbschafts- und Eigentumsrechte, die zur extrem<br />
schwachen »wirtschaftlichen Verfügungsmacht« von Frauen<br />
beitragen. Veronika Wittmann kritisiert, dass das Ziel des Empowerment<br />
zu einem »unwesentlichen Nebenelement« ver-<br />
33
komme und die Rolle von Frauen als Hauptakteurinnen von<br />
Entwicklung vernachlässigt werde. Statt als Rechtssubjekte<br />
würden Frauen lediglich als Unterstützungsbedürftige und<br />
Zielgruppe von Investitionen wahrgenommen. Kritische Themen<br />
wie reproduktive und sexuelle Rechte sowie psychische<br />
und physische Gewalt gegen Frauen würden von den MDGs<br />
ebenso ausgeblendet wie die notwendigen Veränderungen von<br />
Hierarchien und Machtverhältnissen. Somit fallen die MDGs<br />
deutlich hinter das Aktionsprogramm der Weltfrauenkonferenz<br />
von Beijing und das Abkommen der Vereinten Nationen<br />
zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen<br />
(CEDAW) zurück.<br />
Social Watch forderte deshalb unter anderem »sinnvolle<br />
Ziele und Indikatoren« zur Messung des Fortschritts bei der<br />
Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit bei Entwicklungsstrategien.<br />
Zehn Prozent der Mittel sollten speziell zur<br />
Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und von Empowerment<br />
der Frauen aufgewendet werden. Auch im Kontext von<br />
MDG 8 müssten Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Geschlechter<br />
– etwa im Rahmen der PRSP-Prozesse – identifiziert<br />
werden (Social Watch Deutschland 2005, 57). Rodenberg (2005,<br />
63) kam nach einer Analyse der vorliegenden PRS-Papiere zu<br />
dem Ergebnis, dass bislang »die Lebensrealitäten armer Frauen<br />
und ihre geschlechtsspezifischen Interessen unberücksichtigt«<br />
bleiben.<br />
Mehr Geld allein kann das Armutsproblem nicht lösen<br />
Das MDG 8 fasst mit sieben Zielvorgaben die auf vielen Nord-<br />
Süd-Konferenzen erhobenen und in den Aktionsprogrammen<br />
der Weltkonferenzen konsensual verabschiedeten Forderungen<br />
des Südens an die OECD-Länder zusammen. Was die<br />
Zusagen wert sind, wurde besonders bei der Zielvorgabe 12<br />
deutlich, welche die Entwicklung eines offenen, regelgestütz-<br />
34
ten und nicht-diskriminierenden Finanz- und Handelssystems<br />
fordert. Das möglicherweise endgültige Scheitern der »Doha-<br />
Runde« im Sommer 2006 bedeutet vor allem für die Entwicklungsländer<br />
ein handelspolitisches Fiasko, obwohl durchaus<br />
begründete und durch die Entwicklungsgeschichte der alten<br />
und neuen Industrieländer belegte Zweifel bestehen, ob der<br />
von der Welthandelsorganisation (WTO) vorangetriebene Freihandel<br />
wirklich die verheißenen Vorteile bringt (vgl. den Beitrag<br />
von Küblböck).<br />
<strong>Die</strong> öffentliche Debatte konzentriert sich vor allem auf die<br />
Verheißungen größerer Geldströme aus dem Norden in den<br />
Süden. Etwas versteckt in den Indikatoren zur »Entwicklungspartnerschaft«<br />
verpflichten sich die OECD-Länder – allerdings<br />
ohne konkrete Zeitvorgabe – zur Steigerung ihrer ODA auf<br />
das berühmt-berüchtigte UN-Ziel von 0,7 % des Bruttonationaleinkommens<br />
(BNE) und deren stärkere Ausrichtung auf<br />
die MDGs. <strong>Die</strong> OECD-Länder haben sich zu einem Stufenplan<br />
durchgerungen, der bis zum Jahr 2010 das »Barcelona-Ziel«<br />
von 0,51 % des BNE anvisiert und bis 2015 das »UN-Ziel« von<br />
0,7 % in Reichweite rücken soll. Schon die mittelfristigen Haushaltsplanungen<br />
in mehreren OECD-Ländern nähren Zweifel,<br />
ob den Versprechen auch Taten folgen werden.<br />
Ob das umstrittene »UN-Ziel«, das manche schon für eine<br />
»Schimäre« oder gar für eine »Absurdität« halten, irgendwann<br />
oder sogar schon 2015 erreicht werden kann, ist allerdings nicht<br />
nur eine Frage des politischen Willens. Wenn Afrika schon jetzt<br />
als over-aided gilt, weil die milliardenschwere Afrika-Hilfe nicht<br />
die erhofften Erfolge erzielte, dann sind Zweifel berechtigt, ob<br />
ein big push den gordischen Knoten von Unterentwicklung und<br />
Armut lösen könnte. Der Beitrag von Stephan Klingebiel attestiert<br />
dem vom Sachs-Bericht propagierten Konzept mit überzeugenden<br />
Argumenten, keine Patentlösung für den Ausbruch<br />
aus der Armutsfalle zu offerieren.<br />
<strong>Die</strong> Finanzierungsfrage bildet also nicht den »strategischen<br />
Knackpunkt« bei der Umsetzung der MDGs, wie häufig zu hö-<br />
35
en ist, vor allem bei Stellungnahmen von Repräsentanten des<br />
Südens, aber auch von NGOs hierzulande. Es geht zunächst<br />
nicht um mehr Geld, sondern um einen zielgerichteten Einsatz<br />
des bereits verfügbaren Geldes – und zwar sowohl auf<br />
Seiten der Gebergemeinschaft als auch auf Seiten der Zielländer.<br />
Schon jetzt stellt sich die Frage, ob die vorhandenen Mittel<br />
tatsächlich vorwiegend in die so genannte »soziale Priorität«<br />
der Armutsbekämpfung investiert werden (und werden sollten).<br />
Richard Brand unterlegt in seinem Beitrag mit harten Fakten,<br />
dass die deutsche Entwicklungspolitik bei der Umsetzung<br />
der MDGs und des von der Bundesregierung beschlossenen<br />
»Aktions programm 2015« kräftig nachbessern muss. Sein Beitrag<br />
fasst die kritischen Diskussionen in der NGO-Szene über<br />
die »Wirklichkeit der Entwicklungshilfe« zusammen.<br />
Der Beitrag von Jutta Kranz-Plote, die im Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(BMZ) tagtäglich mit den Herausforderungen bei der operativen<br />
Umsetzung der MDGs konfrontiert ist, macht deutlich,<br />
dass es schwierig ist, das richtige Maß an Unterstützung zu finden<br />
und bei allen Maßnahmen die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit<br />
zu sichern. Ihr Beitrag erinnert nachdrücklich<br />
daran, das die Verdopplung oder gar Verdreifachung<br />
des ODA-Volumens allein noch nicht alle Prob leme der armen<br />
Welt lösen kann; dass sowohl die internatio nale Gebergemeinschaft<br />
als auch die Empfängerländer noch tragfähige Strukturen<br />
der »Entwicklungspartnerschaft« aufbauen müssen. Natürlich<br />
muss einer Vertreterin des BMZ auch daran gelegen<br />
sein, das eigene »Haus« in das richtige Licht zu rücken, indem<br />
sie bei der Umsetzung des MDG-Zielkataloges auf Schwierigkeiten<br />
im internationalen Umfeld und vor allem bei den<br />
Partnerländern im Süden hinweist. Aber ihre Lektion ist für<br />
alle heilsam, die nur die Ziele rezitieren, ohne über die komplizierten<br />
und häufig steinigen Wege zum Erreichen der Ziele<br />
nachzudenken.<br />
36
Trotz der vielfältigen Ursachen von Armut und der operativen<br />
Umsetzungsprobleme hängt für die UN-Sonderbeauftragte<br />
für die <strong>Millennium</strong> Campaign, Eveline Herfkens, und ihre<br />
Mitarbeiterin Mandeep Bains der Erfolg des MDG-Projekts<br />
wesentlich davon ab, dass die Industrieländer ihre im MDG 8 –<br />
allerdings ohne konkrete Zeitvorgaben – eingegangenen Verpflichtungen<br />
einhalten. <strong>Die</strong> Schärfe ihrer Kritik beruht auch<br />
auf der Erfahrung, dass in den ersten fünf Jahren nach dem<br />
New Yorker <strong>Millennium</strong>-Gipfel nicht geschah, was zur schrittweisen<br />
Verwirklichung der MDGs hätte geschehen müssen.<br />
Eveline Herfkens hält im Rahmen der <strong>Millennium</strong> Campaign in<br />
allen Hauptstädten flammende Reden und spricht damit den<br />
Entwicklungspolitikern aus dem Herzen, kann aber die Finanzminister<br />
nicht dazu bewegen, ihre Knauserigkeit bei der<br />
Aufstellung der Entwicklungshaushalte zu überwinden. Alle<br />
wohlfeilen Bekenntnisse zu den Vereinten Nationen und ihren<br />
Projekten sollen weder viel Geld kosten noch die Welthandelsordnung<br />
zum eigenen Nachteil verändern.<br />
Ist das Glas halb voll oder halb leer?<br />
Angesichts der vielen berechtigten Kritikpunkte an den<br />
MDGs – die sich, wie eingangs dargestellt, nicht gegen das Ziel<br />
der Armutsminderung, sondern gegen den vorgegebenen Pfad<br />
richten – stellt sich die Frage, welche Ergebnisse die MDGs bislang<br />
vorweisen können. Auf der politischen Ebene sieht der<br />
frühere MDG-Beauftragte des Bundesministeriums für wirtschaftliche<br />
Entwicklung und Zusammenarbeit, Klemens van<br />
de Sand, die wesentliche Bedeutung der MDGs darin, »dass<br />
sie einen deutlich spürbaren und belegbaren politischen Prozess<br />
angestoßen haben« (van de Sand 2006, 111). Mit Blick auf<br />
die konkreten Ergebnisse dieses Prozesses zieht Thomas Fues<br />
in seinem Beitrag jedoch eine zwiespältige Bilanz. Nachdem<br />
bereits fast die Hälfte der Zeitspanne bis 2015 abgelaufen ist,<br />
37
lassen sich positive Trends bei der Grundbildung, beim Zugang<br />
zu sauberem Trinkwasser und bei der Senkung der Kindersterblichkeit<br />
feststellen. Kaum Fortschritte gibt es bei der<br />
Eindämmung von Infektionskrankheiten, beim Zugang zu Sanitäranlagen<br />
und beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.<br />
<strong>Die</strong> drohenden Umweltveränderungen könnten gar<br />
jeglichen sozialen Fortschritt zunichte machen. Insgesamt hat<br />
das Tempo der Entwicklungsfortschritte gegenüber den 1970er<br />
und 1980er Jahren abgenommen (van de Sand 2006, 114).<br />
Auch wenn sich bei einigen Zielen, allen voran beim Hauptziel<br />
der Halbierung der Armutsquote, Fortschritte feststellen<br />
lassen, sind diese oft gering oder sehr ungleich verteilt. <strong>Die</strong>s<br />
führt zu einem zunehmenden Gefälle sowohl innerhalb als<br />
auch zwischen Staaten und Regionen. Während Ostasien und<br />
Teile Südasiens »auf Kurs« sind, fällt Afrika südlich der Sahara<br />
weiter zurück. Inwieweit beide Entwicklungen ursächlich mit<br />
den MDGs zusammenhängen, bleibt indes unklar. Folgt man<br />
Ross Herbert, so führen möglicherweise gerade die MDGs<br />
dazu, Afrika dauerhaft von Almosen abhängig zu machen.<br />
Jutta Kranz-Plote verweist auf die Schwierigkeit, angesichts<br />
der Komplexität der Aufgabe und der Vielzahl der Akteure einen<br />
direkten Beitrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />
zur Erreichung der MDGs auszumachen.<br />
Fues kritisiert gerade den Beitrag der Industrieländer<br />
zur Erreichung der MDGs. Ihren »wohlklingenden Versprechungen«<br />
seien allenfalls »Trippelschritte« in der Umsetzung<br />
gefolgt. Kritische Faktoren für ein Erreichen der MDGs in der<br />
noch verbleibenden Zeitspanne seien die Mobilisierung zusätzlicher<br />
Finanzmittel sowie eine MDG-förderliche Politik auf<br />
globaler Ebene, also good global governance. Doch fehle es am<br />
politischen Willen, die Strukturen der Weltwirtschaft zu verändern.<br />
<strong>Die</strong>sen Befund teilen Eveline Herfkens und Mandeep<br />
Bains, die deshalb dazu aufrufen, Druck auf die westlichen Regierungen<br />
zur Umsetzung ihrer Zusagen auszuüben.<br />
38
Zusammenfassung: Königsweg oder Irrweg?<br />
<strong>Die</strong> MDGs können keinen entwicklungspolitischen Königsweg<br />
weisen, weil sie keine umfassende Entwicklungsagenda<br />
entwerfen, sondern »Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges<br />
Leben« skizzieren wollen. Bei der Bewertung<br />
der MDGs ist es also wichtig, von ihrer prioritären Zielsetzung<br />
auszugehen. Es bleibt dabei die Frage, ob sie richtige Rezepte<br />
zur Armutsbekämpfung enthalten. <strong>Die</strong>se Frage kann nicht mit<br />
einem eindeutigen Ja oder Nein beantwortet werden. Weil die<br />
MDGs aus diplomatischer Rücksichtnahme Krieg und Staatsverfall,<br />
interne Entwicklungshindernisse von der Korruption<br />
bis zu ausbleibenden Landreformen, das Bevölkerungswachstum<br />
sowie soziale Ungleichheit als strukturelle Ursache von<br />
Armut tabuisieren und die Umwelt- und Genderproblematik<br />
vernachlässigen, bekämpfen sie in der Tat nur Symptome.<br />
Karin Küblböck kritisiert zu Recht die Entpolitisierung und<br />
»Technisierung« der Armut und greift damit Argumente auf,<br />
die auch Kritiker aus dem Süden, zum Beispiel Samir Amin<br />
(2006), ein Klassiker der Dependenztheorie, gegen die MDGs<br />
vorbringen.<br />
Weil die formulierten Ziele politische Schlüsselprobleme erfolgreicher<br />
Armutsbekämpfung nicht anpacken – von Krisenprävention<br />
über good governance, das politische Empowerment<br />
der Armutsgruppen, die Überwindung sozialer Ausgrenzung,<br />
breitenwirksame Wirtschaftsförderung, die Verpflichtung von<br />
Regierungen zur Eigenverantwortung und Fürsorge für ihre<br />
arme Bevölkerung bis hin zu weltwirtschaftlichen Strukturreformen<br />
– laufen sie Gefahr, einen von der internationalen<br />
Entwicklungspolitik lange beschriebenen Irrweg fortzusetzen<br />
oder gar zu verstärken. Ohne verantwortliches Handeln der<br />
Regierenden, das die MDGs nicht mit allem Nachdruck anmahnen,<br />
kann mehr Geld sogar Fehlentwicklungen verstärken,<br />
die schon zur zwiespältigen Erfolgsgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit<br />
gehören.<br />
39
Was bleibt zur Verteidigung des UN-<strong>Millennium</strong>-Projekts?<br />
Erstmals in der Geschichte der internationalen Entwicklungspolitik<br />
hat die an den MDGs orientierte Armutsbekämpfung<br />
eine von allen bi- und multilateralen Akteuren mitgetragene<br />
Priorität erhalten. <strong>Die</strong> MDGs mit ihren quantitativen Ziel- und<br />
Zeitvorgaben und ihrer »Kampagnenfähigkeit« bieten der nationalen<br />
und internationalen Entwicklungspolitik die Chance,<br />
ihrer Rechtfertigungskrise zu entgehen. Sollten die MDGs allerdings<br />
auch nach den noch verbleibenden Jahren bis 2015<br />
weit verfehlt werden, würde die Entwicklungszusammenarbeit<br />
ihren ohnehin geringen Kredit wohl endgültig verspielen.<br />
Eine erfolgreiche Armutsbekämpfung ist, abgesehen von Imperativen<br />
der Humanität und internationalen Solidarität, eine Bedingung<br />
für die Akzeptanz von Solidarleistungen, vor allem<br />
dann, wenn sie noch deutlich gesteigert werden sollen.<br />
<strong>Die</strong>s muss am Ende mit allem Nachdruck betont werden:<br />
Mehr Geld allein kann das weltweite Armutsproblem nicht lösen,<br />
aber ohne mehr Geld kann es auch nicht gelöst werden.<br />
Es wäre ein epochaler Erfolg der Staatengemeinschaft und<br />
der sie bedrängenden internationalen Zivilgesellschaft, wenn<br />
sie bis zum Jahr 2015 für wesentlich mehr Menschen in einer<br />
weiterhin wachsenden Weltbevölkerung die Mindestvoraussetzungen<br />
für ein menschenwürdiges Leben schaffen würde.<br />
Sollte dieses Ziel verfehlt werden, würde den Staats- und Regierungschefs<br />
am Vorabend des Stichjahres 2015 wohl kaum<br />
etwas anderes einfallen als eine Fristverlängerung zur Verwirklichung<br />
der MDGs. Eine solche schlug die Weltbank in realistischer<br />
Vorausschau bereits vor. <strong>Die</strong>s ist kein optimistischer<br />
Ausblick. Nur entschlossenes politisches Handeln könnte diesen<br />
Pessimismus noch entkräften.<br />
40
Literatur<br />
Amin, Samir, 2006: The <strong>Millennium</strong> Development Goals: A Critique from<br />
the South, in: Monthly Review 10/57 (http://www.monthlyreview.<br />
org/0306amin.htm, 14.7.2006).<br />
Berner, Erhard, 2005: Hilfe-lose Illusionen, in: Entwicklung und Zusammenarbeit<br />
(E+Z), Nr. 6, S. 248–249.<br />
Christian Aid, 2006: The Climate of Poverty: Facts, Fears, and Hope. London<br />
et al.<br />
Debiel, Tobias/Sascha Werthes, 2006: Fragile Staaten und globale Friedenssicherung,<br />
in: Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler<br />
(Hg.), Globale Trends 2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt. Frankfurt/M.,<br />
i.E.<br />
Fues, Thomas, 2006: Weltsozialpolitik und Entwicklung, in: Tobias Debiel/<br />
Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends 2007. Frieden –<br />
Entwicklung – Umwelt. Frankfurt/M., i.E.<br />
Fues, Thomas/Brigitte Hamm (Hg.), 2001: <strong>Die</strong> Weltkonferenzen der 90er<br />
Jahre. Baustellen für Global Governance (Reihe EINE Welt der Stiftung<br />
Entwicklung und Frieden, Bd. 12). Bonn.<br />
Martens, Jens, 2005: Das neue Mantra der Entwicklungspolitik, in:<br />
INKOTA-Brief 132 (Juni), S. 5–9.<br />
Rodenberg, Birte, 2005: Gender und Armutsbekämpfung: Sichern neuere<br />
Konzepte und Instrumente auch Frauenrechte?, in: ZTG Bulletin<br />
29/30, S. 59–67.<br />
Sachs, Jeffrey, 2005: Investing in Development: a Practical Plan to Achieve<br />
the <strong>Millennium</strong> Development Goals (UN <strong>Millennium</strong> Project). New<br />
York.<br />
van de Sand, Klemens, 2006: <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>: Herausforderungen<br />
für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, in:<br />
Stephan Klasen et al., Globalisierung und Armut. Wie realistisch sind<br />
die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong> der Vereinten Nationen? (Globale<br />
Solidarität, Bd. 13). Stuttgart, S. 109–122.<br />
Sauerborn, Rainer, 2006: Klimawandel und globale Gesundheitsrisiken, in:<br />
Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends<br />
2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt. Frankfurt/M., i.E.<br />
Social Watch Deutschland, 2005: Report 2005. Handeln statt Versprechen –<br />
Soziale Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung. o.O.<br />
41
UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development), 2006:<br />
The Least Developed Countries Report 2006. Developing Productive<br />
Capacities. New York/Genf.<br />
VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>!<br />
Bonn/Berlin.<br />
WBGU, 2003: Welt im Wandel – Energiewende zur Nachhaltigkeit. Berlin/<br />
Heidelberg/New York.<br />
WBGU, 2005: Welt im Wandel – Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik.<br />
Berlin/Heidelberg/New York.<br />
Wichterich, Christa, 2005: Ein entwicklungspolitischer Katechismus, in:<br />
iz3w Nr. 285, S. 20–23 (http://iz3w.org/iz3w/Ausgaben/285/LP_<br />
s20.html. 15.08.2006).<br />
42
Erster Teil:<br />
Was wurde bislang erreicht?
THOMAS FUES<br />
Ist das Glas halb voll oder halb leer?<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong> in den einzelnen<br />
Weltregionen<br />
Für eine breite Weltöffentlichkeit sind die von allen Mitgliedstaaten<br />
der Vereinten Nationen getragene <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
aus dem Jahr 2000 und das daraus abgeleitete Zielbündel<br />
der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />
Goals, MDGs) die entscheidenden Eckpunkte einer globalen<br />
Strategie zur Armutsreduzierung und globalen Nachhaltigkeit.<br />
Das MDG-Konzept wurde vom <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel<br />
(September 2005) noch erweitert im Hinblick auf menschenwürdige<br />
Arbeit, Frauenrechte und reproduktive Gesundheitsversorgung<br />
(Fues/Loewe 2005). Daneben sind der Monterrey-<br />
Konsens der Konferenz für Entwicklungsfinanzierung und das<br />
Umsetzungsprogramm des Johannesburg-Gipfels für nachhaltige<br />
Entwicklung, beide aus dem Jahr 2002, wichtige Elemente<br />
einer gerechteren Weltordnung – eine Vision, die freilich in der<br />
Praxis erst noch verwirklicht werden muss.<br />
Fast die Hälfte der Frist zur Erreichung der MDGs bis 2015<br />
ist bereits abgelaufen. <strong>Die</strong> Zwischenbilanz 2006 liefert ein<br />
zwiespältiges Bild. <strong>Die</strong> Polarisierung zwischen und innerhalb<br />
der Staaten schreitet voran; die an vielen Stellen erzielten Fortschritte<br />
sind global ungleich verteilt. Einzelne Weltregionen,<br />
beispielsweise Ostasien und Teile Südasiens, sind auf gutem<br />
Kurs. Als wettbewerbsfähige Akteure profitieren sie von der<br />
Ausweitung des Welthandels und der ausländischen Direktinvestitionen.<br />
Für andere Regionen, dies gilt insbesondere<br />
in Afrika südlich der Sahara, und ebenso für marginalisierte<br />
44
Schichten in dynamischen Ökonomien haben sich die Aussichten<br />
– von einzelnen Ausnahmefällen abgesehen – eher verdüstert.<br />
Es müsste schon ein kleines Wunder geschehen, damit<br />
sie die Ziellinie rechtzeitig überschreiten. Allgemein zeigt sich<br />
ein positiver Trend bei den MDGs für Grundbildung, Trinkwasser,<br />
Impfschutz und Senkung der Kindersterblichkeit. Wenig<br />
Anlass zur Hoffnung bietet hingegen die Situation bei Infektionskrankheiten,<br />
Sanitäranlagen und Bewahrung der natürlichen<br />
Lebensgrundlagen.<br />
Der Beitrag der westlichen Industrieländer zur Erreichung<br />
der MDGs, denn es handelt sich ja um eine wechselseitige Verpflichtung,<br />
ist bisher alles andere als zufrieden stellend. Den<br />
wohlklingenden Versprechungen von mehr Entwicklungshilfe,<br />
wirksamer Entschuldung und Handelserleichterungen<br />
sind bisher allenfalls Trippelschritte in der praktischen Umsetzung<br />
gefolgt (Social Watch Deutschland 2005; Kaiser 2006). Vor<br />
allem fehlt es dem Norden am politischen Willen, die von ihm<br />
dominierten Strukturen der Weltwirtschaft und der Globalpolitik<br />
auf den Prüfstand zu stellen. Beunruhigend im Hinblick<br />
auf die künftigen Lebensbedingungen auf diesem Planeten ist<br />
auch das unbeirrbare Festhalten an umweltschädlichen Produktions-<br />
und Konsummustern. Es besteht die Gefahr, dass die<br />
drohenden Umweltveränderungen, zum Beispiel die bereits<br />
jetzt feststellbaren Folgen des Klimawandels, jeden sozialen<br />
Fortschritt untergraben und die Weltgesellschaft schon bald<br />
vor existenzielle Herausforderungen stellen werden (WBGU<br />
2005).<br />
Im Folgenden wird der aktuelle Stand der MDGs in den<br />
Staaten des Südens und den osteuropäischen/zentralasiatischen<br />
Transformationsländern beschrieben. Daran knüpft<br />
sich die Frage, mit welchen Entwicklungsstrategien soziale<br />
Fortschritte erzielt werden können, wie die Industrieländer<br />
ihre Unterstützung ausbauen müssten und welcher institutionelle<br />
Rahmen für die internationalen Bemühungen angemessen<br />
ist.<br />
45
Umsetzungsstand bei den MDGs<br />
MDG 1: Absolute Armut zurückdrängen<br />
Der Bevölkerungsanteil, der mit weniger als 1 US-$ auskommen<br />
muss und an chronischem Hunger leidet, soll halbiert<br />
werden. Für die Länder mit höherem Einkommen, beispielsweise<br />
in Lateinamerika, ist allerdings eher eine Messlatte von 2<br />
US-$ passend. Global betrachtet liegt die Erreichung von MDG<br />
1 (1 US-$ pro Tag) wegen der hohen Wachstumsraten in Ost-<br />
und Südasien im Bereich des Möglichen. <strong>Die</strong> globale Armutsquote<br />
ist seit 1990 von rund 28 % auf derzeit 19 % gefallen. Für<br />
die eine Milliarde Menschen, die heute noch unter dieser extremen<br />
Form von Entbehrung leiden, bedeutet der positive Befund<br />
jedoch nichts. <strong>Die</strong> Fortschreibung aktueller Trends lässt<br />
eine weitere Absenkung auf weltweit 10 % bis 2015 erwarten,<br />
deutlich unter den angestrebten MDG-Wert von 14 %. Dann<br />
wären »nur« noch 600 Mio. Menschen betroffen.<br />
Auffälliges Ergebnis der volkswirtschaftlichen Dynamik in<br />
Ostasien ist das prognostizierte Verschwinden der absoluten<br />
Armut dort. Bereits heute wird die erst für 2015 angestrebte<br />
Messlatte deutlich überboten. Auch die Projektion für Süd asien<br />
spricht für eine erfolgreiche Armutsreduzierung. In Lateinamerika<br />
hingegen stagniert die Entwicklung; die Halbierung<br />
der Armutsquote könnte knapp verpasst werden. Besonders<br />
drastisch fällt die Zielverfehlung in Afrika südlich der Sahara<br />
aus. In der Region ist die Anzahl der absolut Armen seit 1990<br />
um 140 Mio. gestiegen. <strong>Die</strong> Armutsrate verharrt bei über 40 % –<br />
trotz der historisch überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten<br />
in jüngster Zeit.<br />
Eine entscheidende nichtmonetäre Dimension von Armut<br />
betrifft die chronische Mangelernährung. Nur 34 von 143 Ländern<br />
können auf diesem Gebiet die gewünschten Fortschritte<br />
vorweisen. Noch immer leiden 842 Mio. Menschen auf der Erde<br />
unter ständigem Hunger. Nur in Ostasien und Lateinamerika<br />
46
ist die absolute Zahl der Hungrigen zurückgegangen. Besonders<br />
kritisch ist die Lage in Afrika südlich der Sahara. Dort<br />
nimmt die Mangelernährung zu – auch bedingt durch die hohen<br />
HIV/AIDS-Infektionsraten. Erfolge bei der Bekämpfung<br />
des Hungers sind trotz eines niedrigen Durchschnittseinkommens<br />
und widriger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen<br />
möglich, wenn Staat und Gesellschaft entsprechende Prioritäten<br />
setzen. Mit Unterstützung von ausländischen Gebern und<br />
einheimischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hat beispielsweise<br />
die Regierung von Bangladesch ein flächendeckendes<br />
Ernährungsprogramm für Mütter und Kinder als zentrales<br />
Element ihrer Armutsstrategie eingeführt.<br />
MDG 2: Universale Grundbildung durchsetzen<br />
Weltweit kommen derzeit 115 Mio. Kinder nicht in den Genuss<br />
einer schulischen Ausbildung. In nur 37 von 155 Entwicklungsländern<br />
ist der Grundschulabschluss für alle – wie von MDG 2<br />
gefordert – derzeit Realität. In Afrika südlich der Sahara sind<br />
die Probleme am größten. Hier haben derzeit 40 % eines Jahrgangs<br />
überhaupt keinen Zugang zu Grundbildung; die Erreichung<br />
des MDGs in der vorgegebenen Frist ist mehr als unwahrscheinlich.<br />
Auch Südasien wird das Ziel wohl verfehlen.<br />
In den anderen Weltregionen hingegen stehen die Chancen<br />
gut. Im schulischen Bereich lässt sich die durch den MDG-Prozess<br />
ausgelöste Dynamik der internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />
gut dokumentieren. 2002 wurde die Education<br />
for All Fast-Track Initiative (FTI) als erste globale Übereinkunft<br />
im Bildungsbereich zwischen Gebern und Entwicklungsländern<br />
ins Leben gerufen. Das Netzwerk verfolgt das Ziel, Staaten<br />
mit niedrigem Durchschnittseinkommen bei der flächendeckenden<br />
Einführung einer kostenfreien Grundbildung bis<br />
2015 zu unterstützen. Auf Geberseite sind über 30 bilaterale,<br />
regionale und internationale Institutionen vertreten, die sich<br />
47
zu einem hohen Maß an Harmonisierung verpflichtet haben.<br />
Auf Empfängerseite sind bislang 20 Länder beigetreten, deren<br />
bildungspolitische Anstrengungen breite Anerkennung gefunden<br />
haben. Ein herausstechendes Beispiel für schnelle bildungspolitische<br />
Reformen ist Niger, das bis vor kurzem eine<br />
der niedrigsten Einschulungsraten der Welt hatte: Hier wurden<br />
rund 2.500 Lehrer/innen pro Jahr neu eingestellt. Von 1998<br />
bis 2003 stieg deshalb die Einschulungsquote im Primarbereich<br />
um 60 %.<br />
MDG 3: Gleichstellung der Geschlechter verwirklichen<br />
Das einzige MDG, dessen Frist bereits im Jahr 2005 abgelaufen<br />
ist, betrifft die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen.<br />
Zwar konnte das angestrebte Ziel gleicher Einschulungsraten<br />
auf der Primar- und Sekundarstufe nicht erreicht<br />
werden, aber die Lage der Schülerinnen hat sich eindeutig verbessert.<br />
Bis 2015 wird in den meisten Ländern mit einer Angleichung<br />
gerechnet, zumindest im Bereich der Grundbildung.<br />
Auf höheren Ebenen ist die Lage nicht so günstig. Beispielsweise<br />
kommen in Afrika südlich der Sahara nur 68 Mädchen<br />
auf 100 Jungen im tertiären Bildungssektor. In Südasien ist<br />
die Quote mit 71 zu 100 nur wenig besser. Rasche Fortschritte<br />
sind bei entsprechendem politischen Willen möglich. In Bangladesch<br />
beispielsweise umfasst das staatliche Engagement für<br />
Gleichberechtigung im Bildungswesen massive Anreize für<br />
Mädchen durch Stipendien und Bereitstellung von Schulmaterialien.<br />
In Mauretanien wurde die Primareinschulungsrate für<br />
Mädchen enorm gesteigert, von 39 % (1990) auf 85 % (2001). Einer<br />
der Indikatoren von MDG 3 misst die politische Beteiligung<br />
von Frauen an ihrem Sitzanteil in nationalen Parlamenten. Das<br />
inoffizielle Ziel von 30 % wird nur in wenigen Fällen erreicht<br />
(Anfang 2005: 17 Länder). Weltweit lag zu dem Zeitpunkt der<br />
Anteil der weiblichen Parlamentssitze bei 15,9 %, eine leichte<br />
48
Steigerung gegenüber dem Jahr 2000 (13,5 %). Aber auch hier<br />
gibt es Vorreiter. Ruanda steht an der Weltspitze, was die Vertretung<br />
von Frauen in politischen Führungsgremien angeht.<br />
Auf sie entfallen 49 % der Mandate der Nationalversammlung.<br />
Und in Lateinamerika ist der Anteil der weiblichen Sitze von<br />
12 % in 1990 auf jetzt 20 % gestiegen.<br />
MDG 4: Überleben der Kinder sichern<br />
Derzeit sterben jährlich rund 11 Mio. Kinder, das sind 30.000<br />
Kinder pro Tag, bevor sie ein Lebensalter von fünf Jahren erreichen<br />
an vermeidbaren oder heilbaren Krankheiten. In den armen<br />
Ländern stirbt jedes zehnte Kind, während in den reichen<br />
Ländern statistisch nur eines von 143 dieses Schicksal ereilt. <strong>Die</strong><br />
gute Nachricht ist, dass die Kindersterblichkeit in allen Weltregionen<br />
in den vergangenen Jahrzehnten spürbar gesunken<br />
ist (UNICEF 2005). Selbst Afrika südlich der Sahara, das bei allen<br />
anderen Armutsdimensionen extrem schlecht abschneidet,<br />
verzeichnet hier seit 1970 einen leichten Fortschritt (Rückgang<br />
der Sterbequote von 24 % auf 17 %). In Südasien nahm die Rate<br />
in den vergangenen 35 Jahren von über 20 % auf 9 % ab. 117 der<br />
148 Entwicklungsländer, für die Daten erhältlich sind, schaffen<br />
es aber nicht, die Kindersterblichkeit im erforderlichen Tempo<br />
für die fristgerechte Erreichung der MDGs zu reduzieren. In<br />
15 Ländern verschlechtern sich die Gesundheitsbedingungen<br />
für Kinder sogar, darunter befinden sich die Konfliktfälle Kambodscha,<br />
Zentralafrikanische Republik, Elfenbeinküste, Irak<br />
und die HIV/AIDS-betroffenen Länder Botswana, Kenia und<br />
Südafrika. Positiv bei der Senkung der Kindersterblichkeit wirken<br />
sich die Bemühungen um wirksamen Impfschutz unter<br />
Führung der Global Alliance on Vaccines and Immunizations aus.<br />
So hat es seit 2000 einen Rückgang der Masernfälle um 90 % in<br />
19 Ländern Afrikas südlich der Sahara gegeben.<br />
49
MDG 5: Gesundheitsversorgung für Mütter verbessern<br />
Jährlich müssen weltweit mehr als 500.000 Frauen und Mädchen<br />
jedes Jahr bei einer Schwangerschaft oder Geburt ihr Leben<br />
lassen, weil die Gesundheitsversorgung defizitär ist oder<br />
völlig fehlt. Ein wichtiger Indikator für MDG 5 ist der Anteil an<br />
Geburten, die von medizinischem Fachpersonal begleitet werden.<br />
In diesem Bereich haben alle Entwicklungsregionen bis<br />
auf Afrika südlich der Sahara spürbare Fortschritte erzielt. Unter<br />
der Bezeichnung Partnership for Maternal, Newborn, and Child<br />
Health entstand 2005 durch die Fusion von drei bestehenden Initiativen<br />
ein übergreifendes Multiakteursnetzwerk. Seine mehr<br />
als 80 Mitglieder, zu denen Regierungen, staatliche und akademische<br />
Einrichtungen, Gesundheitsorganisationen und internationale<br />
Institutionen wie Weltbank und Weltgesundheitsorganisation<br />
(WHO) gehören, wollen politische Unterstützung<br />
und Finanzen mobilisieren, nationale Planungsprozesse unterstützen<br />
und die Geberkohärenz auf Länderebene verbessern.<br />
MDG 6: Schwere Krankheiten bekämpfen<br />
2005 lebten 40,3 Mio. Menschen mit dem HIV-Erreger, davon<br />
63 % in Afrika südlich der Sahara. Ein Hoffnung machender<br />
Trend ist die wachsende Zahl der HIV/AIDS-Kranken in Entwicklungsländern,<br />
die in den Genuss einer antiretroviraler<br />
Behandlung kommen: 1,65 Mio. 2006 gegenüber weniger als<br />
100.000 im Jahr 2000. <strong>Die</strong>s entspricht einer Versorgungsquote<br />
von 24 %; mehr als 5 Mio. Erkrankte müssen weiter auf die lebensrettenden<br />
Medikamente warten (WHO 2006).<br />
In Argentinien, Brasilien, Chile und Kuba konnten mehrere<br />
hunderttausend Menschenleben gerettet werden, weil der nationale<br />
Versorgungsgrad auf über 80 % geklettert ist. Vorbildlich<br />
sind auch die vorbeugenden Anstrengungen in Simbabwe,<br />
wo es trotz widriger wirtschaftlicher und politischer Rahmen-<br />
50
edingungen gelungen ist, die Ausbreitung des Virus durch<br />
Kondome und Verhaltensänderungen zurückzudrängen.<br />
Für mindestens 1 Mio. Menschen jährlich ist Malaria die<br />
Todesursache, aber die Behandlungsmethoden werden besser<br />
und der Einsatz von imprägnierten Netzen breitet sich aus.<br />
Zum Beispiel hat das kombinierte Programm für Impf- und<br />
Malariaschutz in Togo zu einer Verbreitungsrate von 62 % für<br />
Bettnetze innerhalb weniger Jahre geführt, bei einer Ausgangsposition<br />
von 6 %.<br />
MDG 7: Ökologische Nachhaltigkeit sieht anders aus<br />
MDG 7 erfasst nur einen kleinen Ausschnitt der ökologischen<br />
Nachhaltigkeit. Hier müssten in erster Linie die nichtnachhaltigen<br />
Lebensstile und Konsummuster in den Industrieländern<br />
thematisiert werden. Es macht sich negativ bemerkbar, dass<br />
die auf dem Erdgipfel 1992 begonnene Suche nach aussagekräftigen<br />
Indikatorensystemen für nachhaltige Entwicklung<br />
wegen mannigfaltiger politischer Widerstände im Sand verlaufen<br />
ist (Fues 1998). Der bei MDG 7 angesiedelte Wassersektor<br />
spielt für die menschliche Gesundheit eine zentrale Rolle.<br />
Mehr als 1 Mrd. Menschen auf der Welt hat keinen Zugang<br />
zu sauberem Trinkwasser und mehr als 2,5 Mrd. leiden unter<br />
unzureichender Sanitärversorgung. In Afrika südlich der Sahara<br />
ist die Lage dramatisch: Nur 64 % haben Zugang zu sauberem<br />
Trinkwasser und nur 37 % können Sanitäranlagen nutzen.<br />
Im Bereich der Infrastruktur äußert sich das Stadt-Land-<br />
Gefälle besonders deutlich. In den ärmsten Ländern genießen<br />
83 % der städtischen Bewohner/innen sauberes Trinkwasser,<br />
aber nur 55 % auf dem Land. Vor allem in Afrika setzen sich<br />
zunehmend dezentrale, kleinteilige Lösungen für die Wasser-,<br />
Sanitär- und Elektrizitätsversorgung von armen und isolierten<br />
Bevölkerungsgruppen durch, die meist von Nachbarschaftsgruppen<br />
oder informellen Privatanbietern getragen werden.<br />
51
In der tansanischen Hauptstadt Daressalam wurde beispielsweise<br />
das öffentliche Monopol zur Latrinensäuberung nach<br />
dem Ausbruch einer Seuche aufgehoben. Jetzt können die Verbraucher/innen<br />
zwischen lokalen Unternehmen wählen, die<br />
sich im Wettbewerb bewähren müssen.<br />
Entwaldung, die von einem weiteren Indikator für MDG 7<br />
erfasst wird, findet weiterhin in einem beachtlichen Umfang<br />
statt. Pro Jahr beläuft sich der weltweite Verlust auf rund<br />
13 Mio. Hektar. <strong>Die</strong> Waldbedeckung ist seit 1990 besonders<br />
auffällig in Südostasien zurückgegangen, von 56 % auf 47 %<br />
der gesamten Fläche. Ein Schlüsselindikator für MDG 7, der<br />
allerdings nur die relative, nicht die absolute ökologische Belastung<br />
misst, ist die gesamtwirtschaftliche Energieeffizienz.<br />
Extreme Verbesserungen sind hier in den Transformationsländern<br />
Mittel- und Osteuropas zu verzeichnen, in denen der<br />
Systemwechsel zu massivem Strukturwandel in Industrie und<br />
Ener gieversorgung geführt hat. Auch in Ostasien wurden hohe<br />
Steigerungsraten bei der Energieproduktivität erzielt.<br />
MDG 8: Globale Partnerschaft als ferne Vision<br />
<strong>Die</strong> Operationalisierung der globalen Partnerschaft durch<br />
MDG 8 umfasst wichtige Aspekte der Nord-Süd-Beziehungen.<br />
Da aber feste Zielvorgaben fehlen, handelt es sich hierbei eher<br />
um symbolische Appelle an die Industrieländer ohne jeden<br />
Verpflichtungscharakter. <strong>Die</strong> durchaus vorzeigbaren Fortschritte<br />
im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und Entschuldung<br />
werden durch anhaltende Agrarsubventionen und<br />
Marktabschottung des Nordens konterkariert, eklatante Beispiele<br />
mangelnder Kohärenz. <strong>Die</strong> öffentliche Entwicklungshilfe<br />
(Official Development Aid, ODA) stieg zwar 2005 zum ersten<br />
Mal auf über 100 Mrd. US-$; die Steigerung ist jedoch vor<br />
allem dem Schuldenerlass für Nigeria und Irak zu verdanken.<br />
Im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde sollten die Agrar-<br />
52
Exportsubventionen der Industrieländer bis 2013 abgebaut<br />
werden, aber es ist unklar, ob diese Zusagen nach dem vorläufigen<br />
Scheitern der Welthandelsgespräche Bestand haben<br />
werden.<br />
Kritische Faktoren für die Erreichung der MDGs<br />
Finanzierung der MDGs<br />
<strong>Die</strong> Erreichung der MDGs setzt die Mobilisierung zusätzlicher<br />
Finanzmittel voraus. Bei Niedrigeinkommensländern werden<br />
die öffentlichen Entwicklungsleistungen auf längere Sicht eine<br />
unverzichtbare Rolle spielen. Das <strong>Millennium</strong>sprojekt der Vereinten<br />
Nationen hat die notwendigen jährlichen Entwicklungstransfers<br />
für die weltweite Umsetzung der MDGs auf 135 Mrd.<br />
US-$ für 2006 und auf 195 Mrd. US-$ für 2015 geschätzt (UN<br />
<strong>Millennium</strong> Project 2005). Umstritten ist allerdings, ob in den<br />
Partnerländern überhaupt die Voraussetzungen zur sinnvollen<br />
Verwendung der Mittel gegeben sind (Martens 2005). Kritische<br />
Stimmen warnen mit guten Argumenten vor einer Überforderung<br />
der einheimischen Institutionen und setzen stattdessen<br />
auf ein selektives Vorgehen, das die notwendigen und verkraftbaren<br />
Entwicklungsleistungen im Einzelfall festlegt.<br />
Da die sozialpolitischen MDGs eng mit dem allgemeinen<br />
Zugang zu sozialen Grunddiensten (Grundbildung, Basisgesundheitsdienste<br />
einschließlich der reproduktiven Gesundheitsversorgung,<br />
Trinkwasser und Sanitäranlagen) verbunden<br />
sind, sollten diese Kernbereiche der direkten Armutsbekämpfung<br />
einen angemessenen Stellenwert in den einheimischen<br />
Haushalten sowie in der Entwicklungszusammenarbeit erhalten.<br />
Zu diesem Zweck könnte die so genannte 20 : 20-Initiative<br />
wiederbelebt werden, die anlässlich des Weltsozialgipfels 1995<br />
verabschiedet wurde (UNDP et al. 1998). Damit wurde eine<br />
wechselseitige Verpflichtung zwischen Geberstaaten und Ent-<br />
53
wicklungsländern begründet, mindestens 20 % Entwicklungsgelder<br />
einerseits und der nationalen Budgets andererseits für<br />
soziale Grunddienste zu reservieren (Fues 1996).<br />
Angaben zur öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit<br />
legen den Schluss nahe, dass bereits Verschiebungen in diesem<br />
Sinne stattfinden. <strong>Die</strong> Geberzusagen für Erziehung und<br />
Gesundheit haben sich seit 2000 deutlich erhöht. 2004 wurden<br />
11,4 Mrd. US-$ für Gesundheit und 9,5 Mrd. US-$ für Bildung<br />
über ausländische Hilfe zur Verfügung gestellt. Heute fließen<br />
50 % der Bildungstransfers an arme Länder in den Primarschulbereich,<br />
gegenüber rund 33 % am Ende des vergangenen<br />
Jahrzehnts. Im Gegensatz dazu ist der Anteil für Basisgesundheitsdienste<br />
an der sektoralen Gesamtsumme rückläufig, von<br />
28 % (1999) auf 15 % (2004). Inzwischen gibt es etwa 70 globale<br />
Partnerschaften im Gesundheitswesen, die 2004 mehr als 20 %<br />
der Gesamt-ODA für den Sektor aufgebracht haben. <strong>Die</strong> Pluralisierung<br />
der Akteure ist mit Skepsis zu betrachten ist, da sie<br />
die Kohärenz des Gesamtsystems schwächt und die Transaktionskosten<br />
erhöht.<br />
Noch wichtiger als die Geberleistungen sind die staatlichen<br />
Ausgaben für die sozialen Schlüsselsektoren in den Ländern<br />
selber. Statistische Angaben in diesem Feld sind jedoch spärlich<br />
gesät. <strong>Die</strong> für 2003, dem letzten verfügbaren Jahr, erhältlichen<br />
Daten decken nur 21 von 79 Mittel- und 27 von 57 Niedrigeinkommensländern<br />
ab. <strong>Die</strong>se Zahlen signalisieren einen bescheidenen<br />
Aufwärtstrend für Bildung, während die Finanzierung<br />
des öffentlichen Gesundheitswesens nicht zugenommen hat.<br />
Gesamtwirtschaftliche Strategien und MDGs<br />
Konsens besteht in der internationalen Debatte darüber, dass<br />
die direkte Armutsbekämpfung, etwa über eine Förderung der<br />
sozialen Grunddienste, durch entwicklungsfreundliche politische<br />
Rahmenbedingungen und durch armutsorientierte Wirt-<br />
54
schaftspolitiken (pro-poor growth) flankiert werden muss. Good<br />
governance, also gute Regierungsführung, Partizipation und<br />
Anti-Korruptionsmaßnahmen, werden zunehmend als unverzichtbarer<br />
Bestandteil einer erfolgreichen MDG-Politik thematisiert<br />
(World Bank/IMF 2006). Konsequenterweise müssen<br />
dann aber auch die Industrieländer selbstkritisch reflektieren<br />
und sich von der Weltöffentlichkeit fragen lassen, inwieweit sie<br />
auf internationaler Ebene MDG-förderliche Politiken, also good<br />
global governance, praktizieren.<br />
Der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel hat alle Staaten dazu verpflichtet,<br />
bis 2006 nationale MDG-Strategien zu beschließen, die eng mit<br />
den bereits vorhandenen, häufig von Weltbank und IWF unterstützten<br />
Plänen zur Armutsreduzierung (Poverty Reduction<br />
Strategy Papers) verzahnt werden sollen. Eine zeitnahe Umsetzung<br />
dieser Vorgabe ist aber nicht in Sicht, da den Niedrigeinkommensländern<br />
aus dem UN-System dafür bislang keine<br />
nennenswerte Unterstützung angeboten wird. Wichtig für<br />
langfristige Erfolge im MDG-Prozess ist, das gerade bei Nichtregierungsorganisationen<br />
weit verbreitete Missverständnis<br />
auszuräumen, soziale Ziele seien vor allem durch sozialpolitische<br />
Maßnahmen zu erzielen. Der Bericht des <strong>Millennium</strong>sprojekts<br />
weist zu Recht darauf hin, dass die Zielebenen nicht<br />
mit den Interventionsebenen identisch sind. Wer Grundbildung<br />
fördern will, darf sich beispielsweise nicht ausschließlich<br />
auf diesen Sektor konzentrieren. Insbesondere in Afrika südlich<br />
der Sahara sind Investitionen in die Infrastruktur (Transport,<br />
Energie, Wasser) zur MDG-Verwirklichung erforderlich;<br />
das Bildungswesen muss auch auf höheren Stufen ausgebaut<br />
werden (zum Beispiel im universitären Bereich). Eine MDGorientierte<br />
Entwicklungspolitik muss drei Stoßrichtungen gleichermaßen<br />
verfolgen (Messner/Wolff 2005): Erstens muss sie<br />
unmittelbare Armutsbekämpfung betreiben, um die Lebensverhältnisse<br />
der Armen spürbar zu verbessern (universeller<br />
Zugang zu Grundbildung und Gesundheit, besonders im Hinblick<br />
auf Mädchen). Gleichzeitig muss sie, zweitens, die pro-<br />
55
duktiven Potenziale der Armen entfalten helfen, zum Beispiel<br />
durch Modernisierung der Landwirtschaft und Stärkung des<br />
informellen Sektors. Drittens muss die Wettbewerbsfähigkeit<br />
der dynamischen Wirtschaftssektoren gestärkt und deren Vernetzung<br />
mit den Wirtschaftssektoren der Armen vorangetrieben<br />
werden.<br />
Internationale Überprüfung der MDGs<br />
Eine für die MDGs zentrale Frage bezieht sich darauf, in welchem<br />
Rahmen die Harmonisierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />
und die Arbeitsteilung zwischen<br />
Gebern und Entwicklungsländern organisiert wird. <strong>Die</strong><br />
west lichen Industrieländer setzen in dieser Hinsicht auf den<br />
OECD-Entwicklungsausschuss (Development Assistance Committee,<br />
DAC), wo sie unter sich tagen und nach Bedarf Partner<br />
aus der Entwicklungswelt hinzuladen. <strong>Die</strong> »neuen« Geber des<br />
Südens, zum Beispiel China, Indien, Brasilien und Südkorea,<br />
werden sich auf diese westlich dominierte Plattform nicht einlassen,<br />
aber sie sind durchaus offen für Kooperation. Auf der<br />
programmatischen Ebene hat sich beispielsweise China in seiner<br />
neuen Afrika-Strategie für die Unterstützung der MDGs<br />
ausgesprochen (GoC 2006).<br />
<strong>Die</strong> beste Chance für Erfahrungsaustausch und gemeinsame<br />
Strategiebildung mit Gebern außerhalb des DAC bietet<br />
sich unter dem Dach der Vereinten Nationen. Vor diesem Hintergrund<br />
gewinnt die laufende Reform des UN-Wirtschafts-<br />
und Sozialrats (ECOSOC) neue Bedeutung. <strong>Die</strong>ses bisher weitgehend<br />
einflusslose Gremium soll nach dem Beschluss des<br />
<strong>Millennium</strong>+5-Gipfels eine größere Rolle in der Entwicklungspolitik<br />
einnehmen. Zur Überprüfung der Umsetzungserfolge<br />
bei den MDGs sollen jährliche Sitzungen auf Ministerebene<br />
stattfinden, zu denen auch Berichte der Geber und der internationalen<br />
Institutionen vorgelegt werden. Und alle zwei Jahre<br />
56
wird ECOSOC eine hochrangige Entwicklungskonferenz einberufen,<br />
die einen Kooperationsrahmen für alle maßgeblichen<br />
Akteure bieten soll. In diesem Kontext ließe sich auch eine UN-<br />
Konditionalität etablieren, die sich an den universell gültigen<br />
Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsnormen orientiert – und<br />
nicht einseitig an Geberinteressen. Nach anfänglichem Zögern<br />
hat auch der DAC-Vorsitzende, Richard Manning (2006) die<br />
Chance erkannt, auf diesem Weg die weltweite Verständigung<br />
über gemeinsame Werte, Prinzipien und Verfahren in der Entwicklungszusammenarbeit<br />
voranzubringen.<br />
Fazit und Ausblick<br />
Wie stehen die Chancen zur termingerechten Erreichung der<br />
MDGs heute – nicht nur global, sondern in jedem einzelnen<br />
Land? Viel Anlass für Optimismus gibt es wohl kaum, insbesondere<br />
im Hinblick auf Problemregionen wie Afrika südlich<br />
der Sahara und schwache Staaten, die unter Gewaltkonflikten<br />
und autoritären Systemen leiden. <strong>Die</strong> fehlende Kompromissbereitschaft<br />
der Industrieländer im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde<br />
und andere Erscheinungsformen mangelnder<br />
Kohärenz machen wenig Hoffnung auf weltwirtschaftliche<br />
Weichenstellungen, die für langfristige Erfolge bei den MDGs<br />
unerlässlich sind. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit<br />
kann der Norden weitreichenden Reformen nicht mehr lange<br />
ausweichen. Dabei geht es nicht nur um eine Ausweitung des<br />
Ressourcentransfers, etwa über innovative Instrumente wie die<br />
Flugticketabgabe, sondern auch um die Bereitschaft, laufende<br />
Kosten in den sozialen Schlüsselsektoren zu übernehmen (zum<br />
Beispiel für Lehr- und Gesundheitspersonal). Heute wird nur<br />
ein Drittel der Entwicklungsgelder an die Niedrigeinkommensländer<br />
in Form frei verfügbarer Zuschüsse geleistet; der<br />
Rest nutzt zuallererst der Geberseite, beispielsweise in Form<br />
von hoch dotierten Expertengehältern. Hoffnung machen die<br />
57
zahlreicher werdenden Beispiele von Multiakteursnetzwerken,<br />
insbesondere im Bildungs- und Gesundheitsbereich, in denen<br />
die Ressourcen von Staaten aus Nord und Süd, internationalen<br />
Organisationen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft<br />
gebündelt werden.<br />
Es muss bis 2015 gelingen, in allen Ländern handfeste Fortschritte<br />
bei Armutsreduzierung und ökologischer Nachhaltigkeit<br />
vorzuweisen. Sonst droht ein gravierender Rückschlag in<br />
der Weltöffentlichkeit, der die Legitimationsbasis der Entwicklungszusammenarbeit<br />
insgesamt untergraben könnte (Loewe<br />
2005). Damit dies nicht geschieht, müssen alle Akteure ihre<br />
Interessen neu definieren (Fues 2006). <strong>Die</strong> MDGs sind nicht<br />
ausschließlich als ethisch-humanitäre Selbstverpflichtung zur<br />
weltweiten Durchsetzung von Menschenwürde und nachhaltiger<br />
Entwicklung zu verstehen. Neben diese wichtige Dimension<br />
einer neuen Universalethik tritt das aufgeklärte Eigeninteresse<br />
der reichen Gesellschaften an globaler Stabilität und<br />
Frieden. <strong>Die</strong> Bereitstellung solcher globalen öffentlichen Güter<br />
ist eine unverzichtbare Bedingung für eine gelingende Globalisierung.<br />
In einer immer stärker vernetzten Weltgesellschaft<br />
sind Wohlstand und Sicherheit in den privilegierten Ländern<br />
bedroht, solange Verelendung und soziale Desintegration zur<br />
Auflösung staatlicher Strukturen, Flüchtlingsbewegungen und<br />
Umweltzerstörungen führen. Auch die Eindämmung des internationalen<br />
Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität<br />
bleibt eine Illusion ohne Reduzierung der globalen<br />
Kluft zwischen Arm und Reich.<br />
58
Literatur<br />
Fues, Thomas, 1996: Soziale Prioritäten in der Entwicklungszusammenarbeit.<br />
<strong>Die</strong> 20:20-Initiative im Umsetzungsprozess (Friedrich-Ebert-<br />
Stiftung) Bonn (http://www.fes.de/fulltext/iez/00737toc.htm,<br />
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Loewe, Markus, 2005: <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong> Development Goals. Hintergrund,<br />
Bedeutung und Bewertung aus Sicht der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />
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briefing papers). Berlin (http://library.fes.de/pdf-files/iez/<br />
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Messner, Dirk/Peter Wolff, 2005: <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>.<br />
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Analysen und Stellungnahmen Nr. 5) Bonn.<br />
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59
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UNDP, 2005: Bericht über die menschliche Entwicklung 2005, hg. v. Deutsche<br />
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New York.<br />
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2005: Keine Entwicklung ohne Umweltschutz. Empfehlungen<br />
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Report 2006. <strong>Millennium</strong> Development Goals. Strengthening mutual<br />
accountability, aid, trade, and governance. Washington, D.C.<br />
60
RICHARD BRAND<br />
Mehr Worte als Taten?<br />
Der deutsche Beitrag zur Erfüllung der<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
<strong>Die</strong> auf dem <strong>Millennium</strong>-Gipfel der Vereinten Nationen im<br />
September 2000 verabschiedete <strong>Millennium</strong>-Erklärung behandelt<br />
wesentliche Fragen der zukünftigen Gestaltung der internationalen<br />
Beziehungen im 21. Jahrhundert. Als Handlungsorientierung<br />
für Entwicklung und Armutsbekämpfung wurden<br />
aus der <strong>Millennium</strong>-Erklärung acht <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
(<strong>Millennium</strong> Development Goals, MDGs) abgeleitet,<br />
die es bis 2015 zu erreichen gilt. Betont wird die gemeinsame<br />
Verantwortung von Industrie- und Entwicklungsländern im<br />
Rahmen einer globalen Entwicklungspartnerschaft (MDG 8).<br />
<strong>Die</strong> MDGs haben sich nach schleppendem Beginn mittlerweile<br />
als zentraler Referenzrahmen der internationalen Zusammenarbeit<br />
etabliert.<br />
<strong>Die</strong>s gilt auch für die Debatte in Deutschland. Bundesregierung<br />
und staatliche Entwicklungsorganisationen haben die<br />
MDGs und die <strong>Millennium</strong>-Erklärung als verbindlichen Orientierungsrahmen<br />
integriert. Auch nichtstaatliche Organisationen<br />
(NGOs) orientieren ihre Projektunterstützungen daran<br />
und gestalten ihre Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit »MDGkompatibel«.<br />
Zivilgesellschaftliche Kampagnen wie Global Call<br />
to Action against Poverty und die UN-gestützte <strong>Millennium</strong> Campaign<br />
werben für mehr Engagement und Solidarität.<br />
<strong>Die</strong>ser Beitrag beschäftigt sich mit der Politik der Bundesregierung:<br />
Wie hat sie auf die MDGs reagiert? Welche Maßnahmen<br />
wurden getroffen? Welche Änderungen sind notwendig?<br />
61
Das Aktionsprogramm 2015<br />
<strong>Die</strong> Bundesregierung reagierte relativ zügig und mit einem<br />
umfassenden konzeptionellen Ansatz auf die neuen entwicklungspolitischen<br />
Vorgaben. Am 4. April 2001 verabschiedete<br />
sie das »Aktionsprogramm 2015 – Der Beitrag der Bundesregierung<br />
zur Halbierung extremer Armut«. Als Zielsetzung formulierte<br />
Bundeskanzler Gerhard Schröder:<br />
»<strong>Die</strong>ses Programm bündelt alle Kräfte der Bundesregierung<br />
auch in dem Bestreben, die Zusammenarbeit mit den<br />
relevanten internationalen Organisationen und anderen Regierungen<br />
konsequent auf ihren Beitrag zur Minderung der<br />
weltweiten Armut auszurichten. Es unterstreicht den Willen<br />
Deutschlands, aktiv an der Halbierung der Armut mitzuwirken.«<br />
(BMZ 2001, Vorwort).<br />
Das Aktionsprogramm 2015 zeigte den Gestaltungswillen der<br />
rot-grünen Regierung. <strong>Die</strong> Übertragung der Federführung an<br />
das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />
und Entwicklung (BMZ) war eine Aufwertung der Entwicklungspolitik<br />
und der Ministerin in der Kabinettsrunde. Neu<br />
war, dass ein ressortübergreifender strategischer Rahmen für<br />
alle deutschen Beiträge zum Erreichen der MDGs geschaffen<br />
wurde, um die Verringerung der Armut als Kernaufgabe und<br />
Kernlegitimation der Entwicklungspolitik zu bestärken und<br />
um ein kohärentes Vorgehen in allen relevanten Politikbereichen,<br />
die Koordinierung mit anderen bilateralen und internationalen<br />
Akteuren und die Einbindung von Zivilgesellschaft<br />
und Privatwirtschaft zu fördern (van de Sand 2005).<br />
Das Aktionsprogramm identifiziert zehn vorrangige thematische<br />
Ansatzpunkte, die sich sowohl auf die Umsetzung<br />
der MDGs beziehen als auch Elemente aus der <strong>Millennium</strong>-<br />
Erklärung aufnehmen. Es stellt keine völlige Neuorientierung<br />
der Entwicklungspolitik dar, sondern kombiniert bestehende<br />
Zielsetzungen mit den neuen internationalen Vereinbarungen<br />
und soll strukturelle Änderungen unterstützen. Es geht damit<br />
62
in seinem Anspruch über die Entwicklungspolitik hinaus und<br />
benennt Handlungsfelder auf der multilateralen Ebene (Global<br />
Governance, gleichberechtigte Partnerschaft), auf der Ebene<br />
der Partnerländer (strukturelle Reformen, Armutsbekämpfungsstrategien)<br />
und bei den Strukturen in Deutschland und<br />
Europa (Kohärenz aller Politikfelder, wirtschaftliche und ökologische<br />
Nachhaltigkeit).<br />
<strong>Die</strong> zehn Ansatzpunkte des Aktionsprogramms 2015<br />
1. Wirtschaftliche Dynamik und aktive Teilnahme der Armen<br />
erhöhen (insbesondere MDGs 1, 8)<br />
2. Das Recht auf Nahrung verwirklichen und Agrarreformen<br />
durchführen (MDGs 1, 7, 8)<br />
3. Faire Handelschancen für die Entwicklungsländer schaffen<br />
(MDG 8)<br />
4. Verschuldung abbauen – Entwicklung finanzieren<br />
(MDGs 1, 8)<br />
5. Soziale Grunddienste gewährleisten – Soziale Sicherung<br />
stärken (MDGs 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8)<br />
6. Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen sichern –<br />
Eine intakte Umwelt fördern (MDG 7, <strong>Millennium</strong>-<br />
Erklärung)<br />
7. Menschenrechte verwirklichen – Kernarbeitsnormen respektieren<br />
(<strong>Millennium</strong>-Erklärung)<br />
8. Gleichberechtigung der Geschlechter fördern (MDG 3)<br />
9. Beteiligung der Armen sichern – Verantwortungsvolle<br />
Regierungsführung stärken (MDGs 1, 3, <strong>Millennium</strong>-<br />
Erklärung)<br />
10. Konflikte friedlich austragen – Menschliche Sicherheit<br />
und Abrüstung fördern (<strong>Millennium</strong>-Erklärung)<br />
Quelle: BMZ 2005c<br />
63
Dem Aktionsprogramm liegt ein umfassendes Armutsverständnis<br />
zugrunde, da es auf die strukturellen wirtschaftlichen<br />
und gesellschaftlichen Ursachen der Armut, die Notwendigkeit<br />
zur Stärkung der Selbsthilfepotenziale und die Partizipation<br />
der Armen als tragende Prinzipien der Armutsbekämpfung<br />
verweist. Es geht damit über den Armutsbegriff der<br />
MDGs hinaus, da nicht nur die Einkommensarmut (weniger<br />
als 1 US-$ pro Tag) als Indikator verwendet wird, sondern weitere<br />
Indikatoren wie geringe Chancen und mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten<br />
am politischen und wirtschaftlichen Leben,<br />
besondere Gefährdung durch Risiken, Missachtung der<br />
Menschenwürde und Menschenrechte sowie fehlender Zugang<br />
zu Ressourcen Berücksichtigung finden.<br />
Das Aktionsprogramm wurde von der Zivilgesellschaft<br />
und den Kirchen prinzipiell begrüßt. <strong>Die</strong>s galt besonders für<br />
den Anspruch, die entwicklungspolitische Kohärenz zu stärken<br />
und künftig alle neuen Gesetze auf ihre Entwicklungsverträglichkeit<br />
und auf ihre Bedeutung für die Armutsminderung<br />
zu prüfen. <strong>Die</strong> Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)<br />
lobte in ihrer Stellungnahme zu den MDGs die konzeptionelle<br />
Pionierarbeit des Aktionsprogramms hinsichtlich der Armutsbekämpfung,<br />
mahnte aber an, sein Handlungspotenzial auch<br />
auszuschöpfen (EKD 2005). Kritisch bemerkt wurde, dass trotz<br />
des Anspruchs, die Ursachen der Armut anzugehen, kaum<br />
Handlungsvorschläge für den Bereich nationaler und internationaler<br />
Strukturpolitik zu finden sind. Es wurde befürchtet,<br />
dass das Programm weniger ein Programm der gesamten Bundesregierung<br />
ist, sondern eher eines des Entwicklungsministeriums<br />
(EED 2002).<br />
Zur Koordination und Steuerung des Aktionsprogramms<br />
hat das federführende BMZ im Referat 300 einen Arbeitsstab<br />
2015 gebildet. Anfang 2002 kam ein Sektorprogramm »Aktionsprogramm<br />
2015« hinzu, welches von der Gesellschaft für technische<br />
Zusammenarbeit (GTZ) betreut wird. Der Arbeitsstab<br />
verfügte 2002 und 2003 über einen eigenen Sondertitel (Haus-<br />
64
haltstitel 687 05) in Höhe von 90 Mio. € (40 Mio. € Barmittel und<br />
50 Mio. € Verpflichtungsermächtigungen), der ab 2004 in die<br />
Haushaltsstruktur des BMZ (Einzelplan 23) überführt wurde.<br />
Aus dem Sondertitel wurden unter anderem die Zusammenarbeit<br />
in den vier Pilotländern Bolivien, Jemen, Mosambik und<br />
Vietnam aufgestockt und zusätzliche Vorhaben der staatlichen<br />
Durchführungsorganisationen, der kirchlichen Zentralstellen<br />
für Entwicklungszusammenarbeit (EZ), der politischen Stiftungen<br />
sowie von privaten Trägern finanziert.<br />
In allen Ministerien und im Kanzleramt wurden Kontaktpersonen<br />
für den Arbeitsstab benannt. Über Kohärenzgespräche<br />
mit anderen Ministerien und durch die Beteiligung<br />
an der Rahmenplanung des BMZ wirkt der Arbeitsstab an der<br />
Politikgestaltung mit. Im Jahr 2003 wurde zur Koordinierung<br />
aller MDG-Fragen in der deutschen EZ zusätzlich die Stelle<br />
eines MDG-Beauftragten direkt beim Staatssekretär im BMZ<br />
eingerichtet. In den staatlichen Durchführungsorganisationen<br />
(GTZ, KfW, InWent, DED) wurden ebenfalls MDG-Beauftragte<br />
benannt und eine Orientierung auf die MDGs in die Wege geleitet.<br />
Trotz der konzeptionellen Ausrichtung auf die MDGs, zahlreicher<br />
neuer Initiativen und institutioneller Änderungen blieb<br />
die Umsetzung des Programms hinter den Erwartungen zurück.<br />
Der Anspruch, Referenzrahmen für die gesamte Bundesregierung<br />
zu sein, wurde nur bedingt eingelöst. Schon bei<br />
den Koalitionsgesprächen 2002 ließen sich erweiterte Kompetenz-<br />
und Führungsansprüche für das BMZ gegenüber anderen<br />
Ministerien nicht vereinbaren. <strong>Die</strong> Folgen waren, dass die<br />
politische Wirkung als ressortübergreifendes Programm und<br />
als Programm der gesamten Bundesregierung de facto an Gewicht<br />
verlor, auch wenn die Ministerin die Bedeutung des Aktionsprogramms<br />
als Referenzrahmen weiterhin betonte. Indizien<br />
für den Bedeutungsverlust waren, dass Bundeskanzler<br />
Schröder sich wenig für das Programm einsetzte, der angekündigte<br />
Operationsplan nie vorgelegt und der Haushalts-Sonder-<br />
65
titel später in die bestehenden Titel im Einzelplan 23 integriert<br />
wurde.<br />
Das Aktionsprogramm 2015 blieb weitgehend auf entwicklungspolitische<br />
Aktivitäten konzentriert und ist damit de facto<br />
ein Programm des BMZ. Zum 2. Zwischenbericht kommentierte<br />
der Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen<br />
(VENRO), das Programm stelle noch<br />
immer eine bemerkenswerte Selbstverpflichtung der Bundesregierung<br />
dar, die Bekämpfung der Armut zu einer gesamtpolitischen<br />
Aufgabe zu machen, leider sei es aber bei dem<br />
programmatischen Anspruch geblieben, da die Umsetzungsschritte<br />
dem nicht gerecht würden (VENRO 2004). <strong>Die</strong> Gemeinsame<br />
Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) mahnte<br />
an, dass im Hinblick auf die Bewertung der Zielerreichung der<br />
vom BMZ angekündigte Umsetzungsplan endlich vorgelegt<br />
werden sollte und bemängelte, dass trotz vieler Einzelmaßnahmen<br />
keine deutliche Umsteuerung in Richtung einer Überwindung<br />
der extremen Armut und einer Fokussierung auf<br />
die ärmsten Länder zu erkennen sei (GKKE 2004). Der Social<br />
Watch Report sieht die Ergebnisse der entwicklungspolitischen<br />
Kohärenz kritisch, da diese häufig den Interessen anderer Ministerien<br />
untergeordnet wurde (Heidel 2005). 1<br />
Mit dem Regierungswechsel 2005 hat sich der Bedeutungsverlust<br />
des Aktionsprogramms weiter verstärkt. In den Koalitionsvereinbarungen<br />
wurde es nicht erwähnt. Obwohl es nach<br />
Aussage der Entwicklungsministerin weiter als ein Referenzrahmen<br />
neben anderen Vereinbarungen gelten soll, ist seine<br />
politische Bedeutung für die Regierungspolitik ungewiss. Der<br />
bisher ausgebliebene 3. Zwischenbericht, der nun im Frühjahr<br />
1 <strong>Die</strong> GKKE legt seit 2002 jährlich einen Bericht zur Umsetzung des Aktionsprogramms<br />
2015 vor (www.gkke.org). Als Beitrag der Zivilgesellschaft<br />
zum Monitoring der Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und der<br />
Gleichstellung der Geschlechter versteht sich der jährliche internationale<br />
Social Watch Report (www.socialwatch.org). Ein darauf basierender deutscher<br />
Report wird seit 2001 vorgelegt (www.woek.de).<br />
66
2007 vorgelegt werden soll, könnte in dieser Frage eine Klärung<br />
bringen.<br />
Armutsbekämpfung, MDG-Orientierung<br />
und Wirkungsmonitoring<br />
<strong>Die</strong> Bundesregierung versteht Armutsbekämpfung als eine<br />
überwölbende Zielsetzung, die durch direkte und indirekte<br />
Maßnahmen erreicht werden soll. Dazu gehören die Förderung<br />
einer nachhaltigen Entwicklung (soziale Gerechtigkeit,<br />
ökologische Nachhaltigkeit, Förderung der wirtschaftlichen<br />
Rahmenbedingungen) und politisch dimensionierte Maßnahmen<br />
(Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, friedliche<br />
Konfliktbeilegung). <strong>Die</strong>ser umfassende Ansatz entspricht<br />
dem internationalen entwicklungspolitischen Konsens. <strong>Die</strong><br />
Frage ist, wie die Maßnahmen gewichtet werden, in welchem<br />
Zusammenhang sie stehen und wie sie zur Verbesserung der<br />
Lebensbedingungen der Armen beitragen.<br />
Überarbeitung des BMZ-Leitfadens zur<br />
Armutsorientierung erforderlich<br />
Ein wichtiges Projekt ist die Überarbeitung des derzeit gültigen<br />
BMZ-Leitfadens zur Beurteilung der Armutsorientierung aus<br />
dem Jahr 1997 (BMZ 1997). Nach Veränderungen der inhaltlichen<br />
und institutionellen Rahmenbedingungen war dieser<br />
Schritt überfällig. Es gilt im BMZ-Leitfaden neue Grundsatzdokumente<br />
zu berücksichtigen, die Änderungen des OECD-<br />
Entwicklungsausschusses (Development Assistance Committee,<br />
DAC) bei den Leitlinien zur Armutsbekämpfung aufzunehmen,<br />
aber auch die stärkere Ausrichtung der EZ auf Wirkung<br />
und die Verschiebung vom Projektansatz in Richtung Budgethilfe<br />
und Programmfinanzierung zu reflektieren. Ein vom<br />
67
BMZ in Auftrag gegebenes Gutachten ergab, dass eine Aktualisierung<br />
nicht ausreicht, sondern ein neuer Leitfaden erstellt<br />
werden sollte; dieser liegt derzeit noch nicht vor.<br />
<strong>Die</strong> Notwendigkeit zur Überarbeitung illustriert eine Kontroverse<br />
zwischen dem BMZ und NGOs über die Armutsorientierung<br />
der deutschen EZ. Laut Leitfaden erhalten Vorhaben<br />
der unmittelbaren Armutsbekämpfung die Kennungen SHA<br />
(selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung) und SUA (sonstige<br />
unmittelbare Armutsbekämpfung). <strong>Die</strong> Kennung MSA (übergreifende<br />
Armutsbekämpfung auf Makro- und Sektorebene)<br />
gilt für Vorhaben, bei denen eine plausible Wirkungskette zwischen<br />
Vorhaben und Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
der Armen herzustellen ist. <strong>Die</strong> Kennung EPA (allgemeine entwicklungspolitische<br />
Ausrichtung) gilt für Vorhaben, die nicht<br />
unmittelbar armutsorientiert wirken, aber aus entwicklungspolitischen<br />
Gründen förderungswürdig sind. Der Anteil der armutsorientierten<br />
Vorhaben mit einer MSA-Kennung stieg von<br />
27 % im Jahr 2002 auf 60 % im Jahr 2004. Während die GKKE<br />
dem BMZ »Etikettenschwindel« vorwarf (GKKE 2004), verwies<br />
das BMZ auf die indirekte armutsorientierte Wirkung von<br />
strukturbildenden Aktivitäten auf der Meso- und Makro ebene.<br />
Auch wenn die Argumentation des BMZ analytisch a priori<br />
nicht falsch ist, bleibt die Frage, warum der Anteil von plausiblen<br />
Wirkungsketten fast sprunghaft zugenommen haben<br />
soll. Es ist zu vermuten, dass für eine Vielzahl von mehr oder<br />
minder armutsorientierten Maßnahmen die MSA- Kennung als<br />
Auffangbecken diente.<br />
Sektorale und regionale MDG-Orientierung erhöhen<br />
Um den Beitrag der deutschen EZ zur Erfüllung der MDGs<br />
zu beurteilen, ist genauer zu betrachten, ob der im Aktionsprogramm<br />
2015 formulierte politische Anspruch sich auch in<br />
einer stärkeren Mittelallokation zugunsten der MDG-Sektoren<br />
68
niederschlägt und eine Fokussierung auf besonders arme Länder<br />
zu verzeichnen ist. In einer vergleichenden Untersuchung<br />
zur Entwicklungspolitik von Dänemark, Deutschland, Irland,<br />
Italien, Niederlande, der Tschechischen Republik und der Europäischen<br />
Union schneidet die Bundesrepublik hinsichtlich<br />
ihrer MDG-Orientierung mit 44 von 100 möglichen Punkten<br />
eher mittelmäßig ab (Alliance 2015 2 2005).<br />
Kritisiert wird vor allem die geringe Mittelzuweisung für<br />
soziale Grunddienste. Im Jahr 2003 wurden nur 10,4 % der bilateralen<br />
EZ dafür verwandt, weniger als im Jahr 2000 mit 11,64 %<br />
(Alliance 2015 2005, 40). Deutschland ist damit weit von der Erfüllung<br />
der 20/20-Initiative entfernt, die beim Weltsozialgipfel<br />
1995 in Kopenhagen beschlossen wurde. <strong>Die</strong> Initiative sieht<br />
vor, dass sich Entwicklungs- und Industrieländer verpflichten,<br />
durchschnittlich 20 % des Staatshaushaltes bzw. 20 % der Mittel<br />
für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development<br />
Assistance, ODA) für soziale Grunddienste zu verwenden,<br />
also zum Beispiel für Grundbildung, Basisgesundheit, reproduktive<br />
Gesundheit, Ernährungsprogramme, Trinkwasserversorgung<br />
und Abwasserbeseitigung.<br />
In der bilateralen Zusammenarbeit zeichnet sich seit einigen<br />
Jahren eine Verschiebung zu Gunsten der ärmeren Länder<br />
ab. 1998 leitete das BMZ eine stärkere geographische Konzentration<br />
von zuvor 120 Kooperationsländern auf ca. 70 Länder<br />
ein. Damit verbunden war auch eine Reduzierung der bis<br />
dahin geltenden Präferenz für Länder der mittleren Einkommensgruppe,<br />
deren Anteil von über 50 % der bilateralen ODA<br />
im Jahr 2002 auf ca. 44 % im Jahr 2004 zurückging (OECD 2005,<br />
34f.). Trotz dieser positiven Entwicklung ist die Bundesregierung<br />
vom Ziel der Vereinten Nationen, 0,15 % des Bruttonationaleinkommens<br />
(BNE) für die am wenigsten entwickelten Länder<br />
(LDC) zu verwenden, noch entfernt. Nach Berechnungen<br />
2 Alliance 2015 ist ein Zusammenschluss von sechs europäischen NGOs, die<br />
regelmäßig einen 2015-Watch Report zur Umsetzung der MDGs vorlegen.<br />
69
der OECD betrug der über bilaterale und multilaterale Stellen<br />
gehende ODA-Anteil an LDCs im Jahr 2003 37 % der gesamten<br />
deutschen ODA. <strong>Die</strong>s entspricht einem Anteil von 0,10 % am<br />
BNE (OECD 2005, 35 u. 94).<br />
Um den deutschen Beitrag zur Erreichung der MDG-Ziele<br />
zu stärken, ist daher eine substanzielle Erhöhung der BMZ-<br />
Mittel für soziale Grunddienste wie Bildung, Gesundheit und<br />
Wasserversorgung sowie Ernährungssicherung zwingend erforderlich.<br />
Der Anteil der Mittelvergabe an die ärmsten Länder<br />
sollte stetig und dauerhaft erhöht werden (GKKE 2005, 42f.).<br />
Mehr Wirkung erzielen<br />
Durch die quantitativen und mit einem eindeutigen Zeithorizont<br />
versehenen MDGs wurde international die Debatte über<br />
Wirkungsorientierung und über eine stärkere Effektivität und<br />
Effizienz der EZ gefördert. Es gilt analytisch zu erfassen und<br />
zu belegen, ob und wie die Konzepte, Maßnahmen und Strategien<br />
zur Erfüllung der MDGs beitragen. <strong>Die</strong> seit langem bestehenden<br />
Systeme des Monitorings, der Evaluierung und Erfolgskontrolle<br />
auf der Projekt- und Programmebene müssen<br />
um eine aggregierte, MDG-orientierte Gesamtperspektive ergänzt<br />
werden. Um die politische und gesellschaftliche Unterstützung<br />
für eine Erhöhung der öffentlichen EZ zu erwirken,<br />
muss diese außerdem zeigen können, dass zusätzliche Gelder<br />
auch zusätzliche Wirkungen erzielen.<br />
Um Wirkungen besser belegen zu können, startete das BMZ<br />
diverse Initiativen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut<br />
für Entwicklungspolitik (DIE) und den Durchführungsorganisationen<br />
und ist aktiv an den Diskussionen im OECD-<br />
Entwicklungsausschuss beteiligt. Auch wenn damit wichtige<br />
Erkenntnisse zur Ermittlung aggregierter Wirkungszusammenhänge<br />
geschaffen wurden, ist nach Aussage der Leiterin<br />
des BMZ-Evaluierungsreferates aufgrund der komplexen Zu-<br />
70
sammenhänge und methodischen Schwierigkeiten nicht damit<br />
zu rechnen, dass demnächst mit Zahlen belegt werden kann,<br />
welche Beiträge die deutsche EZ zu einzelnen MDGs geleistet<br />
hat (Zintl 2006, vgl. auch den Beitrag von Kranz-Plote).<br />
Im März 2005 verabschiedete die OECD die Paris Declaration<br />
on Aid Effectiveness, in der die Bedeutung einer stärkeren<br />
Wirkungsorientierung bekräftigt wurde. <strong>Die</strong> MDG-Stabsstelle<br />
erstellte daraufhin ein Umsetzungspapier, in dem das Kohärenzgebot,<br />
das Partnerschaftsprinzip und die Orientierung auf<br />
Wirkungen als handlungsleitende Prinzipien bekräftigt und<br />
die nötigen Maßnahmen in einem Operationsplan 2005/2006<br />
konkretisiert werden (BMZ 2005b).<br />
Ein öffentlicher Fortschrittsbericht zur Umsetzung des<br />
Operationsplans liegt noch nicht vor. Zur Verbesserung der<br />
Transparenz wäre es zu begrüßen, wenn das BMZ seine Anstrengungen<br />
in regelmäßigen Zwischenberichten dokumentieren<br />
würde. Spannende Fragen für die fachliche Debatte sind,<br />
inwiefern das geltende Effektivitäts- und Effizienz-Paradigma<br />
bestimmte technokratische Ansätze bevorzugt, die Pluralität<br />
von Ansätzen erschwert, die Unabhängigkeit der Arbeit von<br />
NGOs negativ beeinflusst und ob damit letztlich einer formierten<br />
Entwicklungspolitik Vorschub geleistet wird.<br />
Geringe Ressourcenmobilisierung zur<br />
Entwicklungsfinanzierung<br />
Für die Umsetzung der MDGs braucht es zusätzliche finanzielle<br />
Mittel. <strong>Die</strong> betroffenen Länder müssen neue inländische<br />
Ressourcen mobilisieren oder ihre Ausgaben stärker zur Förderung<br />
der MDG-relevanten Handlungsfelder verwenden.<br />
Gleichzeitig sind bei der Finanzierung der MDGs die wohlhabenderen<br />
Staaten gefordert. Das von UN-Generalsekretär<br />
Kofi Annan eingesetzte <strong>Millennium</strong>-Projekt unter der Leitung<br />
von Jeffrey Sachs hat die Kosten für die weltweite Umsetzung<br />
71
der MDGs bis zum Jahr 2015 geschätzt und eine Erhöhung der<br />
jährlichen ODA auf 135 Mrd. US-$ bis 2010 und eine Steigerung<br />
auf 195 Mrd. US-$ bis 2015 gefordert.<br />
Der deutsche ODA-Anteil ist in den 1990er Jahren auf Werte<br />
unterhalb von 0,3 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) gesunken.<br />
Um einen adäquaten Beitrag zu leisten, muss die deutsche<br />
Entwicklungshilfe deutlich erhöht werden.<br />
Zögerliche Anhebung der ODA<br />
<strong>Die</strong> Antwort der Bundesregierung fiel zunächst enttäuschend<br />
aus. Der BMZ-Etat, der den größten Anteil der ODA umfasst,<br />
blieb zwar von den allgemeinen Haushaltskürzungen weitgehend<br />
verschont, wurde aber auch nicht nennenswert erhöht.<br />
Von 2001 bis 2004 verharrte der Anteil der ODA (Bund, Länder<br />
und Kommunen) zwischen 0,27 % und 0,28 % des BNE. Länder<br />
wie Norwegen, Schweden, Niederlande und Dänemark erreichen<br />
dagegen Anteile von über 0,8 % am BNE.<br />
72<br />
Tabelle 1<br />
Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands<br />
(in Mio. US-$ zu jeweiligen Preisen und Wechselkursen)<br />
Jahr 2000 2001 2002 2003 2004 2005<br />
ODA insgesamt<br />
Davon:<br />
5.030 4.990 5.324 6.784 7.534 9.915<br />
Bilateral 2.687 2.853 3.328 4.060 3.823 7.129<br />
Multilateral 2.343 2.136 1.997 2.724 3.712 2.786<br />
ODA (in % des BNE) 0,27 0,27 0,27 0,28 0,28 0,35<br />
Quelle: OECD 2005, Zahlen 2005 entnommen aus den DAC-Statistiken<br />
auf der OECD-Website
Erst im Vorfeld des <strong>Millennium</strong>+5-Gipfels im September 2005<br />
kam es zu weiter gehenden politischen Initiativen. Durch den<br />
Beschluss des Europäischen Rates vom 16./17. Juni 2005 verpflichtete<br />
sich die Bundesregierung im Rahmen eines Stufenplanes,<br />
ihre ODA bis zum Jahr 2015 auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts<br />
aufzustocken. Der EU-Stufenplan bedeutet für<br />
Deutschland, dass bis zum Jahr 2010 0,51 % erreicht werden sollen.<br />
<strong>Die</strong> Mittel für EZ müssten dann auf 15,5 Mrd. US-$ erhöht<br />
werden. <strong>Die</strong>s entspricht im Vergleich zu 2004 einem Anstieg<br />
um 106 % in realer Rechnung (OECD 2005, 29). Der 13. Bericht<br />
2004/2005 zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe erstellte<br />
auf der Basis von Schätzungen der Europäischen Kommission<br />
eine Projektion für einen möglichen 2015-Stufenplan Deutschlands.<br />
Der deutsche Beitrag müsste demnach zwischen 2006<br />
und 2010 um jährlich 1,27 Mrd. € wachsen und danach um<br />
jährlich 1 Mrd. € bis 2015 (terre des hommes/Welthungerhilfe<br />
2005, 9f.)<br />
Der EU-Beschluss stellt eine wichtige politische Selbstverpflichtung<br />
dar und erhöht den Druck auf die einzelnen Staaten.<br />
<strong>Die</strong> Bundesregierung hatte sich für die Annahme des EU-<br />
Beschlusses eingesetzt. Im Koalitionsvertrag 2005 wird das<br />
Ziel bekräftigt. Um die politische Ernsthaftigkeit zu untermauern<br />
und um die Transparenz zu erhöhen, sollte die Bundesregierung<br />
umgehend einen eigenen Stufenplan verabschieden,<br />
der Umsetzungsstrategien, Finanzierungsquellen und Maßnahmen<br />
benennt. Sie würde damit mit anderen EU-Ländern<br />
gleichziehen, die solche Umsetzungspläne schon verabschiedet<br />
haben.<br />
Kritik an der Berechnung der ODA-Quoten<br />
<strong>Die</strong> Erhöhung der öffentlichen EZ wird seitens der internationalen<br />
Zivilgesellschaft nicht in Frage gestellt. Deutliche Kritik<br />
gibt es an der derzeit gültigen Berechnung der ODA-Quote.<br />
73
Im April 2006 stellten europäische NGOs den Bericht »EU Aid:<br />
Genuine Leadership or Misleading Figures?« vor, in dem für<br />
einige EU-Mitglieder die absoluten und relativen Anteile von<br />
»aufgeblähter« Hilfe (inflated aid) ermittelt wurden (Joint European<br />
NGO Report 2006). Ihrer Meinung nach sollten bei der<br />
Berechnung Schuldenerlasse, Ausgaben für Studienplatzkosten<br />
von Studierenden aus Entwicklungsländern und die Kosten<br />
für die Betreuung von Asylbewerbern und deren zwangsweise<br />
Rückführung ausgeklammert werden, da damit keine<br />
zusätzlichen Ressourcentransfers in die Entwicklungsländer<br />
realisiert werden. Für Deutschland ermittelte der Bericht für<br />
das Jahr 2005 einen Betrag von ca. 3,4 Mrd. € an aufgeblähter<br />
Hilfe, das entspricht 43 % der offiziellen ODA. <strong>Die</strong> deutsche<br />
ODA-Quote würde sich von 0,35 % auf 0,2 % des BNE reduzieren,<br />
wenn dieser Betrag abgezogen wird (Joint European NGO<br />
Report 2006).<br />
Der Anstieg der deutschen ODA-Quote 2005 ist primär eine<br />
Folge der Schuldenerlasse für den Irak und Nigeria. Der Anteil<br />
der Schuldenerlasse wird für 2005 mit ca. 32 % der ODA angegeben.<br />
Da die Schulden von den Entwicklungsländern meist seit<br />
Jahren nicht mehr bedient werden, führt dies nicht zu einem<br />
zusätzlichen Ressourcentransfer. <strong>Die</strong>s gilt für die Mehrzahl der<br />
LDCs, die in der HIPC-Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete<br />
arme Länder (heavily indebted poor countries, HIPC)<br />
berücksichtigt wurden. Bei den Irak-Schulden kommt hinzu,<br />
dass damit ehemalige kommerzielle Handelsforderungen von<br />
Unternehmen, die über die Hermes-Kreditversicherung in öffentliche<br />
Forderungen verwandelt wurden, nachträglich zu<br />
EZ-Leistungen gemacht werden.<br />
Bei der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung im<br />
März 2002 in Monterrey war die Bundesregierung in dieser<br />
Frage schon weiter, denn im unterzeichneten Abschlussdokument<br />
werden die Geberländer aufgefordert, auf die Anrechnung<br />
von Schuldenerlassen auf die ODA-Quote zu verzichten.<br />
<strong>Die</strong> NGOs fordern daher, dass die Bundesrepublik und andere<br />
74
Staaten freiwillig auf die Anrechnung verzichten. Ein Vorschlag<br />
ist, die Leistungen aus Schuldenerlassen in einer eigenen Statistik<br />
zu dokumentieren. <strong>Die</strong> Aussagekraft der ODA- Zahlen<br />
würde erhöht, wenn Leistungen ohne Ressourcentransfer ausgeklammert<br />
werden und dadurch erlassbedingte Schwankungen<br />
entfallen. Das Festhalten der Bundesregierung an der<br />
gängigen Praxis deutet allerdings darauf hin, dass sie die Erreichung<br />
des EU-Stufenplans mittels Erhöhung der Haushaltsmittel<br />
oder durch die Einführung innovativer Finanzierungsinstrumente<br />
eher skeptisch beurteilt und Schuldenerlasse eine<br />
wichtige Funktion bei der Steigerung der ODA-Quote haben.<br />
Wenig Initiative bei innovativen<br />
Finanzierungsinstrumenten<br />
Seit der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung 2002<br />
gibt es eine intensive Debatte zu innovativen Finanzierungsmechanismen,<br />
mit denen zusätzliche Mittel aufgebracht werden<br />
sollen, um die Finanzierungslücke zwischen ODA und MDG-<br />
Erfordernissen zu schließen. Im Zentrum stehen internationale<br />
Steuern und Umweltabgaben für globale Gemeinschaftsgüter,<br />
mit denen sowohl Finanzierungs- als auch Lenkung<strong>sef</strong>fekte erzielt<br />
werden können. Dazu gehören beispielsweise die Abgabe<br />
auf Flugtickets, die Besteuerung von Flugbenzin, eine Devisenumsatzsteuer<br />
(Tobin-Steuer), die Nutzung von Kapitalmarktanleihen,<br />
eine Abgabe auf Waffengeschäfte und Abgaben auf<br />
den Kohlendioxidausstoß. Mittlerweile haben 18 Länder, darunter<br />
Chile, Frankreich, Großbritannien und Südkorea, eine<br />
Abgabe auf Flugtickets eingeführt. Großbritannien forciert einen<br />
Vorschlag, Entwicklungshilfe durch Anleihen am Kapitalmarkt<br />
(internationale Finanzfazilität) vorzufinanzieren.<br />
Obwohl sich die Bundesregierung bei der Monterrey-Konferenz<br />
durchaus offen für Innovationen zeigte und das BMZ<br />
auf einer Veranstaltung sogar eine Studie über die Machbarkeit<br />
75
einer Devisenumsatzsteuer (Vorschlag von Wirtschaftsprofessor<br />
Paul Bernd Spahn) präsentierte, spielte sie in der Folgezeit<br />
international eine zögerliche und wenig aktive Rolle. Sie beteiligt<br />
sich lediglich an der Leading Group zur Weiterentwicklung<br />
von globalen Abgaben, die auf der Pariser Konferenz zur<br />
Entwicklungsfinanzierung im März 2006 gebildet wurde. Eine<br />
Entscheidung zur Einführung eines bestimmten innovativen<br />
Finanzierungsinstruments steht weiterhin aus. <strong>Die</strong> Beteiligung<br />
an der Internationalen Finanzfazilität lehnt die Bundesregierung<br />
ab, und sie beabsichtigt auch nicht, eine Wertpapierumsatzsteuer<br />
oder eine Devisentransaktionssteuer einzuführen<br />
(Deutscher Bundestag 2006).<br />
Als Fazit lässt sich konstatieren, dass die Bundesregierung<br />
seit Monterrey über allgemeine Absichtserklärungen nicht hinausgekommen<br />
ist. Gute Chancen zur Profilierung bieten sich<br />
durch die EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 und den<br />
G8-Gipfel 2007 in Deutschland. In einem ersten Schritt sollte<br />
zumindest und umgehend eine Abgabe auf Flugtickets eingeführt<br />
werden. Globale Steuern zur Entwicklungsfinanzierung<br />
und zur Gestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen<br />
sind wichtige Zukunftsthemen. <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />
sollte sich aktiv an dieser Debatte beteiligen und eigene Konzepte<br />
unterbreiten, statt nur mitzulaufen, abzuwarten und bestehende<br />
Vorschläge abzulehnen.<br />
Entwicklungspolitische Kohärenz 3<br />
<strong>Die</strong> OECD hatte in ihrem Prüfbericht zu Deutschland 2001 im<br />
Bereich Kohärenz institutionelle und konzeptionelle Defizite<br />
konstatiert und Handlungsbedarf angemahnt. Mit dem Ak-<br />
3 In einer allgemeinen Definition wird Kohärenz als das Zusammenwirken<br />
aller im jeweiligen Kontext relevanten Politiken zur Erreichung übergeordneter<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong> beschrieben.<br />
76
tionsprogramm 2015 formalisierte die Bundesregierung ihr<br />
Konzept für ein kohärentes entwicklungsorientiertes Vorgehen<br />
in allen Politikbereichen in Deutschland, in der EU und auf<br />
internationaler Ebene. Aufbauend auf einer Evaluierung der<br />
laufenden Kohärenzaktivitäten durch das DIE im Jahr 2003 erstellte<br />
das BMZ eine Kohärenzagenda mit 14 Zielen, die sich<br />
überwiegend auf die Verbesserung der Instrumentarien und<br />
der Verfahren beziehen.<br />
Im Bericht von 2005 würdigt der OECD-Entwicklungsausschuss,<br />
die Bundesregierung habe eine solidere Basis zur Förderung<br />
verstärkter Politikkohärenz geschaffen. Zugleich unterbreitet<br />
er weiterführende Vorschläge in den Bereichen Politik,<br />
analytische Kapazität und Monitoring-Mechanismen.<br />
Empfohlen wird unter anderem eine bessere Abstimmung<br />
der Kohärenzagenda mit dem Aktionsprogramm 2015, indem<br />
explizite Kohärenzziele für jeden Prioritätsbereich des Programms<br />
formuliert und Umsetzungsstrategien entwickelt werden.<br />
Nachholbedarf wird beim Kohärenz-Monitoring gesehen,<br />
da darüber noch nicht systematisch berichtet wird und noch<br />
keine Ergebnisindikatoren festgelegt wurden (OECD 2005).<br />
So behandelt der BMZ-Bericht »Der Beitrag Deutschlands zur<br />
Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>« das Thema<br />
lediglich auf einer Seite (BMZ 2005a). In allgemeinen Worten<br />
werden Mitbestimmungsmöglichkeiten des BMZ, die Ressortabstimmungen<br />
und befristete interministerielle Arbeitsgruppen<br />
erwähnt, ohne näher auf Ergebnisse, Strategien oder Konflikte<br />
einzugehen.<br />
<strong>Die</strong> Forderung nach entwicklungspolitischer Kohärenz<br />
wird von den Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />
schon seit Jahren erhoben. Schon Anfang der 1990er<br />
Jahre wurde auf die negativen Auswirkungen subventionierter<br />
Rindfleischexporte der EU verwiesen, die mit Dumpingpreisen<br />
lokale Märkte in Westafrika zerstören, das Einkommen von<br />
Kleinbauern reduzieren und Entwicklungsprojekte konterkarieren.<br />
So schreibt »Brot für die Welt« 2000 in seiner Grundsatz-<br />
77
erklärung »Den Armen Gerechtigkeit«: »Entwicklungspolitik,<br />
internationale Menschenrechts-, Friedens- und Umweltpolitik<br />
müssen als globale Strukturpolitik einen zentralen Rang erhalten.<br />
Das Handeln der politisch Verantwortlichen muss kohärent<br />
dem Ziel der Gerechtigkeit verpflichtet sein.« (Brot für die<br />
Welt 2000, 35). Zentrale Forderungen sind gerechte Welthandelsregeln<br />
und eine armutsorientierte Handels-, Agrar- und<br />
Wirtschaftspolitik, die im Einklang mit den im internationalen<br />
Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte definierten<br />
Menschenrechten steht und die internationalen Vereinbarungen<br />
und Kernprinzipien des Umweltschutzes respektiert<br />
(VENRO 2006). <strong>Die</strong> aktuelle Debatte um entwicklungspolitische<br />
Kohärenz beinhaltet eine Vielzahl weiterer Themen, zu<br />
denen zivilgesellschaftliche Organisationen und Netzwerke<br />
arbeiten und ihre Positionen und die ihrer Partner aus dem Süden<br />
in die Debatte einbringen. Bei allen Unterschieden kann<br />
das Eintreten für einen menschenrechtlichen Ansatz (rightsbased<br />
approach), der in diversen UN-Konventionen kodifiziert<br />
ist, als gemeinsamer Nenner der zivilgesellschaftlichen Positionen<br />
gelten. <strong>Die</strong> Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik<br />
für außenpolitische, wirtschaftliche oder andere Zielsetzungen<br />
wird abgelehnt.<br />
Schlussbemerkung<br />
<strong>Die</strong> Anstrengungen der deutschen staatlichen EZ zur Erfüllung<br />
der MDGs können bisher als ambivalent bezeichnet werden.<br />
Positiv ist zu vermerken, dass die Bundesregierung sich<br />
programmatisch frühzeitig auf die Erfüllung der MDGs bezogen,<br />
institutionelle Änderungen vorgenommen sowie Initiativen<br />
zur Verbesserung der Armutsorientierung und für ein<br />
besseres Wirkungsmonitoring gestartet hat. Enttäuschend ist,<br />
dass sie ihren Verpflichtungen zur deutlichen Erhöhung der<br />
Mittel für die Entwicklungsfinanzierung bisher kaum nachge-<br />
78
kommen ist und dass bei der Allokation der Mittel noch erheblicher<br />
Nachholbedarf für eine stärkere MDG-Orientierung<br />
besteht. Auf politischer Ebene ist es notwendig, sich stärker für<br />
verbesserte internationale politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />
einzusetzen, die den Entwicklungsländern<br />
und armen Bevölkerungsgruppen faire Partizipationsmöglichkeiten<br />
bieten und ökologisch nachhaltig sind. <strong>Die</strong> Umsetzung<br />
einer entwicklungspolitisch kohärenten Politik steht noch aus.<br />
Literatur<br />
Alliance 2015, 2005: 2015-Watch. The <strong>Millennium</strong> Development Goals. A<br />
comparative performance of six EU Member States and the EC aid<br />
programme. Den Haag.<br />
BMZ, 1997: Leitfaden zur Beurteilung der Armutsminderung von Vorhaben<br />
der Zusammenarbeit vom 24.11.1997. Bonn.<br />
BMZ, 2001: Armutsbekämpfung – Eine globale Aufgabe, Aktionsprogramm<br />
2015. Der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten Halbierung<br />
der extremen Armut (BMZ-Materialien Nr. 106). Bonn.<br />
BMZ, 2004: Auf dem Weg zur Halbierung der Armut. 2. Zwischenbericht<br />
über den Stand der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015 (BMZ<br />
Spezial Nr. 88). Bonn.<br />
BMZ, 2005a: Der Beitrag Deutschlands zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong> (BMZ-Materialien Nr. 140). Bonn.<br />
BMZ, 2005b: Mehr Wirkung erzielen. <strong>Die</strong> Ausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />
auf die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
(BMZ-Spezial Nr. 130). Bonn.<br />
BMZ, 2005c: Zwölfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung<br />
(BMZ-Materialien Nr. 131). Bonn.<br />
Brot für die Welt, 2000: Den Armen Gerechtigkeit. Herausforderungen<br />
und Handlungsfelder. Stuttgart.<br />
Deutscher Bundestag, 2006: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine<br />
Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 16/1072, 18.04.2006.<br />
Berlin.<br />
EED (Evangelischer Entwicklungsdienst), 2002: … dass du Recht schaffest<br />
den Armen. Plädoyer für eine kohärente Entwicklungspolitik (EED<br />
Dialog 2). Bonn.<br />
79
EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), 2005 (Hg.): Schritte zu einer<br />
nachhaltigen Entwicklung. <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>sentwicklungsziele der<br />
Vereinten Nationen. Eine Stellungnahme der Kammer für nachhaltige<br />
Entwicklung der EKD zur Sondervollversammlung der Vereinten Nationen<br />
im September 2005. Hannover.<br />
GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung), 2004: Halbierung<br />
der extremen Armut. Dritter GKKE-Bericht (GKKE-Schriftenreihe<br />
Nr. 35). Berlin.<br />
GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung), 2005: <strong>Millennium</strong>sziele<br />
auf dem Prüfstand, Vierter GKKE-Bericht zur Halbierung<br />
der extremen Armut (GKKE-Schriftenreihe Nr. 37). Berlin.<br />
Heidel, Klaus, 2005: Gemischte Bilanz. Zehn Jahre deutsche Entwicklungspolitik,<br />
in: Social Watch Deutschland Report 2005, S. 39–40.<br />
Joint European NGO Report, 2006: EU Aid: Genuine Leadership or Misleading<br />
Figures? Brüssel.<br />
OECD, 2005: DAC-Prüfbericht über die Entwicklungszusammenarbeit –<br />
Deutschland. Paris<br />
van de Sand, Klemens, 2005: Armutsbekämpfung als entwicklungspolitische<br />
Kernaufgabe, in: Zeitschrift Entwicklungspolitik Nr. 12/13,<br />
S. 29–32.<br />
terre des hommes/Welthungerhilfe, 2005: <strong>Die</strong> Wirklichkeit der Entwicklungshilfe,<br />
Dreizehnter Bericht 2004/2005. Bonn/Osnabrück.<br />
VENRO, 2004: In der Armutsbekämpfung der Bundesregierung klaffen<br />
Anspruch und Wirklichkeit auseinander, Pressemitteilung 2/2004,<br />
5. April. Bonn.<br />
VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die <strong>Millennium</strong>sentwicklungsziele.<br />
VENRO-Positionspapier. Bonn.<br />
Zintl, Michaela, 2006: Von Wirkungen und Nebenwirkungen, in: EINS<br />
Entwicklungspolitik Nr. 9, S. 30–33.<br />
80
JUTTA KRANZ-PLOTE 1<br />
Chancen und Herausforderungen<br />
bei der operativen Umsetzung der<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Eine Innenperspektive<br />
Auf dem UN-Gipfeltreffen im September 2000 hat die Bundesregierung<br />
gemeinsam mit 188 anderen Staaten der <strong>Millennium</strong>-<br />
Erklärung zugestimmt. Damit hat sie sich verpflichtet, ihren<br />
Beitrag zur Erreichung der darin formulierten <strong>Entwicklungsziele</strong><br />
einschließlich der später abgeleiteten acht <strong>Millennium</strong> Development<br />
Goals (MDGs) zu leisten. Für alle Unterzeichner der<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung – Entwicklungsländer wie Industrienationen<br />
– stellt dies eine erhebliche Herausforderung dar. Der<br />
mit der <strong>Millennium</strong>-Erklärung angestoßene Prozess beinhaltet<br />
aber auch große Chancen, die Entwicklungszusammenarbeit<br />
(EZ) signifikant zu verbessern.<br />
Ein verbindlicher Referenzrahmen für die<br />
strategische Ausrichtung der deutschen<br />
Entwicklungszusammenarbeit<br />
<strong>Die</strong> acht MDGs definieren Ziele, die für jeden unmittelbar verständlich<br />
sind. Hierin liegt ihre besondere Überzeugungskraft<br />
und aus diesem Grund wurden sie so einfach und eindeutig<br />
formuliert. Es wäre aber fatal, wollte man daraus eine ebenso<br />
einfache Strategie für ihre Umsetzung ableiten. <strong>Die</strong>s würde<br />
dem Charakter der MDGs und ihrem qualitativen Mehrwert<br />
1 Der Beitrag gibt den Standpunkt der Autorin wieder.<br />
81
für die internationale Entwicklungszusammenarbeit nicht gerecht.<br />
Es kann daher nicht primär darum gehen, nun möglichst<br />
viele EZ-Mittel in die Bereiche zu lenken, die in den MDGs unmittelbar<br />
angesprochen sind, wie zum Beispiel die Grundbildung,<br />
die Verbesserung der Gesundheitsversorgung oder die<br />
Bereitstellung von sauberem Trinkwasser. Schon in den vergangenen<br />
Jahrzehnten wurde in diese Sektoren viel investiert,<br />
ohne dass die Ergebnisse zufrieden stellend gewesen wären.<br />
Gerade die Enttäuschung über unzureichende Entwicklungsfortschritte<br />
war es ja, die zu den großen Weltkonferenzen der<br />
1990er Jahre und schließlich zum <strong>Millennium</strong>sgipfel führte.<br />
<strong>Die</strong> Gründe für die mangelnden Erfolge sind vielschichtig und<br />
können nicht nur in den unzureichenden Mitteln für die EZ<br />
gesehen werden. Eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung<br />
lässt sich weder erkaufen noch importieren. Es hängt<br />
vielmehr ganz wesentlich vom politischen Willen der Partner-<br />
und Geberländer ab, die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen<br />
zu schaffen.<br />
Welch bedeutende Rolle entwicklungsförderliche Faktoren<br />
wie gute Regierungsführung und faire Handelschancen spielen,<br />
ist seit langem bekannt. Mit der <strong>Millennium</strong>s-Agenda besteht<br />
die Chance, hier einen entscheidenden Schritt weiterzukommen.<br />
Wenn die <strong>Millennium</strong>-Erklärung und die MDGs die<br />
Welt tatsächlich verändern sollen, dann muss ihr Potenzial zur<br />
Umsetzung struktureller Veränderungen genutzt werden. Genau<br />
das ist die Herausforderung, der sich alle Beteiligten, auch<br />
in der deutschen EZ, zu stellen haben.<br />
Um diese Chance zu nutzen, müssen die MDGs richtig verstanden<br />
werden. <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong> beschreiben<br />
Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben:<br />
die Freiheit von Armut und ihre Auswirkungen in den Bereichen<br />
Bildung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gesundheit<br />
und Schutz natürlicher Ressourcen. <strong>Die</strong> MDGs stellen aber<br />
keine umfassende Entwicklungsagenda dar, denn sie enthalten<br />
nicht den Schutz der Bürger- und Menschenrechte sowie<br />
82
Frieden und Sicherheit als Grundbedingungen menschlicher<br />
Entwicklung. Daher müssen die MDGs immer im Kontext der<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung gesehen werden. <strong>Die</strong>se ist eine umfassende<br />
Agenda für die internationale Politik zu Beginn des<br />
21. Jahrhunderts und entspricht dem systemischen Entwicklungsansatz,<br />
der sich insbesondere seit den 1980er und 1990er<br />
Jahren in der EZ herausgebildet hat. <strong>Die</strong> MDGs können nur<br />
verwirklicht werden, wenn es Fortschritte in allen Handlungsfeldern<br />
der Erklärung gibt. Aus diesem Grund sind für die<br />
deutsche Entwicklungszusammenarbeit nicht nur die MDGs,<br />
sondern alle Ziele der <strong>Millennium</strong>-Erklärung der verbindliche<br />
Referenzrahmen.<br />
<strong>Die</strong> Ziele der deutschen Entwicklungspolitik – Armut mindern,<br />
Frieden sichern, Globalisierung gerecht gestalten und<br />
Umwelt schützen – entsprechen dem systemischen Ansatz der<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung, wobei Armutsbekämpfung die Kernaufgabe<br />
der Entwicklungspolitik ist. Zugrunde liegt dabei ein<br />
mehrdimensionales Armutsverständnis, wie es heute international<br />
gültig ist. Demnach bedeutet Armut nicht nur geringes<br />
Einkommen, sondern auch geringe Chancen und mangelnde<br />
Beteiligungsmöglichkeiten am politischen und wirtschaftlichen<br />
Leben, besondere Gefährdung durch Risiken, Missachtung der<br />
Menschenrechte sowie fehlender Zugang zu Ressourcen.<br />
Aus diesem Grund ist es zwar wichtig, dass sich die deutsche<br />
EZ in den Handlungsfeldern engagiert, die sich aus den<br />
MDGs ergeben und hierzu wichtige Beiträge leistet (BMZ<br />
2005a) 2 . Doch eine strukturell wirksame Unterstützung der<br />
<strong>Millennium</strong>s-Agenda erfordert mehr als das.<br />
2 So werden beispielsweise die Gleichberechtigung der Geschlechter und<br />
der Kampf gegen HIV/AIDS sowohl durch die Verankerung als Querschnittsthemen<br />
in der EZ als auch durch spezielle Fördermaßnahmen<br />
unterstützt. Deutschland ist weltweit der zweitgrößte Geber im Wassersektor<br />
und setzt sich sehr stark für Umweltbelange ein. Mit Blick auf MDG<br />
8 engagiert sich die deutsche EZ unter anderem für die Umsetzung des<br />
ODA-Stufenplans der EU, die Entschuldungsinitiative sowie Handelsverbesserungen<br />
für Entwicklungsländer.<br />
83
<strong>Die</strong> deutsche EZ im Kontext der internationalen<br />
Prozesse zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-Agenda<br />
Als Folge des in New York angestoßenen Prozesses sind seit<br />
dem Jahr 2000 weitere internationale Vereinbarungen getroffen<br />
worden, die den programmatischen Rahmen für die deutsche<br />
Entwicklungspolitik bilden. Als wichtigste sind hier der Konsens<br />
der Entwicklungsfinanzierungskonferenz 2002 in Monterrey,<br />
der Aktionsplan des Weltnachhaltigkeitsgipfels 2002 in<br />
Johannesburg, die Erklärung von Rom zur Geberharmonisierung<br />
aus dem Jahr 2003, die im Frühjahr 2005 verfasste Paris-<br />
Erklärung zur Steigerung der Wirksamkeit der EZ und schließlich<br />
der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel im September 2005 in New York<br />
zu nennen. <strong>Die</strong> Bedeutung dieses Gipfels für die Arbeit der EZ<br />
muss im Kontext seiner Vor- und Nachbereitung gesehen werden.<br />
Der Stufenplan zur Erhöhung der Mittel für die öffentliche<br />
Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der EU, der vorsieht,<br />
dass alle Mitgliedstaaten gemeinsam bis 2015 0,7 % des<br />
Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe zur Verfügung<br />
stellen, sowie die Erweiterung der Entschuldungsinitiative<br />
von Gleneagles für sehr arme hoch verschuldete Länder,<br />
stehen hiermit in unmittelbarem Zusammenhang.<br />
<strong>Die</strong> deutsche EZ gestaltet diese internationalen Prozesse<br />
mit und hat sich den entsprechenden neuen Herausforderungen<br />
frühzeitig gestellt. Bereits im April 2001 verabschiedete<br />
die Bundesregierung als einer der ersten Geber mit dem<br />
Aktionsprogramm 2015 ihre Strategie zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
(BMZ 2001). Das Programm umfasst zehn<br />
Ansatzpunkte in den Bereichen Wirtschaft und Landwirtschaft,<br />
Handel, Verschuldung, Sozialsysteme, Umwelt- und<br />
Ressourcenschutz, Menschenrechte, Gleichberechtigung der<br />
Geschlechter, Partizipation, Abrüstung und Sicherheit. Es<br />
stellt aber keinen detaillierten Operationsplan dar. Ein solcher<br />
würde zwar den Erwartungen der entwicklungspolitischen<br />
Öffentlichkeit entgegenkommen, er kann aber nicht einsei-<br />
84
tig von deutscher Seite verwirklicht werden. <strong>Die</strong> Umsetzung<br />
des Aktionsprogramms 2015 muss in einem kontinuierlichen<br />
Prozess zusammen mit den Partnerländern, bi- und multilateralen<br />
Gebern sowie nationalen und internationalen zivilgesellschaftlichen<br />
wie wirtschaftlichen Akteuren erfolgen. Daher<br />
wird über den Fortschritt des Aktionsprogramms in regelmäßigen<br />
Statusberichten Rechenschaft abgelegt.<br />
Nach der Verabschiedung der Paris-Erklärung im März<br />
2005 hat die deutsche EZ die darin formulierten sehr konkreten<br />
Handlungsvorgaben in einen verbindlichen Operationsplan für<br />
die deutsche EZ umgesetzt. <strong>Die</strong>ser wurde mit der Strategie zur<br />
Ausrichtung der Verfahren und Instrumente der deutschen EZ<br />
auf die MDGs verknüpft (BMZ 2005b) und wird durch eine<br />
Handreichung ergänzt, die die Umsetzung auf der operativen<br />
Ebene erleichtern sollen.<br />
<strong>Die</strong> oben genannten internationalen Vereinbarungen der<br />
vergangenen Jahre beinhalten mehrere handlungsleitende<br />
Prinzipien, die den qualitativen Mehrwert der neuen Agenda<br />
gegenüber der EZ früherer Jahre ausmachen: Partnerorientierung,<br />
Geberharmonisierung, Wirkungsorientierung und Politikkohärenz.<br />
<strong>Die</strong>se sind nicht unbedingt neu, sie haben aber<br />
im Kontext der <strong>Millennium</strong>s-Agenda eine wesentlich größere<br />
Verbindlichkeit erhalten.<br />
Eigenverantwortung der Entwicklungsländer<br />
und Partnerorientierung der Geber<br />
Mit den MDGs gibt es erstmals einen gemeinsamen, bindenden<br />
Bezugsrahmen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit,<br />
der das Ziel der Armutsbekämpfung in den Fokus rückt<br />
und mit überprüfbaren Indikatoren konkretisiert. <strong>Die</strong>s impliziert<br />
eine klare Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen<br />
Entwicklungs- und Industrieländern. <strong>Die</strong> Ziele 1 bis 7 müssen<br />
in erster Linie von den Partnern selber umgesetzt werden. Sie<br />
85
müssen hierfür die entsprechenden nationalen Politiken und<br />
Strategien definieren sowie soweit wie möglich interne Ressourcen<br />
mobilisieren. Der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel im September<br />
2005 hat diesen Kerngedanken noch einmal bestätigt und die<br />
Entwicklungsländer im Abschlussdokument entsprechend in<br />
die Pflicht genommen. <strong>Die</strong>s erfordert die Formulierung nationaler<br />
Entwicklungsstrategien durch die Partnerländer, die die<br />
globalen <strong>Entwicklungsziele</strong> im Länderkontext konkretisieren<br />
sowie die Identifizierung der erforderlichen Schritte. Denn so<br />
unterschiedlich wie die Ausgangssituation und die Problemlagen,<br />
so unterschiedlich sind die Wege zur Zielerreichung. Bei<br />
der Verbesserung der Gesundheitssituation von Müttern mögen<br />
fehlende Entbindungsstationen den entscheidenden Engpass<br />
darstellen. Es kann aber auch sein, dass der gesellschaftliche<br />
und rechtliche Status der Frauen das eigentliche Problem<br />
und der entscheidende Ansatzpunkt sind. Welche Prioritäten<br />
bei den nationalen <strong>Entwicklungsziele</strong>n zu setzen sind und auf<br />
welchem Weg diese am besten erreicht werden, können letztlich<br />
nur die Partner – und das heißt sowohl staatliche wie nichtstaatliche<br />
Akteure – entscheiden.<br />
<strong>Die</strong> Geber müssen ihre Förderstrategien und die diesbezüglichen<br />
Maßnahmen aus den nationalen Strategien der Partner<br />
ableiten. Dabei erfordern unterschiedliche Ländertypen<br />
auch unterschiedliche Ansätze. <strong>Die</strong> größte Herausforderung<br />
stellt sich in Ländern mit schlechter Regierungsführung und<br />
in den so genannten fragilen Staaten. Sehr häufig ist die Armut<br />
hier besonders ausgeprägt und der Bedarf an Unterstützung<br />
am größten. Es fehlen aber zentrale Voraussetzungen für eine<br />
wirksame Entwicklungszusammenarbeit. Trotzdem darf sich<br />
die Gebergemeinschaft nicht völlig zurückziehen. <strong>Die</strong> Bundesregierung,<br />
vertreten durch das Bundesministerium für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), nimmt<br />
diese Herausforderung an und arbeitet im Kontext der hierzu<br />
laufenden internationalen Diskussion aktiv daran mit, Förderstrategien<br />
für diese Länder zu entwickeln. <strong>Die</strong> entwicklungs-<br />
86
politischen Instrumente müssen dazu beitragen, fragile Staatlichkeit<br />
und schlechte Regierungsführung zu überwinden und<br />
Prozesse entwicklungsorientierter Transformation zu unterstützen.<br />
Aber auch mit den schon weit entwickelten Ländern darf<br />
die Zusammenarbeit nicht völlig eingestellt werden. Zum einen<br />
haben Staaten wie Indien, China oder Brasilien im eigenen<br />
Land noch erhebliche Entwicklungsprobleme zu lösen,<br />
zum anderen spielen sie sowohl in ihrer Region, aber auch zunehmend<br />
auf der globalen Ebene eine wichtige Rolle. Da diese<br />
»Ankerländer« bedeutenden Einfluss auf die Weltwirtschaft,<br />
auf globale Umweltfragen wie den Klimawandel sowie auf<br />
die politische Entwicklung in ihren Nachbarländern nehmen,<br />
ist es wichtig, eine strategische Partnerschaft mit ihnen fortzusetzen.<br />
<strong>Die</strong> konsequente Partnerorientierung beschränkt sich aber<br />
nicht nur darauf, dass sich die Geber an den nationalen Politiken<br />
und Strategien der Entwicklungsländer ausrichten. Sie<br />
erfordert auch, die Institutionen und Verfahren der Partner<br />
zu nutzen und zu stärken und den Aufbau von Parallelstrukturen<br />
zu vermeiden. <strong>Die</strong> konsequenteste Form der Nutzung<br />
von Partnerstrukturen ist die Bereitstellung von Gebermitteln,<br />
die direkt in die nationalen Budgets einfließen. <strong>Die</strong>se Art der<br />
Finanzierung wird jedoch nur gewährt, wenn die Voraussetzungen<br />
für eine adäquate Verwendung und Kontrolle der Mittel<br />
gegeben sind.<br />
In vielen Entwicklungsländern sind die Strukturen derzeit<br />
noch schwach entwickelt und die nationalen Kapazitäten begrenzt,<br />
so dass sich die Geber hierauf nicht vollständig stützen<br />
können. Den nationalen Entwicklungsstrategien, insbesondere<br />
zur Armutsbekämpfung, fehlt es beispielsweise häufig an einer<br />
ausreichenden inhaltlichen Prioritätensetzung und einer angemessenen<br />
Einbeziehung von Parlamenten und Zivilgesellschaft<br />
in den Erstellungs- und Umsetzungsprozess. <strong>Die</strong> Geber<br />
sind daher gefordert, die Partner bei der Verbesserung der Stra-<br />
87
tegien zu unterstützen. <strong>Die</strong> deutsche EZ hat zahlreiche Länder<br />
bei der Erstellung von Armutsbekämpfungsstrategien (Poverty<br />
Reduction Strategy Papers, PRSP) unterstützt. Sie besitzt auf diesem<br />
Gebiet viel Erfahrung und ein großes Potenzial, dass zur<br />
Beratung der Partnerländer für unterschiedliche Zielgruppen<br />
und auf unterschiedlichen Ebenen eingesetzt werden kann.<br />
<strong>Die</strong>ses muss zukünftig noch konsequenter genutzt werden.<br />
Das Prinzip der Partnerorientierung erfordert von den Gebern<br />
oft einen schwierigen Balanceakt, um das richtige Maß an<br />
Unterstützung zu finden. Einerseits müssen die Entwicklungserfolge<br />
beschleunigt werden, wenn die MDGs bis 2015 noch<br />
erreicht werden sollen – das erwartet auch die kritische Öffentlichkeit.<br />
Andererseits brauchen Reformprozesse Zeit, vor allem<br />
wenn sie wirklich aus der Eigenverantwortung der Partnerländer<br />
resultieren sollen. Eine Überforderung und Überförderung<br />
der Partnerstrukturen kann diese Prozesse leicht konterkarieren.<br />
Auch diese Erfahrung hat man in der EZ schon oft machen<br />
müssen.<br />
Hinzu kommt, dass damit einhergehende Veränderungen<br />
nicht immer gradlinig und konfliktfrei verlaufen. Bei der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
und den MDGs handelt es sich um eine<br />
hoch politische Agenda. Es geht nicht nur um die Bekämpfung<br />
von Einkommensarmut und Hunger sowie Verbesserungen<br />
in sozialen Bereichen. Es geht auch um Verteilungsfragen und<br />
den Zugang zu Ressourcen. Hier kommen zwangsläufig unterschiedliche<br />
Interessen ins Spiel, die es auszuhalten und auszuhandeln<br />
gilt. Dabei sollten Konflikte nicht grundsätzlich<br />
nur negativ gesehen werden, sondern als notwendiger Teil<br />
von Entwicklungsprozessen. Wichtig ist, wie mit ihnen umgegangen<br />
wird. Konfliktmanagement, Krisenprävention und die<br />
Förderung von Demokratisierungsprozessen sind daher zentrale<br />
Handlungsfelder im Kontext der MDG-Agenda, die auch<br />
im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit immer<br />
stärker an Bedeutung gewinnen.<br />
88
<strong>Die</strong> Unterstützung der Partnerländer bei der Erreichung<br />
der MDGs ist somit eine sehr vielschichtige Aufgabe, deren<br />
Komplexität häufig nur schwer zu vermitteln ist. Zudem ist ein<br />
einzelner Geber wie die deutsche EZ nur ein Akteur unter vielen.<br />
Ob die deutsche Entwicklungspolitik einen angemessenen<br />
Beitrag zur Erreichung der MDGs leistet, kann daher nur im<br />
Kontext des Zusammenwirkens aller Geber beurteilt werden.<br />
<strong>Die</strong> deutsche EZ als Teil der<br />
internationalen Gebergemeinschaft<br />
Komplexe Herausforderungen sind nicht von einzelnen Akteuren<br />
zu lösen. Hier müssen alle Beteiligten – Partnerland und<br />
Geber – so effizient wie möglich zusammenwirken. Mit den<br />
MDGs hat daher auch das Prinzip der Geberharmonisierung<br />
eine neue Qualität und Verbindlichkeit erfahren.<br />
Um die Entwicklungsländer von der Vielzahl unterschiedlicher,<br />
komplizierter Verfahrensfragen zu entlasten und die<br />
Strukturen der Partnerländer zu stärken, fordert die Paris-<br />
Erklärung eine bessere Abstimmung zwischen den Geberorganisationen.<br />
<strong>Die</strong> Vorgehensweise bei der Planung und Umsetzung<br />
von Fördermaßnahmen soll harmonisiert werden. Darüber<br />
hinaus sollen sich alle Geber in eine sinnvolle, aus den<br />
Partnerstrategien abgeleitete Arbeitsteilung einfügen. <strong>Die</strong>ses<br />
Prinzip ist grundsätzlich richtig, stellt aber in der Praxis eine<br />
große Herausforderung dar, denn die erforderliche Abstimmung<br />
kostet viel Zeit. Erste Erfahrungen mit gemeinsamen<br />
Länderstrategien der Geber (so genannten Joint Assistance Strategies)<br />
zeigen, dass der Zeit- und Ressourcenaufwand hoch ist.<br />
Da aber auch mangelnde Kooperation zu hohen Transaktionskosten<br />
führt, gibt es zu einer stärkeren Geberharmonisierung<br />
letztlich keine Alternative. Zudem werden mit zunehmenden<br />
Erfahrungen und gemeinsamen Grundlagen auch die Abstimmungsprozesse<br />
leichter werden.<br />
89
Für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat das<br />
Thema Harmonisierung angesichts der sehr differenzierten<br />
Strukturen auf der Durchführungsebene eine besondere Relevanz.<br />
Denn im Gegensatz zu vielen anderen Gebern verfügt<br />
Deutschland über eine sehr komplexe Organisationslandschaft.<br />
<strong>Die</strong> unterschiedlichen Instrumente wie Finanzielle Zusammenarbeit<br />
(FZ), die Technische Zusammenarbeit (TZ) und<br />
TZ im weiteren Sinne haben zwar alle ihre spezifischen Stärken.<br />
Damit sie optimal zusammenwirken und Synergien erzielen,<br />
ist aber ein hoher Abstimmungsaufwand erforderlich.<br />
In der Praxis funktioniert dieses Zusammenspiel nicht immer<br />
optimal. Darüber hinaus liegt es in der Natur von Institutionen,<br />
auch eigene Interessen zu verfolgen. <strong>Die</strong>s erschwert die<br />
übergeordnete entwicklungspolitische Steuerung. <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />
hat daher im Koalitionsvertrag die stärkere Zusammenführung<br />
von TZ und FZ vereinbart und entsprechende<br />
Maßnahmen eingeleitet.<br />
<strong>Die</strong> Wirksamkeit der EZ als<br />
entscheidendes Qualitätsmerkmal<br />
<strong>Die</strong> Prinzipien der Partnerorientierung und Geberharmonisierung<br />
haben auch erhebliche Auswirkungen auf ein weiteres<br />
zentrales Element der <strong>Millennium</strong>s-Agenda: die Wirkungsorientierung<br />
der EZ. <strong>Die</strong>se hat mit der Formulierung messbarer<br />
und damit auch überprüfbarer Zielmarken für die Armutsbekämpfung<br />
einen zentralen Stellenwert erhalten. Oberstes<br />
Ziel aller Konferenzen und Beschlüsse, die im Kontext der<br />
<strong>Millennium</strong>sziele stehen, ist die Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
der armen und benachteiligten Menschen. Das bedeutet,<br />
dass die Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit<br />
nicht an den investierten Mitteln, sondern an den damit tatsächlich<br />
erzielten Wirkungen gemessen werden müssen. <strong>Die</strong>s<br />
90
ist vom Grundprinzip her unmittelbar einleuchtend, aber nicht<br />
leicht umzusetzen.<br />
Wirkungszusammenhänge sind komplex und das Ergebnis<br />
von Entwicklungsvorhaben ist immer das Resultat gemeinsamer<br />
Anstrengungen von Partnerland und Geberorganisationen.<br />
Je mehr die Prinzipien der Partnerorientierung<br />
und Geberko operation umgesetzt werden, desto weniger ist<br />
es sinnvoll und möglich, Erfolge einzelnen EZ-Organisationen<br />
zuzuschreiben. Auch die zunehmende Nutzung neuer Instrumente<br />
wie Budgetfinanzierung oder die Durchführung gemeinschaftlicher<br />
Programme durch mehrere Geber erschweren<br />
die Abgrenzung von Wirkungsbeiträgen. Zudem ändert sich<br />
der gesamte Fokus der Wirkungsbeurteilung. Im Zentrum der<br />
Betrachtung stehen die Entwicklungserfolge der Partner und<br />
deren Informationsbedarf für eine angemessene Steuerung ihrer<br />
Programme sowie für die Rechenschaftslegung gegenüber<br />
ihren Parlamenten und der Zivilgesellschaft. Auch das Wirkungsmonitoring<br />
muss daher – wie in der Paris-Erklärung gefordert<br />
– in der Verantwortung der Entwicklungsländer selber<br />
liegen.<br />
Gleichzeitig besteht in den Geberländern – befördert durch<br />
die MDGs als messbare Zielgrößen – ein starkes Interesse von<br />
Parlamenten und Öffentlichkeit, den Wirkungsbeitrag ihres<br />
Landes zu erfahren. <strong>Die</strong> dafür erforderlichen Daten zu Entwicklungsfortschritten<br />
in den Partnerländern werden aber<br />
von nationalen Institutionen noch zu wenig erfasst und bereitgestellt,<br />
so dass Geberorganisationen dazu tendieren, für<br />
»ihre« Fördermaßnahmen eigene Erhebungen durchzuführen.<br />
Hier besteht ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen<br />
Ansprüchen, das von zwei Seiten gelöst werden muss: Einerseits<br />
müssen die nationalen Monitoring-Systeme zur Datenerfassung<br />
in den Partnerländern verbessert werden, damit sich<br />
die Geber hierauf hinsichtlich ihres Informationsbedarfs stützen<br />
können. Andererseits muss aber auch der Anspruch an den<br />
»Wirkungsnachweis« auf ein realistisches Maß gebracht wer-<br />
91
den. Auf diesem Gebiet werden gerade an die Entwicklungszusammenarbeit<br />
mit ihren sehr komplexen Aufgabenstellungen<br />
und Rahmenbedingungen Anforderungen gestellt, die in<br />
kaum einem anderen Politikfeld üblich sind – und auch dort<br />
wenig umsetzbar wären.<br />
Einigkeit besteht in der internationalen Diskussion, dass<br />
eine exakte Quantifizierung und Zuordnung des Wirkungsbeitrags<br />
einzelner Geber zu nationalen <strong>Entwicklungsziele</strong>n, wie<br />
beispielsweise der Armutsbekämpfung und den MDGs, weder<br />
sinnvoll noch möglich ist. Darüber hinaus besteht Konsens,<br />
dass die Ebene des einzelnen Vorhabens bei einer Wirkungsbeurteilung,<br />
die auch Bezug auf solche übergeordneten <strong>Entwicklungsziele</strong><br />
nehmen soll, nicht ausreicht. Als unit of account<br />
muss daher wesentlich stärker die Länderebene in den Blick<br />
genommen werden. Hinzu kommt, dass viele Wirkungen, vor<br />
allem auf struktureller Ebene, erst mittel- bis langfristig eintreten.<br />
<strong>Die</strong> Überprüfung der tatsächlich erreichten – und nicht nur<br />
der geplanten, erhofften und vermuteten – Wirkungen bleibt<br />
noch immer sehr unzureichend. Ohne eine solche Verifizierung<br />
bleibt die Wirkungsorientierung aber letztlich bei der Formulierung<br />
guter Absichten stehen.<br />
Mit der Verschiebung der Referenzziele und der Referenzebenen<br />
(also weg vom einzelnen Projekt, hin zu einer aggregierteren<br />
Betrachtung) in der Wirkungsanalyse gehen methodische<br />
Fragestellungen einher, die auch international noch<br />
nicht befriedigend beantwortet sind. Das enthebt die deutsche<br />
EZ – wie alle anderen Geber auch – aber nicht der Verpflichtung,<br />
ihren Beitrag zur Erreichung der MDGs zu erfassen und<br />
hierüber zu berichten. <strong>Die</strong> Transparenz von Entwicklungsanstrengungen<br />
und -erfolgen ist ein zentrales Element der <strong>Millennium</strong>s-Agenda.<br />
Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um den<br />
gesellschaftlichen Druck und den politischen Willen für die Erreichung<br />
der Ziele zu verstärken.<br />
Um die Entwicklungszusammenarbeit – auf internationaler<br />
und nationaler Ebene – in dem erforderlichen Maß auf eine<br />
92
stärkere Wirksamkeit auszurichten, ist ein umfassender Ansatz<br />
notwendig. <strong>Die</strong>ses Prinzip des Managing for Development<br />
Results (MfDR) wurde auf der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung<br />
2002 in Monterrey erstmals formuliert, und es ist<br />
ein Kernelement der Paris-Erklärung. Damit ist es für Partner-<br />
wie Geberländer ein wesentliches und verbindliches Qualitätsmerkmal<br />
ihrer Arbeit geworden. MfDR umfasst alle Ebenen der<br />
Entwicklungszusammenarbeit (Land, Sektor und Vorhaben)<br />
sowie alle Phasen, also Planung, Implementierung und Evaluierung.<br />
Der Ansatz impliziert den Grundsatz der Partnerorientierung<br />
und Geberharmonisierung. Zielsetzung von MfDR ist<br />
es, das institutionelle Lernen zu verbessern, um die Wirksamkeit<br />
der EZ zu erhöhen. Es dient außerdem dazu, über diese<br />
Wirksamkeit Rechenschaft ablegen zu können. MfDR erfordert<br />
eine umfassende Ausrichtung der Verfahren und Instrumente<br />
auf Wirkungen sowie die Einrichtung einfacher, kosteneffizienter<br />
und nutzerfreundlicher Monitoring- und Berichtssysteme,<br />
die auf den diesbezüglichen Strukturen der Partnerländer<br />
aufbauen sollen.<br />
<strong>Die</strong>se grundsätzlichen Anforderungen setzen auch den<br />
Rahmen für eine Verstärkung der Wirkungsorientierung in der<br />
deutschen EZ, die aufgrund ihrer sehr diversifizierten Struktur<br />
vor besonderen Herausforderungen steht. Alle deutschen EZ-<br />
Organisationen haben zwar in den vergangenen Jahren große<br />
Anstrengungen unternommen, um ihre Arbeit wirkungsorientierter<br />
zu gestalten. Dabei sind sie allerdings immer noch sehr<br />
stark auf die Ebene einzelner Vorhaben fokussiert. Es können<br />
zurzeit kaum fundierte Aussagen darüber getroffen werden,<br />
welchen Wirkungsbeitrag die deutsche Entwicklungszusammenarbeit<br />
insgesamt zu den Entwicklungsfortschritten eines<br />
Partnerlandes in bestimmten Sektoren oder Schwerpunkten<br />
leistet. <strong>Die</strong>s erfordert, über die Wirkungsbeurteilung auf der<br />
Ebene einzelner Projekte hinauszukommen und die Verfahren<br />
und Instrumente der Wirkungsanalyse stärker zu harmonisieren.<br />
Dabei kommt den Schwerpunkten der deutschen EZ im<br />
93
Partnerland eine zunehmende Bedeutung zu. Hier müssen die<br />
verschiedenen Instrumente der EZ zusammenwirken und Synergien<br />
entfalten. Gemeinsam mit den Durchführungsorganisationen<br />
arbeitet das BMZ daher daran, das Instrumentarium zur<br />
Wirkungsanalyse weiterzuentwickeln.<br />
Darüber hinaus müssen auch die Planungs- und Steuerungsinstrumente<br />
konsequent wirkungsorientiert gestaltet werden.<br />
Entsprechende Anpassungen der Länder- und Sektorkonzepte<br />
sowie der Schwerpunktstrategiepapiere sind in Arbeit. Um die<br />
Effizienz der deutschen EZ zu erhöhen, die Kräfte stärker zu<br />
bündeln und die eigenen komparativen Stärken besser zu nutzen,<br />
wird die bereits eingeleitete Länderkonzentration und inhaltliche<br />
Schwerpunktsetzung fortgesetzt.<br />
Eine an den internationalen Zielvorgaben ausgerichtete<br />
Wirkungsorientierung erfordert auch eine systematische Verankerung<br />
der MDGs in der deutschen Entwicklungspolitik.<br />
Das entscheidende Instrument sind hier die Zielvereinbarungen<br />
des BMZ, die seit 2004 die mittelfristige und die kurzfristige<br />
(Jahres-) Planung auf allen Ebenen des Ministeriums<br />
bestimmen. In diesen Zielvereinbarungen werden die MDGs<br />
je nach Aufgabenstellung der Arbeitseinheiten berücksichtigt<br />
und operationalisiert.<br />
Allerdings brauchen solche Anpassungen immer eine gewisse<br />
Zeit und müssen von denjenigen, die sie umzusetzen<br />
haben, auch absorbiert werden können. Es müssen möglichst<br />
viele der Betroffenen an den Prozessen beteiligt werden, um<br />
alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen. <strong>Die</strong> Belange<br />
der Partner sind in diesem Kontext ebenfalls ein wichtiger<br />
Faktor. Auch in den Entwicklungsländern werden Veränderungen<br />
meist nicht von heute auf morgen umgesetzt. <strong>Die</strong> deutsche<br />
EZ kann nicht unabhängig von den Partnern agieren und<br />
muss sich auf deren Veränderungsprozesse einstellen. Hinzu<br />
kommt, dass gerade im Kontext der <strong>Millennium</strong>s-Agenda auf<br />
internationaler Ebene ein sehr dynamischer Prozess in Gang<br />
gesetzt wurde, der immer wieder neue konzeptionelle und<br />
94
strategische Anpassungen erfordert. Work in progress ist daher<br />
kein Schlagwort oder Vorwand für ein mangelndes Reformtempo,<br />
sondern das tägliche Brot der Entwicklungszusammenarbeit,<br />
die sich in einem sehr komplexen Gefüge verschiedener<br />
Akteure und Anforderungen bewegt. Unterschiede zwischen<br />
Theorie und Praxis sind daher ein unvermeidlicher Bestandteil<br />
organisationeller Veränderungsprozesse, auch in der EZ.<br />
Politikkohärenz als Voraussetzung<br />
für erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-Agenda und der MDGs erfordert<br />
aber nicht nur Veränderungsprozesse innerhalb der<br />
deutschen EZ, sondern nimmt alle politischen Akteure in die<br />
Pflicht. <strong>Die</strong> MDGs sind eine Vorgabe für die Gesamtpolitik,<br />
sprich Armutsbekämpfung ist nicht mehr nur Aufgabe des für<br />
Entwicklungspolitik zuständigen Ministeriums. <strong>Die</strong> internationalen<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong> sind nur durch ein kohärentes Zusammenwirken<br />
von Entwicklungspolitik mit Außen-, Sicherheits-,<br />
Finanz-, Handels-, Agrar- und Umweltpolitik erreichbar.<br />
Das Aktionsprogramm 2015 zur Armutsbekämpfung ist daher<br />
bewusst ressortübergreifend angelegt und dient als Instrument,<br />
entsprechend kohärentes und abgestimmtes Vorgehen<br />
aller Politikfelder einzufordern. Das Programm bekräftigt Armutsbekämpfung<br />
als Querschnittsaufgabe der gesamten Bundesregierung<br />
und als Kernaufgabe der deutschen Entwicklungspolitik.<br />
Das Aktionsprogramm strebt außerdem eine enge Zusammenarbeit<br />
mit Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft an. <strong>Die</strong><br />
MDGs sind nicht nur ein gemeinsamer Referenzrahmen für<br />
die Kooperation von Industrie- und Entwicklungsländern,<br />
sondern auch für staatliche Organisationen und zivilgesellschaftliche<br />
Gruppen. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Rollen<br />
und Mandate sind diese doch auf die gleichen Ziele verpflich-<br />
95
tet. Nichtregierungsorganisationen sind kritische Beobachter<br />
der staatlichen EZ und wichtige Akteure bei der Umsetzung<br />
zentraler Forderungen der Entwicklungspolitik, die speziell<br />
mit MDG 8 eine stärkere Legitimation bekommen haben. Das<br />
Zustandekommen des ODA-Stufenplans der EU und die erweiterte<br />
Entschuldungsinitiative des G8-Gipfels von Gleneagles<br />
im Jahr 2005 sind sicherlich auch dem starken öffentlichen<br />
Druck zu verdanken.<br />
<strong>Die</strong> staatliche EZ unterstützt die entwicklungspolitische<br />
Arbeit zivilgesellgesellschaftlicher Organisationen und führt<br />
mit ihnen einen intensiven Dialog. Eine Herausforderung für<br />
die kommenden Jahre wird es sein, auch diesen Dialog den<br />
neuen Fragestellungen und Aufgaben anzupassen. <strong>Die</strong> durch<br />
die <strong>Millennium</strong>-Erklärung, die MDGs und die Paris-Erklärung<br />
formulierten Prinzipien wie Partnerorientierung, Geberharmonisierung,<br />
Wirkungsorientierung und Kohärenz sind grundlegende<br />
Qualitätskriterien der EZ insgesamt, gleich welchen<br />
Typs.<br />
Fazit<br />
Viele Aspekte der <strong>Millennium</strong>s-Agenda sind nicht völlig neu,<br />
sondern haben sich sukzessive aus den Erfahrungen früherer<br />
Jahre entwickelt. Eine radikale Abkehr von der bisherigen Praxis<br />
ist daher weder sinnvoll noch erforderlich. Es darf aber auch<br />
nicht zu einer reinen »Umetikettierung« der Maßnahmen kommen.<br />
Es ist verlockend zu glauben, dass Partnerorientierung,<br />
Wirkungsorientierung, Kohärenz und Armutsbekämpfung bereits<br />
ausreichend in der EZ verankert sind, weil sich alles, was<br />
gemacht wird, »irgendwie« diesen Kategorien zuordnen lässt.<br />
Doch damit würde die Chance vertan, die EZ strategischer und<br />
wirksamer zu gestalten.<br />
In der EZ – und nicht nur da – gibt es selten einfache Lösungen.<br />
<strong>Die</strong> Herausforderungen, die mit den MDGs einherge-<br />
96
hen, sind wesentlich komplexer, als dies auf den ersten Blick<br />
erscheint. Wer etwas verändert, betritt Neuland. Welche Erfahrungen<br />
mit neuen Ansätzen gemacht werden, kann erst nach<br />
einiger Zeit wirklich beurteilt werden. Das Verharren in alten<br />
Mustern ist jedoch keine Alternative.<br />
Bei allen Veränderungsprozessen muss immer berücksichtigt<br />
werden, dass Verfahrensaspekte keinen Selbstzweck haben.<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-Agenda ist nicht in erster<br />
Linie eine technische oder administrative Herausforderung.<br />
Was am Ende wirklich zählt, ist die Bekämpfung von Armut<br />
und die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter<br />
Menschen.<br />
Literatur<br />
BMZ, 2001: Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe. Aktionsprogramm<br />
2015, Bonn.<br />
BMZ, 2004: Auf dem Weg zur Halbierung der Armut: 2. Zwischenbericht<br />
über den Stand der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015. Bonn.<br />
BMZ, 2005a: Der Beitrag Deutschlands zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong>. Bonn.<br />
BMZ, 2005b: Mehr Wirkung erzielen. <strong>Die</strong> Ausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />
auf die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>.<br />
<strong>Die</strong> Umsetzung der Paris Declaration on Aid Effectiveness. Bonn.<br />
97
MICHÈLE ROTH<br />
Armutsbekämpfung<br />
durch Massenmobilisierung?<br />
<strong>Die</strong> Kampagnen zu den<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>n<br />
Dass die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />
Goals, MDGs) nicht wie andere wohlgemeinte internationale<br />
Absichtserklärungen in der Versenkung verschwunden<br />
sind, sondern mehr und mehr an öffentlicher Aufmerksamkeit<br />
gewinnen konnten, liegt neben dem Impuls durch die Jahrtausendwende,<br />
dem wachsenden Problemdruck und der Griffigkeit<br />
der formulierten Ziele auch an einer weltweit betriebenen,<br />
breit angelegten Mobilisierung für die MDGs.<br />
Frühere Kampagnen zu globalpolitischen Anliegen haben<br />
gezeigt, welche Wirkung die durch die modernen Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien erst möglich gewordene<br />
weltumspannende Aktivierung und Vernetzung von<br />
gleichgesinnten Kräften haben kann. Prominente Beispiele sind<br />
die internationale Kampagne für das Verbot von Landminen<br />
und die Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof.<br />
Im entwicklungspolitischen Bereich ist eine derart breitenwirksame<br />
Mobilisierung, wie sie zurzeit für die MDGs stattfindet,<br />
ein Novum. Als Vorläuferin kann allenfalls die Jubilee 2000-<br />
Bewegung angesehen werden, die weltweit über 50 Kampagnen<br />
und Bündnisse vereinte und einen weit reichenden Schuldenerlass<br />
für die armen Länder bis zum Jahr 2000 sowie ein<br />
»internationales Insolvenzrecht« forderte. <strong>Die</strong> deutsche Kampagne<br />
erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung, die bis<br />
heute fortgeführt wird, vereint über 1.000 Organisationen.<br />
98
Zwischen Kooperation und Konkurrenz:<br />
die MDG-Kampagnen<br />
Während die genannten Kampagnen das alleinige »Dach« für<br />
ihr jeweiliges Anliegen bildeten, zeigt sich bei den MDGs eine<br />
bunte Kampagnenlandschaft mit mindestens drei Hauptsträngen,<br />
die unterschiedlich stark miteinander verwoben sind. Zunächst<br />
ist die »offizielle« Kampagne der Vereinten Nationen,<br />
die <strong>Millennium</strong> Campaign, zu nennen. <strong>Die</strong> Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs) haben ihre Aktivitäten unter dem Slogan<br />
Global Call to Action Against Poverty gebündelt. Und schließlich<br />
werben private Initiativen prominenter Persönlichkeiten aus<br />
dem Showbusiness für die MDGs – allen voran Bob Geldof mit<br />
seinen Live8-Konzerten.<br />
Werbung in eigener Sache:<br />
die <strong>Millennium</strong> Campaign der Vereinten Nationen<br />
<strong>Die</strong> Vereinten Nationen lancierten ihre <strong>Millennium</strong> Campaign<br />
im Oktober 2002, gut ein Jahr nachdem Kofi Annan in seinem<br />
Bericht »Road map towards the implementation of the United<br />
Nations <strong>Millennium</strong> Declaration« (2001) alle acht MDGs mit<br />
ihren Zielvorgaben und Indikatoren erstmals aufgelistet hatte. 1<br />
<strong>Die</strong> Kampagne ist beim UN-Entwicklungsprogramm (UNDP)<br />
angesiedelt und wird aus einem Treuhandfonds finanziert. Das<br />
»Gesicht« der Kampagne ist die ehemalige niederländische<br />
Entwicklungsministerin Eveline Herfkens, die vom UN-Generalsekretär<br />
zur Sonderbeauftragten für die <strong>Millennium</strong> Campaign<br />
ernannt wurde. Ihre Arbeit wird durch ein kleines Sekretariat<br />
unterstützt.<br />
1 Informationen zur <strong>Millennium</strong> Campaign der Vereinten Nationen finden<br />
sich unter www.millenniumcampaign.org. <strong>Die</strong> deutsche <strong>Millennium</strong> Campaign<br />
präsentiert sich unter www.millenniumcampaign.de.<br />
99
Hauptziel der Kampagne ist es nach eigener Angabe, die<br />
Bürger dabei zu unterstützen, ihre Regierungen aufzufordern,<br />
über das <strong>Millennium</strong>-Versprechen Rechenschaft abzulegen.<br />
<strong>Die</strong>ses Ziel fußt auf der Annahme, dass das Know-how und<br />
die Mittel zur Umsetzung der MDGs vorhanden sind und es<br />
allein am Willen der politischen Elite mangelt, ihr Versprechen<br />
zu erfüllen. Als Partner, die die Kampagne unterstützen und<br />
mobilisieren will, werden zivilgesellschaftliche und religiöse<br />
Gruppen, Jugendliche und Kinder, Parlamentarier und lokale<br />
Behörden, Gewerkschaften und Medien, Prominente sowie die<br />
allgemeine Öffentlichkeit genannt. Mit einer Vielzahl von Anregungen<br />
und weltweiten Aktionen sollen sie zum Mitmachen<br />
animiert werden. So wurde beispielsweise ein »Campaigning<br />
Toolkit« erstellt, das eine umfassende Anleitung zur Planung<br />
und Durchführung eigener Kampagnen bietet und Beispiele<br />
für gelungene Aktionen präsentiert. Auf dem Plan stehen auch<br />
Brief- und Postkartenaktionen und ein Weltrekordversuch, der<br />
am 15./16. Oktober 2006 – dem Aufruf »STAND UP Against<br />
poverty« folgend – erzielt werden soll.<br />
Um öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, arbeitet die<br />
Kampagne mit Prominenten wie der Sängerin Shakira, dem<br />
Schauspieler Michael Douglas oder dem Nobelpreisträger Elie<br />
Wiesel zusammen, die in Video-Clips – auch versendbar als<br />
elektronische Postkarte – unter dem Motto »Only with your<br />
voice« die Zuschauer dazu aufrufen, ihre Regierungen an das<br />
<strong>Millennium</strong>-Versprechen zu erinnern.<br />
Neben der direkten Ansprache der Zielgruppen hat die <strong>Millennium</strong><br />
Campaign nach eigenen Angaben ca. 60 nationale MDG-<br />
Kampagnen angestoßen. Zum überwiegenden Teil handelt es<br />
sich dabei allerdings um zivilgesellschaftliche Verbünde, die<br />
sich selber der Global Call to Action Against Poverty-Bewegung<br />
zurechnen. Entsprechend verwenden nur manche – wie die<br />
deutsche oder die italienische <strong>Millennium</strong> Campaign 2 – auf ihrer<br />
2 www.millenniumcampaign.it<br />
100
Website die gleichen Logos, Werbeslogans und Textbausteine<br />
wie die UN-Kampagne. Andere sind lose oder gar nicht mit<br />
der UN-Kampagne verbunden. Neben der Beteiligung an globalen<br />
Aktionen führen die nationalen Kampagnen individuell<br />
lokale Aktivitäten durch und setzen eigene Schwerpunkte. In<br />
den Entwicklungsländern liegt der Fokus überwiegend auf der<br />
Überwachung nationaler Armutsreduzierungs-Strategien und<br />
nationaler Budgets, aber auch fairere internationale Handelsbedingungen<br />
sind ein zentrales Thema. In den Industrieländern<br />
bilden die im MDG 8 formulierten Forderungen nach Erhöhung<br />
der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, Schuldenerlassen<br />
und fairen Handelsbedingungen den Schwerpunkt.<br />
<strong>Die</strong> deutsche <strong>Millennium</strong> Campaign – finanziert vom Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(BMZ), der UN-Kampagne sowie privaten Sponsoren<br />
und geleitet von Renée Ernst – wurde 2005 lanciert. Sie zielt<br />
vor allem auf die Mobilisierung junger Menschen. Dazu wurden<br />
unter anderem spezielle »Only with your voice«-Clips mit<br />
der deutschen Band »Wir sind Helden« und dem Sänger »Gentleman«<br />
produziert, die auf MTV Deutschland ausgestrahlt<br />
werden. Auch mit einem bunten Strauss weiterer Aktivitäten<br />
macht die Kampagne auf die MDGs aufmerksam. So war sie<br />
mit Ausstellungen, Filmen, Konzerten und Gesprächen bei der<br />
Nacht der Museen 2006 in Frankfurt/Main präsent, erarbeitete<br />
in einem Workshop mit dem Titel »Young Artists united<br />
for the UN-<strong>Millennium</strong> Development Goals« ein Theaterstück<br />
zu den MDGs, führte in Bonn ein Radioprojekt mit Schülern<br />
durch, organisierte einen »Beats&Lyrics Contest« oder ernennt<br />
MDG-Schülerbeauftragte. Der vielleicht bekannteste Baustein<br />
der Kampagne sind die »UN-<strong>Millennium</strong>-Gates« des italienischen<br />
Architekten Luca Cipelletti, die seit Juli 2005 durch die<br />
Fußgängerzonen deutscher Städte touren und »spielerisch die<br />
ernsten Inhalte der MDGs« vermitteln sollen. Jedes der acht<br />
Tore, gebildet aus einem mit einem Banner verbundenen Figurenpaar,<br />
illustriert ein MDG.<br />
101
Neben zivilgesellschaftlichen Organisationen mobilisierte<br />
die UN-Kampagne auch andere Zielgruppen. So startete etwa<br />
die transnationale Vereinigung United Cities and Local Governments<br />
(UCLG) unter dem Motto »2015: No excuse! The world<br />
must be a better place« die <strong>Millennium</strong> Cities and Towns Campaign<br />
und verabschiedete eine »Local Government <strong>Millennium</strong><br />
Declaration«, die die Rolle lokaler Behörden bei der Umsetzung<br />
der MDGs betont und dazu aufruft, den MDGs höchste<br />
Priorität einzuräumen. 3<br />
<strong>Die</strong> UN <strong>Millennium</strong> Campaign wirbt uneingeschränkt für die<br />
MDGs; zumindest auf internationaler Ebene ist augenscheinlich<br />
weder eine vertiefende Vermittelung der komplexen Entwicklungsproblematik<br />
beabsichtigt noch eine kritische Auseinandersetzung<br />
mit den Zielen gewünscht (vgl. den Beitrag<br />
von Herfkens/Bains). Stattdessen ist eine Tendenz erkennbar,<br />
die MDGs zu überhöhen, indem etwa auf der Website der UN-<br />
Kampagne damit geworben wird, dass die extreme Armut auf<br />
dem Planeten durch das Erreichen der MDGs bis 2015 beendet<br />
würde. »Unser Versprechen ist einfach: Wir sind die erste Generation,<br />
die die extreme Armut in der Welt beseitigen kann,<br />
und wir weigern uns, diese Gelegenheit zu verpassen«, so der<br />
Werbeslogan, der zu vergessen scheint, dass bereits das vereinbarte<br />
Ziel der Halbierung der Armut nur noch noch mit massiv<br />
verstärkten Anstrengungen erreicht werden kann. <strong>Die</strong> deutsche<br />
<strong>Millennium</strong> Campaign argumentiert hier wesentlich differenzierter<br />
und verweist etwa darauf, dass die Halbierung der<br />
Armut auf globaler Ebene dank enormer Fortschritte in China<br />
und Indien zwar erreicht werden dürfte, dass es aber darum<br />
gehen müsse, Menschen auf der ganzen Welt ein menschenwürdiges<br />
Leben zu ermöglichen.<br />
<strong>Die</strong> UN-Kampagne arbeitet eng mit den Initiatoren des Global<br />
Call to Action Against Poverty zusammen. Beide Kampagnen<br />
haben sich auf das weiße Band (als Arm- oder Stirnband oder<br />
3 www.cities-localgovernments.org/uclg<br />
102
als Band um bekannte Gebäude etc.) als Symbol für den Kampf<br />
gegen die Armut verständigt. Gemeinsame Aktionstage, so genannte<br />
»White Band Days«, bilden in unregelmäßigen Abständen<br />
einen Höhepunkt der Aktivitäten (siehe unten).<br />
Vom eigenen Erfolg überrascht:<br />
der Global Call to Action Against Poverty<br />
Über 900 zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse<br />
aus über 80 Ländern, die zusammen mehr als<br />
150 Mio. Menschen repräsentieren, haben sich bis dato dem<br />
Global Call to Action Against Poverty (GCAP) mit dem langfristigen<br />
Ziel, der Armut ganz ein Ende zu setzen, angeschlossen.<br />
<strong>Die</strong> nach einem ersten Planungstreffen in Johannesburg im<br />
September 2004 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre (Januar<br />
2005) lancierte Allianz sollte ursprünglich lediglich einer<br />
gemeinsamen Mobilisierung rund um die entwicklungspolitischen<br />
Großereignisse des Jahres 2005 dienen. Nach eigener<br />
Aussage entwickelte sich der GCAP jedoch binnen Jahresfrist<br />
zur größten globalen Anti-Armuts-Bewegung, die es jemals gegeben<br />
hat. An den drei »White Band Days« hätten sich insgesamt<br />
über 36 Mio. Menschen beteiligt. Überrascht von diesem<br />
Erfolg wurde auf einem Planungstreffen in Beirut beschlossen,<br />
den Aufruf zu erneuern und die gemeinsamen Aktivitäten bis<br />
ins Jahr 2007 weiterzuführen (GCAP 2006).<br />
Über die generelle Unterstützung der MDGs hinaus haben<br />
sich die unter dem Dach des GCAP vereinten, sehr heterogenen<br />
Organisationen auf vier zentrale Forderungen verständigt:<br />
gute Regierungsführung und die Durchsetzung der Menschenrechte,<br />
gerechter Welthandel,<br />
umfassende Schuldenerlasse für arme Länder sowie<br />
eine deutliche Steigerung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit<br />
und zwar quantitativ wie qualitativ.<br />
103
Auch diese Kampagne ist dezentral und subsidiär organisiert,<br />
das heißt alle beteiligten Organisationen und nationalen<br />
Kampagnen führen ihre eigenen Aktivitäten durch, verbunden<br />
durch das gemeinsame Symbol des weißen Bandes und<br />
weltweite Aktionstage. Koordiniert wird der GCAP durch ein<br />
Global Action Forum, das allen interessierten Organisationen offen<br />
steht und regelmäßigen Austausch über eine E-Mail-Liste<br />
pflegt, sowie eine kleinere International Facilitation Group (ab<br />
2006 International Facilitation Team), die aus regionalen Repräsentanten<br />
und Vertretern der wichtigsten international aktiven<br />
Organisationen zusammengesetzt ist. Höhepunkte im ersten<br />
Kampagnenjahr waren die drei »White Band Days« rund um<br />
die drei entwicklungspolitischen Großereignisse des Jahres.<br />
Auffälligstes Merkmal des ersten »White Band Day« am<br />
1. Juli 2005 war die Anbringung riesiger weißer Bänder an weltberühmten<br />
Gebäuden wie dem Brandenburger Tor, der Harbour<br />
Bridge in Sydney oder den Trocadero-Gebäuden vor dem<br />
Pariser Eiffelturm. Es folgte eine Aktionswoche, die mit einem<br />
Demonstrationsmarsch in Edinburgh – parallel zum G8-Gipfel<br />
– unter dem Motto »Long Walk to Justice« endete. Der zweite<br />
»White Band Day« am 10. September sollte dazu dienen, die<br />
zum <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel reisenden Regierungschefs »aufzuwecken«<br />
und an ihr <strong>Millennium</strong>-Versprechen zu erinnern.<br />
In Deutschland bekam Bundeskanzler Gerhard Schröder am<br />
9. September 300.000 Unterschriften überreicht, die die deutsche<br />
Kampagne bis dahin gesammelt hatte. Vor dem Reichstag<br />
wurde ein 800 Meter langes weißes Band ausgelegt. <strong>Die</strong><br />
Forderung nach fairen Handelsbedingungen stand schließlich<br />
im Mittelpunkt des dritten »White Band Day«, der am 10. Dezember<br />
stattfand, wenige Tage vor der Ministerkonferenz der<br />
Welthandelsorganisation (WTO) in Hongkong. In Deutschland<br />
bekamen politische Entscheidungsträger an diesem Tag Besuch<br />
vom Nikolaus, der handelspolitische Forderungen überbrachte.<br />
104
Für 2006 ist ein »Mobilisierungsmonat« geplant, der am<br />
16. September mit den Jahrestagungen von Internationalem<br />
Währungsfonds (IWF) und Weltbank beginnen und am 17. Oktober,<br />
dem Internationalen Tag der Ausrottung der Armut, mit<br />
einem weltweiten »White Band Day« enden soll. Höhepunkte<br />
der Aktionen 2007 werden der G8-Gipfel in Deutschland und<br />
die »Halbzeit« der MDGs sein (gedacht wird an das eingängige<br />
Datum 07/07/07).<br />
Das deutsche GCAP-Aktionsbündnis Deine Stimme gegen Armut<br />
wird getragen und finanziert vom Verband Entwicklungspolitik<br />
deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO)<br />
und von Herbert Grönemeyer und Freunden. <strong>Die</strong> deutschen<br />
NGOs haben sich damit – wie andere nationale GCAP-Kampagnen,<br />
die im angelsächsischen Raum und darüber hinaus<br />
mit dem inzwischen weltbekannten Slogan »Make Poverty<br />
History« auftreten – für die Zusammenarbeit mit Prominenten<br />
entschieden, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Allerdings<br />
mussten die deutschen NGOs erst »zum Jagen getragen«<br />
werden. Meinungsunterschiede über die MDGs, über<br />
das geeignete Verhältnis zwischen Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit<br />
sowie Skepsis über die eigenen Fähigkeiten zur Massenmobilisierung<br />
hatten zunächst überwogen. Insbesondere die<br />
Zusammenarbeit mit Herbert Grönemeyer kam erst auf Druck<br />
britischer NGOs sowie des U2-Sängers Bono zustande. Über<br />
die Beweggründe der britischen Partner lässt sich freilich spekulieren:<br />
»Inwieweit es sich dabei um genuin zivilgesellschaftliche<br />
Initiativen gehandelt hat oder auch um solche, die von der<br />
britischen Regierung (mit)beeinflusst worden waren, um<br />
den wegen des Irak-Desasters bedrängten Premierminister<br />
Tony Blair zu entlasten und günstige Voraussetzungen für<br />
einen erfolgreichen G8-Gipfel unter britischer Präsidentschaft<br />
zu schaffen, bleibt Spekulation.« (Hermle 2006, 37).<br />
Am 31. März 2005 trat Deine Stimme gegen Armut erstmals mit<br />
einer Pressekonferenz in die Öffentlichkeit, bei der gemeinsam<br />
105
mit Herbert Grönemeyer ein Werbespot mit prominenten Unterstützern<br />
präsentiert wurde. Alle drei Sekunden schnippt ein<br />
ganz in weiß gekleideter Prominenter – von Claudia Schiffer<br />
über Anne Will, Xavier Naidoo, Bono bis zu Grönemeyer selbst<br />
– mit den Fingern, um darauf aufmerksam zu machen, dass alle<br />
drei Sekunden ein Kind an den Folgen extremer Armut stirbt.<br />
Als letztes Bild erscheint ein ärmlich gekleideter, schwarzer<br />
Junge. 4 Der Spot wurde in den folgenden Monaten im deutschen<br />
Privatfernsehen, in Kinos und auch an anderen Orten<br />
– zum Beispiel in Mediamarkt-Filialen – ausgestrahlt. Ein weiterer<br />
Spot mit Fußballstars wurde vor Spielen der Bundesliga in<br />
Fußballstadien gezeigt. Nach einer – allerdings nicht repräsentativen<br />
– Befragung durch Studierende der Universität Münster<br />
hat sich jeder Vierte nach Betrachten des Spots mit anderen<br />
darüber unterhalten (Bonse et al. 2006, 372). Deine Stimme gegen<br />
Armut richtete sich auch wiederholt mit ganzseitigen Anzeigen<br />
in Nachrichtenmagazinen und Zeitungen an die Regierenden<br />
und erinnerte sie an ihre Versprechen. <strong>Die</strong> Aktion präsentierte<br />
sich auf Popkonzerten, bei der Musikmesse Popkomm oder<br />
beim Weltjugendtag. Auch die Fußball-WM im Sommer 2006<br />
wurde für vielfältige Aktionen genutzt. Auf der Fanmeile in<br />
Berlin war Deine Stimme gegen Armut mit einer Torwand präsent,<br />
deren acht Tore die acht MDGs symbolisierten.<br />
Eine besondere Herausforderung für die deutsche Kampagne<br />
stellt der G8-Gipfel 2007 dar, der unter deutschem Vorsitz<br />
in Heiligendamm stattfinden wird. Erklärtes Ziel ist es<br />
dazu beizutragen, mit dem Gipfel ein »historisches Zeichen<br />
für die Armutsbekämpfung« zu setzen. <strong>Die</strong> in einem VENRO-<br />
Positionspapier (siehe unten) formulierten Teilthemen sollen<br />
4 Aus feministischer Perspektive wurde der Spot als Ausdruck »weiße[r],<br />
westlicher[r] und männliche[r] Überlegenheitsphantasien« kritisiert: »Armut<br />
– so lautet die Botschaft dieses Werbefilms – ist ein schwarzes Loch;<br />
Armut, das ist der sprichwörtliche ›schwarze Kontinent‹, der die Befehlsgewalt<br />
des weißen Subjekts herausfordert und seine Definitionsmacht bestätigt.«<br />
(Mathes 2005, 174).<br />
106
sich auf der G8-Tagesordnung wiederfinden. Um diese Ziele<br />
zu erreichen, wurde eine intensivere Zusammenarbeit mit Herbert<br />
Grönemeyer vereinbart, die ab September 2006 in einem<br />
gemeinsamen Aktions-Büro in Berlin ihren Ausdruck finden<br />
wird. Im Vorfeld des Gipfels sollen unter anderem 1 Mio. Unterschriften<br />
gesammelt, eine konzertierte Briefaktion der Kampagnenpartner<br />
aller G8-Staaten an die deutsche Bundesregierung<br />
organisiert und eine Veranstaltungsreihe zur Diskussion<br />
von G8-Themen durchgeführt werden. Auch ist ein neuer<br />
Kampagnen-Spot in Planung. Als mögliche Aktionen während<br />
des Gipfels sind eine von Grönemeyer organisierte Kulturveranstaltung,<br />
ein Alternativgipfel in Rostock, eine internationale<br />
Großdemonstration und Blockadeaktionen im Gespräch.<br />
Inhaltlich konzentriert sich die deutsche Kampagne auf die<br />
im MDG 8 nicht mit quantifizierten Zielvorgaben versehenen,<br />
an die Industrieländer gerichteten Forderungen nach mehr<br />
und besserer Entwicklungszusammenarbeit, Entschuldung<br />
und fairen Handelsregeln. Dabei belässt es die Aktion nicht bei<br />
den zwar medial wirksamen, aber einfachen Schlagwörtern. In<br />
einem im Juni 2005 erstmals präsentierten und 2006 aktualisierten<br />
Positionspapier formulierte VENRO erst elf, später zwölf<br />
gemeinsame Forderungen der NGOs, die zugleich eine kritische<br />
Auseinandersetzung mit den MDGs darstellen. So dürften<br />
die MDGs nicht als Ersatz für den umfassenderen Ansatz<br />
einer ökologisch tragfähigen und sozial gerechten Entwicklung<br />
verstanden werden (VENRO 2006, 1). <strong>Die</strong> NGOs fordern<br />
von der Bundesregierung unter anderem einen an den Menschenrechten<br />
orientierten Ansatz der Armutsbekämpfung, die<br />
Demokratisierung internationaler Organisationen, verstärkte<br />
Krisenprävention als wichtiges Mittel der Armutsbekämpfung,<br />
ein wirksames Vorgehen gegen Steueroasen und internationale<br />
Steuerkonkurrenz sowie mehr Engagement beim Klimaschutz.<br />
Das Papier war 2005 Gegenstand von Gesprächen<br />
mit dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler, mit Abgeordneten,<br />
Parteien und Vertretern von Ministerien.<br />
107
Show oder Politik?<br />
Privatinitiativen prominenter Persönlichkeiten<br />
Neben der UN- und der NGO-Kampagne versuchen prominente<br />
Einzelpersonen, die Massen für Armutsbekämpfung zu<br />
mobilisieren. <strong>Die</strong> derzeit bekanntesten Protagonisten solcher<br />
Privatinitiativen sind die Popstars Bob Geldof und Bono von<br />
U2. Geldof hatte bereits 1984 das Projekt Band Aid ins Leben gerufen,<br />
um mit einer Vielzahl auf einer Single vereinten Popgrößen<br />
für die Opfer einer damaligen Hungersnot in Äthiopien<br />
Geld zu sammeln. 1985 organisierte er zum gleichen Zweck<br />
das Benefiz-Konzert Live Aid, das bis dato größte Rockkonzert<br />
der Geschichte, das parallel in London und Philadelphia<br />
stattfand. Auch die am 2. Juli 2005 – im Vorlauf des G8-Gipfels<br />
– von Geldof zusammen mit Bono veranstalteten weltumspannenden<br />
Live8-Konzerte sind in dieser Tradition zu sehen.<br />
Allerdings wurde dieses Mal ausdrücklich kein Geld gesammelt:<br />
»Wir wollen nicht euer Geld, wir wollen eure Stimme«,<br />
so das von Geldof ausgegebene Motto. Insgesamt wurden über<br />
30 Mio. »Stimmen« – überwiegend per SMS – gesammelt und<br />
von den Veranstaltern den Regierungschefs der G8 übergeben.<br />
Damit sollten diese zu einem Schuldenerlass für die armen<br />
Länder gedrängt werden.<br />
Nahezu zeitgleich fanden Konzerte in allen G8-Mitgliedstaaten<br />
sowie in Südafrika statt; letzteres allerdings erst aufgrund<br />
von Protesten, es handele sich um eine reine »Nord«-Veranstaltung.<br />
Austragungsorte der Konzerte waren Barrie (bei Toronto),<br />
Berlin, Johannesburg, London, Moskau, Paris, Philadelphia,<br />
Rom und Tokio sowie – als kurzfristig hinzugefügte Sonderaktion<br />
unter dem Motto »Africa Calling« – in Cornwall (mit<br />
afrikanischen Künstlern). Ein Zusatzkonzert fand am 6. Juli<br />
parallel zum G8-Gipfel in Edinburgh statt. 150 Bands boten<br />
50 Stunden lang Musik. 140 Fernseh- und 400 Rundfunkstationen<br />
übertrugen die Konzerte. <strong>Die</strong> Veranstalter schätzten, dass<br />
1,7 Mio. Menschen die kostenlosen Einzelkonzerte live miter-<br />
108
lebten, mehr als 5 Mio. Zuschauer sich in die Liveübertragung<br />
im Internet einklickten und angeblich 2–3 Mrd. Menschen die<br />
Konzerte per Fernseh- oder Radioübertragung verfolgten. Das<br />
wäre fast die Hälfte der Menschheit!<br />
Weniger erfolgreich war die ebenfalls von Geldof geplante<br />
Aktion Sail8. 5 In einem Massentransport hätten G8-Demonstranten<br />
am 3. Juli 2005 mit Booten von Frankreich nach Edinburgh<br />
gebracht werden sollen. Auch aufgrund schlechten Wetters<br />
nahmen jedoch nur vier Boote mit weniger als 100 Personen<br />
teil, worauf Geldof den Empfang der Demonstranten absagte.<br />
Doch das Live8-Projekt soll weitergeführt werden. Über das<br />
Internet 6 ruft Geldof dazu auf, weiterzumachen und die G8-<br />
Staaten zu zwingen, die in Gleneagles gegebenen Versprechen<br />
einzulösen. Er fordert zudem weitere Schuldenerlasse für insgesamt<br />
38 Länder, freien Marktzugang für afrikanische Produkte,<br />
die Abschaffung von Subventionen, die afrikanischen<br />
Produzenten schaden, und den Verzicht auf jeglichen Liberalisierungszwang<br />
für Entwicklungsländer. Vertiefende inhaltliche<br />
Erläuterungen sind auf der Website nicht zu finden.<br />
Für sein Engagement, mit dem er eine enorm große Zahl<br />
Menschen erreicht hat, wurde Bob Geldof inzwischen vom<br />
norwegischen Parlamentsabgeordneten Jan Simonsen für<br />
den Friedensnobelpreis nominiert. Dennoch ist seine Aktion,<br />
die nicht mit den anderen MDG-Kampagnen abgestimmt ist,<br />
höchst umstritten, und ihr Erfolg, was den Kampf gegen Armut<br />
betrifft, zweifelhaft (zur Kritik an Live8 siehe unten).<br />
Versuche einer Wirkungsanalyse<br />
Für eine Erfolgsanalyse der MDG-Kampagnen ergeben sich<br />
zwei wesentliche Bereiche: erstens das erzeugte allgemeine In-<br />
5 www.sail8.ybw.com/sail8<br />
6 www.live8live.com<br />
109
teresse und die öffentliche Mobilisierung für die MDGs und<br />
zweitens die tatsächlich erreichten Politikergebnisse. In beiden<br />
Fällen kann über den Einfluss der MDG-Kampagnen nur spekuliert<br />
werden. Auch liegen bislang keine Umfragezahlen vor,<br />
die über den Bekanntheitsgrad der MDGs nach dem Kampagnenjahr<br />
2005 Auskunft geben würden. Im Jahr 2004 hatten nur<br />
12 % aller EU-Bürger schon einmal von den MDGs gehört. In<br />
Schweden konnten immerhin 27 % mit dem Begriff etwas anfangen,<br />
in Italien 19 % und in Österreich 18 %. <strong>Die</strong>se etwas höheren<br />
Werte in den beiden Ländern wurden von den Verantwortlichen<br />
der Umfrage auf die MDG-Kampagne der schwedischen<br />
Regierung bzw. auf die NGO-Kampagnen in Italien<br />
(dort unter anderem schon 2004 mit den <strong>Millennium</strong> Gates) und<br />
Österreich zurückgeführt. Kampagnen der dänischen und niederländischen<br />
Regierung hatten allerdings keinen positiven<br />
»Ausschlag« bewirkt (European Commission 2005, 4f.).<br />
<strong>Die</strong> Kampagnen-Initiatoren selber bewerten die bislang<br />
erzielten Ergebnisse zumeist zurückhaltend. So vermutet der<br />
GCAP, man habe im Jahr 2005 wohl zu einigen Politikerfolgen<br />
»beigetragen«. Explizit genannt werden der Stufenplan der EU<br />
zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit<br />
(Official Development Assistance, ODA), die Erneuerung des G8-<br />
Versprechens zur ODA-Verdoppelung, der Schuldenerlass für<br />
18 stark verschuldete ärmste Länder und Nigeria sowie das<br />
Versprechen der G8, arme Länder nicht länger zur Liberalisierung<br />
ihrer Wirtschaft zu zwingen. »Wir erkennen, dass dieser<br />
politische Wille durch globale Massenaktionen enormen Ausmaßes<br />
und einen Wandel in der öffentlichen Meinung bezüglich<br />
Armut erzeugt worden ist«, so die Beirut Declaration (GCAP<br />
2006, Abs. 9). Weniger bescheiden geben sich die Live8-Organisatoren,<br />
die auf ihrer Website propagieren, die Beschlüsse von<br />
Gleneagles seien durch die Live8-Zuhörer erzwungen worden.<br />
<strong>Die</strong>s ist schon deshalb abwegig, weil die Ergebnisse im Wesentlichen<br />
bereits vor dem Gipfel feststanden.<br />
110
Übereinstimmend werden die erzielten Resultate als insgesamt<br />
unzureichend gewertet. <strong>Die</strong> Erfolge seien in ihrer Bedeutung<br />
erst noch auszuloten, so VENRO, manches sei »eher symbolischer<br />
Natur, mit Fußangeln oder Handikaps versehen (…).<br />
Auch auf der Grundlage der 2005 erreichten Fortschritte ist die<br />
Verwirklichung der MDGs bis zum Jahr 2015 nicht sehr viel<br />
wahrscheinlicher geworden.« (Hermle 2006, 40). Auch deshalb<br />
werden sowohl die globale wie auch die deutsche GCAP-Kampagne<br />
über den zunächst vorgesehenen Zeitraum hinaus bis<br />
2007 fortgesetzt.<br />
Eine zentrale Rolle bei dieser Entscheidung spielte auch,<br />
dass die Initiatoren des Global Call to Action Against Poverty<br />
wie der deutschen Aktion Deine Stimme gegen Armut von ihrem<br />
eigenen Mobilisierungserfolg überrascht worden sind.<br />
Nach Reinhard Hermle, bis 2005 VENRO-Vorsitzender, hat die<br />
Aktion »neue Maßstäbe der Kampagnenfähigkeit deutscher<br />
Nichtregierungsorganisationen« gesetzt: »Insbesondere Spot<br />
und Zeitungsanzeigen verhalfen der Aktion in relativ kurzer<br />
Zeit zu einer unerwartet großen Resonanz in der Öffentlichkeit<br />
und Aufmerksamkeit in der politischen Klasse.« (Hermle 2006,<br />
35 u. 37). In wenigen Monaten kamen im Rahmen einer Sammelaktion<br />
300.000 Unterschriften zusammen; die Website der<br />
Kampagne verzeichnete bis Ende 2005 3,8 Mio. Seitenaufrufe;<br />
310.000 weiße Armbänder wurden verkauft. Bei einer internen<br />
VENRO-Mitgliederbefragung gaben 88 % aller Befragten<br />
(knapp die Hälfte waren selber an Aktionen beteiligt) an, die<br />
Kampagne habe das Medieninteresse an den MDGs erhöht,<br />
60 % machten einen verstärkten Handlungsdruck auf Politiker<br />
aus, allerdings glaubten nur 43 %, dass neue Zielgruppen für<br />
entwicklungspolitische Themen gewonnen worden seien. Gut<br />
die Hälfte vermutete zudem, dass die Aktionen »politisch etwas<br />
bewirkt« haben. 82 % der Befragten stuften die Kampagne<br />
insgesamt als »sehr erfolgreich« oder »erfolgreich« ein, 90 %<br />
plädierten für eine Fortsetzung bis 2007.<br />
111
»Cui bono außer Bono?« –<br />
Zur Kritik an den Kampagnen<br />
<strong>Die</strong> Kritik an den <strong>Millennium</strong>-Kampagnen bezieht sich zum<br />
überwiegenden Teil auf die Mitwirkung von Größen des Showbusiness.<br />
Sie richtet sich mehrheitlich an die Adresse von Bob<br />
Geldof und Bono sowie ihren Mitstreitern bei den Live8-Konzerten.<br />
Viele der vorgebrachten Argumente sind kaum von der<br />
Hand zu weisen. 7 <strong>Die</strong> Rede ist von Inhaltsleere, von Unkenntnis<br />
der Materie oder sogar »Kolonialherrenattitüde«. Live8 sei<br />
genauso politisch wie die Love Parade, das eigentliche Thema<br />
gehe in einem »gigantischen Aufmerksamkeitsspektakel« unter,<br />
nie habe Armut soviel Spaß gemacht. Das Schlimme sei<br />
allerdings, dass die Veranstalter es mit dem politischen Anspruch<br />
ernst meinten. Sie erzeugten die Botschaft, dass acht<br />
Regierungschefs allein über »Wohl und Wehe« der Welt bestimmen<br />
könnten. Das vermittelte Weltbild und die angebotenen<br />
Lösungen werden als »unterkomplex« oder gar gefährlich<br />
zurückgewiesen – so dass die »schlichte Folgenlosigkeit« solcher<br />
Events geradezu als beruhigend gewertet werden müsse.<br />
Auf die Gefahr, die durch solche Großereignisse erzeugte Erwartungen<br />
mit sich bringen können, wies Stefan Kornelius in<br />
seinem Zeitungskommentar hin: »Das gute Gewissen mag als<br />
Wochenendbefriedigung für die Instant-Gesellschaft ausreichen<br />
– gute Entwicklungspolitik aber kann an überzüchteten<br />
Erwartungen auch scheitern.« 8 Wohlgesinnte Stimmen gestehen<br />
Geldof & Co. immerhin zu, ihre Prominenz dazu genutzt<br />
zu haben, über die vergangenen Jahrzehnte ein öffentliches In-<br />
7 Einen Eindruck vermitteln die Artikel »Hilfe für Afrika? Nix Gutes von<br />
Bono« in der Süddeutschen Zeitung vom 20.12.2005; »Cui bono außer<br />
Bono?« in der TAZ vom 2.7.2005; »Stimmen gegen Armut« in Telepolis<br />
(Online-Magazin) vom 3.7.2005.<br />
8 Kommentar von Stephan Kornelius »Live8. Denn das Gute liegt so nah«,<br />
in der Süddeutschen Zeitung vom 3.7.2005.<br />
112
teresse für Afrika und seine Probleme zu erzeugen, das es ohne<br />
sie nicht gegeben hätte. 9<br />
Den prominenten Philanthropen wird vorgehalten, durch<br />
ihre gut gemeinte, aber unüberlegte Hilfe mehr Schaden als<br />
Nutzen anzurichten. Moeletsi Mbeki, der Bruder des südafrikanischen<br />
Präsidenten, warf Bob Geldof in einem offenen Brief<br />
vor, er kuriere nur Symptome und verschärfe damit die eigentliche<br />
Krankheit, nämlich den schockierenden Mangel an<br />
Rechenschaft der Regierenden in Afrika. 10 Andere vermuten<br />
hinter dem Engagement vor allem Eigenwerbung und Imagepflege.<br />
<strong>Die</strong> TAZ titelte süffisant: »Cui bono außer Bono?«<br />
<strong>Die</strong> Konzertserie war ohne wirkliche Absprache mit dem<br />
Global Call to Action Against Poverty geplant worden, was bei<br />
den NGOs zu Verärgerung führte. Denn der Live8-Event zog<br />
tage lang die mediale Aufmerksamkeit auf sich, wodurch die<br />
Aktionen zum ersten »White Band Day« am Vortag des Konzertes<br />
fast völlig untergingen. Reinhard Hermle warf Bob<br />
Geldof vor, sich zu stark mit Tony Blair verbündet zu haben:<br />
»In dieser Situation konnte er offensichtlich nicht anders,<br />
als ein drittklassiges Ergebnis als grandiosen Erfolg darzustellen,<br />
um nicht einräumen zu müssen, dass auch sein gewaltiger<br />
Einsatz, der fraglos anzuerkennen ist, nicht die erhofften<br />
Resultate zeitigte.« (Hermle 2006, 39).<br />
Dass die Beteiligung Prominenter auch anders und mehr im<br />
Sinne der Sache möglich ist, zeigt die deutsche Aktion Deine<br />
Stimme gegen Armut. Zwar berichten sowohl VENRO als auch<br />
Herbert Grönemeyer von Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit,<br />
da zwei offensichtlich sehr verschiedene Welten aufeinander<br />
prallten und eine gemeinsame Sprache erst gefunden<br />
9 Vgl. den Artikel »Pennen für den Frieden. Geschichte der engagierten<br />
Pop- Musik«, in der Süddeutschen Zeitung vom 20.6.2005.<br />
10 Vgl. den Artikel »Südafrikaner kritisiert Geldofs ›weiches Herz‹«, in N24.<br />
de vom 6.7.2005.<br />
113
werden musste. In einem ZEIT-Interview sagte Grönemeyer<br />
dazu:<br />
»Wir hätten vieles lieber härter formuliert, aber mit den<br />
entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen<br />
war das nicht so einfach. In deren Dachverband VENRO<br />
wurde alles erst mal abgeklopft bei Ausschüssen und Vorständen.«<br />
11<br />
Dennoch wurde eine Arbeitsgrundlage gefunden, die zur Einbindung<br />
des Sängers in die NGO-Kampagne führte und somit<br />
Prominenz mit langjährigem entwicklungspolitischen Fachverstand<br />
verband. Grönemeyer verhehlte in dem erwähnten<br />
Interview auch nicht seine Missbilligung der engen Zusammenarbeit<br />
von Bono und Bob Geldof mit Tony Blair. Er wolle<br />
der Regierung lieber von außen Druck machen und sei auch<br />
kein Fan der Live8-Konzerte: »Wenn Sänger singen, dann haben<br />
die Politiker sie da, wo sie hingehören. Man macht Musik,<br />
jeder kriegt seine Streicheleinheiten, und das Thema ist abgefrühstückt.«<br />
Grönemeyer plädierte deshalb für Anzeigen oder<br />
sonstige Aktionen als Kampagneninstrumente. Wohl auch aufgrund<br />
solcher Äußerungen beurteilen 70 % der VENRO-Mitglieder<br />
die Unterstützung durch Prominente mittlerweile als<br />
gut, 22 % als mittel und nur 3 % als schlecht.<br />
Fazit<br />
Als vorläufiges Fazit lassen sich drei Erkenntnisse aus den<br />
diskutierten MDG-Kampagnen ziehen: Erstens ist die Mobilisierung<br />
der Öffentlichkeit durch breit angelegte Kampagnen<br />
– auch unter Zuhilfenahme von Prominenten – so lange grundsätzlich<br />
positiv zu bewerten, wie die notwendigen Vereinfachungen<br />
nicht zu falschen Behauptungen führen oder unrealis-<br />
11 »Haben die Live-8-Konzerte was gebracht?« – Interview mit Herbert<br />
Gröne meyer in der ZEIT vom 21.12.2005.<br />
114
tische Erwartungen erzeugen. <strong>Die</strong>se Gefahr besteht besonders<br />
dann, wenn prominente Showgrößen ohne den notwendigen<br />
Sachverstand auf eigene Faust aktiv werden. Aber auch die<br />
Aussagen der UN-<strong>Millennium</strong> Campaign, die Armut auf dieser<br />
Welt ließe sich mit etwas politischem Willen bis 2015 beseitigen,<br />
das Know-how dazu sei vorhanden, gehen in diese Richtung.<br />
Zweitens sind plakative Vereinfachungen so lange akzeptabel,<br />
wie sie dazu dienen, die Massen zu mobilisieren und auf<br />
breiter Basis Menschen neu für die Thematik zu interessieren.<br />
Ist das Interesse jedoch geweckt, zeigt sich die Seriosität einer<br />
Kampagne darin, dass sie es auch schafft, sowohl komplexere<br />
Zusammenhänge zu vermitteln – etwa über ausführliche<br />
Informatio nen auf der Kampagnen-Website mit Hinweisen<br />
auf weiterführende Links und Literatur, als auch zu kritischem<br />
Denken anzuregen und selbst unabhängige Positionen und<br />
Forderungen zu formulieren. <strong>Die</strong>s ist der Aktion Deine Stimme<br />
gegen Armut recht vorbildlich gelungen.<br />
Schließlich reicht es nicht aus, kurzfristig öffentliches Interesse<br />
zu erzeugen und dabei möglicherweise Politikern gar dazu<br />
zu dienen, durch Scheingefechte von eigenen Misserfolgen abzulenken.<br />
Nur wenn dauerhaft mehr Menschen für entwicklungspolitische<br />
Anliegen gewonnen werden können, besteht<br />
eine Chance, den gewünschten und erforderlichen Druck auf<br />
die politischen Entscheidungsträger zu erzeugen, damit diese<br />
entwicklungsförderliche Entscheidungen treffen, auch wenn<br />
diese schmerzhaft sind, namentlich bei der Neugestaltung der<br />
Handelsbeziehungen. Insofern ist noch nicht entschieden, ob<br />
die MDG-Kampagnen in längerfristiger Perspektive als Erfolg<br />
gewertet werden können.<br />
115
Literatur<br />
Annan, Kofi, 2001: Road Map Towards the Implementation of the United<br />
Nations <strong>Millennium</strong> Declaration. Report of the Secretary-General,<br />
6. September 2001. New York.<br />
Bonse, Sebastian/Christine Drath/Sonja Ramm/Julia Völker, 2006: Mit<br />
Schnipsen gegen die Armut?, in: Ulrike Röttger (Hg.), PR-Kampagnen.<br />
Über die Inszenierung von Öffentlichkeit, Wiesbaden, 3. überarb.<br />
u. erw. Aufl., S. 365–374.<br />
European Commission, 2005: Attitudes towards Development Aid (Special<br />
Eurobarometer 222). Brüssel.<br />
GCAP (Global Call to Action Against Poverty), 2006: Renewing the Call:<br />
The Beirut Platform from the Global Call to Action Against Poverty<br />
(Beirut Declaration), 15. März (editor.whiteband.org/Lib/docs/en_<br />
beirut_platform.doc, 9.8.06).<br />
Hermle, Reinhard, 2006: Deine Stimme gegen Armut – Rekonstruktion<br />
und Analyse der Aktion deutscher NRO, in: VENRO (Hg.), <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>sziele<br />
in Reichweite? Eine Bewertung des entwicklungspolitischen<br />
Ertrags des Entscheidungsjahrs 2005. Bonn/Berlin 2006, S. 35–<br />
40.<br />
Mathes, Bettina, 2005: Das andere Geschlecht der Armut, in: ZTG Bulletin<br />
29/30, S. 172–183.<br />
VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>.<br />
Bonn/Berlin.<br />
116
Zweiter Teil:<br />
Nur kurieren an Symptomen?
UWE HOLTZ<br />
<strong>Die</strong> Zahl undemokratischer Länder<br />
halbieren!<br />
Armutsbekämpfung durch Demokratie,<br />
Menschenrechte und good governance<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung von 2000, die aus ihr abgeleiteten<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development Goals,<br />
MDGs) und der UN-Weltgipfel von 2005 haben der politischen<br />
Gestaltung der Globalisierung Leitplanken geliefert, eine inhaltliche<br />
Fokussierung der Entwicklungsanstrengungen bewirkt,<br />
der internationalen Entwicklungspolitik eine neue Dynamik<br />
verliehen und den Druck auf die verschiedenen Akteure<br />
verstärkt.<br />
<strong>Die</strong> MDGs bieten Orientierung für staatliche und nichtstaatliche,<br />
nationale und internationale Akteure und Richtgrößen<br />
zur Bewertung von Entwicklungsanstrengungen und<br />
-erfolgen. Sie tragen dazu bei, die internationale Gemeinschaft<br />
auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene zu mobilisieren,<br />
und dienen als Handlungsanleitung.<br />
<strong>Die</strong> MDGs:<br />
Fortschritt, aber fehlende politische Dimension<br />
<strong>Die</strong> Verständigung auf die acht MDGs ist zweifelsohne ein<br />
großer Schritt in Richtung auf einen »globalen Gemeinwillen«<br />
(volonté générale mondiale), der das »Globalwohl« repräsentiert<br />
und auf der Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Industrie-<br />
und Entwicklungsländern beruht, von der schon 1980 Willy<br />
118
Brandt und seine Nord-Süd-Kommission in dem Bericht »Das<br />
Überleben sichern« sprachen.<br />
<strong>Die</strong> MDGs mit ihren Zielvorgaben und Indikatoren benennen<br />
angestrebte Ergebnisse von Entwicklungsprozessen, ohne<br />
jedoch die dahin führenden Wege und Instrumente, die von<br />
Land zu Land verschieden sein können, aufzuzeigen. Sie formulieren<br />
wichtige Ziele für eine menschenzentrierte Entwicklung;<br />
sie stellen aber keine umfassende Vision für eine bessere<br />
Welt dar, weil dafür unerlässliche Elemente wie Demokratie<br />
und Frieden fehlen. <strong>Die</strong>s ist ein Paradoxon, weil die Staats- und<br />
Regierungschefs in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung einerseits Menschenrechte,<br />
Demokratie und good governance wie auch Frieden,<br />
Sicherheit und Abrüstung als grundlegende Ziele, denen<br />
sie besondere Bedeutung beimessen, bezeichnen, andererseits<br />
diese Ziele aber keine direkte Berücksichtigung bei den acht<br />
MDGs finden.<br />
Eine von Wolfram Hilz und mir veranstaltete Ringvorlesung<br />
über die MDGs an der Universität Bonn im Wintersemester<br />
2005/06 führte zu folgenden Erkenntnissen (Holtz 2006):<br />
1. <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> sind eng miteinander<br />
verbunden: <strong>Die</strong> Bekämpfung von Armut und Hunger<br />
(MDG 1) erfordert auch den Einsatz für den Umweltschutz<br />
und gegen die Bodenerosion (7); HIV/AIDS-Bekämpfung<br />
(6) ist unmöglich ohne mehr Bildung (2) und die Stärkung<br />
von Macht und Einfluss der Frauen (3).<br />
2. <strong>Die</strong> acht MDGs sind immer im Zusammenhang mit der<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung zu sehen, wodurch einige Defizite<br />
bei den MDGs (wie die weitgehende Abwesenheit konkreter<br />
politischer Forderungen nach Demokratisierung)<br />
»kompensiert« werden.<br />
3.<br />
Nationale und regionale Parlamente haben eine wichtige<br />
und noch stärkere Rolle bei der Verwirklichung der MDGs<br />
wie auch bei der Reform der Vereinten Nationen zu spielen.<br />
119
4.<br />
5.<br />
6.<br />
7.<br />
8.<br />
9.<br />
120<br />
Entwicklungsfragen sind auch Machtfragen, wie an den<br />
Beispielen eines faireren Welthandels, des Abbaus der<br />
Agrarsubventionen, der Öffnung der Märkte, der Entschuldung<br />
oder einer Kontrolle bei den modernen Informations-<br />
und Kommunikationstechnologien verdeutlicht werden<br />
kann.<br />
<strong>Die</strong> Verwirklichung der MDGs trägt maßgeblich zur<br />
menschlichen Sicherheit bei und steht für die nicht-militärische<br />
Dimension von Sicherheit.<br />
Bildung, Wissenschaft und Technologie sind von zentraler<br />
Bedeutung für Entwicklung und die MDGs.<br />
Höhere entwicklungspolitische Leistungen und eine bessere<br />
Entwicklungszusammenarbeit sind nötig, aber die<br />
Rolle der Entwicklungspolitik im gesamten Entwicklungsprozess<br />
darf nicht überschätzt werden. Geld allein verhindert<br />
nicht die stillen Tsunamis, wie das tausendfache, alltägliche<br />
Sterben von Kindern. Dauerhafte Erfolge sind ohne<br />
ein entwicklungsförderliches Umfeld, für das sich auch zivilgesellschaftliche<br />
Organisationen immer mehr einsetzen,<br />
nur schwerlich zu erreichen.<br />
Das Entwicklungsparadigma einer menschenwürdigen<br />
und nachhaltigen Entwicklung setzt sich offensichtlich<br />
immer mehr in der internationalen Entwicklungsdebatte<br />
durch und löst zumindest partiell die Washington Consensus-Philosophie<br />
ab.<br />
In vielen Ländern, vor allem in Afrika südlich der Sahara,<br />
bestehen noch erhebliche Defizite bei der Umsetzung der<br />
MDGs. Eine Reihe von Ländern kann bei einigen MDGs<br />
manche Erfolge aufweisen, so in Lateinamerika, Südostasien<br />
oder Nordafrika. <strong>Die</strong> Erfolgsbeispiele zeigen, wie<br />
viel in kurzer Zeit erreicht werden kann, wenn interne Reformen<br />
in den Entwicklungsländern selbst und externe Unterstützung<br />
durch Entschuldung, Handelsförderung und<br />
Entwicklungszusammenarbeit mobilisiert werden.
10.<br />
Entwicklungs- und Industrieländer wie auch die EU müssen<br />
ihre Anstrengungen massiv verstärken und für ein national<br />
wie international günstigeres Umfeld sorgen, wenn<br />
die Welt als Ganzes die acht MDGs und die grundlegenden<br />
Ziele der <strong>Millennium</strong>-Erklärung noch während der nächsten<br />
zehn Jahre erreichen soll.<br />
<strong>Die</strong> politische Dimension ist die oft klein geschriebene Dimension<br />
einer nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung.<br />
Auch der von Jeffrey Sachs, dem Direktor des UN-<strong>Millennium</strong>-<br />
Projekts, Anfang 2005 vorgelegte Bericht »In die Entwicklung<br />
investieren: Ein praktischer Plan zur Erreichung der <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>«<br />
vernachlässigt in seinen Empfehlungen<br />
die politischen Rahmenbedingungen. Sachs setzt – wie<br />
in seinem Buch »Das Ende der Armut« (2005a) – vor allem auf<br />
mehr Geld (»die gegenwärtige öffentliche Entwicklungshilfe<br />
muss verdoppelt werden«) und den gut koordinierten und<br />
differenzierten Einsatz dieser Mittel bei der Armutsbekämpfung.<br />
Aber was nützt mehr Geld, mehr staatliche »Entwicklungshilfe«,<br />
wenn in den Entwicklungs- und Transformationsländern<br />
Diktatoren, Kleptokraten und korrupte Cliquen herrschen?<br />
<strong>Die</strong>sen Fehler begehen erfreulicherweise weder die EU (Europäische<br />
Union 2005) noch das Bundesministerium für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ 2001).<br />
<strong>Die</strong> Erkenntnis, dass Willkür, Despotismus und die Diskriminierung<br />
der Frauen wichtige Hemmschuhe für Entwicklung<br />
sind, findet eine immer größere Anerkennung (Landes 2004).<br />
<strong>Die</strong> Weltbank erkannte schon 1989 an, dass Afrikas Malaise<br />
wirtschaftliche und politische Wurzeln hat (World Bank 1989).<br />
Zur volonté générale mondiale müssen auch der Wille und<br />
die Verpflichtung gehören, die Zahl der undemokratischen Regime<br />
zu reduzieren. Wer eine solche Forderung erhebt, sollte<br />
zunächst darlegen, was er unter Entwicklung und Demokratie<br />
versteht.<br />
121
Was bedeuten Entwicklung und Demokratie?<br />
Auch wenn es keine allgemein gültige Definition von Entwicklung<br />
gibt, dürfte die Erkenntnis weitgehend akzeptiert sein,<br />
dass Entwicklung ein mehrdimensionaler, komplizierter, langwieriger,<br />
sozioökonomischer Prozess ist, der auf die Verbesserung<br />
der Lebensbedingungen der Menschen abzielt, die Freiheit<br />
von Mangel und Furcht anstrebt, Frieden und Sicherheit<br />
garantiert und spätestens seit Rio 1992 einer nachhaltigen und<br />
menschenwürdigen Entwicklung verpflichtet ist. Langfristig<br />
gibt es eine solche Entwicklung nicht ohne Demokratie, Menschenrechte,<br />
Gleichstellung der Geschlechter und good governance<br />
(gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln).<br />
Entwicklung umfasst zumindest folgende Dimensionen:<br />
Politik (Demokratie, Menschenrechte und good governance),<br />
Wirtschaft (Produktivitätssteigerungen, Arbeitsplätze schaffendes<br />
und Armut beseitigendes Wirtschaftswachstum, Unternehmen,<br />
die ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst nehmen),<br />
Soziales (soziale Gerechtigkeit, soziale Grunddienste),<br />
Umwelt (ökologische Nachhaltigkeit) und Kultur (kulturbewusste<br />
Entwicklung, die kulturelle Entfaltung ermöglicht und<br />
für den Wandel offen ist). Entwicklung braucht »gute« nationale,<br />
regionale und internationale Rahmenbedingungen.<br />
Entwicklung bedeutet immer, etwas von dem, was an Fähigkeiten<br />
und Potenzial jedem Menschen und Volk Eigen ist,<br />
zur Entfaltung, zur Ent-Wicklung zu bringen. Insofern kommt<br />
Hilfe von außen vor allem eine Hebammenfunktion zu – auch<br />
bei der Förderung von Demokratie und good governance, wobei<br />
gilt: je größer die interne »Nachfrage«, desto höher die Erfolgsquote.<br />
Wenn schon der Entwicklungsprozess ein langwieriger<br />
und schwieriger Prozess ist, dann trifft dies auch auf die Demokratisierung<br />
zu. Demokratie und good governance lassen sich<br />
nicht mit Hauruck-Interventionen und imperialen Attitüden in<br />
fremde Länder exportieren; sie von außen behutsam und mit<br />
Augenmaß zu fördern, ist aber auch ein Gebot der Solidarität.<br />
122
Entwicklung ist also auch »ein Prozess, der es den Menschen<br />
ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Selbstvertrauen zu<br />
gewinnen und ein erfülltes und menschenwürdiges Leben<br />
zu führen« – so die Definition des unter Leitung von Julius<br />
Nyerere erstellten Berichts der »Südkommission« von 1990<br />
(SEF 1991, 34). Von daher gewinnt die seit einiger Zeit erhobene<br />
Forderung nach ownership Relevanz. Ownership, oft nicht<br />
vollständig mit Eigenverantwortung übersetzt, besagt in der<br />
Entwicklungszusammenarbeit (EZ), dass nicht nur die Verantwortung<br />
der Partner im Entwicklungsland für die EZ-Vorhaben<br />
gestärkt und ihre Partizipation gesichert werden, sondern<br />
ihnen auch die Vorhaben »gehören« sollen (Eigentümerschaft).<br />
Natürlich steht diese Eigentümerschaft in einem Spannungsverhältnis<br />
zu den Einwirkungen von außen – seien es die internationalen<br />
Rahmenbedingungen oder die Erwartungen der<br />
Entwicklungspolitik an die Entwicklungsländer. Der ownership-Vorbehalt<br />
darf jedoch »kein Feigenblatt für Barbareien« in<br />
den Entwicklungsländern sein (Nuscheler 2005, 429).<br />
Demokratie kennt verschiedene Ausformungen. Reduziert<br />
man sie auf das Wesentliche, dann lassen sich drei Kernelemente<br />
in einer Art Demokratie-Dreieck festhalten:<br />
Freie, faire und regelmäßige Wahlen mit der Möglichkeit,<br />
einen Regierungswechsel herbeizuführen (was eine freie<br />
Presse und das Recht auf Opposition voraussetzt);<br />
Gewaltenteilung und die Bindung der Gewalten an die verfassungsmäßige<br />
Ordnung sowie an Gesetz und Recht (rule<br />
of law – Herrschaft des Rechts und Rechtssicherheit);<br />
Achtung und Verwirklichung der unveräußerlichen Menschenrechte<br />
und der politischen, bürgerlichen Freiheiten<br />
sowie die Wahrung von Minderheitenrechten.<br />
Schlüsselinstitution bzw. Herz der Demokratie ist das Parlament,<br />
das gemäß dem »Parlamentarischen Hexagon« idealiter<br />
über folgende sechs Aufgaben und Kompetenzen verfügt:<br />
Gesetzgebung, Budgetrecht inklusive der Entscheidung über<br />
Steuern und Ausgaben, Wahlfunktion /Herrschaftsbestellung,<br />
123
Kontrolle der Regierung und Verwaltung, Mitwirkung an der<br />
Außenpolitik, Forum der Nation/Repräsentation (Holtz 2003,<br />
18f.). Dabei bewegen sich, machtpolitisch gesprochen, die Parlamente<br />
auf einem Kontinuum zwischen schwachen »Abnick«-<br />
und starken »Gestaltungs«-Legislativen, wobei sogar ein und<br />
dasselbe Parlament zu verschiedenen Themen unterschiedliche<br />
Positionen auf diesem Kontinuum einnehmen kann.<br />
<strong>Die</strong> »dritte Welle der Demokratisierung«<br />
1974 galten unter den 150 Staaten der Erde ca. 40 als Demokratien.<br />
Vor allem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat<br />
es einen bemerkenswerten Siegeszug der Demokratie gegeben.<br />
Samuel Huntingtons These einer »dritten Welle der Demokratisierung«<br />
scheint sich zu bestätigen. So konstatierte der UNDP-<br />
Bericht über die menschliche Entwicklung 2002, die Welt sei<br />
demokratischer als je zuvor. Doch von den 140 Ländern, die<br />
Wahlen mit konkurrierenden Parteien abgehalten hätten, seien<br />
nur 80 (mit 55 % der Weltbevölkerung) wirklich demokratisch,<br />
und in 106 Ländern würden wichtige bürgerliche und politische<br />
Freiheiten nach wie vor eingeschränkt (UNDP 2002, 2).<br />
Heute werden etwa drei Fünftel der über 190 Staaten mit<br />
dem Etikett »demokratisch« versehen. Zwei Fünftel aller Staaten<br />
zählen immer noch zu den undemokratisch regierten Ländern.<br />
Was die Demokratien angeht, so gehört eine beträchtliche<br />
Anzahl unter ihnen zur Kategorie der defekten, ungefestigten,<br />
illiberalen Demokratien, weil in ihnen individuelle Rechte und<br />
Freiheiten nicht gesichert sind, die Unabhängigkeit der Gerichte<br />
nicht gegeben ist, Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier<br />
steht und Parlamente weitgehend entmachtet sind.<br />
Nach der – nicht unumstrittenen – Klassifizierung von Freedom<br />
House (2005) werden derzeit 24 % der Länder als nicht frei,<br />
30 % als teilweise frei und 46 % als frei eingestuft. Laut Bertelsmann-Transformationsindex<br />
(BTI) werden 62 % der Weltbevöl-<br />
124
kerung inzwischen demokratisch regiert; weltweit gibt es aber<br />
immer noch 48 autoritäre/autokratische Staaten in allen Regionen<br />
der Welt, die ein großes Beharrungsvermögen aufweisen,<br />
und vornehmlich in diesen Ländern sind bad governance und<br />
bad performance anzutreffen (Bertelsmann Stiftung 2005, 7). Offensichtlich<br />
gibt es gleichzeitig Fortschritte auf dem Wege zur<br />
Demokratie und Rückschritte in Richtung auf autokratische<br />
Herrschaftsverhältnisse.<br />
In der Globalisierung kann man nicht nur einen welthistorischen<br />
Megatrend erkennen, der sehr viele Wirtschafts- und<br />
Lebensbereiche umfasst, sondern auch ein globales Zivilisationsprojekt,<br />
das zur Zivilisierung und Demokratisierung unseres<br />
Globus beizutragen vermag; denn neben der Marktwirtschaft<br />
wurde auch die Demokratie zu einem universell anerkannten<br />
Ordnungskonzept. Allerdings sind auch kritische<br />
Stimmen vernehmbar, die in der »ungezügelten Globalisierung«<br />
(Ralf Dahrendorf) eine systemische Gefährdung von Demokratie<br />
und Menschenrechten erkennen und gar ein autoritäres<br />
Jahrhundert – als Folge einer »schleichenden Erosion der<br />
Demokratie« (Karl Kaiser) – vorhersehen.<br />
Demokratie in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung,<br />
aber nicht in den MDGs<br />
Drei Hypothesen seien im Folgenden untermauert:<br />
1. Armut umfasst verschiedene Dimensionen von Mangel:<br />
an Einkommen und Nahrung, aber auch an Einfluss und<br />
Wahlmöglichkeiten.<br />
2. Demokratie, Menschenrechte und good governance sind<br />
Werte an sich.<br />
3.<br />
Demokratie, Menschenrechte und good governance sind für<br />
die Realisierung der MDGs von großer Bedeutung.<br />
Gemäß MDG 1 und den beiden ersten Zielvorgaben sollen die<br />
extreme Armut und der Hunger beseitigt und der Anteil jener<br />
125
Menschen, deren Einkommen weniger als 1 US-$ pro Tag beträgt<br />
und die hungern, bis 2015 halbiert werden. Aber Armut<br />
ist mehrdimensional und bezieht sich keineswegs nur auf das<br />
Einkommen und eine unzureichende Ernährung; sie schließt<br />
Machtlosigkeit, Ausgrenzung, Unsicherheit und Aussichtslosigkeit<br />
mit ein. Der Mensch lebt nicht von Brot, Reis oder<br />
Kassava allein – er will ebenso frei sein von Furcht und Unterdrückung<br />
und die Freiheit zur Mitwirkung an der res publica<br />
haben. Ein wichtiges Element der Armutsbekämpfung besteht<br />
in der Unterstützung der Selbstorganisation der Armen; denn<br />
der Aufbau von Gegenmacht von unten trägt mit dazu bei,<br />
nach oben Druck zu erzeugen, damit die Regierungen und Parlamente<br />
das tun, wofür sie da sind, nämlich nachhaltige und<br />
menschenwürdige Politik zu machen.<br />
Deshalb ist es enttäuschend, dass bei den acht MDGs und<br />
den daraus abgeleiteten 18 Zielvorgaben und 48 Indikatoren<br />
weitgehend auf (demokratie-)politische Forderungen verzichtet<br />
wird. Offensichtlich war dies auch politisch so gewollt. Bei<br />
lediglich einem Ziel ist eine relevante Forderung auszumachen:<br />
MDG 3 spricht von der Förderung der Gleichstellung der<br />
Geschlechter und der Stärkung von Macht und Einfluss der<br />
Frauen. Den Begriff Demokratie sucht man vergeblich.<br />
<strong>Die</strong>s ist umso unverständlicher, als die <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
ein klares Bekenntnis zur Demokratie ablegt. Mit ihrem<br />
Bekenntnis zum Recht von Männern und Frauen auf ein Leben<br />
in Würde und Freiheit, zu Demokratie und demokratischer<br />
Staatsführung, zu den verschiedenen Arten von Menschenrechten<br />
und Grundfreiheiten sowie zu good governance und zur<br />
Förderung junger Demokratien bietet sie den demokratischen<br />
Unterbau für die MDGs.<br />
Auf dem <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel bekräftigten die 154 Staats-<br />
und Regierungschefs die <strong>Millennium</strong>-Erklärung von 2000 und<br />
erklärten explizit, eine friedlichere, wohlhabendere und demokratischere<br />
Welt schaffen zu wollen (Abschlussdokument,<br />
Abs. 16). Zudem erkannten sie an, dass gutes Regierungs- und<br />
126
Verwaltungshandeln, stabile demokratische Institutionen, eine<br />
solide Wirtschaftspolitik wie auch die Herrschaft des Rechts<br />
auf nationaler und internationaler Ebene die Grundlage für<br />
eine nachhaltige Entwicklung, dauerhaftes Wirtschaftswachstum,<br />
Armutsbeseitigung und die Schaffung von Arbeitsplätzen<br />
bildeten.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung und das Weltgipfel-Abschlussdokument<br />
sind eine wichtige, wenn auch nicht die alleinige<br />
Grundlage für die Forderung an staatliche und nichtstaatliche,<br />
nationale und internationale Akteure, alles ihnen Mögliche zu<br />
tun, um zur »Halbierung« der Zahl schlecht regierter, undemokratischer<br />
Länder bis zum Jahre 2015 beizutragen. 1<br />
Demokratie, Menschenrechte und<br />
good governance als Voraussetzung und<br />
Ziel für die Realisierung der MDGs<br />
<strong>Die</strong> Demokratie ist weltweit als politischer Ordnungsrahmen<br />
anerkannt. In der 1997 angenommenen Allgemeinen Demokratie-Erklärung<br />
der Inter-Parlamentarischen Union (IPU)<br />
wird die Demokratie als Ideal, als Regierungsform und als ein<br />
universell anerkanntes Konzept bezeichnet, das auf gemeinsamen<br />
Werten beruht (IPU 1998, IIIff).<br />
Zwischen Demokratie und Entwicklung besteht kein automatischer<br />
Zusammenhang. Auf der einen Seite fördert Demokratie<br />
Entwicklung, auf der anderen Seite ist das bloße Vorhandensein<br />
von demokratischen Strukturen noch kein Garant<br />
für Fortschritt. Erst durch die zusätzliche Bildung von<br />
rechenschaftspflichtigen, funktionierenden Institutionen, die<br />
ihr Handeln nach dem Prinzip des guten Regierungs- und Verwaltungshandelns<br />
ausrichten, kann Demokratie zu einem Er-<br />
1 Von »Halbierung« wird hier in Analogie zur Halbierung von Armut und<br />
Hunger gesprochen.<br />
127
folgskriterium für Entwicklung werden. Freie Wahlen allein<br />
führen nicht automatisch zu mehr Entwicklung und Sicherheit;<br />
sie können in gespaltenen Gesellschaften Nationalismus,<br />
ethnische Konflikte und sogar gewalttätige Konflikte schüren.<br />
Dennoch: »Wenn Politik und politische Institutionen die<br />
menschliche Entwicklung fördern und die Freiheit und Würde<br />
aller Menschen sichern soll, muss die Demokratie ausgeweitet<br />
und vertieft werden.« (UNDP 2002, 2).<br />
Auch viele Nichtregierungsorganisationen setzen sich verstärkt<br />
mit den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
für Entwicklung auseinander, weil sie erkennen, dass<br />
»die Reichweite von Einzelprojekten und Programmen – so<br />
wichtig diese sind – begrenzt ist und ihre Wirkung oft durch<br />
schlechte Regierungsführung, Korruption, Kriege und Konflikte,<br />
externe wirtschaftliche Schocks oder die internationale<br />
Politik beeinträchtigt oder konterkariert wird«. (Hermle 2006,<br />
39).<br />
<strong>Die</strong>se Erfahrung stützt die These des Bertelsmann Transformation<br />
Indexes, dass die erfolgreiche Bekämpfung der Armut<br />
sowie ein umfassender und zukunftsfester Wandel zu Demokratie<br />
und Marktwirtschaft nur mit strategisch denkenden und<br />
eigenverantwortlichen Reformern, Akteuren und »Antreibern«<br />
(agents, drivers of change) bei den Regierenden, den übrigen Eliten<br />
und der Zivilgesellschaft gelingen können. Dabei dürfen<br />
die Besonderheiten von Gesellschaften, die durch informelle<br />
Strukturen geprägt sind, nicht außer Acht gelassen werden.<br />
Menschenrechte sind dem Menschen und seinem Handeln<br />
inne wohnende Werte. Sie machen die Essenz dessen aus, was<br />
Entwicklung eigentlich ist. Sie sind die Kompassnadel für Entwicklung<br />
– und im Übrigen auch für eine humane Globalisierung.<br />
Wer Menschenrechte unterdrückt, behindert Entwicklung.<br />
Was good governance betrifft, so spiegelt sich dabei eine Erfahrung<br />
wider, die seit Ende der 1980er Jahre die internationale<br />
Zusammenarbeit in wachsendem Maße prägt: Fortschritte<br />
128
auf dem Wege zu einer nachhaltigen und menschenwürdigen<br />
Entwicklung sind nicht nur eine Frage wirtschaftlicher Erfolge.<br />
Auch »schwache« Regierungen, willkürliche Rechts- und Justizsysteme,<br />
schlecht funktionierende Verwaltungen und Korruption<br />
sind Ursachen für Armut und maldevelopment.<br />
Das Ende des Kalten Krieges öffnete den Raum für eine<br />
breite internationale Diskussion über die Bedeutung von politischen<br />
Rahmenbedingungen und effizienten Staats- und Verwaltungsstrukturen.<br />
Seitdem setzte sich die Erkenntnis durch,<br />
dass entwicklungspolitische Zusammenarbeit nur bei guten<br />
politischen Rahmenbedingungen in den Partnerländern langfristig<br />
positive Wirkungen zeitigen kann.<br />
Das für mehr als hundert Staaten völkerrechtlich verbindliche,<br />
2003 in Kraft gesetzte Partnerschaftsabkommen von<br />
Cotonou zwischen den afrikanischen, karibischen und pazifischen<br />
Staaten sowie den Mitgliedstaaten der EU hat good governance<br />
als fundamentales Element der Kooperation verankert,<br />
wobei darunter die »verantwortungsvolle Staatsführung, die<br />
transparente und verantwortungsbewusste Verwaltung der<br />
menschlichen, natürlichen, wirtschaftlichen und finanziellen<br />
Ressourcen und ihr Einsatz für eine ausgewogene und nachhaltige<br />
Entwicklung« verstanden wird (BMZ 2002, 28).<br />
Auf der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung<br />
in Monterrey im März 2002 wurde ein Richtung<br />
weisender Rahmen für eine globale Entwicklungspartnerschaft<br />
mit dem Ziel festgelegt, die Armut zu bekämpfen, dauerhaftes<br />
Wirtschaftswachstum zu erzielen und nachhaltige Entwicklung<br />
zu fördern. <strong>Die</strong> Partnerschaft zwischen reichen und armen<br />
Ländern soll auf guter Regierungs- und Verwaltungsführung,<br />
erweitertem Handel, Entwicklungszusammenarbeit sowie<br />
Schuldenerleichterung aufbauen.<br />
Der in Monterrey erzielte Konsens bezeichnet explizit good<br />
governance durch Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung,<br />
Achtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung<br />
am politischen Prozess, eine marktwirtschaftlich orien-<br />
129
tierte Wirtschaftspolitik und makroökonomische Stabilität als<br />
Kernelement entwicklungsförderlicher Rahmenbedingungen,<br />
zu denen auch die allgemeine Verpflichtung auf eine gerechte<br />
und demokratische Gesellschaft gehört (UN 2002).<br />
Good governance ist inzwischen zu einem wichtigen Förderkriterium<br />
für die EZ geworden. In Deutschland kommt dies<br />
zusammen mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten<br />
in den 1991 formulierten fünf Kriterien für die EZ zum<br />
Ausdruck: Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der<br />
Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit<br />
und Rechtssicherheit, marktwirtschaftlich und sozial orientierte<br />
Wirtschaftsordnung, Entwicklungsorientierung staatlichen<br />
Handelns (BMZ 1995, 48). Good governance ist sowohl<br />
Voraussetzung als auch eigenständiges Ziel von Entwicklung.<br />
Für das BMZ (2006, 1f.) geht es dabei<br />
»um einen Staat, der sich an der Gewährleistung der Menschenrechte<br />
sowie an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />
orientiert, der transparent und leistungsfähig arbeitet, eine<br />
nachhaltige, armutsorientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik<br />
verfolgt und sich in der internationalen Staatengemeinschaft<br />
kooperativ verhält. (…) In der Realität können nur<br />
wenige Länder durchgängig in die Kategorien ›Bad‹ oder<br />
›Good‹ Governance eingeordnet werden. In den meisten<br />
Ländern findet man eine Vielzahl von abgestuften Situationen<br />
und z.T. widersprüchlichen Entwicklungen vor.<br />
Regierung und öffentliche Verwaltung sind keine monolithischen<br />
Blöcke.«<br />
<strong>Die</strong> Bundesregierung betrachtet Frieden und Sicherheit, Demokratie,<br />
gute Regierungsführung und die Verwirklichung der<br />
Menschenrechte als Voraussetzungen für die Erreichung der<br />
MDGs in einem Land (Kortmann 2006, 22). Und der Deutsche<br />
Bundestag vertritt in seiner Entschließung »Auf dem Weg zur<br />
Erreichung der <strong>Millennium</strong> Development Goals« vom 30. September<br />
2004 die Auffassung, die MDGs seien nur realisierbar,<br />
wenn alle Kapitel der <strong>Millennium</strong>-Erklärung hinreichend be-<br />
130
achtet und die auf der Grundlage von Konventionen bestehenden<br />
Verpflichtungen umgesetzt würden.<br />
<strong>Die</strong> EU hält in ihrem entwicklungspolitischen Europäischen<br />
Konsens vom Herbst 2005 fest, ein besonderer Vorrang<br />
gelte den Menschenrechten und der Demokratisierung, der<br />
Unterstützung für notwendige Reformen zur Verhütung und<br />
Bekämpfung der Korruption, der Unterstützung der Dezentralisierung<br />
sowie der Stärkung der Rolle der Parlamente.<br />
Um diese Stärkung bemühen sich vor allem auch die deutschen<br />
politischen Stiftungen. Zu ihr gehören: 2<br />
(Mehrparteien-)Parlamente und ihre Gremien mit ihren<br />
verschiedenen Funktionen aufzuwerten (vgl. das »Parlamentarische<br />
Hexagon«);<br />
Abgeordnete zu qualifizieren (capacity building) und so zur<br />
Professionalisierung ihrer Arbeit beizutragen;<br />
die Gemeinwohlorientierung parlamentarischen Handelns<br />
zu betonen, zum Beispiel durch entsprechende Verhaltenskodizes;<br />
die Rechenschaftspflicht und Transparenz parlamentarischer<br />
Verfahren zu fördern, um das Vertrauen der Bevölkerung<br />
in die Arbeit des Parlaments zu entwickeln;<br />
die Gesetzgebung und das politische Handeln an das Leitbild<br />
einer nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung<br />
zu binden, an rechtsstaatliche international anerkannte<br />
Grundsätze sowie internationale und regionale Menschenrechtsabkommen;<br />
zur Kooperation nationaler Parlamente untereinander wie<br />
im Rahmen der IPU anzuhalten;<br />
parlamentarische Netzwerke zu fördern, etwa das Parlamentarische<br />
Netzwerk der UN-Konvention zur Bekämpfung<br />
der Wüstenbildung.<br />
2 Vgl. auch die Anhörung des Bundestags-Ausschusses für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ) zum Thema »Regierungsführung<br />
als Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit« am<br />
28.6.06.<br />
131
Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten Parlamente und<br />
andere Akteure in Staat und Wirtschaft in Koalitionen für good<br />
governance ergänzen, aber nicht ersetzen.<br />
Plädoyer für eine Ergänzung des MDG-Zielkatalogs<br />
<strong>Die</strong> bisherigen Ausführungen laufen darauf hinaus, dass die<br />
acht MDGs durch ein weiteres Ziel ergänzt werden sollten:<br />
Diktaturen zu überwinden und Demokratien zu stärken. Damit<br />
würden die Vereinten Nationen der politischen Orientierung<br />
des Entwicklungsparadigmas einer nachhaltigen und<br />
menschenwürdigen Entwicklung, der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
und dem Weltgipfel 2005 folgen, der nicht nur die Demokratie<br />
als universellen Wert bekräftigte, sondern auch die Gründung<br />
eines neuen UN-Demokratiefonds guthieß.<br />
Zwei Zielvorgaben sind diesem neuen Oberziel beizugeben<br />
(vgl. Tabelle 1): 1) Bis 2015 ist die Zahl der undemokratischen,<br />
menschenrechtsverletzenden Regime zu halbieren;<br />
2) die Grundsätze einer nachhaltigen und menschenwürdigen<br />
Entwicklung sind in einzelstaatliche Politiken und Programme<br />
umzusetzen (sie umfassen die Verpflichtung auf Demokratie,<br />
Menschenrechte und good governance).<br />
Sechs Indikatoren sollen der Erreichung der beiden Zielvorgaben<br />
und der Fortschrittsüberwachung dienen:<br />
1. <strong>Die</strong> Zahl der Länder, die als unfrei gelten (freie Wahlen,<br />
konstitutioneller Liberalismus, Gewaltenteilung). <strong>Die</strong>ser<br />
Indikator lässt sich an Hand des Freedom House-Indexes<br />
überprüfen, der die Länder der Welt bei der Bewertung der<br />
politischen und bürgerlichen Freiheiten in frei, teilweise frei<br />
und unfrei einteilt (www.freedomhouse.org) oder durch<br />
das World Democracy Audit Overall Ranking, das 150 Länder<br />
der Welt einem Demokratierang zuordnet (www.world<br />
audit.org).<br />
132
ein neues<br />
Ziel<br />
Diktaturen<br />
überwinden<br />
und Demokratienstärken<br />
Tabelle 1<br />
Neues <strong>Millennium</strong>-Entwicklungsziel:<br />
Diktaturen überwinden<br />
zwei Zielvorgaben sechs Indikatoren<br />
1. Bis 2015 die Zahl der<br />
undemokratischen,<br />
menschenrechtsverletzenden<br />
Regime halbieren<br />
2. <strong>Die</strong> Grundsätze einer<br />
nachhaltigen und<br />
menschenwürdigen<br />
Entwicklung in einzelstaatliche<br />
Politiken und<br />
Programme umsetzen<br />
1. Zahl der Länder, die als<br />
unfrei gelten<br />
2. Parlamente mit echten<br />
Befugnissen und einer<br />
Frauenquote von 30 %<br />
3. Zeichnung und Ratifikation<br />
internationaler<br />
Menschenrechtsabkommen<br />
4. Politische Gestaltungsleistung<br />
auf dem Weg<br />
zur Demokratie<br />
5. Korruption<br />
6. ODA-Quote für Demokratie<br />
und good governance<br />
fördernde, Parlamente<br />
stärkende und<br />
menschenrechtsorientierte<br />
Programme<br />
2. Parlamente mit echten Befugnissen gemäß dem »Parlamentarischen<br />
Hexagon« und einer Frauenquote von 30 %<br />
in allen Parlamenten 3 – von der lokalen bis zur kontinentalen<br />
Ebene. 4 <strong>Die</strong> Interparlamentarische Union (www.ipu.<br />
3 Das Panafrikanische Parlament hat für alle Mitgliedstaaten Maßnahmen<br />
gefordert, die sicherstellen, dass mindestens 30 % aller gewählten Positionen<br />
Frauen zukommen.<br />
4 Insofern wird der alte dem MDG 3 zugeordnete Indikator 12 (Anteil der<br />
Frauen in nationalen Parlamenten) erweitert.<br />
133
org) liefert Daten sowohl über Rolle und Struktur von 188<br />
nationalen Parlamenten (www.ipu.org./parline-e/parlinesearch.asp)<br />
als auch über Frauenquoten. Mit Stand vom<br />
Mai 2006 nahmen Frauen weltweit 16,8 % aller Parlamentssitze<br />
ein (www.ipu.org/wmn-e/world.htm). Hinsichtlich<br />
der »echten Befugnisse« von Parlamenten fehlt jedoch bislang<br />
eine »indexierte« globale Aufbereitung der Daten.<br />
3. Zeichnung und Ratifikation der relevanten internationalen<br />
Menschenrechtsabkommen. Das mit Unterstützung der<br />
Ford Foundation gegründete entsprechende Internet-Portal<br />
(www.bayefsky.com) ist dazu eine wertvolle Informationsquelle.<br />
4. <strong>Die</strong> politische Transformations- und Gestaltungsleistung<br />
auf dem Weg zur (marktwirtschaftlichen) Demokratie. Sie<br />
wird in dem alle zwei Jahre erscheinenden Bertelsmann<br />
Transformation Index (BTI) für 119 Entwicklungs- und<br />
Transformationsländer am besten dokumentiert (www.<br />
bertelsmann-transformation-index.de). Sie würde auch dadurch<br />
unterstrichen und glaubwürdiger, wenn – auf Afrika<br />
bezogen – möglichst alle Länder den NEPAD-African Peer<br />
Review Mechanism akzeptierten (www.nepad.org).<br />
5. Korruption. Der wichtigste Index, der Korruptionswahrnehmungsindex,<br />
wird von Transparency International jährlich<br />
neu erstellt (www.transparency.org).<br />
6. <strong>Die</strong> ODA-Quote 5 für Demokratie und good governance fördernde,<br />
die Parlamente stärkende und menschenrechtsorientierte<br />
Programme. Erste Daten bietet die vom Entwicklungsausschuss<br />
(DAC) der Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) neu eingeführte<br />
übersektorale Kennung Participatory development/good governance<br />
(www.oecd.org/dac).<br />
5 Anteil der öffentlichen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit (Official<br />
Development Assistance, ODA).<br />
134
Schlussfolgerungen<br />
Schlussfolgerungen und Orientierungen für das politische<br />
Handeln sind:<br />
Diktaturen sind nicht akzeptabel, weil sie grundlegenden<br />
menschlichen Werten widersprechen.<br />
Langfristig gibt es keine nachhaltige und menschenwürdige<br />
Entwicklung ohne demokratische Freiheiten und ohne Respektierung,<br />
Schutz und Förderung der Menschenrechte.<br />
Vornehmste Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es, zu einer<br />
demokratieorientierten und menschenrechtsbasierten<br />
Entwicklung beizutragen.<br />
<strong>Die</strong> dauerhafte Erreichung der meisten MDGs wird durch<br />
diktatorisch regierte Staaten, durch bad governance und<br />
Missachtung der Freiheitsrechte der Menschen behindert,<br />
wenn nicht sogar verhindert.<br />
<strong>Die</strong> Erreichung der MDGs muss mit der Förderung von<br />
Demokratie, Menschenrechten und good governance verbunden<br />
werden. Dabei lehrt die Erfahrung, dass beim Verfolgen<br />
dieser Ziele Erfolge nicht kurzfristig zu erreichen<br />
sind, Rückschritte immer wieder vorkommen und bei der<br />
Ko operation mit Regierungen oft Kompromisse eingegangen<br />
werden müssen, weil deren Reformorientierung nicht<br />
realistisch eingeschätzt werden kann (vgl. Messner/Scholz<br />
2005, 36).<br />
Bei konfligierenden Interessen (etwa Verfolgung eigener<br />
wirtschaftlicher Interessen oder Transfers umweltfreundlicher<br />
Technologien in das kommunistische China) muss gegenüber<br />
Diktatoren und bad performers dennoch eine klare<br />
Sprache gesprochen und gegebenenfalls auch zu Sanktionen<br />
gegriffen werden. Dazu kann auch der Stopp der entwicklungspolitischen<br />
Zusammenarbeit gehören; die Unterstützung<br />
der Not leidenden Bevölkerung, von Reformkräften<br />
oder Organisationen der Zivilgesellschaft sollte gleichwohl<br />
aufrechterhalten werden.<br />
135
Literatur<br />
Bertelsmann Stiftung (Hg.), 2005: Bertelsmann Transformation Index 2006.<br />
Politische Gestaltung im internationalen Vergleich. Gütersloh (www.<br />
bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/BTI_2006_<br />
Broschuere_D_gesamt.pdf, 21.7.06).<br />
BMZ (Hg.), 1995: Zehnter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung,<br />
in: Deutscher Bundestag, Drucksache 13/3342, 14.12.95.<br />
BMZ (Hg.), 2001: Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe. Aktionsprogramm<br />
2015. Der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten<br />
Halbierung extremer Armut. Bonn.<br />
BMZ (Hg.), 2002: Das Abkommen von Cotonou – Neue Wege in der AKP-<br />
EG-Partnerschaft (Materialien, Nichtregierungsorganisationen 118).<br />
Bonn.<br />
BMZ, 2006: Schriftliche Stellungnahme des BMZ zur AwZ-Anhörung zum<br />
Thema »Regierungsführung als Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit«<br />
am 28.6.06, Bundestags-Ausschuss für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung, Drs. 16 (19) 77.<br />
Europäische Union, 2005: Der Europäische Konsens über die Entwicklungspolitik<br />
(Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten<br />
Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen<br />
Parlaments und der Kommission zur Entwicklungspolitik der<br />
Europäischen Union). Brüssel (http://ec.europa.eu/comm/development/body/development_policy_statement/docs/edp_statement_<br />
oj_24_02_2006_de.pdf, 8.8.06).<br />
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Washington D.C.<br />
137
KARIN KÜBLBÖCK<br />
Schmerztherapie statt<br />
Ursachenbekämpfung?<br />
Eine strukturelle Kritik an den<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>n<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />
Goals, MDGs) bilden heute eine der wesentlichen Grundlagen<br />
für Entwicklungszusammenarbeit. Sie werden sowohl von offizieller<br />
Seite als auch von zahlreichen Akteuren der Zivilgesellschaft<br />
als Rahmen für entwicklungspolitische Strategien<br />
anerkannt. Das Ausmaß der Weltarmut als »größtes Verbrechen<br />
gegen die Menschlichkeit« (Pogge 2004) wird damit wieder<br />
stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. <strong>Die</strong>ser Artikel<br />
stellt die Frage, ob die MDGs etwas zur Beseitigung der strukturellen<br />
Ursachen von Armut beitragen werden; er kommt<br />
zum Schluss, dass die Chance hierfür gering ist, da die Strategien<br />
zur Erreichung der MDGs die wesentlichen Ursachen von<br />
Armut ausblenden. <strong>Die</strong> Ausführungen beziehen sich hauptsächlich<br />
auf Ziel 1, die Halbierung der absoluten Armut, da<br />
dieses das zentrale Ziel darstellt, an dem man die Erfüllung des<br />
Gesamtprojektes im Jahr 2015 messen wird.<br />
Entstehung der Ziele<br />
Der UN-<strong>Millennium</strong>gipfel in New York im Jahr 2000 bildete<br />
den Höhepunkt der in den 1990er Jahren organisierten acht<br />
großen Weltkonferenzen, die sich mit den zentralen Problemen<br />
der Welt befassten, darunter der »Erdgipfel« in Rio 1992,<br />
der Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995, die Weltfrauenkon-<br />
138
ferenz in Beijing 1995 und der Welternährungsgipfel in Rom<br />
1996. <strong>Die</strong> wesentlichen Inhalte der in diesem Jahrzehnt formulierten<br />
Deklarationen wurden auf dem New Yorker Gipfel<br />
zur <strong>Millennium</strong>-Erklärung zusammengeführt. Armutsbeseitigung,<br />
Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die<br />
vordringlichsten Aufgaben der internationalen Gemeinschaft<br />
im neuen Jahrhundert bestätigt. <strong>Die</strong> Vereinten Nationen (UN),<br />
der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank sowie<br />
die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(OECD) einigten sich in der Folge auf der Grundlage<br />
des Kapitels »Entwicklung und Armutsbeseitigung« der Millenium-Erklärung<br />
auf die MDGs, die von allen Mitgliedstaaten<br />
unterzeichnet wurden. Damit wurde erstmals auf internationaler<br />
Ebene ein gemeinsamer und überprüfbarer Zielkatalog<br />
mit konkreten Zeitvorgaben geschaffen.<br />
<strong>Die</strong> MDGs können als ein Versuch gesehen werden, die entwicklungspolitische<br />
Resignation der 1990er Jahre zu überwinden<br />
und eine neue Dynamik für konzertierte Aktionen zu erzeugen.<br />
<strong>Die</strong> Rechnung scheint aufzugehen: Nicht nur die Vereinten<br />
Nationen in ihrer <strong>Millennium</strong> Campaign, sondern auch<br />
zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure machten die MDGs<br />
weltweit zum Gegenstand von Aufrufen und Aktionen (vgl.<br />
den Beitrag von Roth). Das Ausmaß der Armut und die dringende<br />
Steigerung der Mittel für Entwicklungsfinanzierung<br />
rücken durch die Mobilisierung rund um die MDGs wieder<br />
vermehrt ins öffentliche Bewusstsein.<br />
<strong>Die</strong> gesteigerten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit,<br />
die seit Beginn des neuen Jahrtausends zu verzeichnen sind,<br />
sind sicherlich auch auf den durch die MDGs wachsenden internationalen<br />
Druck zurückzuführen. Von großen Veränderungen<br />
zu sprechen wäre bis jetzt dennoch übertrieben: Nach<br />
einem Jahrzehnt sinkender Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit<br />
(ODA) der Mitglieder des Entwicklungsausschusses<br />
(DAC) der OECD erreichten diese mit 0,33 % des Bruttonationaleinkommens<br />
(BNE) im Jahr 2005 wieder das Niveau<br />
139
vom Beginn der 1990er Jahre. Zurückzuführen sind die Erhöhungen<br />
im Jahr 2005 jedoch hauptsächlich auf Schuldenerlasse<br />
für den Irak und Nigeria sowie auf die Tsunami-Hilfe – also<br />
nicht auf unmittelbare Strategien zur MDG-Erreichung. Für<br />
die beiden Folgejahre prognostiziert die OECD wieder einen<br />
ODA-Rückgang (OECD 2006).<br />
Fortschritt oder Rückschritt?<br />
Der sowohl zeitlich als auch quantitativ überprüfbare Zielkatalog<br />
kann im Vergleich zu vorherigen Willensäußerungen der<br />
internationalen Gemeinschaft als klarer Fortschritt bezeichnet<br />
werden. Kommentatoren verweisen jedoch auf Rückschritte auf<br />
anderen Ebenen: So sei im Kontrast zur UN-Tradition die Formulierung<br />
ohne den üblichen Diskussionsprozess in den verschiedenen<br />
Gremien erfolgt. Eine Errungenschaft der Konferenzen<br />
der 1990er Jahre war zudem die Einbindung von zivilgesellschaftlichen<br />
Organisationen in die Vorbereitungsprozesse.<br />
Eine solche Beteiligung gab es im Vorfeld der Formulierung<br />
der <strong>Millennium</strong>-Erklärung nicht (Amin 2006). Insbesondere feministische<br />
Organisationen kritisieren den Rückschritt bei Zielen,<br />
die die Geschlechtergerechtigkeit betreffen. So kommen<br />
sexuelle und reproduktive Rechte nicht vor, und kein Indikator<br />
betrifft die Einkommensverteilung zwischen Männern und<br />
Frauen (Antrobus 2004; vgl. den Beitrag von Wittmann).<br />
Ein aufschlussreiches Beispiel dafür, dass der Teufel oft im<br />
(statistischen) Detail steckt, ist die Formulierung des ersten<br />
Zieles: War in der Abschlussdeklaration des Welternährungsgipfels<br />
von Rom (1996) noch das Ziel der Halbierung der aktuellen<br />
Anzahl der an Hunger leidenden Menschen bis zum Jahr<br />
2015 enthalten, ist in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung nur noch vom<br />
Anteil der Bevölkerung die Rede. Statt der Angabe »aktuell«<br />
(sprich: 2000) haben die MDGs das Jahr 1990 als Referenzjahr.<br />
Da die Gesamtbevölkerung im Vergleich zu 1990 bis zum Jahr<br />
140
2015 beträchtlich steigen wird, ist der tolerierbare Anteil der<br />
Armen wesentlich höher, als die Hälfte der 1996 in absoluter<br />
Armut lebenden Personen. Außerdem war weltweit gesehen<br />
die Armut zwischen 1990 und 2000 durch die wirtschaftliche<br />
Entwicklung Chinas und Indiens bereits zurückgegangen:<br />
<strong>Die</strong>se zehn Jahre werden nun schon in die angestrebte Reduktion<br />
eingerechnet. Durch diese beiden Änderungen wird die<br />
tolerierbare Zahl der absolut Armen im Vergleich zur Rom-<br />
Deklaration von 550 auf 880 Mio. erhöht und die zu reduzierende<br />
Anzahl der absolut armen Menschen um mehr als 60 %<br />
gesenkt (Pogge 2003; Reddy/Pogge 2005; Wade 2003a).<br />
Auch die Verwendung der 1 US-$ pro Tag-Grenze – bezogen<br />
auf die Kaufkraft eines Dollars in den USA im Jahr 1999<br />
(vor 1999 war das Referenzjahr 1985) – als Definition für absolute<br />
Armut wird weithin als willkürlich und viel zu niedrig<br />
eingeschätzt (Pogge 2004; Woodward/Sims 2006; Wade 2003a;<br />
Socialwatch 2005). Allein die Änderung des Bezugsjahres von<br />
1985 auf 1999 hat in 77 von 92 untersuchten Ländern die Armutsgrenze<br />
signifikant gesenkt und somit auch die Anzahl der<br />
Menschen, die darunter lagen (Pogge 2003). Da das Bezugsjahr<br />
der MDGs das Jahr 1990 ist, hat diese Änderung der Statistik<br />
wesentliche Auswirkungen. Auf ihrer Basis verkündete der damalige<br />
Weltbankpräsident Wolfensohn im Jahr 2001 eine Reduktion<br />
der Armen um 200 Mio. zwischen 1980 und 2000. Kalkuliert<br />
man stattdessen mit der (immer noch niedrigen) Grenze<br />
von 2 US-$ pro Tag, ist die Anzahl der Armen zwischen 1980<br />
und 2001 um 12 % gestiegen. Statt die zu niedrige Grenze von<br />
1 US-$ pro Tag zu verwenden, wäre es deshalb aussagekräftiger,<br />
höhere Grenzen zu verwenden und nationale Armutsindikatoren<br />
mit einzubeziehen, die eher die reale Lebenssituation<br />
widerspiegeln.<br />
<strong>Die</strong> beschriebenen Details der statistischen »Anpassung«<br />
werfen die Frage auf, wie sehr die »Erreichung« der MDGs<br />
vorrangig der politischen Legitimation des derzeitigen Weltwirtschaftssystems<br />
zu dienen hat. Denn die Tatsache, dass in<br />
141
einer Welt mit Nahrungsmittelüberproduktion, hohem technologischen<br />
Fortschritt und Produktivitätszuwächsen die Hälfte<br />
der Bevölkerung ihre dringendsten Grundbedürfnisse nicht<br />
erfüllen kann, stellt eben dieses Weltwirtschaftssystem zunehmend<br />
in Frage und ist eine Hauptursache für soziale und politische<br />
Instabilität.<br />
Quick fixes für Armut?<br />
Wie stark dieser Legitimationsbedarf ist, zeigt auch der Abschlussbericht<br />
des UN-<strong>Millennium</strong>projektes (UN <strong>Millennium</strong><br />
Project 2005), der von Jeffrey Sachs koordiniert wurde, sowie die<br />
Publikation The End of Poverty desselben Autors (Sachs 2005).<br />
Sachs wird nicht müde, über einen big push – also eine drastische<br />
Erhöhung der Finanzmittel – das Ende der big problems<br />
(Easterly 2006) bewirken zu wollen. »Das Ende der Armut ist<br />
in Reichweite – innerhalb unserer Generation – aber nur, wenn<br />
wir die vor uns liegende Gelegenheit ergreifen.« 1 (Sachs 2005,<br />
25). <strong>Die</strong> Basis für die big push-Theorie ist die Idee der »Armutsfalle«,<br />
beruhend auf den Annahmen fehlenden Sparvolumens<br />
der Armen, hohen Bevölkerungswachstums und steigender Ertragsraten<br />
bei geringer Kapitalausstattung. 2 Der Bericht erinnert<br />
damit stark an die modernisierungstheoretischen Ansätze<br />
der 1950er und 1960er Jahre (Martens 2005; Easterly 2006). 3<br />
Eine signifikante Erhöhung der ODA soll laut Jeffrey Sachs<br />
den Kapitalstock in den Entwicklungsländern erhöhen und<br />
eine Entwicklungsdynamik in Gang setzen. Des Weiteren<br />
schlägt Sachs eine Reihe von quick win-Initiativen vor, wie bei-<br />
1 Übersetzung durch die Redaktion.<br />
2 Nach Annahme der neoklassischen Theorie sind gerade bei geringem Kapitalbestand<br />
aufgrund der großen Produktivitätssteigerungen, die durch<br />
Investitionen erreicht werden, die Erträge aus diesen Investitionen höher.<br />
3 Ein Referenzwerk ist zum Beispiel »Stages of Economic Growth« von Walt<br />
Whitman Rostow (1960).<br />
142
spielsweise die Verteilung von Moskitonetzen an alle Kinder<br />
in Malariagebieten oder die Abschaffung des Schulgelds in<br />
Grundschulen. <strong>Die</strong>se Vorschläge sind zweifellos wichtig und<br />
sollten umgesetzt werden – strukturelle Ursachen von Armut<br />
bleiben dabei jedoch ausgeblendet.<br />
Armut als technisches Problem –<br />
Entpolitisierung der Armutsdebatte<br />
Zahlreiche Untersuchungen in den vergangenen Jahrzehnten<br />
konnten keinen kausalen Zusammenhang zwischen höheren<br />
ODA-Mitteln und steigendem Wachstum feststellen (einen<br />
Überblick über diverse Studien gibt Easterly 2003). Im Verhältnis<br />
zur Wirtschaftsleistung hat Afrika in den vergangenen Jahrzehnten<br />
die meisten Mittel erhalten, die Wachstumsraten waren<br />
jedoch die niedrigsten weltweit. Daraus ist zu schließen,<br />
dass ein höherer Mittelzufluss allein für den big push nicht ausreicht.<br />
Fehlendes Wachstum und hohe Armutsraten sind auf<br />
viele komplexe wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren<br />
zurückzuführen. Dabei sind sowohl interne als auch externe<br />
Rahmenbedingungen ausschlaggebend.<br />
Armut ist kein technisches Problem, wie es der Sachs-<br />
Report nahe legt. <strong>Die</strong> Formulierung und Umsetzung von Armutsminderungsstrategien<br />
ist mehr als eine Frage von fehlenden<br />
Mitteln – sie ist vor allem eine politische Angelegenheit. Es<br />
geht um Macht und Einfluss, um die Fragen, wie einflussreiche<br />
Gruppen (einschließlich Geberorganisationen) einer Veränderung<br />
gegenüberstehen, welche Interessen die Regierung vertritt,<br />
welche Akteure durch bestimmte Maßnahmen gewinnen<br />
bzw. verlieren, etc. <strong>Die</strong> Darstellung der Armutsproblematik<br />
als technische statt gesellschaftspolitische Frage trägt wesentlich<br />
zu einer Entpolitisierung der Debatte um Armutsminderung<br />
bei und zeugt damit paradoxerweise gleichzeitig von ihrem<br />
hoch politischen Charakter: <strong>Die</strong> Gewinner des derzeitigen<br />
143
Weltwirtschaftssystems – die reichsten Staaten und ihre Transnationalen<br />
Unternehmen – haben genügend Einfluss, um der<br />
Formulierung von Forderungen nach strukturellen Veränderungen<br />
vorzubeugen.<br />
Armut getrennt von Reichtum?<br />
Ein wesentliches Merkmal der weltweiten Entwicklung der<br />
vergangenen 20 Jahre ist der enorme Anstieg der Ungleichheit<br />
– sowohl zwischen als auch innerhalb einzelner Länder – dieser<br />
Anstieg betrifft zwei Drittel der Länder mit verfügbaren Daten<br />
(WIDER 2004a). Rund 70 % der globalen Einkommensungleichheit<br />
ist auf Einkommensunterschiede zwischen Ländern<br />
zurückzuführen (UN/DESA 2006). Das Pro-Kopf-Einkommen<br />
der reichsten Länder ist mit fast 28.000 US-$ 94-mal höher als<br />
das Pro-Kopf-Einkommen der 48 ärmsten Länder (298 US-$),<br />
wobei das Pro-Kopf-Einkommen der reichsten Länder in den<br />
1990er Jahren um 6.000 US-$ gestiegen, in den ärmsten Ländern<br />
in der gleichen Zeit um 30 US-$ gesunken ist (UNDP<br />
2003). Doch auch innerhalb einzelner Länder ist die Verteilungsungleichheit<br />
frappierend, insbesondere in Lateinamerika<br />
und Afrika (Fues 2006).<br />
Das UNDP weist seit Jahren auf das groteske Ausmaß dieser<br />
Situation hin: So hätten etwa die zehn reichsten Personen<br />
der Welt 2002 mit einer 5 %-igen Rendite auf ihr Vermögen<br />
das gesamte Einkommen der 37 Mio. Einwohner in Tansania<br />
in diesem Jahr erwirtschaftet (WIDER 2004b). <strong>Die</strong>se beunruhigende<br />
Entwicklung wird – nach einer Zeit, in der das Thema<br />
aus der akademischen und politischen Debatte weitgehend<br />
ausgeklammert war – durch zunehmende Forschungsanstrengungen<br />
dokumentiert. 4<br />
4 Einen Überblick über verschiedene Forschungsstränge geben Kanbur/<br />
Lustig (1999).<br />
144
<strong>Die</strong> lange Ausblendung des Themas ist auch darauf zurückzuführen,<br />
dass ungleiche Verteilung lange Zeit als wachstumsförderlich<br />
angesehen wurde, 5 da dadurch die Investitionsbereitschaft<br />
steige (wohlhabende Schichten investieren eher<br />
als Arme, die ihr Einkommen für Konsum aufwenden) und<br />
in Folge auch das Einkommen der ärmeren Schichten (trickle<br />
down-Ansatz). Zudem vergrößere sich der Anreiz für Menschen<br />
am unteren Ende der Einkommensskala zu mehr Leistung,<br />
um ein höheres Einkommen zu erlangen. Oder, um es mit<br />
Margaret Thatcher zu sagen: »Es ist unsere Aufgabe, Ungleichheit<br />
zu glorifizieren, und dafür zu sorgen, dass sich Talente<br />
und Fähigkeiten zu unser aller Nutzen ›Luft machen‹ und ihren<br />
Ausdruck finden.« (zit. n. Wade 2004, 582).<br />
Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass<br />
Ungleichverteilung nicht nur ein moralisches, sondern auch ein<br />
ökonomisches Problem darstellt. Empirische Untersuchungen<br />
kommen zunehmend zu dem Ergebnis, dass ein hohes Ausmaß<br />
an Einkommensungleichheit Wachstum bremst (Stewart<br />
2000). 6 Ein Grund hierfür ist, dass bei einem hohen Ausmaß an<br />
Ungleichheit große Teile der Bevölkerung vom Zugang zu produktiven<br />
Tätigkeiten ausgeschlossen sind (UNDP 2002), unter<br />
anderem durch fehlende Bildungs- und Kreditmöglichkeiten.<br />
Wenn Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft sehr<br />
ungleich verteilt sind, schmälert dies aber nicht nur das Wachstumspotenzial,<br />
sondern das erreichte Wachstum trägt auch viel<br />
weniger zur Armutsminderung bei als in egalitäreren Gesellschaften<br />
(WIDER 2004a).<br />
In internationale Politikformulierungen hält diese Erkenntnis<br />
bisher jedoch keinen Einzug. Auch in den MDGs finden<br />
Verteilungsindikatoren trotz der ökonomischen Sinnhaftigkeit<br />
5 Sehr einflussreich waren in diesem Zusammenhang die Thesen des Ökonomen<br />
Simon Kuznets (1955).<br />
6 Auch die Weltbank kommt mittlerweile zu diesem Schluss, auch wenn sie<br />
Ungleichheit auf Chancenungleichheit beschränkt (Weltbank 2005).<br />
145
keinen Platz. Neben der personellen Einkommensverteilung<br />
wäre ein genauerer Blick auf die Verteilung zwischen den Produktionsfaktoren<br />
lohnenswert. Durch die gestiegene Mobilität<br />
des Produktionsfaktors Kapital im Vergleich zum Faktor Arbeit<br />
ist die Verhandlungsmacht des ersteren massiv verstärkt<br />
worden (UNDP 2002), real sichtbar in weltweit sinkenden Unternehmenssteuern<br />
trotz steigender Gewinne sowie sinkenden<br />
Reallöhnen auch im Falle von Produktivitätssteigerungen<br />
(zum Beispiel in Mexiko und der Türkei) (Onaran 2005).<br />
Für die Integration von Verteilungszielen in die MDGs gäbe<br />
es eine Reihe von Möglichkeiten: Sinnvoll wäre etwa die Berücksichtung<br />
des Gini-Koeffizienten 7 als traditionelles Maß<br />
der Einkommensverteilung innerhalb eines Landes. Kaushik<br />
Basu (2004) schlägt als weitere Messgröße das Einkommenswachstum<br />
der ärmsten 20 % der Bevölkerung vor. Um die Einkommensverteilung<br />
zwischen den Produktionsfaktoren zu berücksichtigen,<br />
könnte die Entwicklung der Lohn- und Gewinnquote<br />
sowie der Reallöhne bzw. der Lohnstückkosten in die<br />
Zielformulierungen miteinbezogen werden.<br />
Ausblendung weltwirtschaftlicher<br />
Rahmenbedingungen<br />
Auf den Weltkonferenzen der 1990er Jahre wurde eine Vielfalt<br />
von Themen behandelt, die in der Folge auch Eingang in die<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung fanden. Auffallend dabei ist, dass das<br />
Thema Weltwirtschaft systematisch ausgespart wurde. Dagegen<br />
wurde noch in den 1970er Jahren im Rahmen der UN-Kon-<br />
7 Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß für Verteilungsgleichheit.<br />
Der Wert kann beliebige Größen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher der<br />
Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient<br />
alleine ist allerdings auch nur bedingt aussagekräftig und sollte mit<br />
anderen Indikatoren kombiniert werden (siehe zum Beispiel http://www.<br />
umverteilung.de/verteilung.htm).<br />
146
ferenzen die Debatte über eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung<br />
und deren notwendige Neugestaltung mit einiger Intensität<br />
geführt (vgl. die Resolution der UN-Generalversammlung<br />
zur Herstellung einer neuen Weltwirtschaftsordnung aus dem<br />
Jahr 1974). <strong>Die</strong> Gründung der UN-Konferenz für Handel und<br />
Entwicklung (UNCTAD) sowie die Formierung der G77 im<br />
Jahr 1964 waren Ausdruck dieser politischen Konjunktur, in der<br />
viele ehemalige Kolonien und nun autonome Staaten Selbstbewusstsein<br />
gewannen und auf eine neue weltwirtschaftliche Arbeitsteilung<br />
drängten.<br />
Für die Entwicklungsländer ging es in diesen Debatten unter<br />
anderem um<br />
die Anerkennung des Anspruchs, über ihre natürlichen<br />
Ressourcen selbst zu bestimmen und ausländische Unternehmungen<br />
zu regulieren;<br />
die Zusage der Industrieländer für einen Technologietransfer<br />
zu günstigen Konditionen;<br />
Vereinbarungen zur Stabilisierung der Exporterlöse, unter<br />
anderem durch den Abschluss von Rohstoffpreisabkommen;<br />
ein größeres Mitspracherecht in IWF und Weltbank (UN<br />
1974; Brock 2001).<br />
<strong>Die</strong> Aktualität dieser Forderungen ist heute um nichts geringer<br />
als vor 30 Jahren. <strong>Die</strong> ökonomische Situation der am wenigsten<br />
entwickelten Länder (least developed countries, LDCs) ist zumeist<br />
noch von fehlender Diversifizierung der Wirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit<br />
und der Abhängigkeit von wenigen Exportprodukten<br />
gekennzeichnet. Dennoch sind die strukturellen Fragen<br />
der internationalen Arbeitsteilung aus der internationalen<br />
Debatte verschwunden und bei der »zweiten Generation« der<br />
Weltkonferenzen vernachlässigt worden.<br />
<strong>Die</strong> Abkehr von der Debatte über die ungerechte Weltwirtschaftsordnung<br />
erfolgte in den 1980er Jahren durch einen ideologischen<br />
und politischen Umschwung. <strong>Die</strong>ser ist auf zahlreiche<br />
Faktoren zurückzuführen, die in der Literatur ausrei-<br />
147
chend dokumentiert sind (Schui/Blankenburg 2002; Harvey<br />
2005; Onaran 2005). Als Hebel für eine Politikänderung von<br />
Seiten der Industrieländer wurde insbesondere die Verschuldungskrise<br />
Anfang der 1980er Jahre genutzt. Sie schwächte die<br />
internationale Verhandlungsposition der Entwicklungsländer<br />
und stellte einen Wendepunkt in der Nord-Süd-Auseinandersetzung<br />
dar. <strong>Die</strong> UNCTAD büßte ihre Rolle als Forum für Verhandlungen<br />
über die Gestaltung der Weltwirtschaft ein (Brock<br />
2001). An ihre Stelle traten IWF und Weltbank, die allein durch<br />
die ungleiche Stimmverteilung von den großen Industrieländern<br />
zur Durchsetzung ihrer Interessen genutzt werden konnten.<br />
<strong>Die</strong> von der G77 initiierte Debatte über eine gerechtere<br />
Weltwirtschaft wurde abgelöst durch die von IWF und Weltbank<br />
verordnete Anpassung an die Anforderungen des Weltmarktes.<br />
Der Zusammenbruch der realsozialistischen Länder<br />
beschleunigte zusätzlich noch die ideologische und diskursive<br />
Fixierung auf Marktöffnung und Weltmarktorientierung als<br />
einzig praktikablem Entwicklungsmodell.<br />
Während in den 1960er und 1970er Jahren die endogenen<br />
Ursachen fehlender Entwicklung zu wenig Berücksichtigung<br />
fanden, drehte sich die Debatte in der Folge einseitig um Eigenverantwortung.<br />
Gute Regierungsführung und Weltmarktintegration<br />
wurden zu zentralen Faktoren für Entwicklung stilisiert.<br />
So wird man auch im Zusammenhang mit den MDGs<br />
nicht müde, die Selbstverantwortung der Entwicklungsländer<br />
in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Auch der<br />
erwähnte Abschlussbericht des <strong>Millennium</strong>projekts Investing<br />
in Development, ein »praktischer Plan, um die <strong>Millennium</strong>sziele<br />
zu erreichen« (UN <strong>Millennium</strong> Project 2005), sieht die Hauptverantwortung<br />
für das bisherige Verfehlen der MDGs im Versagen<br />
der Regierungen und mangelndem Problembewusstsein<br />
der Entwicklungsländer.<br />
Unerwähnt bleibt, dass der eigenverantwortliche Handlungsspielraum<br />
der ärmsten Länder durch ein enges Korsett<br />
an wirtschaftspolitischen Vorgaben – geschnürt von den Inter-<br />
148
nationalen Finanzinstitutionen, der Welthandelsorganisation<br />
(WTO) und durch bilaterale Handels- und Investitionsabkommen<br />
– erheblich eingeschränkt ist. So werden Entschuldung und<br />
neue Kredite der internationalen Finanzinstitutionen an wirtschaftspolitische<br />
Reformen wie etwa die Privatisierung von Infrastruktur<br />
und die Liberalisierung des Außenhandels und des<br />
Finanzmarkts geknüpft. Auch die WTO-Verträge verhindern<br />
durch die festgeschriebene Öffnung der Güter- und <strong>Die</strong>nstleistungsmärkte<br />
in vielen Fällen eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete<br />
Wirtschaftspolitik (Wade 2003b). <strong>Die</strong> stark wachsende<br />
Anzahl bilateraler Investitionsabkommen in den vergangenen<br />
Jahren führte in vielen Fällen zu einer Bevorzugung internationaler<br />
gegenüber heimischen Investoren (Bellak/Küblböck<br />
2004). <strong>Die</strong>ses enge wirtschaftspolitische Korsett wird trotz<br />
zahlreicher empirischer Ergebnisse und Erfahrungen (vgl. Kasten<br />
»Entwicklungserfahrungen«) als Ursache für mangelnde<br />
Entwicklungsfortschritte beständig ignoriert. Während also einerseits<br />
die Interdependenzen in einer globalisierten Weltwirtschaft<br />
vielfältig thematisiert werden, werden diese im aktuell<br />
dominanten Entwicklungsdiskurs ausgeblendet.<br />
Beschränkte Partnerschaft<br />
<strong>Die</strong> in Ziel 8 (Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung)<br />
formulierten Versprechen der Industrieländer in Bezug<br />
auf ODA-Steigerung, Entschuldung, Marktzugang und Technologietransfer<br />
sind im Hinblick auf die internationalen Rahmenbedingungen<br />
zwar wichtig, werden jedoch – selbst wenn<br />
sie erfüllt werden – kaum dazu beitragen, die strukturellen Ursachen<br />
der Armut zu beseitigen. Höhere Finanzmittel werden<br />
ohne begleitende Industriepolitik nicht zu höherem Wachstum<br />
führen. <strong>Die</strong> mehr als notwendige Entschuldung wird an die<br />
Durchführung von ökonomisch nachteiligen Konditionalitäten<br />
geknüpft, wie zum Beispiel die Liberalisierung des Agrarsek-<br />
149
tors (Gaynor 2005). Von der versprochenen Marktöffnung werden<br />
insbesondere die ärmsten Entwicklungsländer aufgrund<br />
der mangelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte nicht<br />
profitieren können.<br />
Entwicklungserfahrungen<br />
Ein Blick auf die Entwicklung der heute reichen Länder<br />
zeigt, dass kein einziges Land die heute propagierten Rezepte<br />
selbst befolgt hat (Chang 2002; Reinert 2006). <strong>Die</strong> beiden<br />
Länder, die den meisten Protektionismus betrieben, um<br />
ihre Wirtschaft zu entwickeln, sind Großbritannien und die<br />
USA selbst. Von 1830 bis 1945 hielten die USA ihre Zolltarife<br />
auf einem Niveau, das zu den höchsten der Welt gehörte.<br />
Erst nachdem die unbestrittene Vorherrschaft gesichert war,<br />
wurden die Handelsbeziehungen liberalisiert. Wie die Auseinandersetzungen<br />
in der WTO um die Agrarsubventionen<br />
zeigten, werden bis heute nicht konkurrenzfähige Sektoren<br />
geschützt bzw. unterstützt. Auch kannte beispielsweise die<br />
Schweiz bis zum Jahr 1907 kein Patentrecht. <strong>Die</strong> Niederlande<br />
schafften 1869 ihr Patentrecht mit der Begründung wieder<br />
ab, Patente seien auf politischem Wege geschaffene Monopole<br />
und daher mit den Grundsätzen des freien Marktes unvereinbar<br />
(Chang 2002). <strong>Die</strong>se geschichtliche Evidenz wird<br />
bei den aktuellen WTO-Verhandlungen geflissentlich ignoriert.<br />
Auch die südostasiatischen Tigerstaaten, die immer wieder<br />
als Vorbild für Entwicklung durch Freihandel für Länder<br />
des Südens herhalten müssen, sind einen anderen Weg<br />
gegangen. Bevor Märkte geöffnet wurden, wurde die nationale<br />
Industrie durch staatliche Maßnahmen geschützt und<br />
aufgebaut; der Export unverarbeiteter Produkte war nie ein<br />
Entwicklungsziel. <strong>Die</strong> Finanzmärkte waren bis in die 1990er<br />
Jahre strikt staatlich kontrolliert. <strong>Die</strong>se Strategien wurden<br />
auch deshalb von den westlichen Industrieländern gedul-<br />
150
det und sogar massiv subventioniert, da es galt, die Gefahr<br />
des Kommunismus zu bekämpfen.<br />
Auch China und Indien haben eine eigenständige Entwicklungsstrategie<br />
verfolgt und sich keineswegs an die Vorgaben<br />
der internationalen Finanzinstitutionen gehalten. Den<br />
ärmsten afrikanischen Ländern steht diese Möglichkeit aufgrund<br />
ihrer finanziellen Abhängigkeit jedoch nicht offen.<br />
Schlussfolgerungen<br />
Mit den öffentlichkeitswirksamen MDGs ist es gelungen,<br />
Armutsminderung wieder auf die internationale politische<br />
Agenda zu rücken. <strong>Die</strong> Erfolge, die durch die entstandene Dynamik<br />
in etlichen Ländern bei verschiedenen Teilzielen erreicht<br />
werden, sind positiv zu bewerten. Gleichzeitig reflektieren die<br />
Ziele den aktuell dominanten Entwicklungsdiskurs, in dem<br />
Armut als ein technisches Problem dargestellt wird, das unabhängig<br />
von nationalen und internationalen Rahmenbedingungen<br />
gelöst werden kann. Statt struktureller Veränderungen<br />
in den Nord-Süd-Wirtschaftsbeziehungen und in den ärmsten<br />
Ländern geht es um die Linderung der Schmerzen ihrer ökonomischen<br />
Misere (Reinert 2006).<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>, die diesen Namen verdienen,<br />
müssten alternative weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />
anstreben. Wichtig dafür wäre eine internationale Politikkoordinierung<br />
(Pollin 2002; Onaran 2005; Wade 2003b),<br />
die Regulierung der Finanzmärkte, internationale Steuerstandards,<br />
Standards für Arbeitsmärkte, verbindliche Regeln für<br />
Transnationale Unternehmen und für entwicklungsfördernde<br />
Investitionen (Bellak/Küblböck 2004). Dadurch erst könnten<br />
Freiräume für die Formulierung von lokalen Entwicklungsstrategien<br />
sowie für verteilungspolitische Maßnahmen geschaffen<br />
werden. <strong>Die</strong> Einführung dieses politischen Rahmens<br />
wäre möglich – Voraussetzung dafür ist die Herstellung eines<br />
151
politischen Willens. Dafür wird ein gesteigerter sozialer Druck<br />
und Mobilisierung durch eine starke Zivilgesellschaft nötig<br />
sein, deren Ambitionen weit über die Erfüllung der aktuellen<br />
MDGs hinausgehen.<br />
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154
FRANZ NUSCHELER<br />
Sinnentleerung des<br />
Prinzips Nachhaltigkeit<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
haben eine ökologische Lücke<br />
<strong>Die</strong> internationale Entwicklungspolitik konzentriert sich seit<br />
Beginn des 21. Jahrhunderts auf drei miteinander verflochtene<br />
Megaprojekte:<br />
erstens die MDG-Agenda zur Reduzierung extremer Armut;<br />
zweitens eine auf der Erfahrung, dass es ohne Frieden und<br />
Rechtssicherheit keine Entwicklung geben kann, aufbauende<br />
Sicherheitsagenda zur Konfliktprävention, zum Konfliktmanagement<br />
und zur politischen Stabilisierung fragiler<br />
Staaten, die zum Sicherheitsproblem ganzer Regionen<br />
werden;<br />
drittens die Rio-Agenda, die auf der Erkenntnis beruht,<br />
dass es enge Wechselwirkungen zwischen Umweltkrisen<br />
und Armut gibt und die Stabilisierung des Weltklimas zu<br />
den vorrangig schutzbedürftigen globalen öffentlichen Gütern<br />
(global public goods) zählt. <strong>Die</strong>se Erkenntnis erforderte<br />
eine stärkere Verzahnung von Entwicklungs- und Umweltpolitik,<br />
die schon im Begriff der nachhaltigen Entwicklung<br />
(sustainable development) angelegt ist.<br />
Der UN-Generalsekretär Kofi Annan betonte in seinem Grundsatzbericht<br />
»In größerer Freiheit«, den er dem im September<br />
2005 veranstalteten <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel vorlegte, die Interdependenz<br />
dieser drei Megaprojekte, für deren Realisierung<br />
er eine besondere Verantwortung der Vereinten Nationen beanspruchte.<br />
155
Das Umweltproblem ist ein Kernproblem<br />
internationaler Entwicklung<br />
<strong>Die</strong> entwicklungspolitische Diskussion über die MDGs übersieht<br />
häufig einen elementaren Zusammenhang: <strong>Die</strong> MDGs<br />
1–6 können nicht erreicht werden, wenn das siebente MDG,<br />
nämlich der Schutz der Umwelt und die nachhaltige Nutzung<br />
der knapper werdenden natürlichen Ressourcen, vernachlässigt<br />
wird. Inzwischen wurde auch eine sicherheitspolitische<br />
Dimension des globalen Klimawandels erkannt. In einem öffentlich<br />
gewordenen Bericht des Pentagon wurden seine Auswirkungen<br />
auf die westliche Sicherheit zum Missfallen der<br />
Pentagon-Führung sogar als bedrohlicher eingeschätzt als<br />
der internationale Terrorismus. Der Bestseller-Autor Jared<br />
Diamond (2005) machte in einem voluminösen Buch über den<br />
»Kollaps« nicht Kriege, sondern den Klimawandel, Umweltschäden<br />
und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen für<br />
den Untergang ganzer Völker verantwortlich. <strong>Die</strong>ser Prophet<br />
der Umwelt-Apokalypse mag biblische Horrorszenarien ausmalen,<br />
kann sich aber dabei auf wissenschaftlich fundierte Prognosen<br />
stützen.<br />
Umwelt- und Entwicklungsforscher haben die Gefährdung<br />
der menschlichen Sicherheit (human security) durch Umweltkrisen<br />
erkannt. Viele Menschen und besonders Frauen und<br />
Kinder sind inzwischen existenziell durch Umweltkrisen mehr<br />
betroffen als durch Kriege. <strong>Die</strong> »Feminisierung der Armut«<br />
hat neben Strukturen der Geschlechterungleichheit (vgl. den<br />
Beitrag von Wittmann) auch ökologische Ursachen. <strong>Die</strong> Zahl<br />
der Umweltflüchtlinge, die der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen<br />
zu entfliehen versuchen, übersteigt inzwischen die Zahl<br />
der Kriegsflüchtlinge. Prognosen des UN-Umweltprogramms<br />
(UNEP) sehen in der Umweltflucht den künftig stärksten push-<br />
Faktor von internationalen Migrationsströmen. <strong>Die</strong> United Nations<br />
University prognostiziert schon für das Jahr 2010 rund<br />
50 Mio. Umweltflüchtlinge (UNU-EHS 2005). Ob Umwelt-,<br />
156
Wirtschafts- oder Kriegsflüchtlinge: Alle werden in den potenziellen<br />
Zielländern zunehmend als Sicherheitsproblem perzipiert.<br />
Das Umweltproblem ist also kein Randproblem, sondern<br />
ein Kernproblem internationaler Entwicklung und der internationalen<br />
Politik.<br />
Analyse der Problemlage,<br />
die dem MDG 7 zugrunde liegt<br />
<strong>Die</strong> Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED)<br />
von 1992, die bereits Entwicklung mit dem Schutz der Umwelt<br />
in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht hatte, rückte<br />
den Tatbestand der ökologischen Gefährdung des Planeten<br />
und der Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen ins Bewusstsein<br />
einer breiteren Öffentlichkeit. <strong>Die</strong> wissenschaftlichen<br />
Erkenntnisse von internationalen Expertengruppen, die in die<br />
von UNCED verabschiedete Agenda 21 eingeflossen waren,<br />
wurden durch die Berichte des International Panel on Climate<br />
Change (IPCC), die GEO-Berichte des UN-Umweltprogramms<br />
(UNEP) und durch das <strong>Millennium</strong> Ecosystem Assessment aktualisiert<br />
und dramatisiert.<br />
<strong>Die</strong>se Erkenntnisse lagen auch dem Jahresgutachten 2004<br />
des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale<br />
Umweltveränderungen (WBGU) mit dem richtungweisenden<br />
Titel »Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik« zugrunde<br />
(WBGU 2005). Im Hinblick auf die Untergewichtung der Umweltpolitik<br />
im MDG-Zielkatalog ist der Hinweis wichtig, dass<br />
dieses Gutachten der Umweltpolitik eine strategische Schlüsselrolle<br />
bei der Armutsbekämpfung zuwies. Seine Handlungsempfehlungen,<br />
die wesentlich konkreter als die Zielvorgaben<br />
und Indikatoren des MDG 7 sind, beruhten auf einer Analyse<br />
des systemischen Zusammenhangs von Armutsdimensionen<br />
und Umweltveränderungen, den die MDGs ebenfalls nicht erkennen<br />
lassen.<br />
157
<strong>Die</strong> wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig und<br />
können selbst von ökologischen Dinosauriern kaum noch bestritten<br />
werden: <strong>Die</strong> Eingriffe des Menschen in das Ökosystem<br />
gefährden bereits heute in vielen Teilen der Erde die natürlichen<br />
Lebensgrundlagen, vor allem der Armutsgruppen und hier<br />
wiederum der Frauen. Sie sind gegenüber Umweltkrisen (Wassermangel,<br />
Bodendegradation) besonders verwundbar und<br />
existentiellen Risiken (Ernteverlusten, Hunger, Krankheiten)<br />
besonders ausgesetzt; sie leiden besonders unter Naturkatastrophen,<br />
deren Häufigkeit und Intensität nach Berichten von<br />
internationalen Organisationen und Versicherungsunternehmen<br />
zunimmt (Scholz 2006); sie verfügen auch über geringere<br />
Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten (coping capacities).<br />
Deshalb unterscheidet die natur- und sozialwissenschaftliche<br />
Vulnerabilitätsforschung die soziale Vulnerabilität von der geophysikalischen<br />
Vulnerabilität, die auf die Exposition einer Region<br />
oder Bevölkerungsgruppe gegenüber Naturkatastrophen<br />
abhebt. Allerdings können auch aus Naturkatastrophen – etwa<br />
bei Erdbeben oder bei der Tsunami-Katastrophe – soziale Katastrophen<br />
oder so genannte class-quakes entstehen.<br />
Für die geo- oder biophysikalische Vulnerabilität legte das<br />
International Panel on Climate Change (IPCC) umfassende Analysen<br />
und Prognosen vor. Es untersuchte vor allem Folgen des<br />
globalen Klimawandels, die in der Zunahme von Wetterextremen,<br />
Veränderungen der Wasserkreisläufe und im Ansteigen<br />
des Meeresspiegels liegen und unterschiedliche Auswirkungen<br />
auf einzelne Regionen und Länder haben (<strong>Die</strong>tz 2006).<br />
Das UNDP (2004) veröffentlichte unter dem Titel »Disaster<br />
Risk« einen umfassenden Vulnerabilitätsbericht, der die besondere<br />
Verwundbarkeit von Armutsgruppen und indigenen<br />
Volksgruppen, zu denen immerhin 350 Mio. Menschen gezählt<br />
werden, durch Umweltkrisen belegte. Der Heidelberger Public<br />
Health-Experte Rainer Sauerborn (2006) veranschaulichte die<br />
vielfältigen Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheitssysteme<br />
der Welt (vgl. Abbildung 1).<br />
158
Abbildung 1:<br />
Wie der Klimawandel die Gesundheit beeinflusst<br />
Auswirkungen<br />
auf Gesundheit<br />
Anpassung<br />
Abmilderung<br />
(Mitigation)<br />
Folgen des<br />
Klimawandels<br />
Folgen von:<br />
Temperaturanstiegen<br />
Mikrobiologische<br />
Veränderungen<br />
Wetterextreme<br />
Wetterextremen<br />
regionale Wetterveränderungen<br />
Luftverschmutzung<br />
Hitzewellen<br />
Wasser- und Nahrungsmittelmangel<br />
Veränderungen<br />
der Hydrologie/<br />
Agrarsysteme<br />
Temperaturanstiege<br />
Klimawandel<br />
Übertragung durch<br />
Vektoren (Infektionskrankheiten)<br />
Ansteigen des<br />
Meeresspiegels<br />
Mentale<br />
Krankheiten<br />
Sozioökonomische<br />
und demographische<br />
Krisen<br />
Quelle: Sauerborn 2006.<br />
159
Allerdings hatten weder die internationale Entwicklungspolitik<br />
noch die internationale Umweltpolitik die Integration<br />
und Kohärenz der beiden Politikbereiche, wie sie die Rio-Konferenz<br />
gefordert und in ihrer Agenda 21 ausgearbeitet hatte,<br />
hinreichend in Strategien und Programme umgesetzt. <strong>Die</strong> Weltbank<br />
lieferte in ihrem Weltentwicklungsbericht 2003 zwar eine<br />
überzeugende Vision von nachhaltiger Entwicklung, konnte<br />
aber selbst nicht verschweigen, dass diese medienwirksame<br />
Rhetorik wenig Einfluss auf ihre operativen Abteilungen hat,<br />
die über Programme und Projekte entscheiden.<br />
Statt gemeinsamer »globaler Verantwortung«<br />
ein Feilschen um Positionsvorteile<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung von 2000 betonte geradezu emphatisch<br />
die »globale Verantwortung« staatlicher und privater Akteure<br />
für das Überleben der Menschheit in einer gesunden Umwelt.<br />
Philosophen und Ethiker beschwören eine planetarische<br />
Verantwortungsethik, aber die internationale Politik, auch die<br />
internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik, orientieren<br />
sich nicht an einem wie auch immer definierbaren Weltgemeinwohl,<br />
sondern an je eigenen Interessen der Akteure und<br />
Akteursgruppen. Auch das aufgeklärte Eigeninteresse tut sich<br />
schwer, dem in vielen UN-Dokumenten angemahnten Imperativ<br />
kollektiven Handelns Folge zu leisten.<br />
Warum die Imperative der Nachhaltigkeit im Ranking der<br />
MDGs eher den Stellenwert einer pflichtschuldigen Marginalie<br />
denn eines dem Problem angemessenen Stellenwerts erhielten,<br />
liegt auch an der unterschiedlichen Interessenlage von Industrie-<br />
und Entwicklungsländern. Letztere halten den Umweltschutz<br />
noch immer für einen postmaterialistischen Luxus der<br />
reichen Länder und können mit guten Gründen darauf verweisen,<br />
dass die OECD-Länder für den Klimawandel und für<br />
die Verschwendung knapper Ressourcen hauptverantwortlich<br />
160
sind und dass sie deshalb nach dem in der Rio-Erklärung bekräftigten<br />
Prinzip der Verantwortung mehr für die Abmilderung<br />
der negativen Auswirkungen des Klimawandels auf andere<br />
Weltregionen und künftige Generationen tun müssten.<br />
Während in Rio, damals unter dem Druck der OECD-<br />
Länder, der Umweltschutz im Vordergrund stand, gaben die<br />
Entwicklungsländer auf dem Johannesburger Weltgipfel über<br />
nachhaltige Entwicklung (WSSD) den sozialpolitischen Zielen<br />
und Forderungen der ersten sechs MDGs Priorität. Damit<br />
konnten sich auch die Schwellenländer arrangieren, die zwar<br />
nicht zur Zielgruppe der MDGs gehören, aber ihren stark wachsenden<br />
Energie- und Ressourcenverbrauch hinter sozialpolitischen<br />
Forderungen verstecken konnten. Den vielen anderen<br />
Entwicklungsländern gelang es mit ihrem numerischen Stimmenübergewicht<br />
bei UN-Konferenzen, das im MDG 7 postulierte<br />
Prinzip der Nachhaltigkeit durch Forderungen nach einer<br />
besseren Wasserversorgung und Abwasserentsorgung aufzuweichen.<br />
Sie gewannen auf internationalen Umwelt- und<br />
Entwicklungskonferenzen mehr Einfluss als auf Handelskonferenzen,<br />
weil die OECD-Länder beim Versuch, internationale<br />
Regelwerke zu schaffen, auf ihre Kooperation angewiesen sind<br />
(Biermann 1998). Bei der Bewertung des MDG-Zielkatalogs<br />
müssen also diese unterschiedlichen Interessenlagen und Verhandlungspositionen<br />
im diplomatischen Poker um Problemlösungen<br />
berücksichtigt werden.<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung als Referenzdokument<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung zählt den »Schutz der gemeinsamen<br />
Umwelt« zu den vier prioritären Handlungsfeldern der internationalen<br />
Entwicklungspolitik und bekennt sich ausdrücklich<br />
zu den von der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung<br />
(UNCED) formulierten Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung<br />
(sustainable development). Sie verengt aber in den nachfol-<br />
161
genden Absichtserklärungen und Handlungsempfehlungen<br />
den diffusen Begriff der Nachhaltigkeit auf den Umweltschutz,<br />
der in der Agenda 21 nur einen, obgleich prioritären Eckpunkt<br />
in der Dreifaltigkeit von wirtschaftlicher Dynamik, sozialer<br />
Gerechtigkeit sowie dem Schutz der Umwelt und schonender<br />
Ressourcennutzung bildet. Unzählige Publikatio nen, Konferenzberichte,<br />
Erklärungen von Regierungen und nationalen<br />
Nachhaltigkeitsräten und zuletzt die Abschlussdokumente<br />
des Johannesburger Weltgipfels über nachhaltige Entwicklung<br />
(WSSD) von 2002 haben diese Mehrdimensionalität von<br />
sustainable development hervorgehoben. Dagegen beschränkt<br />
die <strong>Millennium</strong>-Erklärung die »ersten Schritte« einer »neuen<br />
Ethik« des Naturschutzes (conservation) und der Fürsorge (stewardship)<br />
auf die folgenden umweltpolitischen Schwerpunkte:<br />
die Inkraftsetzung des Kioto-Protokolls zur Reduzierung<br />
der für den globalen Klimawandel hauptverantwortlichen<br />
CO 2 -Emissionen – eine Forderung, die sich allerdings die<br />
USA als größter CO 2 -Emittend nicht zu Eigen machten und<br />
die bei Emissionen von klimaschädigenden Gasen aufholenden<br />
»asiatischen Elefanten« China und Indien noch nicht<br />
verpflichtete;<br />
die nachhaltige Nutzung von Wäldern;<br />
die Umsetzung der Konventionen über die Biodiversität<br />
und die Bekämpfung der Desertifikation (»Wüstenkonvention«)<br />
in Ländern, die besonders unter Dürren und der Degradation<br />
von agrikulturell nutzbaren Böden leiden;<br />
die Beendigung der Wasserverschwendung durch ein besseres<br />
Wassermanagement auf regionaler, nationaler und lokaler<br />
Ebene sowie die Förderung eines für alle erschwinglichen<br />
und gerecht verteilten Wasserangebots;<br />
die Verstärkung der internationalen Kooperation zur Verringerung<br />
natürlicher und vom Menschen gemachter Katastrophen<br />
und zur Abmilderung ihrer Auswirkungen auf<br />
die Menschen;<br />
162
Sicherung des freien Zugangs zu Informationen über die<br />
menschliche Genom-Sequenz.<br />
Wichtiger als diese Einzelforderungen ist die hohe Gewichtung<br />
des »Schutzes der gemeinsamen Umwelt« im Quartett der vier<br />
prioritären entwicklungspolitischen Handlungsfelder. Deshalb<br />
ist es wichtig, den MDG-Zielkatalog im Kontext der Erklärung<br />
zu interpretieren, die mehr Substanz als das quantifizierte<br />
MDG 7 enthält. Sie lässt auch erahnen, warum im Jahr 2004<br />
der Friedensnobelpreis an die kenianische Menschenrechts-<br />
und Umweltaktivistin Wangari Maathai vergeben wurde: weil<br />
Frauen bei der Ernährungssicherung, bei der Versorgung mit<br />
Trinkwasser und Brennholz im Besonderen von lokalen Umweltkrisen<br />
betroffen sind und sich deshalb umso stärker für<br />
den Naturschutz engagieren.<br />
Der diffuse Inhalt des MDG 7: Verflüchtigung des<br />
Leitbildes der globalen nachhaltigen Entwicklung<br />
<strong>Die</strong> in der Erklärung erhobenen Forderungen tauchen nur teilweise<br />
im MDG 7 wieder auf und werden durch einige Zielvorgaben<br />
ergänzt, die nicht gerade zur Präzisierung des Kernziels<br />
beitragen, das lautet: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit<br />
(environmental sustainability). <strong>Die</strong> Zielvorgabe 9 fordert<br />
ganz allgemein die Integration von Prinzipien der nachhaltigen<br />
Entwicklung in Länderprogramme, ohne diese Prinzipien<br />
zu präzisieren, sowie ein Zurückdrehen des Verlusts von natürlichen<br />
Ressourcen. <strong>Die</strong> Zielvorgaben zehn und elf fordern<br />
die Halbierung der Anzahl der Menschen, die keinen Zugang<br />
zu sauberem Trinkwasser und zu elementaren sanitären Einrichtungen<br />
haben sowie eine Verbesserung der Lebensbedingungen<br />
von wenigstens 100 Mio. Slumbewohnern. Als das eigentlich<br />
Neue der MDGs in der Geschichte der internationalen<br />
Umwelt- und Entwicklungspolitik wurde häufig hervorgehoben,<br />
dass die Verwirklichung der Ziele an konkreten Ziel- und<br />
163
Zeitvorgaben orientiert und mit Hilfe von Indikatoren überprüfbar<br />
gemacht wurde. Deshalb ist es aufschlussreich, welche<br />
Zielvorgaben und Indikatoren zur Operationalisierung<br />
und Konkretisierung des Oberziels ausgewählt wurden. Bei<br />
der Auswahl von Indikatoren geht es auch darum, für welche<br />
Messversuche einigermaßen zuverlässige Daten vorliegen. Für<br />
das MDG 7 sammelt das UN Department of Economic and Social<br />
Affairs alle verfügbaren Daten. <strong>Die</strong> UN Statistics Division baute<br />
eine umfassende <strong>Millennium</strong> Indicators Database auf.<br />
Als messbare Indikatoren für den »Schutz der gemeinsamen<br />
Umwelt« dienen der Anteil von Waldflächen und von Schutzflächen<br />
zur Bewahrung der Biodiversität und genetischen Ressourcen<br />
an der Gesamtfläche eines Landes sowie die Pro-Kopf-<br />
Emissionen von Kohlendioxid. <strong>Die</strong>s sind aussagefähige Indikatoren,<br />
obgleich das Messbare nicht immer das Wichtigste<br />
erfasst. Weil die Produktion und der Verbrauch von Energie<br />
die Hauptquelle von Treibhausgasen und damit die Hauptursache<br />
der Erderwärmung mit ihren multiplen Auswirkungen<br />
(Häufung von Wetterextremen, Ansteigen des Meeresspiegels,<br />
Überflutung von tief liegenden Inseln und Siedlungsgebieten)<br />
bildet, wurde das Bruttoinlandsprodukt pro Einheit des Energieverbrauchs<br />
als Maßstab für die Energieeffizienz hinzugefügt.<br />
Hinter solchen statistischen Operationen steht der Sachverstand<br />
von Statistikabteilungen der internationalen Organisationen,<br />
hier des oben erwähnten UN Department of Economic<br />
and Social Affairs.<br />
<strong>Die</strong>se UN-Behörde fügte einen wichtigen Indikator hinzu,<br />
der unter den MDG-Indikatoren nicht auftaucht: nämlich die<br />
Belastungen durch die häusliche Luftverschmutzung, die<br />
durch das Verbrennen von Biomasse (Holz, Dung etc.) zum<br />
Kochen und Heizen entstehen. Nach Schätzungen der WHO<br />
fallen dieser Vergiftung von Innenräumen jährlich 900.000 Kinder<br />
und 700.000 Erwachsene, vorwiegend Frauen, zum Opfer.<br />
Eigentlich hätte dieser Tatbestand von den MDGs 3 + 4 erfasst<br />
werden müssen, wird dort aber nicht aufgegriffen. Es gibt also<br />
164
nicht nur eine Energieverschwendung, die für eine nicht-nachhaltige<br />
Produktions- und Lebensweise steht, sondern auch eine<br />
Energiearmut bzw. einen Mangel an sauberer Energie, der die<br />
Entwicklung behindert, das tägliche Leben erschwert und die<br />
Gesundheit gefährden kann.<br />
Es kommt nicht zusammen, was zusammen gehört<br />
Man kann darüber streiten, ob die Indikatoren zum MDG 7<br />
hinreichend Fort- oder Rückschritte beim Umweltschutz messen<br />
können. Eine Vermehrung und Verfeinerung von Indikatoren<br />
hätte kaum einen größeren Erkenntnisgewinn gebracht.<br />
Unverständlich ist dagegen, warum die zehnte Zielvorgabe,<br />
nämlich die Halbierung des Anteils von Menschen ohne Zugang<br />
zu sauberem Trinkwasser, unter dem MDG 7 und nicht<br />
unter dem zentralen MDG 1 auftaucht, das den Dreh- und Angelpunkt<br />
des MDG-Zielkatalogs bildet. Hier fordert die zweite<br />
Zielvorgabe die Halbierung des Anteils von Menschen, die unter<br />
Hunger leiden.<br />
Hunger und der mangelnde Zugang zu Trinkwasser, der<br />
eine Vielzahl von Syndromen verursacht, welche die MDGs 4<br />
bis 6 aufzählen, sind elementare und zusammenhängende Manifestationen<br />
von Armut. Der Zugang zu Trinkwasser und zu<br />
elementaren sanitären Anlagen ist eine unverzichtbare Komponente<br />
der Gesundheitsfürsorge und des Kampfes gegen Armut.<br />
Wasser ist die Grundlage allen Lebens und deshalb gilt<br />
der Zugang zu ihm als Menschenrecht. Das nachhaltige Wassermanagement<br />
kann zwar dem im MDG 7 geforderten Ressourcenschutz<br />
zugeordnet werden, aber in dessen Systematik,<br />
die den Umweltschutz im MDG-Zielkatalog verankern soll, ist<br />
die zehnte Zielvorgabe ein Fremdkörper.<br />
165
Es kommt zusammen, was nicht zusammen gehört<br />
Noch kritikwürdiger ist die elfte Zielvorgabe, das – wohlgemerkt<br />
unter dem Oberziel der environmental sustainability – die<br />
Verbesserung der Lebensbedingungen von 100 Mio. Slumbewohnern<br />
bis zum Jahr 2020 fordert. Schon jetzt hausen nach<br />
Schätzungen von UN Habitat über 900 Mio. Menschen in Slums<br />
und bis zum Stichjahr 2020 wird diese Zahl im Gefolge der<br />
rasanten Urbanisierung in vielen Entwicklungsländern auf<br />
1,4 Mrd. anwachsen. <strong>Die</strong> Indikatoren 30+31 weisen darauf hin,<br />
dass die Slumbewohner unter völlig unzureichenden sanitären<br />
Anlagen, deren Fehlen Slums in stinkende Kloaken verwandeln,<br />
und unter ungesicherten Besitz- und Nutzungsrechten<br />
leiden. Aber dies gilt nicht nur für die Minderheit von 100 Mio.<br />
Es ist nicht zu erkennen, warum dieses sozialpolitische Ziel im<br />
Kontext des MDG 7 auftaucht, auch wenn die häufig im Dreck<br />
und Gestank versinkenden Slums ein gravierendes Umweltproblem<br />
darstellen, vor allem dann, wenn die Umwelt im umfassenden<br />
Sinne als livelihood verstanden wird.<br />
Das MDG 7 verengt einerseits den Begriff der Nachhaltigkeit<br />
auf den Umweltschutz und überfrachtet es andererseits<br />
mit sozialpolitischen Forderungen, die nicht zu seinen konstitutiven<br />
Begriffsinhalten zählen. <strong>Die</strong> Zielvorgaben zehn und elf<br />
sowie die dazu gehörenden Indikatoren vermitteln den Eindruck,<br />
dass Nachhaltigkeit für die Konstrukteure des MDG-<br />
Zielkatalogs als eine Allerweltsformel ohne spezifische Konturen<br />
herhalten musste. Eine Nachhaltigkeitspolitik ist auch<br />
im engeren Sinne der Umweltpolitik für die nachhaltige Bekämpfung<br />
der Armut so wichtig, dass sie nicht zum konturlosen<br />
Konglomerat von sozialpolitischen Forderungen, für die<br />
andere Ober- und Teilziele zur Verfügung standen, hätte abgewertet<br />
werden dürfen. Auf diese Weise verflüchtigte sich im<br />
MDG-Zielkatalog das Leitbild der globalen nachhaltigen Entwicklung.<br />
166
Vorschläge zur Verkoppelung<br />
von Umwelt- und Entwicklungspolitik<br />
Es war eine Kernthese des WBGU-Gutachtens »Armutsbekämpfung<br />
durch Umweltpolitik«, dass die MDGs 1–6 nicht erreicht<br />
werden können, wenn der Schutz der Umwelt und der<br />
natürlichen Lebensgrundlagen vernachlässigt wird. Deshalb<br />
gehören Umwelt- und Entwicklungspolitik untrennbar zusammen,<br />
müssen zusammen gedacht und in kohärente Strategien<br />
umgesetzt werden. Nur eine integrative und kohärente<br />
Verknüpfung der beiden institutionell noch immer getrennten<br />
Politikbereiche kann dem in Rio entworfenen Leitbild einer<br />
nachhaltigen, das heißt wirtschaftlich zukunftsfähigen, aber<br />
zugleich umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung gerecht<br />
werden. Das vom WBGU konstruierte »Rio-Rad« (vgl.<br />
Abb. 2) verdeutlicht die teilweise schon funktionierenden, aber<br />
der Verstärkung bedürftigen Kopplungen zwischen globaler<br />
Umwelt- und Entwicklungspolitik und die Wechselwirkungen<br />
zwischen den beiden Politikbereichen.<br />
Weil der MDG-Zielkatalog das Resultat diplomatischer Verhandlungen<br />
war, die auf einen größtmöglichen Konsens abzielten<br />
und deshalb strittige Punkte ausklammerten, drückt er<br />
sich auch darum, institutionelle Konsequenzen aus dem Imperativ<br />
der Nachhaltigkeit zu ziehen. Dazu gehört die von vielen<br />
europäischen Regierungen geforderte Aufwertung des personell<br />
unterbesetzten und mit einem schwachen Handlungsmandat<br />
ausgestatteten UN-Umweltprogramms (UNEP) zu einer<br />
dem Problemdruck eher angemessen UN-Sonderorganisation.<br />
Weil die Umwelt- und Entwicklungspolitik auf allen Politikebenen<br />
noch von verschiedenen Organisationen und nicht<br />
nur in Deutschland auch von verschiedenen und häufig miteinander<br />
konkurrierenden Ressorts behandelt werden, muss<br />
über ihre institutionelle Verzahnung nachgedacht werden,<br />
die über eine statuarische Aufwertung des UNEP hinausgeht.<br />
Umwelt- und Entwicklungsfragen sind Zukunftsfragen der<br />
167
Abbildung 2:<br />
Das Rio-Rad des WBGU<br />
168<br />
Nachhaltige<br />
Investitionen,<br />
z.B. Energie<br />
Finanzierungs- und<br />
Lenkungsinstrumente<br />
Entschädigungszahlungen<br />
Reduktion von<br />
Vulnerabilität<br />
Schuldenerlass<br />
Bewahrung ökologischer<br />
Integrität und Vielfalt<br />
Nachhaltige<br />
Konsum- und<br />
Produktionsmuster<br />
GLOBALE<br />
UMWELT-<br />
POLITIK<br />
Steigerung der<br />
Funktionsfähigkeit<br />
von Märkten<br />
Vermeidung gefährlicher<br />
Klimaänderungen:<br />
Starkes Post-Kioto-<br />
Regime<br />
Katalysator:<br />
Transfer emissionsarmer<br />
Technologien<br />
Förderung<br />
nachhaltigen<br />
Wirtschaftswachstums<br />
GLOBALE<br />
ENTWICKLUNGS-<br />
Abbau POLITIK<br />
großer<br />
Disparitäten<br />
Katalysator:<br />
Entwicklungszusammenarbeit<br />
Schutz natürlicher<br />
Kohlenstoffspeicher<br />
und -senken:<br />
Waldprotokoll<br />
Krisen- und<br />
Konfliktprävention<br />
Good<br />
governance<br />
Bekämpfung<br />
absoluter Armut<br />
Quelle: WBGU 2005.
Menschheit, deren Bewältigung für die Bewahrung der global<br />
common goods oder für die Vermeidung von global common bads<br />
unverzichtbar ist. Sie sollten deshalb im UN-System ebenso<br />
hoch verankert werden wie Sicherheitsfragen. Der UN-Sicherheitsrat<br />
kümmert sich jedoch nicht um Probleme, die für die<br />
Mehrheit der Menschheit von existenzieller Bedeutung sind,<br />
und der eigentlich zuständige UN-Wirtschafts- und Sozialrat<br />
(ECOSOC) ist ein handlungsunfähiges Diskussionsforum,<br />
das viele Resolu tionen produziert, aber keine relevanten Entscheidungen<br />
treffen kann. Für die Bearbeitung von Entwicklungsfragen<br />
wurde ein Wildwuchs von UN-Organisationen<br />
geschaffen, die mit mehr oder weniger Effizienz spezielle Problemfelder<br />
bearbeiten, dabei aber schwerwiegende Koordinations-<br />
und Kohärenzprobleme schaffen.<br />
Der WBGU (2005) entwarf deshalb die Vision eines Global<br />
Council for Development and Environment, der den moribunden<br />
ECOSOC ablösen und im UN-System institutionell zusammenführen<br />
sollte, was die Rio-Konferenz von 1992 unter dem<br />
Konferenztitel »Environment and Development« bereits programmatisch<br />
angedacht hatte. <strong>Die</strong>se Vision stößt zwar bei Industrie-<br />
und Entwicklungsländern noch auf viele Widerstände,<br />
zumal es im UN-System noch viele andere Baustellen gibt. Visionen<br />
können jedoch langfristigen Überlegungen zu Problemlösungen<br />
eine Orientierung geben. Und die ökologische Gefährdung<br />
des Planeten ist ebenso ein Menschheitsproblem ersten<br />
Ranges wie das Armuts- und Sicherheitsproblem. Sie bilden<br />
zusammen die eingangs erwähnte Triade der Megaprojekte.<br />
Fazit: Wider den Ungeist der<br />
ökologischen Bedenkenlosigkeit<br />
Auf dem im September 2005 im New Yorker UN-Hauptquartier<br />
veranstalteten <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel konnte sich der US-Präsident<br />
George W. Bush nur ein sehr halbherziges Bekenntnis zu<br />
169
den MDGs abringen. Sein UN-Botschafter versuchte sogar, den<br />
respect for nature aus dem Resolutionsentwurf zum Abschluss<br />
des Gipfels zu streichen. Zwar sperrt sich die mit Ölinteressen<br />
verbandelte US-Regierung inzwischen nicht mehr gegen die<br />
Einsicht, dass der globale Klimawandel von menschlichen Produktions-<br />
und Lebensweisen verursacht wird und eine globale<br />
Bedrohung für alle Gesellschaften darstellt, aber der Imperativ<br />
der Nachhaltigkeit wird nur in Sonntagsreden rezitiert. Auch<br />
der Rio+10 genannte Johannesburger Weltgipfel über nachhaltige<br />
Entwicklung von 2002 reanimierte nicht den »Geist von<br />
Rio«, sondern konzentrierte sich unter dem Druck der Entwicklungsländer<br />
auf sozialpolitische Forderungen, vor allem<br />
auf die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung von<br />
Abwässern. Allenfalls das starke Plädoyer für die Förderung<br />
erneuerbarer Energien zur Verringerung der Energie armut<br />
und zugleich der weltweiten CO 2 -Emissionen hatte einen starken<br />
umweltpolitischen Bezug.<br />
Das MDG 7 trug nicht dazu bei, der Umweltpolitik einen<br />
höheren Stellenwert in der internationalen Entwicklungspolitik<br />
zu verschaffen und ihren unverzichtbaren Beitrag zur Armutsbekämpfung<br />
zu verdeutlichen. Weil eine zielgerichtete<br />
Politik der Nachhaltigkeit auf allen politischen Handlungsebenen<br />
die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung der<br />
Armut ist, ist die Untergewichtung der ökologischen Nachhaltigkeit<br />
im Prioritätenkatalog der MDGs inkonsequent und<br />
fällt hinter den Erkenntnisstand der Rio-Konferenz zurück, die<br />
vor nun 14 Jahren stattfand. <strong>Die</strong> relativ positive Bilanz zur Verwirklichung<br />
der sozialpolitischen MDGs (vgl. den Beitrag von<br />
Fues) gilt nicht für das MDG 7, obwohl das UN Department of<br />
Economic and Social Affairs auch hier bei einzelnen Indikatoren –<br />
unter anderem bei der Erweiterung von Schutzflächen zur Bewahrung<br />
der biologischen Diversität – Fortschritte entdeckte.<br />
Es ist deshalb dringend geboten, den von den MDGs verdrängten<br />
»Geist von Rio« zu reanimieren, um dem Ungeist<br />
der ökologischen Bedenkenlosigkeit, wie ihn China in seiner<br />
170
Wachstumsmanie pflegt, zu begegnen. China erzielt zwar große<br />
Erfolge bei der Armutsbekämpfung, die die weltweite Armutsquote<br />
deutlich senkte, ist aber dabei, durch die selbstzerstörerische<br />
ökologische Rücksichtslosigkeit die eigene Zukunftsfähigkeit<br />
zu verspielen. <strong>Die</strong> Kosten der Umweltverschmutzung<br />
verzehren bereits ein rundes Zehntel des chinesischen Bruttosozialprodukts<br />
(Scholz 2006). Weil die Schwellenländer bzw.<br />
»Ankerländer« (nach der Sprachregelung des Deutschen Instituts<br />
für Entwicklungspolitik), allen voran China und Indien,<br />
beim Ressourcenverbrauch und bei CO 2 -Emissionen zu den<br />
OECD-Ländern aufschließen und die meisten von ihnen bald<br />
überholen werden, müssen sie stärker als bisher in die globale<br />
Umweltpolitik einbezogen werden. Der Beitrag Chinas und Indiens<br />
zu den weltweiten CO 2 -Emissionen könnte im Jahr 2030<br />
schon bei etwa 50 % liegen, wenn nicht die Abkoppelung des<br />
Wirtschaftswachstums von CO 2 -Emissionen gelingen sollte.<br />
<strong>Die</strong> ökologische Wende, die eine Energiewende voraussetzt<br />
(WBGU 2003), erfordert allerdings nicht nur viel politische<br />
Weitsicht und Energie, sondern wird auch viel Geld kosten.<br />
Nach Schätzungen des WBGU müssten allein die OECD- Länder<br />
jährlich rund 1 % ihres Bruttosozialprodukts investieren, um<br />
die voranschreitende Zerstörung des globalen Ökosystems<br />
durch eine globale Umwelt- und Entwicklungspolitik aufzuhalten.<br />
Was sie bisher in diese Zukunftssicherung zu investieren<br />
bereit waren, wurde im Sachs-Report sehr kritisch kommentiert.<br />
Weil auch auf die Entwicklungs- und Schwellenländer<br />
große umweltpolitische Herausforderungen zukommen,<br />
ist es offensichtlich, dass neue Finanzierungsinstrumente –<br />
wie die Tobin-Steuer oder eine globale CO 2 -Steuer – geschaffen<br />
werden müssen. Ein weiteres Abwarten und Hinauszögern<br />
würde den ökologischen point of no return vorziehen, der auch<br />
die Armutsbekämpfung in die Sackgasse führen würde.<br />
171
Literatur<br />
Biermann, Frank, 1998: Weltumweltpolitik zwischen Nord und Süd.<br />
Baden-Baden.<br />
Diamond, Jared, 2005: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen.<br />
Frankfurt/M.<br />
<strong>Die</strong>tz, Kristina, 2006: Vulnerabilität und Anpassung gegenüber Klimawandel<br />
aus sozial-ökologischer Perspektive (Diskussionspapier 01/06<br />
des Projekts »Global Governance und Klimawandel«). Berlin.<br />
IPCC, 2001: Climate Change 2001: Impacts, Adaptation and Vulnerability.<br />
Cambridge.<br />
Sauerborn, Rainer, 2006: Klimawandel und globale Gesundheitsrisiken,<br />
in: Tobias Debiel, Dirk Messner, Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends<br />
2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung<br />
und Frieden. Frankfurt/M., i. E.<br />
Scholz, Imme, 2006: Globale Umweltkrisen und »asiatische Elefanten«, in:<br />
Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends<br />
2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung<br />
und Frieden. Frankfurt/M., i. E.<br />
UNDP, 2004: Reducing Disaster Risk. A Challenge for Development. New<br />
York.<br />
UNU-EHS, 2005: As Ranks of »Environmental Refugees« Swell Worldwide,<br />
Calls Grow for Better Definition, Recognition, Support, Presseerklärung,<br />
12. Oktober (http://www.ehs.unu.edu/index.php/article:<br />
130?menu=44, 3.8.06).<br />
WBGU, 2003: Welt im Wandel – Energiewende zur Nachhaltigkeit. Berlin.<br />
WBGU, 2005: Welt im Wandel – Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik.<br />
Berlin.<br />
Weltbank, 2000: World Development Report 2000/2001: Attacking Poverty.<br />
Washington, D.C.<br />
Weltbank, 2003: World Development Report 2003: Sustainable Development<br />
in a Dynamic World. Washington, D.C.<br />
172
VERONIKA WITTMANN<br />
Gender und die<br />
<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Empowerment ohne<br />
Veränderung der Machtstrukturen?<br />
<strong>Die</strong> Verabschiedung der <strong>Millennium</strong>-Erklärung im Jahr 2000<br />
durch die Staats- und Regierungschefs aller UN-Mitgliedstaaten<br />
sowie die von ihr abgeleiteten <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
(<strong>Millennium</strong> Development Goals, MDGs) bedeuteten eine<br />
Zäsur in der entwicklungspolitischen Debatte und Praxis. Ob<br />
sie auch im Hinblick auf Gender-Gerechtigkeit eine solche darstellen,<br />
wird jedoch von vielen bezweifelt.<br />
<strong>Die</strong> feministische Kritik an den MDGs<br />
Unter dem Gender-Blickwinkel sticht insbesondere das MDG 3<br />
hervor, das die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern<br />
thema tisiert, wobei der Fokus auf die Bildung, den formellen<br />
Arbeitsmarkt und die Gesetzgebung gerichtet ist. Feministen<br />
und Feministinnen erkennen es zwar als Erfolg der internationalen<br />
Frauenbewegung an, dass die Förderung der Gleichstellung<br />
der Geschlechter und das Empowerment von Frauen als<br />
eigenes Ziel und an prominenter Stelle innerhalb der MDGs<br />
positioniert wurde. Sowohl von zahlreichen zu gender-spezifischen<br />
Themen arbeitenden Nichtregierungsorganisationen<br />
(NGOs) als auch von Seiten bekannter Frauenrechtler und<br />
Frauenrechtlerinnen – wie etwa Peggy Antrobus vom internationalen<br />
Frauennetzwerk Development Alternatives for Women of<br />
a New Era (DAWN) – und von feministischen Journalisten und<br />
173
Journalistinnen gab es jedoch auch heftige Kritik an den MDGs.<br />
Sie bezeichnen sie als »(…) dürres Gerüst zielgerichteter Handlungsanweisungen<br />
an die Regierungen«, eine »Schmalspuragenda,<br />
die Frauen auf die stereotypen Rollen als (Schul-)Mädchen<br />
im Zusammenhang mit Bildung, Schwangere und Mütter<br />
im Zusammenhang mit Kinder- und Müttersterblichkeit reduziert«<br />
(Wichterich 2005, 23); die MDGs seien ein »Täuschungsmanöver«<br />
(Neuhold 2005, 6) oder sogar ein »Schwindel« (Antrobus<br />
2004, 14). Zahlreiche kritische Bewertungen weisen darauf<br />
hin, dass politisch kontrovers diskutierte Themen wie die<br />
reproduktiven und sexuellen Rechte von Frauen sich nicht im<br />
Zielkatalog finden und das Massenproblem psychischer und<br />
physischer Gewalt gegen Frauen gänzlich ausgeblendet wird.<br />
Der Gender-Begriff<br />
<strong>Die</strong> Gender-Forschung unterscheidet zwischen dem biologischen<br />
Geschlecht »Sex« und dem soziokulturellen Geschlecht<br />
»Gender«. <strong>Die</strong> analytische Unterscheidung dient<br />
dazu, sozio-historisch entstandene weibliche und männliche<br />
Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen, wobei im<br />
alltäglichen doing gender die Geschlechterdifferenz dadurch<br />
erzeugt wird, dass die Menschen sich kontinuierlich zu<br />
Frauen und Männern machen bzw. machen lassen. Gender<br />
drückt auch aus, dass die Zuweisung von Menschen zum<br />
weiblichen oder männlichen Geschlecht, welche zugleich<br />
eine hierarchische ist, als auch die inhaltliche Festlegung<br />
von Weiblichkeit und Männlichkeit durch gesellschaftliche<br />
Machtmechanismen entstehen. Gender zielt somit auf die<br />
soziale Konstruktion von Rollen und Attributen ab, die als<br />
geschlechtsspezifisch normiert werden. Sowohl Geschlecht<br />
als auch ethnische Zugehörigkeit waren und sind in vielen<br />
Gesellschaften Indikatoren von sozialer Ungleichheit. Es<br />
existieren daher historisch und ethnographisch unterschiedliche<br />
Konfigurationen von Geschlechterverhältnissen.<br />
174
Frauen werden bei den MDGs primär als Zielgruppe für Investitionen<br />
in die sozio-ökonomische Infrastruktur betrachtet.<br />
Problematisch ist hierbei, dass ihre Rolle als Hauptakteurinnen<br />
von Entwicklung – dies ist spätestens seit der UN-Weltfrauendekade<br />
(1975–1985), in der drei Weltfrauenkonferenzen stattfanden,<br />
bekannt – nicht zum Tragen kommt und das im Ziel 3<br />
angeführte Empowerment zu einem unwesentlichen Nebenelement<br />
mutiert. Eine Vielzahl an Entwicklungsorganisationen<br />
richtete in den vergangenen Jahrzehnten eigene Abteilungen<br />
zur Förderung von Frauen ein. Frauen wurden durch diese<br />
Vorgehensweise zu einer speziellen Zielgruppe im Rahmen<br />
der Entwicklungspolitik; finanzielle Unterstützung erhielten<br />
oft Entwicklungsorganisationen, die mit ihren Projekten diese<br />
Zielgruppe adressierten.<br />
Empowerment beschäftigt sich nicht nur mit bestehenden<br />
Machtstrukturen und -verhältnissen zwischen den Geschlechtern,<br />
sondern auch mit jenen, die aufgrund von Ethnizität<br />
und Schichtzugehörigkeit bestehen. In einer Publikation von<br />
DAWN wird Empowerment als die Strategie für eine »strukturelle<br />
Transformation der ökonomischen, politischen und kulturellen<br />
Herrschaftsformen auf internationaler, nationaler, lokaler<br />
und der Ebene des Haushalts« bezeichnet (Neuhold 1994,<br />
18f.). Eine nachhaltige Verbesserung der Situation von Frauen<br />
ist nur dann zu erreichen, wenn damit zugleich eine Veränderung<br />
der bestehenden Machtverhältnisse auf sämtlichen Ebenen<br />
einhergeht. Gerade diese Veränderbarkeit von Hierarchien<br />
und Machtverhältnissen ist für die Analyse von Entwicklungsgesellschaften<br />
wichtig, wird aber vom MDG-Zielkatalog ausgeblendet.<br />
Bei den MDGs werden Frauen – im Kontrast zu den Beschlüssen<br />
der vierten UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in<br />
Beijing – nicht primär als Rechtssubjekte angesprochen, sondern<br />
als Unterstützungsbedürftige und Zielgruppe von Investitionen.<br />
<strong>Die</strong> für die MDGs zentrale Grundbedürfnisstrategie,<br />
steht im Widerspruch zur Wahrnehmung von Frauen als<br />
175
jener Hälfte der Menschheit, die einen Anspruch darauf hat,<br />
dass geschlechtsspezifische Diskriminierungen – ob auf politischer,<br />
ökonomischer, rechtlicher oder sozialer Ebene – beendet<br />
werden.<br />
Im Unterschied zu der von der Grundbedürfnisstrategie<br />
den Frauen zugewiesenen Rolle begründet der Gender and Development<br />
(GAD)-Ansatz eine Sichtweise, die Frauen nicht als<br />
passive Rezipientinnen von Entwicklung, sondern deren aktive<br />
Agentinnen sieht. Eine feministische Kritik muss darüber<br />
hinaus die MDGs auch als »alten Wein in neuen Schläuchen«<br />
qualifizieren, denn die meisten der Ziele finden sich bereits<br />
in entwicklungspolitischen Erklärungen der 1970er Jahre, als<br />
die »Dekade der Grundbedürfnisstrategie« mit dem Anspruch<br />
eingeleitet wurde, extreme Armut und Hunger zu beseitigen.<br />
Inhaltlich sind die MDGs also keine neuen Forderungen. Auch<br />
die Erkenntnis, dass das weibliche Geschlecht »Hauptbetroffene«<br />
von Armut ist, stellt keine Neuigkeit dar.<br />
Nicht die Ziele waren das Originelle an den MDGs, sondern<br />
dass sich erstmals alle Mitgliedstaaten der UN zur »globalen<br />
Verantwortung« bekannt und sich dazu verpflichtet haben, die<br />
Zielsetzungen zu verwirklichen. »<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
sind die am breitesten unterstützten, umfassendsten<br />
und konkretesten Vorgaben zur Verringerung der Armut,<br />
die die Welt je aufgestellt hat«, heißt es in dem im Januar 2005<br />
präsentierten Bericht des UN-<strong>Millennium</strong>projektes Investing<br />
in Development unter der Leitung des US-Ökonomen Jeffrey<br />
Sachs (2005, 2). In der internationalen Entwicklungspolitik<br />
gab es bisher kein vergleichbares Momentum, Absichtserklärungen<br />
auch Taten folgen zu lassen. <strong>Die</strong> Einigkeit unter den<br />
verschiedenen Akteuren – von den UN-Organisationen, über<br />
den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank,<br />
die Triade Europa, Nordamerika und Japan, die Länder des<br />
Südens, die staatlichen Entwicklungsorganisationen bis hin zu<br />
den NGOs – war bei keinem anderen entwicklungspolitischen<br />
Zielkatalog so groß wie bei den MDGs. Viele der Ziele und<br />
176
Forderungen, welche die MDGs zusammenfassen, wurden<br />
bereits in Beschlüssen von Weltkonferenzen der 1990er Jahre<br />
wie auch in zahlreichen Strategiepapieren formuliert. In Bezug<br />
auf die Gender-Gerechtigkeit fallen sie jedoch einige Schritte<br />
zurück. Hier war das Aktionsprogramm der Weltfrauenkonferenz<br />
von Beijing wesentlich konkreter und weit reichender<br />
(Fues/Hamm 2001).<br />
Gender in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung:<br />
ein rudimentärer Bereich<br />
Betrachtet man die <strong>Millennium</strong>-Erklärung im Hinblick auf<br />
ihre gender-spezifischen Komponenten und geschlechterblinden<br />
Flecken, ergibt sich folgendes Bild: Sie beginnt mit der<br />
Feststellung, dass die zentrale Herausforderung der Gegenwart<br />
darin liege, die Globalisierung zu einer positiven Kraft<br />
für alle Menschen zu machen. <strong>Die</strong>se eröffne zwar große Chancen,<br />
ihre Vorteile wie auch ihre Kosten seien jedoch sehr ungleich<br />
verteilt. Einleitend wird festgehalten, dass die internationalen<br />
Beziehungen von den Werten und Grundsätzen der<br />
»Freiheit«, »Gleichheit«, »Solidarität«, »Toleranz«, »Achtung<br />
vor der Natur« und einer »gemeinsam getragenen Verantwortung«<br />
geprägt sein sollten. Frauen werden explizit in den<br />
Punkten »Freiheit« und »Gleichheit« erwähnt. Der Grundsatz<br />
der »Gleichheit« beinhaltet die Forderung nach Gleichberechtigung<br />
von Männern und Frauen sowie nach Chancengleichheit<br />
im Entwicklungsprozess. Bei den anderen vier Grundwerten<br />
werden frauenspezifische Themen und Gender-Gerechtigkeit<br />
nicht angesprochen. Frauen finden auch keine eigene Erwähnung<br />
im zweiten Teil der Erklärung zu »Frieden, Sicherheit<br />
und Abrüstung«. <strong>Die</strong> Feststellung, dass Bürgerkriege und<br />
Kriege zwischen Staaten im vergangenen Jahrzehnt über fünf<br />
Millionen Menschenleben gefordert haben, übergeht die Tatsa-<br />
177
che, dass Frauen weltweit am stärksten von kriegerischen Auseinandersetzungen<br />
und Migration betroffen sind.<br />
Der dritte Abschnitt »Entwicklung und Armutsbeseitigung«<br />
behandelt viele der Bereiche, die in den MDGs aufgegriffen<br />
wurden: In der Auflistung der Themen finden sich<br />
gender-spezifische Punkte bei der Grundbildung für alle Mädchen<br />
und Jungen, bei der Senkung der Müttersterblichkeit um<br />
drei Viertel sowie bei der Förderung der Gleichstellung der<br />
Geschlechter. Bei den Aspekten Armut, Verfügbarkeit von sauberem<br />
Trinkwasser und lebenswichtigen Medikamenten, Verbesserung<br />
der Lebensbedingungen von Slumbewohnern und<br />
Slumbewohnerinnen, Aufbau von Partnerschaften mit dem<br />
Privatsektor und den Organisationen der Zivilgesellschaft sowie<br />
der Nutzung der neuen Technologien, insbesondere der<br />
Informations- und Kommunikationstechnologien, nimmt die<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung keine geschlechtsspezifischen Unterscheidungen<br />
vor. Keine explizite Erwähnung finden Frauen<br />
auch im vierten Abschnitt zum »Schutz unserer gemeinsamen<br />
Umwelt«, in dem es hauptsächlich um die Sicherheit der nachfolgenden<br />
Generationen vor der Gefahr einer irreversibel verschmutzten<br />
Natur geht.<br />
Einen gender-sensitiven Teil enthält jedoch Teil fünf der Erklärung<br />
zu »Menschenrechten, Demokratie und Good Governance«,<br />
in dem die Umsetzung des Abkommens zur Beseitigung<br />
jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW)<br />
wie auch die Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen<br />
Frauen gefordert wird (VN 2000, Abs. 25). <strong>Die</strong>ser Aspekt wird<br />
in den MDGs nicht angesprochen. Auch Rassismus und Ausländerfeindlichkeit<br />
wird ausgeklammert. Während die <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />
noch Maßnahmen zum Schutz von Migranten<br />
und Migrantinnen, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit<br />
sowie zur Förderung der Toleranz in allen Gesellschaften<br />
forderte (VN 2000, Abs. 25), fehlen diese in den MDGs vollständig<br />
(Nazombe/Barton 2004, 40). Der im sechsten Punkt angemahnte<br />
»Schutz der Schwächeren« wird zwar auf Zivilper-<br />
178
sonen in komplexen Notsituationen bezogen, Frauen bleiben<br />
aber als besonders verwundbare Gruppe unerwähnt.<br />
<strong>Die</strong> Entmystifizierung der MDGs<br />
durch den Gender-Blick<br />
Auf den ersten Blick sind die MDGs nicht mehr als quantifizierte<br />
internationale Vorgaben, die an einen konkreten Zeitrahmen<br />
gebunden sind, um die extreme Armut in ihren verschiedenen<br />
Dimensionen (Hunger, Einkommensarmut, Krankheit<br />
etc.) zu reduzieren und die Gleichstellung der Geschlechter,<br />
die Bildung, die ökologische Nachhaltigkeit und die globale<br />
Zusammenarbeit zu fördern. Betrachtet man sie aus einer<br />
gender-sensitiven Perspektive, so ergibt sich jedoch ein anderes<br />
Bild. In den drei wichtigen MDGs 4, 5 und 6 kommen<br />
Frauen lediglich als Mütter bzw. als von Krankheit Betroffene<br />
vor. Für das MDG 2 sollen geschlechterdifferenzierte Datenerhebungen<br />
vorgenommen werden. <strong>Die</strong> MDGs 1, 7 und 8 enthalten<br />
keinerlei Hinweise auf Gender-Themen und Geschlechterverhältnisse.<br />
<strong>Die</strong> Thematik von Gender und Empowerment von<br />
Frauen wird zwar im Ziel 3 – »Förderung der Gleichstellung<br />
der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen« – angesprochen,<br />
hier jedoch auf die Bereiche Bildung, formelle Arbeit<br />
und Politik verengt.<br />
Aus feministischer Sicht kommt hinzu, dass die mehrheitlich<br />
quantitativen acht <strong>Entwicklungsziele</strong>, 18 Zielvorgaben<br />
und 48 Indikatoren nichts über die Qualität von Entwicklung<br />
auszusagen vermögen, weil sie lediglich nach deren Mess- und<br />
Überprüfbarkeit fragen. Ein einfaches Beispiel zeigt, dass in<br />
gender-spezifischer Hinsicht eine quantitative Verbesserung<br />
nicht zwangsläufig zu einer qualitativen beiträgt: <strong>Die</strong> Einschulungsrate<br />
von Mädchen sagt etwas über ihre Möglichkeiten<br />
aus, eine Schule besuchen und abzuschließen. Aber geschlechtergerechte<br />
Unterrichtsmethoden und -inhalte sind ebenso<br />
179
wichtig. Selbst wenn ein Mädchen seine Grundschuljahre absolviert<br />
hat – und damit MDG 2 erreicht wird – kann sie in dieser<br />
Zeit geschlechterstereotypen Darstellungen bei den Lehrinhalten<br />
ausgesetzt gewesen sein. Da quantitative Zielvorgaben<br />
allein nicht ausreichen, um Geschlechterungleichheiten zu<br />
reduzieren, fordern Feministen und Feministinnen die Hinzufügung<br />
von qualitativen Messmethoden bei der Überprüfung<br />
der MDGs (UNDP 2003, 24f.).<br />
<strong>Die</strong> »Feminisierung der Armut« hat viele Ursachen und Dimensionen,<br />
die weder im Ziel 1 erwähnt, noch in den anderen<br />
sieben MDGs ausreichend erfasst werden. Ein zentraler Kritikpunkt<br />
ist, dass die Gender-Thematik kein Querschnittsthema<br />
darstellt. Mit Ausnahme von Ziel 3, das sich explizit auf Frauen<br />
und deren Empowerment bezieht, kommen Frauen nicht als besonders<br />
benachteiligte Gruppe vor. Ein derartig geschlechterblindes<br />
Vorgehen geht nicht nur an der Realität vorbei, sondern<br />
zeugt auch von einem geringen Problembewusstsein.<br />
Eine wichtige Innovation enthalten hingegen die Strategiepapiere<br />
zur Armutsminderung (Poverty Reduction Strategy Papers,<br />
PRSP), die ein Instrument zur Umsetzung der MDGs sind.<br />
Ihr Ziel ist unter anderem die gesellschaftliche Partizipation<br />
bei der Verwendung der bei Schuldenerlassen frei werdenden<br />
Mittel. Partizipation ist ein Wert an sich; sie ist dann am wirkungsvollsten,<br />
wenn sich auch Frauen als hauptsächlich von<br />
Armut betroffene Gruppen beteiligen können. So stellte der<br />
UN-Generalsekretär Kofi Annan (2005, 15) fest: »Ermächtigte<br />
Frauen können zu den wirksamsten Antriebskräften der Entwicklung<br />
gehören.«<br />
Für Christa Wichterich (2005, 21) sind die MDGs jedoch<br />
einem anderen Ansatz verpflichtet:<br />
»<strong>Die</strong> Dynamik, die die MDGs in Gang setzen, ist (…) Top-<br />
Down und entspricht nicht einem Empowerment der<br />
Machtlosen. Insofern stellen die MDGs einen Gegenentwurf<br />
zu den entwicklungspolitischen Ansätzen von Partizipation<br />
und Selbsthilfe dar.«<br />
180
Das den MDGs zugrunde liegenden Verständnis von Entwicklung<br />
beruht auf dem »Recht auf Entwicklung« und betont zugleich<br />
wirtschaftspolitische Werte wie Freihandel und Marktöffnung.<br />
<strong>Die</strong>se haben jedoch selten zur Verringerung von Geschlechterungleichheiten<br />
beigetragen. »Armutsbekämpfung<br />
steht ganz im Zeichen neoliberaler Globalisierungspolitik, der<br />
unterstellte Entwicklungsbegriff ist das bisherige lineare, nach<br />
westlichen Wertmaßstäben ausgerichtete Modell.« (Neuhold<br />
2005, 9).<br />
Der Verdacht, dass die MDGs lediglich Symptome der Armut<br />
kurieren, wird durch das Faktum erhärtet, dass sie soziale<br />
Ungleichheit und damit die strukturellen Ursachen von Armut<br />
gänzlich tabuisieren. Armut kann nicht losgelöst von sozialer<br />
Ungleichheit, die geschlechtsspezifische Charakteristika aufweist,<br />
betrachtet werden. Hinzu kommt, dass Armut mit ungerecht<br />
verteilten Ressourcen und Machtpositionen zwischen<br />
den Geschlechtern unmittelbar in Zusammenhang steht. <strong>Die</strong>sen<br />
Punkt vernachlässigen jedoch die MDGs. Caroline Moser<br />
(1999, 144) hat in diesem Zusammenhang die Unterscheidung<br />
zwischen Practical Gender Needs und Strategic Gender Needs entwickelt.<br />
Erstere betreffen alltägliche Bedürfnisse wie den Zugang<br />
zur Gesundheits- und Wasserversorgung, zu Arbeit etc.<br />
Strategic Gender Needs beinhalten den Zugang zu Macht und<br />
Kontrolle über diese Ressourcen und fordern damit die Umgestaltung<br />
bestehender Geschlechterverhältnisse. <strong>Die</strong>se Bedürfnisse<br />
werden bei den MDGs jedoch gravierend unterbelichtet.<br />
<strong>Die</strong> entwicklungspolitischen Anstrengungen der vergangenen<br />
Jahrzehnte haben gezeigt, dass Gender-Gerechtigkeit<br />
die Voraussetzung für eine nachhaltige Reduzierung von Armut<br />
ist. Aus diesem Grund ist die defizitäre Erwähnung der<br />
Geschlechterfrage im Prioritätenkatalog der MDGs nicht nur<br />
inkonsequent, sie geht auch an den Realitäten vorbei. Entwicklungspolitik<br />
und die Gleichstellung der Geschlechter sind untrennbar<br />
miteinander verbunden; sie müssen nicht nur zusam-<br />
181
men gedacht, sondern auch in handlungsorientierte Strategien<br />
umgesetzt werden.<br />
Eine zielgerichtete Politik der Armutsbekämpfung stellt für<br />
eine nationale und internationale Entwicklungspolitik, die an<br />
Legitimation und Glaubwürdigkeit gewinnen möchte, sicherlich<br />
die Probe aufs Exempel dar. Von hoher Relevanz ist dabei,<br />
dass die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich<br />
bei den Armutsgruppen in Entwicklungsländern – und dies<br />
sind mehrheitlich Frauen – ankommen. Hierzu bedarf es jedoch<br />
der Anerkennung der simplen Tatsache, dass Armut ein<br />
weibliches Gesicht hat.<br />
<strong>Die</strong> MDGs haben der Reduzierung von Armut eine Priorität<br />
verschafft, die sie bisher in der Entwicklungspolitik nicht<br />
hatte. <strong>Die</strong> MDGs erlangten nicht nur beträchtliche internationale<br />
Aufmerksamkeit, sondern hatten auch zur Folge, dass<br />
zahlreiche andere entwicklungspolitische Zielsetzungen derzeit<br />
hintangestellt werden. So stehen für die Umsetzung der<br />
Aktionsplattform von Beijing nur noch geringe Finanzmittel<br />
zur Verfügung. <strong>Die</strong>s bedeutet einen Rückschlag für die internationale<br />
feministische Bewegung.<br />
Fort- und Rückschritte bei der<br />
Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit<br />
Bei unerschütterlichen Optimisten und Optimistinnen mögen<br />
die MDGs die Zuversicht geweckt haben, dass die acht Ziele im<br />
anvisierten Zeithorizont tatsächlich erreicht werden können,<br />
dass es also bis 2015 trotz einer wachsenden Weltbevölkerung<br />
eine Halbierung der in extremer Armut lebenden Menschen<br />
geben wird. Doch die Zahl der Skeptiker und Skeptikerinnen<br />
wächst, auch und gerade nach der ernüchternden Zwischenbilanz<br />
auf dem UN-Gipfel im September 2005. Insbesondere<br />
jene Zwischenziele, die geschlechtsspezifische Ungleichheiten<br />
reduzieren sollten, blieben zum großen Teil unerfüllt.<br />
182
2006 stehen wichtige Weichenstellungen an. Quick Impact-<br />
Initiativen (Sachs 2005, 66), die noch 2006 verwirklicht werden<br />
sollen, wurden für die Bereiche beschlossen, in denen sich mit<br />
ausreichender Ressourcenausstattung schnell Erfolge erzielen<br />
lassen. Unter ihnen finden sich auch gender-spezifische Bereiche,<br />
etwa die Durchsetzung von Rechten für Frauen, Kampagnen<br />
zur Verringerung von Gewalt gegen Frauen sowie ihr<br />
Empowerment, insbesondere auf kommunalpolitischer Ebene.<br />
Der Sachs-Bericht geht davon aus, das die MDGs bis zum<br />
Jahr 2015 noch erreichbar sind, wenn bereits 2006 die Ausgaben<br />
für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development<br />
Assistance, ODA) verdoppelt werden und verstärkte<br />
Anstrengungen sofort beginnen. Er zählt mehrere im Zeitraum<br />
zwischen 1990 und 2000 erzielte Fortschritte bei den MDGs<br />
auf, die allerdings in den Weltregionen sehr unterschiedlich<br />
ausfallen (vgl. den Beitrag von Fues).<br />
<strong>Die</strong> Geschlechtergleichheit ist eines der unerreichten Ziele.<br />
Betrachtet man die vier Indikatoren von MDG 3 (UNDESA<br />
2004, 3), so ergibt sich ein tristes Bild. In den zehn Weltregionen<br />
Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Ostasien, Südostasien,<br />
Südasien, Westasien, Ozeanien, Lateinamerika und Karibik, in<br />
der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Europa sowie<br />
in GUS-Asien wurde nur insgesamt elfmal eine der vier<br />
Vorgaben erreicht – die Umsetzungsquote liegt damit lediglich<br />
bei einem Viertel.<br />
Gender-Gerechtigkeit bei der Bildung<br />
Beim Verhältnis von Mädchen zu Jungen in Primarschulen<br />
wurde die Zielvorgabe der Beseitigung der Ungleichheit nur<br />
in Ostasien und GUS-Europa erreicht, alle anderen Weltregionen<br />
befinden sich auf dem Weg der Zielerreichung oder weisen<br />
schleppende Fortschritte auf. <strong>Die</strong> Geschlechterdiskriminierung<br />
ist vor allem in Süd- und Westasien erheblich, wo 2001/02<br />
183
Tabelle 1<br />
Abschlussrate bei der Primarschulbildung nach Geschlechtern in den Weltregionen<br />
184<br />
Prozentsatz der Schüler und Schülerinnen in Abschlussklassen der Primarschulbildung<br />
1998/99 2001/02<br />
Gesamt Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen<br />
Industrieländer 100,0 100,3 99,6 98,8 – –<br />
GUS, Asien 96,3 97,0 95,6 97,9 98,7 97,0<br />
GUS, Europa 93,1 – – 93,9 94,0 93,8<br />
Entwicklungsregionen 80,7 84,0 77,2 83,0 85,9 79,8<br />
Lateinamerika & Karibik 89,0 86,6 91,5 98,0 97,2 98,9<br />
Nordafrika 85,5 89,0 81,8 85,5 87,1 83,9<br />
Afrika südlich der Sahara 49,4 54,4 44,4 52,8 57,0 48,6<br />
Ostasien 104,81 104,21 105,41 104,2 104,1 104,2<br />
Südasien 71,8 78,9 64,3 75,4 81,5 68,9<br />
Süd-Ostasien 87,9 88,8 87,0 92,7 92,8 92,6<br />
Westasien 77,2 82,9 71,1 76,3 81,1 71,3<br />
Ozeanien 62,7 63,4 61,9 63,3 64,5 62,0<br />
Am wenigsten entwickelte Länder 48,5 53,4 43,5 50,1 54,0 46,1<br />
Binnenländer 53,7 59,1 48,1 57,4 63,4 51,3<br />
Kleine Inselstaaten 73,5 73,2 73,8 78,4 77,8 78,9<br />
1. Daten beziehen sich auf 1999/2000.<br />
Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends. <strong>Millennium</strong> Indicators Database<br />
(http://millenniumindicators.un.org, 06.2005); basierend auf Daten der UNESCO.
der Anteil der Jungen um 12 bzw. 10 Prozentpunkte höher als<br />
jener der Mädchen war. Eine große Kluft gibt es auch in Afrika<br />
südlich der Sahara, wo der Anteil der Jungen den der Mädchen<br />
um 7 Prozentpunkte überstieg. In Nordafrika stieg die<br />
Rate von 82 auf 93 Mädchen pro 100 Jungen, und in Südasien<br />
erhöhte sie sich von 76 auf 85. In einigen Ländern beträgt der<br />
Anteil von Schülerinnen in den Grundschulen jedoch lediglich<br />
75 % oder weniger (UN Statistic Division 2005a). <strong>Die</strong> Vorgabe<br />
der gleichen Einschulungsquote in Sekundarschulen weist<br />
Nordafrika, Südostasien und GUS-Europa als jene Weltregionen<br />
aus, in denen das Ziel erfolgreich umgesetzt wurde. Eine<br />
einzige Region – Lateinamerika und die Karibik – befindet sich<br />
auf dem Weg der Zielerreichung, während es in Afrika südlich<br />
der Sahara, Süd- und Westasien sowie Ozeanien nur sehr<br />
schleppende Fortschritte gab (UNDESA 2004, 3).<br />
Geschlechterparität bei der Alphabetisierungsrate<br />
Laut Statistiken der UNESCO für 2000–2004 sind zwei Drittel<br />
der weltweit 800 Mio. Analphabeten Frauen. Von den 137 Mio.<br />
jugendlichen Analphabeten sind 85 Mio. Frauen, also 63 %<br />
(UNESCO 2004). <strong>Die</strong> größte Kluft weist die Region Südasien<br />
auf, wo die Alphabetisierungsrate bei Frauen um 19 Prozentpunkte<br />
geringer ist als bei Männern. In Ländern wie Benin,<br />
Tschad und Liberia beträgt die Differenz über 30 Prozentpunkte<br />
(UN Statistic Division 2005b). Gleichwohl gab es bei<br />
der Angleichung der Alphabetisierung von jungen Frauen und<br />
Männern die größten Fortschritte. Ostasien, Südostasien, Lateinamerika<br />
und die Karibik, GUS-Europa und GUS-Asien erreichten<br />
die gesetzten Vorgaben. Nur sehr schleppend geht die<br />
auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis bezogene Alphabetisierung<br />
in Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Süd- und<br />
Westasien sowie Ozeanien voran (UNDESA 2004, 3).<br />
185
186<br />
Tabelle 2<br />
Geschlechterdisparitäten bei der Alphabetisierungsrate<br />
(15–24 Jährige) 1990 und 2000/04<br />
1990 2000/04<br />
Alphabetisierungsrate<br />
15–24<br />
Alphabetisierungsrate<br />
15–24<br />
Region Frauen Männer Frauen Männer<br />
Industrieländer 99,6 99,7 99,7 99,7<br />
GUS, Asien 97,7 97,7 98,8 98,8<br />
Entwicklungsregionen 75,8 85,8 80,7 89,0<br />
Nordafrika 55,8 76,3 72,5 84,1<br />
Afrika südlich der Sahara 59,8 74,9 69,3 79,0<br />
Lateinamerika/Karibik 92,7 92,7 95,9 95,2<br />
Ostasien 93,3 97,6 98,6 99,2<br />
Südasien 51,0 71,1 62,8 81,6<br />
Süd-Ostasien 93,1 95,5 95,1 96,4<br />
Westasien 71,5 88,2 80,3 90,7<br />
Ozeanien 68,0 78,5 78,1 84,4<br />
Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends,<br />
<strong>Millennium</strong> Indicators Database (http://millenniumindicators.un.org,<br />
06.2005); basierend auf Daten der UNESCO.<br />
Gender-Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt<br />
In der formellen Wirtschaft gibt es noch immer sehr große<br />
Gender-Disparitäten. Trotz geringer Fortschritte haben Frauen<br />
in Süd- und Westasien sowie in Nordafrika weiterhin nur einen<br />
Anteil von etwa 20 % der bezahlten Arbeitsplätze außerhalb<br />
des Agrarsektors. In Lateinamerika und der Karibik liegt<br />
ihr Anteil bei 40 % (UNSTATS 2005). <strong>Die</strong> informelle Wirtschaft<br />
ist für Frauen nach wie vor der wichtigste Bereich, in dem sie<br />
Beschäftigung finden. Ihr prozentualer Anteil in diesem Sektor<br />
ist im Allgemeinen höher als der von Männern. <strong>Die</strong>ser Unter-
schied ist besonders ausgeprägt in Afrika südlich der Sahara,<br />
wo 84 % der Frauen im informellen Sektor arbeiten, verglichen<br />
mit 63 % der Männer. In Nordafrika und im Mittleren Osten<br />
kehrt sich dieses Muster jedoch um; dort ist die Beschäftigung<br />
im informellen Sektor für Männer wichtiger als für Frauen<br />
(UNSTATS 2005). Frauen repräsentieren auch die Mehrheit<br />
der Working Poor: Von 550 Mio. weltweit sind etwa 330 Mio.<br />
Frauen; das entspricht 60 % (ILO 2004, 2).<br />
Gender-Gerechtigkeit in nationalen Parlamenten<br />
Geschlechter-Parität gibt es weltweit in keinem Nationalparlament.<br />
Mit Stand von 1. Januar 2005 haben nur 17 Länder das<br />
vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) 1990 gesetzte<br />
Ziel von 30 % oder mehr Frauenanteil bei den Abgeordnetensitzen<br />
in Nationalparlamenten erreicht. Frauen sind in den<br />
Parlamenten von Mikronesien, Kuwait und Nauru überhaupt<br />
nicht vertreten. Dagegen wurden bei den ersten Parlamentswahlen<br />
nach dem Krieg in Ruanda 2003 mit 48,8 % überwältigend<br />
viele Frauen gewählt (UN Statistic Division 2005b). In<br />
keinem anderen nationalen Parlament ist der Frauenanteil so<br />
hoch. Ostasien und GUS-Asien weisen sogar rückläufige Tendenzen<br />
auf; in Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Südostasien,<br />
Ozeanien sowie in Lateinamerika und der Karibik gibt es<br />
sehr schleppende Fortschritte. In Westasien ist der Frauenanteil<br />
unverändert gering, und GUS-Europa hat erst in jüngster<br />
Zeit Forschritte gemacht (UNDESA 2004, 3).<br />
187
Tabelle 3<br />
Länder mit einem Anteil von 30 % an weiblichen<br />
Abgeordneten in nationalen Parlamenten (Stand: 1.1.2005)<br />
188<br />
Prozentsatz der<br />
Parlamentssitze<br />
von Frauen<br />
Zahl der Parlamentssitze<br />
von<br />
Frauen<br />
Absolute Zahl<br />
an Parlamentssitzen<br />
Ruanda 48,8 39 80<br />
Schweden 45,3 158 349<br />
Norwegen 38,2 63 165<br />
Dänemark 38,0 68 179<br />
Finnland 37,5 75 200<br />
Niederlande 36,7 55 150<br />
Kuba 36,0 219 609<br />
Spanien 36,0 126 350<br />
Costa Rica 35,1 20 57<br />
Mosambik 34,8 87 250<br />
Belgien 34,7 52 150<br />
Österreich 33,9 62 183<br />
Argentinien 33,7 86 255<br />
Deutschland 32,8 197 601<br />
Südafrika 32,8 131 400<br />
Guyana 30,8 20 65<br />
Island 30,2 19 63<br />
Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends.<br />
<strong>Millennium</strong> Indicators Database (http://millenniumindicators.un.org,<br />
06.2005); basierend auf Daten der Inter-Parliamentary Union.
Ausblick auf 2015: Ohne Empowerment von Frauen<br />
wird kein MDG-Ziel erreicht werden<br />
In den 1990er Jahren gelang es den UN erstmals, den vielfältigen<br />
Herausforderungen der Entwicklung einen normativen<br />
Rahmen zu geben und gemeinsame Entwicklungsprioritäten<br />
zu setzen. <strong>Die</strong>se bildeten das Fundament für die MDGs, die<br />
weltweit akzeptierte Richtwerte für Entwicklung sind.<br />
Das den MDGs zugrunde liegende Verständnis von Entwicklung<br />
basiert auf der Grundbedürfnisstrategie, das tragende<br />
Konzept ist jenes der geschlechterblinden Reduzierung<br />
von Armut. Der Ansatz »Integration der Frauen in die<br />
Entwicklung« zielt auf die Einbeziehung von Frauen in einen<br />
nicht weiter hinterfragten Entwicklungsprozess ab. »Integration<br />
in Entwicklung« bedeutet jedoch nicht zugleich die Aufhebung<br />
von (anderen) Diskriminierungsverhältnissen. <strong>Die</strong>ser<br />
Umstand, der nach den Resultaten der UN-Frauendekade von<br />
Gender-Aktivisten und -Aktivistinnen artikuliert wurde, wird<br />
auch bei der Analyse der MDGs sichtbar.<br />
Insbesondere die Tatsache, dass die Ziele eher mit dem<br />
trickle down als mit dem bottom up-Ansatz arbeiten, erschwert<br />
Gender Empowerment-Aktivitäten. Wissenschaft und Frauenbewegungen<br />
kritisieren deshalb den Ansatz »Integration der<br />
Frauen in die Entwicklung« nachdrücklich. Es gehe nicht<br />
darum, Frauen in eine (vorgezeichnete) Entwicklung zu integrieren,<br />
sondern darum, die Macht von Frauen zusammen mit<br />
anderen benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen in ökonomischen,<br />
politischen und kulturellen Entscheidungsprozessen<br />
zu stärken. Es geht also um eine Neudefinition von Entwicklung,<br />
die die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen in den<br />
Blick nimmt, kurz: um Empowerment.<br />
Auch die Ursachen geschlechtsspezifischer Ungleichheit<br />
bleiben ausgeklammert. <strong>Die</strong> Welt erscheint mehr oder weniger<br />
als eine weitgehend geschlechterneutrale Tabula rasa. Fragen<br />
nach der Entstehung und Ausbreitung patriarchaler Herrschaft<br />
189
verweilen in der historischen Dunkelkammer. Unerwähnt bleiben<br />
auch diejenigen, die in Zeiten des Neoliberalismus von<br />
sexistischer Diskriminierung und von ungleich gestalteten Geschlechterverhältnissen<br />
– von der Ausbeutung der Frauen in<br />
den Weltmarktfabriken bis hin zum interkontinentalen Frauenhandel<br />
– profitieren.<br />
Der Sachs-Bericht (2005, 45f.) spricht die in den MDGs systematisch<br />
vernachlässigten Bereiche an. Einer der wichtigsten<br />
ist die Gleichstellung der Geschlechter, im ökonomischen Jargon:<br />
Investitionen in die Überwindung weit verbreiteter geschlechtsspezifischer<br />
Benachteiligungen durch einen gleichberechtigten<br />
Zugang zu Wirtschaftsgütern, Grund und Boden,<br />
Wohnraum, Steigerung der Grundschulabschlussquote, ein<br />
besserer Zugang zu weiterführender Bildung, Chancengleichheit<br />
auf dem Arbeitsmarkt, Freiheit von Gewalt und verstärkte<br />
Vertretung von Frauen auf allen politischen Ebenen. Unabdingbar<br />
ist auch die Mitwirkung der verschiedenen Frauenorganisationen,<br />
die die Bedürfnisse der Menschen (vor allem<br />
auch der Armen) kennen und damit eine effektive Umsetzung<br />
der MDGs gewährleisten können.<br />
<strong>Die</strong> MDGs bilden mittlerweile den Dreh- und Angelpunkt<br />
der internationalen Entwicklungspolitik. Das Erreichen der<br />
Ziele wird von sektorübergreifenden gender-bezogenen Maßnahmen<br />
abhängen. Eine Grundvoraussetzung ist dabei, dass<br />
jede Frau über die Mittel für ein menschenwürdiges Leben<br />
verfügt. Zu diesen gehört der Zugang zu ökonomischen, politischen<br />
und sozialen Ressourcen, Machtpositionen und<br />
Rechten.<br />
Gegenwärtig setzen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />
von UN-Organisationen und nationalen Entwicklungsagenturen<br />
sowie zivilgesellschaftliche Netzwerke dafür ein, die<br />
MDGs nach dem Motto »ein bisschen Gender ziert jedes MDG-<br />
Ziel« geschlechtergerechter zu gestalten. Eine wichtige Forderung<br />
ist hierbei, die MDGs mit der Aktionsplattform von Beijing<br />
und der Frauenrechtskonvention CEDAW zu verbinden. In ei-<br />
190
ner Welt, in der Armut ein weibliches Gesicht hat, wird es keine<br />
Reduzierung von Armut geben können, ohne dass Geschlechterungleichheiten<br />
sichtbar gemacht, beim Namen genannt und<br />
verändert werden. In gender-politischer Hinsicht dürfen die<br />
MDGs kein Ersatz für die Aktionsplattform von Beijing und<br />
CEDAW sein.<br />
<strong>Die</strong> Zwischenberichte der UN deuten nicht darauf hin,<br />
dass die MDGs in ihren gender-spezifischen Punkten erreicht<br />
werden. <strong>Die</strong> Worte des uruguayischen Journalisten Eduardo<br />
Galeano (1973, 197) »Entwicklung ist eine Reise mit mehr<br />
Schiffbrüchigen als Seefahrern« werden aller Voraussicht nach<br />
im Hinblick auf die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern<br />
auch 2015 noch ihre Gültigkeit haben.<br />
Zur Erreichung der geschlechterbezogenen MDGs sind<br />
enorme Anstrengungen der von Hunger und Elend betroffenen<br />
Länder sowie grundlegende Reformen auf internationaler<br />
Ebene in den Bereichen Politik, Bildung, Gesetzgebung<br />
und Ökonomie erforderlich. Es geht um gemeinsame Anstrengungen<br />
sowohl von Seiten der politisch Verantwortlichen als<br />
auch um eine unermüdliche Lobbyarbeit von Feministen und<br />
Feministinnen, um die Welt bis 2015 geschlechtergerechter zu<br />
gestalten.<br />
Literatur<br />
Annan, Kofi, 2005: In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit<br />
und Menschenrechte für alle, Vereinte Nationen, Generalversammlung<br />
A/59/2005, Bericht des Generalsekretärs vom 21.03.2005.<br />
New York.<br />
Antrobus, Peggy, 2004: MDGs – The Most Distracting Gimmick, in: Carol<br />
Barton/Laurie Prendergast (Hg.), Seeking Accountability on Women’s<br />
Human Rights: Women Debate the <strong>Millennium</strong> Development Goals.<br />
Mumbai, S. 14–16.<br />
191
Fues, Thomas/Brigitte Hamm (Hg.) 2001: <strong>Die</strong> Weltkonferenzen der 90er<br />
Jahre: Baustellen für Global Governance (Reihe EINE Welt der Stiftung<br />
Entwicklung und Frieden, Bd. 12). Bonn.<br />
Galeano, Eduardo, 1973: <strong>Die</strong> offenen Adern Lateinamerikas. Wuppertal.<br />
ILO (International Labour Organization), 2004: Global Employment<br />
Trends, Januar. Genf.<br />
Moser, Caroline, 1999, zitiert nach Commission on Gender Equality/Parliamentary<br />
Women’s Group/Gender Equity Unit/Gender Advocacy<br />
Programme/School of Public and Development Management/Women’s<br />
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in: Carol Barton/Laurie Prendergast (Hg.), Seeking Accountability on<br />
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Goals. Mumbai, S. 40.<br />
Neuhold, Brita, 1994: Women on their way to empowerment. Wien.<br />
Neuhold, Brita, 2005: Frauenrechte und Armutsbekämpfung, in: Frauensolidarität,<br />
2/2005, S. 6–9.<br />
Sachs, Jeffrey, 2005: Investing in Development: a Practical Plan to Achieve<br />
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York.<br />
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monographs/UNDP_MDGR_genderlens.pdf, 29.06.2006.<br />
UNDESA, 2004 in: Jeffrey Sachs, 2005: In die Entwicklung investieren: Ein<br />
praktischer Plan zur Erreichung der <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
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UNESCO, 2004 in: http://portal.unesco.org/education/en/ev.php-<br />
URL_ID=35964&URL_DO=DO_TOPIC&URL_SECTION=201.html,<br />
29.06.2006.<br />
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1990–2005, Summary, in: http://unstats.un.org/unsd/mi/mi_coverfinal.htm,<br />
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29.06.2006.<br />
UN Statistic Division, 2005b in: http://unstats.un.org/unsd/milgoals_<br />
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Wichterich, Christa, 2005: Ein entwicklungspolitischer Katechismus, in:<br />
iz3w Nr. 285, S. 20–23.<br />
192
Dritter Teil:<br />
Herausforderungen
STEPHAN KLINGEBIEL<br />
Mit einem big push aus der Armutsfalle?<br />
Der Sachs-Bericht ist kein Patentrezept<br />
Vor dem Hintergrund ungenügender bzw. ausbleibender Entwicklungserfolge,<br />
die sich derzeit in der (Nicht-)Erreichung<br />
der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />
Goals, MDGs) widerspiegeln, findet eine intensive Debatte<br />
über die Strategien der Entwicklungspolitik vor allem im Hinblick<br />
auf den afrikanischen Kontinent statt. <strong>Die</strong> Gründe für die<br />
gestiegene internationale Aufmerksamkeit für Afrika südlich<br />
der Sahara sind vielschichtig und erstrecken sich von geostrategischen<br />
Interessen über Fragen der internationalen Energieversorgung<br />
bis hin zu einer größeren Beachtung der afrikanischen<br />
Konflikte und der afrikanischen Sicherheitsarchitektur<br />
(Klingebiel 2005).<br />
Afrika im Mittelpunkt der Debatte<br />
über eine neue Entwicklungspolitik<br />
Das gestiegene entwicklungspolitische Interesse an Afrika<br />
südlich der Sahara hängt zu einem erheblichen Teil mit den<br />
entwicklungspolitischen »Großereignissen« im Jahr 2005 zusammen.<br />
<strong>Die</strong> wichtigsten waren zum einen der G8-Gipfel in<br />
Gleneagles mit der im Vorfeld von der britischen Regierung<br />
eingesetzten Commission for Africa (CFA), die einen vielbeachteten<br />
Bericht herausgegeben hat, und zum anderen der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel,<br />
der im September 2005 eine Zwischenbilanz<br />
zur Umsetzung der MDGs zog. Grundlage dafür war ein<br />
umfassender Bericht unter der Leitung von Jeffrey Sachs (UN<br />
194
<strong>Millennium</strong> Project), der zu Beginn des Jahres 2005 veröffentlicht<br />
worden war.<br />
In den Debatten rund um diese Großereignisse sind verschiedene<br />
Kontroversen zutage getreten:<br />
Erstens stellt sich die Frage nach Erklärungsansätzen für<br />
die bestehenden Entwicklungsdefizite. Hier kommt es zunehmend<br />
zu einer Polarisierung zwischen Ansätzen, die in<br />
den bestehenden governance-Problemen und solchen, die<br />
in »Armutsfallen« und klassischen Strukturdefiziten (hohe<br />
Transportkosten etc.) die zentralen Ursachen und dementsprechend<br />
die relevanten Handlungsfelder sehen.<br />
Zweitens hat die massive Aufstockung der Mittel für öffentliche<br />
Entwicklungszusammenarbeit (Official Development<br />
Assistance, ODA) – die sich 2004 auf knapp 26 Mrd. US-$<br />
für Afrika südlich der Sahara beliefen – einen prominenten<br />
Platz in den Schlussfolgerungen wichtiger Analysen erhalten.<br />
Gerade der Umfang der ODA für Afrika südlich der Sahara<br />
wird von vielen – nicht zuletzt von Jeffrey Sachs und<br />
der Commission for Africa – als völlig unzureichend erachtet.<br />
Den Plädoyers für eine höhere ODA stehen allerdings Argumente<br />
gegenüber, die auf mögliche Fehlanreize (abnehmende<br />
Notwendigkeit, eigene Ressourcen aufzubringen<br />
etc.), negative Begleitwirkungen und die technisch-administrative<br />
Absorptionsfähigkeit hinweisen.<br />
Drittens betrifft die Debatte grundsätzliche Fragen einer<br />
ODA-Reform mit dem Ziel, ihre Qualität und Wirksamkeit<br />
zu steigern. Hier bildet der im Februar 2005 erreichte Konsens<br />
von Gebern und Partnervertretern in Form der Paris<br />
Declaration on Aid Effectiveness einen internationalen Meilenstein.<br />
<strong>Die</strong> Erklärung übt einen echten Handlungsdruck<br />
aus, weil sie quantifizierte Ziele enthält. Weitere Vorschläge<br />
etwa im Hinblick auf eine Ausweitung der Programmfinanzierung<br />
und eine Reform der Technischen Zusammenarbeit<br />
werden diskutiert.<br />
195
<strong>Die</strong> Ereignisse des Jahres 2005 markierten einen Höhepunkt in<br />
der internationalen Debatte. Verschiedene Hinweise sprechen<br />
dafür, dass diese Aufmerksamkeit auch künftig erhalten bleiben<br />
kann. <strong>Die</strong> britische Regierung, die schon 2005 (politisch<br />
nicht ganz uneigennützig) eine entscheidende treibende Kraft<br />
für die Afrika-Aufmerksamkeit war, will sich weiterhin mit<br />
der Region profilieren. Ein Jahr nach dem G8-Gipfel in Gleneagles<br />
initiierte der britische Premierminister Tony Blair ein<br />
Africa Progress Panel, das jährlich für die G8, die UN und das<br />
so genannte Africa Partnership Forum einen Bericht über Umsetzungsfortschritte<br />
seit 2005 erstellen will. UN-Generalsekretär<br />
Kofi Annan hat sich bereit erklärt, das Panel zu leiten.<br />
Aus entwicklungspolitischer Sicht ist es enorm wichtig, die<br />
bislang einmalige Dynamik für das Thema zu nutzen. <strong>Die</strong> laufende<br />
Debatte bietet die Chance einer Ausweitung der externen<br />
Unterstützung für den Kontinent. Anderseits sollte die politische<br />
Schubkraft für das Thema nicht zu einer Einengung auf<br />
vereinfachende, möglicherweise sogar falsche Erklärungsansätze<br />
und Handlungsoptionen führen, die mit Konzepten wie<br />
der »Armutsfalle«, dem big push oder der Verdoppelung der<br />
ODA verbunden sein könnten. Risiken bestehen auch darin,<br />
dass der potenzielle Einfluss externer Akteure überbewertet<br />
und die mögliche Geschwindigkeit, mit der Erfolge erreicht<br />
werden können, überschätzt werden. Es könnte eine langfristige<br />
Frustration aufgrund von überzogenen Erwartungen<br />
drohen.<br />
Damit die kontroversen Debatten nicht in einen unfruchtbaren<br />
»Schulenstreit« münden, ist es sinnvoll, vorrangig auf<br />
Länderebene die zentralen Problemursachen zu benennen:<br />
Sind es bestimmte Politiken der Länder, die verhindern, dass<br />
sich die gewünschten Wirkungen entfalten? Oder sind konkrete<br />
Finanzierungsengpässe das Kernproblem? In der Summe<br />
wird es wichtig bleiben, dass einerseits die afrikanischen Partner<br />
die zentralen governance-Defizite (kleptokratische Systeme,<br />
gewaltsame Konflikte, mangelhafte Rechtstaatlichkeit etc.)<br />
196
verstärkt bearbeiten, andererseits aber auch die Geber ihre Verpflichtungen<br />
zur ODA-Erhöhung einhalten und zugleich Maßnahmen<br />
zur Steigerung der ODA-Effektivität verstärken.<br />
<strong>Die</strong> »Armutsfalle«:<br />
Ein Erklärungsansatz für Afrika südlich der Sahara?<br />
Afrika südlich der Sahara hinkt den sozialen und ökonomischen<br />
Entwicklungen aller anderen Entwicklungsregionen<br />
deutlich hinterher. Im Hinblick auf die Erreichung der MDGs<br />
ist der Kontinent off track; das heißt, er kann bislang die gesteckten<br />
Ziele nicht erreichen. <strong>Die</strong> durchschnittliche Lebenserwartung<br />
liegt bei nur 46 Jahren (2003). Rund die Hälfte aller<br />
Menschen lebt in absoluter Armut, wobei die Zahl der Armen<br />
von 313 Mio. (2001) bis 2015 auf voraussichtlich 340 Mio. ansteigen<br />
wird.<br />
Allerdings weisen einzelne Länder und Regionen vom<br />
Durchschnitt stark abweichende oder sogar widersprüchliche<br />
Entwicklungen auf. Ökonomische Besonderheiten zeigen das<br />
wirtschaftlich leistungsfähige Südafrika, relativ erfolgreiche<br />
kleinere Länder (wie Mauritius und die Seychellen) sowie die<br />
Erdöl- (Angola, Äquatorialguinea, Nigeria, Tschad etc.) und<br />
Bergbauökonomien (Botswana und andere).<br />
Afrika südlich der Sahara befindet sich derzeit in einer<br />
Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Nachdem die Region<br />
etwa zwei Jahrzehnte lang das geringste Wachstum aller Entwicklungsregionen<br />
aufwies, ist in den vergangenen fünf Jahren<br />
ein vergleichsweise günstiges Pro-Kopf-Wachstum erreicht<br />
worden. Der World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds<br />
geht für das Jahr 2005 von einem realen Wachstum<br />
in Höhe von 5,3 % aus, was einem Wachstum pro Kopf<br />
von rund 3,4 % entspricht (IMF 2006). Darüber hinaus seien die<br />
weiteren wirtschaftlichen Aussichten vergleichsweise günstig.<br />
Allerdings ist zu beachten, dass die derzeitige und zu erwar-<br />
197
tende wirtschaftliche Erholung überdurchschnittlich stark auf<br />
die afrikanischen Erdölökonomien zurückgeht, das Wachstum<br />
in den meisten Fällen von einer geringen wirtschaftlichen Leistungskraft<br />
startet und trotz der positiven Entwicklungen nicht<br />
damit zu rechnen ist, dass die Wachstumsraten ausreichen, die<br />
MDGs zu erfüllen.<br />
In der Debatte darüber, wie sich die Entwicklungsdefizite<br />
der Region erklären lassen und welche Schlussfolgerungen<br />
hieraus zu ziehen sind, bilden sich zunehmend zwei »Lager«<br />
heraus:<br />
1.<br />
<strong>Die</strong> von Jeffrey Sachs identifizierte »Armutsfalle« (poverty<br />
trap) – eine inhaltlich auch von der Commission for Africa<br />
(CFA) geteilte Diagnose (Kielwein 2005) – geht von der Kombination<br />
einer geringen Sparrate mit einem hohen Bevölkerungswachstum<br />
aus, was zu einer Stagnation bei der Kapitalakkumulation<br />
führt, wodurch wiederum das Wirtschaftswachstum<br />
nicht eine sich selbsttragende Dynamik erreicht.<br />
Sachs sieht vorrangig fünf strukturelle Gründe, warum<br />
Afrika südlich der Sahara die verwundbarste Weltregion<br />
ist: (1) Hohe Transportkosten und kleine Märkte, (2) geringe<br />
landwirtschaftliche Produktivität (fehlende »grüne Revolution«),<br />
(3) hohe Belastungen durch Krankheiten (HIV/AIDS,<br />
Malaria etc.), (4) »Geschichte ungünstiger Geopolitik« (unter<br />
anderem durch europäische und arabische Sklaverei, Belastungen<br />
aufgrund des Kalten Krieges etc.) und (5) langsame<br />
Verbreitung von ausländischen Technologien (zur Krankheitsprävention,<br />
Steigerung der Agrarproduktivität etc.).<br />
Der Armutsfallen-Ansatz geht von der Notwendigkeit einer<br />
breit angelegten Gegenstrategie – eines big push – aus.<br />
Bildlich gesprochen: ein Feuerwehrmann reicht nicht aus,<br />
um einen Großbrand unter Kontrolle zu bringen. <strong>Die</strong>ser big<br />
push sei nicht mit den eigenen Ressourcen des Kontinents<br />
möglich. Erforderlich sei daher ein massives Aufstocken<br />
der ODA für die Region.<br />
198
2.<br />
<strong>Die</strong> Kritik am big push-Konzept und an der Forderung nach<br />
einer ODA-Verdoppelung setzte rasch ein. Sie verweist auf<br />
die lange Tradition des big push-Ansatzes und einer außenfinanzierten<br />
Strategie (Asche 2006). Beides habe sich nicht<br />
als sinnvoll erwiesen. Insbesondere aus einer governance-<br />
Perspektive werden Gegenargumente vorgebracht. Demnach<br />
sind es vor allem Schwächen im Regierungshandeln<br />
der betroffenen Länder, die dazu führen, dass Fortschritte<br />
nicht stattfinden. Nicht fehlende finanzielle Ressourcen,<br />
sondern falsche Politiken verhinderten Entwicklungserfolge.<br />
<strong>Die</strong>s treffe unter anderem für Länder mit bewaffneten<br />
Konflikte oder grundlegenden governance-Problemen<br />
zu (etwa Simbabwe). Außerdem verfügt eine Reihe von<br />
Ländern über beträchtliche Einkommen (etwa aufgrund<br />
von Erdöl), die allerdings nicht in allen Fällen sinnvoll verwendet<br />
würden.<br />
Sowohl die Argumente der big push- als auch der governance-<br />
Befürworter werden in aller Regel nicht ohne Berücksichtigung<br />
der jeweils anderen Debatten vorgebracht. So bezieht<br />
der CFA-Bericht vergleichsweise intensiv governance-Fragen<br />
ein und umgekehrt wird ein ausreichendes wirtschaftliches<br />
Wachstum von den meisten governance-Vertretern als eine notwendige<br />
(wenn auch nicht hinreichende Bedingung) für Entwicklungserfolge<br />
anerkannt.<br />
Allerdings sind die inhaltlichen Differenzen von prinzipiellem<br />
Charakter: Zum einen findet in den Debatten vielfach<br />
eine Verengung des governance-Begriffes auf Aspekte der administrativen<br />
governance (effizientes und transparentes Verwaltungssystem<br />
etc.) statt, während der Stellenwert der politischen<br />
governance (Respektierung demokratischer Prinzipien,<br />
Einhaltung politischer Menschenrechte etc.) vernachlässigt<br />
wird (Kielwein 2005). Zum anderen sind die angenommenen<br />
Wirkungsketten grundsätzlich unterschiedlich. So argumentiert<br />
Sachs, dass viele Teile Afrikas südlich der Sahara »besser<br />
regiert« würden als dies die Einkommenssituation vermuten<br />
199
lasse. <strong>Die</strong>sem Argument wird allerdings von einigen Teilnehmern<br />
der Debatte ausdrücklich widersprochen. Empirische<br />
Auswertungen zeigen demnach, dass die unterstellte positive<br />
Wirkung eines höheren Einkommens auf die governance-<br />
Qualität unzulässig ist (vielmehr in umgekehrter Richtung<br />
wirkt) und die governance-Qualität in der Region im Durchschnitt<br />
keinesfalls im Hinblick auf die Einkommenshöhe »relativ<br />
gut« ist (Kraay 2005, 12).<br />
Wie viel Hilfe hilft Afrika südlich der Sahara?<br />
Im Jahr 2004 stellte die internationale Gebergemeinschaft nach<br />
Angaben des Entwicklungsausschusses (DAC) der Organisation<br />
für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit<br />
(OECD) insgesamt 79,5 Mrd. US-$ ODA zur Verfügung; auf<br />
Afrika südlich der Sahara entfielen hiervon 25,5 Mrd. US-$.<br />
<strong>Die</strong>s entspricht einem Anteil von 32 %, wobei der Anteil Afrikas<br />
südlich der Sahara eine zunehmende Tendenz aufweist (OECD<br />
2006, 212ff.). <strong>Die</strong> wichtigsten bi- bzw. multilateralen Geber in<br />
der Region waren 2003/2004 in dieser Reihenfolge: die USA,<br />
Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande<br />
bzw. die International Development Association (IDA) der<br />
Weltbank und die EU-Kommission. Einige Geber stellen den<br />
größten Teil ihrer ODA für Afrika südlich der Sahara zur Verfügung,<br />
was sich etwa bei Frankreich mit den kolonialen Beziehungen<br />
erklären lässt, zum Teil aber auch einem armutsbasierten<br />
Ansatz folgt. Der ganz überwiegende Teil der bilateralen<br />
und etwa 40 % der multilateralen ODA wird als nicht-rückzahlbarer<br />
Zuschuss (grant) bereitgestellt.<br />
<strong>Die</strong> ODA-Abhängigkeit der Region ist sehr hoch. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit<br />
belegen verschiedene Indikatoren:<br />
ODA ist die wichtigste externe Finanzierungsquelle für<br />
Afrika südlich der Sahara. <strong>Die</strong> Finanzzuflüsse setzen sich<br />
zu 55 % aus ODA, zu 25 % aus ausländischen Direktinvesti-<br />
200
tionen (die sich auf sehr wenige Länder und Sektoren konzentrieren)<br />
und zu rund 15 % aus Überweisungen von Arbeitsmigranten<br />
in die Region (sowie 5 % sonstigen privaten<br />
Zuflüssen) zusammen.<br />
Das Verhältnis der ODA zum Bruttonationaleinkommen<br />
(BNE) ist mit 6,24 % hoch (1,16 % für alle Entwicklungsländer).<br />
Für eine Reihe von Ländern liegt dieser Anteil sogar<br />
deutlich über 20 % (Mosambik 60,3 %; Sierra Leone 47,0 %;<br />
Guinea-Bissau 30,5 %). Der ODA-Anteil an den öffentlichen<br />
Budgets ist nochmals höher und beträgt teilweise deutlich<br />
mehr als 50 %.<br />
Rechnerisch entfällt ein Pro-Kopf-Betrag von 34,5 US-$<br />
(2003) auf Afrika südlich der Sahara (im Durchschnitt für<br />
alle Entwicklungsländer: 14,2 US-$).<br />
<strong>Die</strong> derzeitige internationale Diskussion geht überwiegend<br />
davon aus, dass das ODA-Niveau für Afrika südlich der Sahara<br />
völlig unzureichend ist. Im Hinblick auf die Erreichung<br />
der MDGs wird mehrheitlich eine massive Erhöhung für notwendig<br />
erachtet. Der CFA-Bericht errechnet einen zusätzlichen<br />
jährlichen Bedarf von 25 Mrd. US-$ bis 2010 und weiteren jährlichen<br />
25 Mrd. US-$ bis 2015. Der Sachs-Bericht geht von einem<br />
ODA-Bedarf (für alle Regionen) in Höhe von 135 Mrd. US-$ bis<br />
zum Jahr 2006 und von 195 Mrd. US-$ bis zum Jahr 2015 aus.<br />
Grundsätzlich sind die Argumente der Befürworter einer<br />
ODA-Aufstockung plausibel. Allerdings gilt es, auch die möglichen<br />
Risiken einer solchen Strategie zu beachten. Probleme,<br />
die mit einer hohen ODA-Abhängigkeit bzw. einer massiven<br />
ODA-Erhöhung verbunden sind, können vielfältig sein (Kraay<br />
2005; Bräutigam/Knack 2004; Faust/Leiderer 2006; Asche 2006;<br />
Kielwein 2005):<br />
Ein höherer Ressourcenzufluss von außen kann nationale<br />
Mobilisierungsbemühungen schwächen. Es kann gegebenenfalls<br />
leichter sein, ODA einzuwerben, als eigene Finanzierungssysteme<br />
aufzubauen und zu unterhalten.<br />
201
Mangelnde finanzielle Ressourcen müssen nicht das Kernproblem<br />
eines Landes oder in einem Bereich sein. Erfolgreiche<br />
Politiken und die Funktionsfähigkeit von Institutionen<br />
hängen nicht von den zur Verfügung stehenden materiellen<br />
Ressourcen ab.<br />
Der relative Nutzen von ODA nimmt ab, wenn das Verhältnis<br />
von ODA zum BNE ein bestimmtes Verhältnis erreicht.<br />
<strong>Die</strong>ser Grenznutzen wird bei etwa 25–30 % des BNE gesehen.<br />
Der Sinn solcher Grenzwerte ist allerdings umstritten.<br />
In Ländern mit schlechter governance können massiv höhere<br />
ODA-Zuflüsse dysfunktional wirken (Stützung neopatrimonialer<br />
Strukturen etc.), vergleichbar etwa mit möglichen<br />
negativen Konsequenzen durch hohe Erdöl- oder Diamanteneinnahmen.<br />
Untersuchungen (unter anderem des Internationalen Währungsfonds)<br />
zeigen höhere Schwankungen und eine geringere<br />
Verlässlichkeit von ODA im Vergleich zu anderen Ressourcenzuflüssen.<br />
ODA kann daher tendenziell die Budgetmanagementfähigkeiten<br />
der Partnerländer und ihre<br />
Planungsbemühungen untergraben.<br />
Massive Finanzzuflüsse können die Exportkonkurrenzfähigkeit<br />
mindern, indem sie zu einer Wechselkursaufwertung<br />
beitragen (dutch disease).<br />
Mit höheren ODA-Zuflüssen sind also auch Risiken verbunden.<br />
<strong>Die</strong>se sprechen nicht prinzipiell gegen eine Aufstockung,<br />
wohl aber für eine ausreichende Beachtung der politischen,<br />
institutionellen und technischen Absorptionsfähigkeit.<br />
Wie wichtig ist Governance<br />
in Afrika südlich der Sahara?<br />
Untersuchungen zeigen, dass good governance die wirtschaftliche<br />
Leistungsfähigkeit (Wachstum) positiv beeinflusst und in<br />
einem engen konstruktiven Wechselverhältnis zur Anfälligkeit<br />
202
für Gewaltkonflikte steht. <strong>Die</strong> Bemühungen um Transparenz<br />
der governance performance haben in den vergangenen Jahren<br />
zugenommen. Neben Instrumenten wie dem Country Policy<br />
and Institutional Assessment (CPIA) der Weltbank hat die UN-<br />
Wirtschaftskommission für Afrika (UNECA) 2004 einen ersten<br />
empirischen Governance Report vorgelegt. Der Bericht kommt<br />
– ähnlich wie andere – zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt<br />
Fortschritte erkennbar sind (etwa im Hinblick auf demokratische<br />
Transition, politische Inklusion, Rechenschaftsstrukturen<br />
und öffentliches Budgetmanagement), aber weiterhin unbefriedigende<br />
Bereiche (etwa bei demokratischen governance-<br />
Strukturen, administrativen Kapazitäten, der Unabhängigkeit<br />
der Justiz) existieren.<br />
Eine besondere Rolle hat der so genannte African Peer Review<br />
Mechanism im Rahmen von NEPAD (New Partnership for<br />
Africa’s Development), zu dem sich bislang 26 afrikanische Länder<br />
verpflichtet haben und dessen erste Ergebnisse seit Anfang<br />
2006 vorliegen.<br />
Wirksamere Entwicklungspolitik<br />
Alle relevanten Dokumente, die eine Steigerung der ODA-<br />
Zuflüsse nach Afrika südlich der Sahara empfehlen, betonen<br />
gleichzeitig die Notwendigkeit, ihre Qualität und Wirksamkeit<br />
zu verbessern. Mit der Paris Declaration haben die Geber einen<br />
Konsens in dieser Diskussion erarbeitet. Verschiedene Empfehlungen,<br />
etwa von Jeffrey Sachs und der CFA, gehen über<br />
diesen Konsens hinaus.<br />
Es erweist sich zunehmend eine Doppelstrategie als notwendig:<br />
Länder mit schwierigen Rahmenbedingungen – insbesondere<br />
aufgrund von bewaffneten Konflikten oder besonders<br />
schlechter governance (auto- und kleptokratische Regime) – sind<br />
dabei von solchen Fällen zu unterscheiden, die glaubwürdige<br />
Bemühungen vor allem zur Erreichung der MDGs unterneh-<br />
203
men. Allerdings sind die meisten Länder weder ausschließlich<br />
und eindeutig als »negative« oder »positive« Fälle einzuordnen;<br />
es zeigen sich eine Vielzahl von abgestuften Situationen<br />
und vielfach sogar widersprüchliche Entwicklungen innerhalb<br />
eines Landes (gute Armutspolitik bei gleichzeitigen politischen<br />
Legitimitätsdefiziten etc.).<br />
In Systemen mit schwierigen Rahmenbedingungen können<br />
solche entwicklungspolitischen Ansätze im Vordergrund stehen,<br />
die eine direkte Bereitstellung von sozialen Grunddienstleistungen<br />
verfolgen oder über nationale zivilgesellschaftliche<br />
Akteure (Kirchen etc.) Maßnahmen fördern sowie gleichzeitig<br />
Anreize zur Verbesserung der governance-Qualität etablieren.<br />
Unter günstigen Voraussetzungen ist es dagegen zunehmend<br />
wichtig, die Eigenanstrengungen der Partner direkt zu<br />
unterstützen und damit ein neues Grundverhältnis der Geber-<br />
und Partnerseite zu etablieren. In diesen Fällen können Programmfinanzierungen<br />
eine wichtige Rolle spielen. <strong>Die</strong> bereits<br />
existierenden Strukturen der Partner für Planung (beispielsweise<br />
Budgetplanungsprozesse), Umsetzung (zum Beispiel<br />
Ausschreibungsverfahren) und Monitoring (Evaluierungen<br />
etc.) sollten der Weg sein, über den ODA eingesetzt wird.<br />
Parallel strukturen und projektbezogenes Vorgehen sind vor<br />
diesem Hintergrund nicht sinnvoll, weil die damit verbundenen<br />
Transaktionskosten hoch sind und die Partnerseite in ihrer<br />
Fähigkeit geschwächt wird, die Vielzahl der Akteure und unterschiedlichen<br />
Ansätze sinnvoll zu koordinieren. Empfehlungen<br />
beziehen sich hier unter anderem auf die Notwendigkeit zum<br />
pooling der Mittel verschiedener Geber, zum Abbau der Personalentsendung<br />
aus den Geberländern sowie zur Nutzung von<br />
Mitteln der Technischen Zusammenarbeit für direkte Anreize<br />
der lokalen Lohnstrukturen (salary enhancement programmes).<br />
Entwicklungspolitik ist mit Blick auf viele Länder Afrikas<br />
südlich der Sahara das wichtigste Gestaltungselement für externe<br />
Akteure. ODA ist in den meisten Ländern der Region ein<br />
zentraler Hebel. Sie kann eine wichtige Rolle bei der Überwin-<br />
204
dung der Entwicklungsdefizite und bei der Annäherung an die<br />
MDGs spielen. Insofern ist die Debatte über erhöhte Ressourcenzuflüsse<br />
in die Länder der Region wichtig und grundsätzlich<br />
richtig.<br />
ODA kann einen wichtigen Beitrag leisten, um leistungsfähige<br />
Länder (capable states) in Subsahara-Afrika zu unterstützen.<br />
<strong>Die</strong> zentrale Frage besteht darin, wie durch ODA Anreize<br />
für good governance geschaffen und für bad governance vermieden<br />
werden. Ressourcenzuflüsse allein stellen nicht sicher,<br />
dass Entwicklungsdefizite in einem Land besser gelöst werden<br />
können. Vielmehr besteht die Gefahr falscher Anreize. <strong>Die</strong> derzeitige<br />
Debatte geht dagegen von der Annahme besserer governance<br />
durch Ressourcenzuflüsse aus. <strong>Die</strong>se Argumentationskette<br />
ist irreführend, weil sie die entscheidende Bedeutung des<br />
Einflusses von governance einzugrenzen versucht.<br />
Höhere Leistungen sind damit nicht prinzipiell in Frage gestellt,<br />
sondern die Betonung liegt auf dem »richtigen« und ggf.<br />
schrittweisen Einsatz von mehr ODA. Ein höherer Anteil von<br />
Afrika südlich der Sahara an der gesamten ODA – mindestens<br />
50 % wurde von der G8-Gruppe im Jahr 2002 empfohlen – ist<br />
eine durchaus sinnvolle Vorgabe. Vor diesem Hintergrund hat<br />
die Debatte über eine wirksamere ODA eine große Berechtigung.<br />
In den Ländern, die über verantwortliche governance-<br />
Strukturen verfügen, deren eigene Politiken gefördert werden<br />
können, geht es darum, die jeweiligen Strukturen zu nutzen<br />
und nicht durch eine Vielzahl unterschiedlicher Geber mit eigenen<br />
Ansätzen und Apparaten zu überfordern.<br />
Zukünftig wird es noch wichtiger werden, für Länder mit<br />
schlechter governance und fragilen Strukturen sinnvolle andere<br />
Ansätze für ODA zu finden (Klingebiel 2006). <strong>Die</strong>s gilt zum<br />
einen, weil diese etwa ein Drittel der Länder der Region ausmachen.<br />
Zum anderen sind die Folgen eines Disengagements<br />
für die Länder selbst und für die jeweilige Region kritisch. Hier<br />
sind andere Ansätze und Instrumente erforderlich, etwa die<br />
Nutzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder die Schaf-<br />
205
fung direkter <strong>Die</strong>nstleistungen für Zielgruppen, um eine wirksame<br />
Entwicklungspolitik zu betreiben.<br />
Literatur<br />
Asche, Helmut, 2006: Durch einen Big Push aus der Armutsfalle? Eine<br />
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Sachs, Jeffery et al., 2004: Ending Africa’s Poverty Trap (Brookings Papers<br />
on Economic Activity, Nr. 1/2004). Washington D.C.<br />
UN <strong>Millennium</strong> Project, 2005: Investing in Development. A Practical Plan<br />
to Achieve the <strong>Millennium</strong> Development Goals. Report to the UN Secretary<br />
General, New York.<br />
World Bank, 2005: Capacity Building in Africa. Washington, D.C.<br />
206
ROSS HERBERT<br />
Wachstumsziele statt <strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Afrika braucht eine andere Reformagenda<br />
Mit Begeisterung haben die Vereinten Nationen, Geberländer<br />
und -organisationen, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten<br />
die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />
Goals, MDGs) als wichtiges Instrument im weltweiten<br />
Kampf gegen die Armut begrüßt. Doch eine grundlegende<br />
Frage wurde weder gestellt noch beantwortet: Wird die Verfolgung<br />
der MDGs Entwicklung unterstützen oder ihr schaden,<br />
insbesondere in Afrika?<br />
<strong>Die</strong> Begründung für die Festsetzung von Zielen zur Verringerung<br />
von Armut scheint ebenso einfach wie einleuchtend.<br />
<strong>Die</strong> Welt hat eine Vorliebe für große Versprechungen – um<br />
sie dann nicht zu erfüllen. Und ein Großteil der öffentlichen<br />
Entwicklungsgelder nützt den Vertragspartnern aus der entwickelten<br />
Welt, fließt in verschwenderische, nicht nachhaltige<br />
Projekte oder wird von den Empfängerregierungen veruntreut.<br />
Im Ergebnis hat insbesondere Afrika für die mehr als<br />
eine Billion US-$, die es seit der Unabhängigkeit an Hilfe und<br />
Krediten verbraucht hat, wenig vorzuweisen. <strong>Die</strong> Festsetzung<br />
von Zielen und die Bewertung von Ländern nach ihrer Zielerreichung<br />
ist eine Möglichkeit, um die Entwicklungsindustrie<br />
dazu zu bringen, sich auf tatsächliche Ergebnisse und nicht<br />
nur auf Versprechungen und die Höhe vergebener Gelder zu<br />
konzentrieren. Mit diesem Gedanken haben der Internationale<br />
Währungsfonds (IWF), die Weltbank, UN-Organisationen und<br />
die Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) die<br />
MDGs als einen Wegweiser für Entwicklungsausgaben und als<br />
Messgröße ihrer Wirksamkeit begrüßt.<br />
207
<strong>Die</strong> positive Konnotation der MDGs in der entwicklungspolitischen<br />
Rhetorik ist als Reaktion auf die als herzlos und<br />
ineffizient empfundenen Strukturanpassungsprogramme des<br />
IWF der 1990er Jahre zu verstehen. Um das bedenkenlose<br />
deficit spending und kleptokratische Gebaren der 1970er und<br />
1980er Jahre zu beenden, hatte der IWF fiskalische Disziplin<br />
verordnet und verlangt, die staatlichen Ausgaben drastisch zu<br />
kürzen, die Inflation nicht durch ungehemmtes Geldmengenwachstum<br />
anzuheizen, staatliche Betriebe zu privatisieren und<br />
die Märkte zu liberalisieren. Auch wenn sie notwendig waren,<br />
hat die abrupte Art der Umsetzung der IWF-Reformen bekanntermaßen<br />
einen Rückschlag für die Armen bewirkt. Der IWF<br />
und andere Geber begannen daraufhin, die Verringerung von<br />
Armut als das Hauptziel zu verkünden. <strong>Die</strong> MDGs waren der<br />
Kulminationspunkt eines Richtungswandels im Denken – weg<br />
von der Korrektur makroökonomischer Größen hin zur Linderung<br />
der Auswirkungen von Armut.<br />
Zweifellos haben die MDGs zu einer konstruktiven globalen<br />
Debatte darüber beigetragen, wie die Entwicklungszusammenarbeit<br />
effektiver gemacht werden kann. <strong>Die</strong> Ära des Kalten<br />
Krieges, als Loyalitäten im Kampf zwischen Ost und West häufig<br />
trotz offensichtlicher Verschwendung und Korruption über<br />
die Vergabe von Entwicklungsgeldern entschieden, ist vorüber.<br />
Dennoch haben die MDGs negative Auswirkungen auf die<br />
Entwicklungsanstrengungen.<br />
<strong>Die</strong> MDGs können Afrikas<br />
wirkliche Probleme nicht lösen<br />
Das übergeordnete Problem ist, dass die MDGs eine Art politische<br />
Tarnung bieten, die die Aufmerksamkeit von der wichtigeren<br />
Frage ablenkt, warum Entwicklungsorganisationen<br />
keine langfristigen Ergebnisse erzielen. Um die Diskussion<br />
und Verfolgung der MDGs ist eine regelrechte Industrie ent-<br />
208
standen. Websites und Bücher widmen sich ihnen. Mitarbeiter<br />
von Hilfsorganisationen sind für sie verantwortlich, Statistiker<br />
messen sie. Eine Google-Suche ergab 7.130.000 Internetseiten<br />
zu diesem Thema. All dies verbindet sich zu einem Nebelvorhang,<br />
hinter dem die realen Fragen von Entwicklungszusammenarbeit<br />
und Entwicklung verschwinden.<br />
Auf politischer Ebene erleichtern es die MDGs Politikern<br />
und Entwicklungsorganisationen, den harten Fragen auszuweichen.<br />
Anstatt zu diskutieren, warum die Organisationen<br />
schlecht konzipierte Projekte auswählen, oder die Anreize für<br />
Mitarbeiter zu überdenken, die zu unangemessenen Projektentscheidungen<br />
führen, bläst die Hilfsindustrie ihre Arbeit mit<br />
immer neuer Armutsbekämpfungsrhetorik auf.<br />
Doch leider konzentrieren sich die MDGs eher auf Symptome<br />
als auf Ursachen; sie halten Regierungen an, Erfolge über<br />
die sichtbaren Zeichen von Armut – niedrige Einkommen,<br />
Hunger, Krankheit – zu messen. <strong>Die</strong> MDGs haben enorme Entwicklungsanstrengungen<br />
ausgelöst. Aber numerische Ziele<br />
führen stets zu unbeabsichtigten Verhaltensweisen. Wenn beispielsweise<br />
ein Händler auf der Grundlage der Anzahl seiner<br />
Verkaufsabschlüsse unabhängig von deren Wert bezahlt wird,<br />
wird er mehr kleine als große Abschlüsse anstreben und so<br />
möglicherweise höhere Gesamterlöse verfehlen. Wird er nur<br />
für seinen Gesamterlös entlohnt, wird er kleine Kunden vielleicht<br />
als Zeitverschwendung ignorieren. Abhängig von der<br />
Branche können sich beide Anreizsysteme als verheerend erweisen.<br />
Genauso ist es mit der Armut.<br />
In schlecht verwalteten Ländern, deren Bürokratien über<br />
Generationen hinweg ihre Leistung niemals bewerten lassen<br />
mussten, erscheint eine solche Messung zunächst als gute Idee.<br />
Doch die MDGs vereinfachen übermäßig. Gelingt es beispielsweise<br />
Ländern, Mädchen in die Schule zu bringen, heißt das,<br />
dass sie die Gleichheit der Geschlechter und die Stärkung von<br />
Frauen erfolgreich gefördert haben? Solch eine Vereinfachung<br />
209
kann dazu führen, dass voreilig Erfolge verkündet werden, es<br />
kann aber auch die Fehlleitung von Ressourcen bedeuten.<br />
Im Fall von Bildung erscheint beispielsweise das Ziel allgemeiner<br />
Grundschulbildung politisch attraktiv, doch führt<br />
es zwangsläufig zu Entwicklung? Könnte Afrika nicht mehr<br />
Wachstum erreichen, wenn einige der Finanzmittel für die<br />
Grundschulbildung in technische Schulen umgeleitet würden,<br />
um jene Maurer, Zimmerleute und Elektriker hervorzubringen,<br />
die auf dem Kontinent chronisch knapp sind? In einer Welt unbegrenzter<br />
Ressourcen ist mehr Bildung besser als weniger.<br />
Sind die Ressourcen aber begrenzt, ist es nötig, die Primärbildung<br />
gegen die sekundäre, berufliche und tertiäre Bildung auszubalancieren.<br />
Durch die Fokussierung auf die Bruttoschülerzahl<br />
vernachlässigt Afrika ein noch wichtigeres Problem: Seine<br />
Schulen weisen bei der Wissensvermittlung an die Schüler<br />
eine ärmliche Bilanz auf. Viele Faktoren tragen hierzu bei, unter<br />
anderem unqualifizierte Lehrer, schlechte Lehreraus- und<br />
-fortbildung, niedrige Gehälter, unfähige Verwaltungen, Versorgungsmangel,<br />
schlechte Bücher und Lehrmittel, Unterricht<br />
in nicht vertrauten Kolonialsprachen sowie Lehrmethoden, die<br />
auf Auswendiglernen beruhen.<br />
Das Beispiel Sambia veranschaulicht das Problem falscher<br />
Schwerpunktsetzung. In der Kolonialzeit wurde an den Eliteschulen<br />
für die Kinder von Kolonialbeamten in Englisch unterrichtet,<br />
während so genannte Eingeborenenschulen sich der<br />
einheimischen Sprachen bedienten. Als Ausdruck politischer<br />
Symbolik verfügte Sambias erste Regierung, dass alle Kinder<br />
in Englisch unterrichtet werden sollten. Niemand wies darauf<br />
hin, dass es zu wenig Lehrer gab und auf dem Lande nur sehr<br />
wenige Familien Englisch sprachen. Dreißig Jahre vergingen,<br />
bevor systematische Bemühungen unternommen wurden, die<br />
Alphabetisierung zu messen. Dann wurde ermittelt, dass drei<br />
Viertel der Grundschulabsolventen funktionale An alphabeten<br />
waren, weil sie den Unterricht in einer Fremdsprache nur über<br />
sich hatten ergehen lassen.<br />
210
Um die Angemessenheit der MDGs zu ermitteln, muss man<br />
zuerst fragen, welches genau die Entwicklungsprobleme sind,<br />
die Afrika aufhalten. Ist der Kontinent weniger konkurrenzfähig,<br />
weil ihm Geld fehlt, oder fehlt ihm Geld, weil es an Produkten<br />
mangelt, die die Leute kaufen wollen, sowie an den<br />
Technologien, die es bräuchte, um mehr aus den natürlichen<br />
Ressourcen zu machen? Unterentwicklung führt zu Müttersterblichkeit,<br />
Tod durch vermeidbare Kinderkrankheiten und<br />
andere Leiden, doch die Heilung dieser Symptome würde<br />
Afrika nicht zwangsläufig das Know-how geben, um als entwickelter<br />
Kontinent dazustehen.<br />
<strong>Die</strong> MDGs werden Afrika nicht entwickeln, weil sie nicht<br />
auf Wachstum und Produktivität gerichtet sind. Ohne Wachstum<br />
wird Afrika der Armut niemals entkommen. Stattdessen<br />
wird es einer ewigen Eindämmung der schlimmsten Auswirkungen<br />
von Armut durch Almosen entgegensehen. Das ist<br />
kein Rezept für erfolgreiche Eigenständigkeit.<br />
Selbst wenn man annimmt, dass alle MDGs bis zum Zieljahr<br />
2015 erreicht werden, ist es möglich und sogar wahrscheinlich,<br />
dass Afrika dann wirtschaftlich weiter zurückliegt als heute.<br />
Selbst wenn Afrika die MDGs übertreffen und sich seinen Konflikten,<br />
Ordnungs- und Bildungsproblemen zuwenden würde,<br />
ist anzunehmen, dass sich die übrige Welt in weit schnellerem<br />
Tempo entwickeln und Afrika auf den wenigen Märkten, die<br />
der Kontinent hat, ausstechen würde. China hat die nötige<br />
Kapazität, niedrige Löhne und eine solide Infrastruktur, um<br />
Afrikas bescheidene verarbeitende Industrie auszulöschen.<br />
Und die konkurrenzfähigen tropischen Landwirtschaftsproduzenten<br />
in Lateinamerika und Südostasien könnten Afrika<br />
die Märkte für Kaffee, Tee, Kakao, Sisal und Gemüse wegnehmen,<br />
auf denen Afrika einen halbwegs festen Stand hat.<br />
<strong>Die</strong> MDGs haben sich des entwicklungspolitischen Denkens<br />
bemächtigt, weil die marktorientierten Strukturreformen<br />
des IWF kein schnelles Wachstum auslösten und in vielen Fällen<br />
die Arbeitslosigkeit erhöhten. Viele Politiker und Analyti-<br />
211
ker folgerten fälschlich, Afrika sei ein Sonderfall und die Konzentration<br />
auf Wachstum könne hier nicht wie überall sonst auf<br />
der Welt funktionieren.<br />
<strong>Die</strong> Ära der strukturellen Anpassung erwies die Wachstumsstrategien<br />
aber nicht als falsch. Vielmehr zeigte sie, dass<br />
strukturelle Anpassung notwendig, aber nicht hinreichend ist.<br />
Sie konzentrierte sich auf die Wiederherstellung finanzwirtschaftlicher<br />
Gesundheit, doch es hätte zusätzlicher Reformen<br />
bedurft, um Verschwendung, Bürokratie, schlechte Infrastruktur,<br />
bad governance und unzureichende Fertigkeiten anzugehen,<br />
die Afrikas Wirtschaft lähmen.<br />
<strong>Die</strong> Ausrichtung der afrikanischen Entwicklungs- und Regierungsaktivitäten<br />
auf die simplifizierenden MDGs wird mit<br />
hohen Opportunitätskosten einhergehen. Der Kontinent wird<br />
das nächste Jahrzehnt und alle verfügbaren Ressourcen aufwenden<br />
– und dennoch nicht mit den Gesundheits-, Hunger-<br />
und Bildungssymptomen der Armut fertig werden. <strong>Die</strong> MDGs<br />
werden die Aufmerksamkeit von Investitionen ablenken, die<br />
das Wachstum und den Arbeitsmarkt direkt ankurbeln und somit<br />
in Zukunft mehr Ressourcen für Sozialprogramme schaffen<br />
könnten.<br />
Kernpunkte für afrikanische<br />
<strong>Millennium</strong>-Wachstumsziele<br />
Wie aber könnten stärker wachstumsorientierte Ziele aussehen?<br />
Um die Debatte anzufachen, folgt hier ein erster Entwurf eines<br />
solchen Sets afrikanischer <strong>Millennium</strong>-Wachstumsziele.<br />
1. Stärkung der gewerblichen Infrastruktur:<br />
Verdoppelung der Zahl schlaglochfreier und dem A-<br />
Standard entsprechender Straßen. Investoren führen<br />
immer wieder die schlechte Qualität und die hohen Kosten<br />
des afrikanischen Transportwesens als ein Haupthin-<br />
212
dernis für die Konkurrenzfähigkeit auf dem Kontinent<br />
und auf den Exportmärkten an.<br />
Investitionen in neue Elektrizitätswerke und die Verteilungsinfrastruktur,<br />
um innerhalb von fünf Jahren<br />
die Lastverteilung zu gewährleisten und alle Stromausfälle<br />
zu beseitigen. Firmen im Allgemeinen und<br />
verarbeitende Betriebe im Besonderen verweisen auf<br />
die häufigen Energieausfälle in afrikanischen Ländern<br />
als ein wirtschaftliches Hindernis. Eine Untersuchung in<br />
Uganda ergab, dass 25 % des Investitionskapitals in den<br />
Kauf privater Generatoren floss, weil die staatlichen Versorger<br />
zu unzuverlässig waren.<br />
Verdoppelung der Hafenkapazitäten und des Tempos<br />
bei der Zollabfertigung bis 2010. Afrikanische Häfen<br />
sind chronisch langsam, ineffizient und haben eine unberechenbare<br />
Zollabfertigung. Eine Erhöhung der Effizienz<br />
würde den Umschlag erhöhen, die Transportkosten<br />
senken, die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte steigern<br />
und die Kapitalkosten für die im Transit befindlichen<br />
Güter senken.<br />
2. Investitionen in die ländliche Wirtschaft:<br />
Verdoppelung der operativen Ausgaben und der Reallöhne<br />
in landwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen.<br />
Viele Jahre lang hat Afrika die Investitionen in<br />
landwirtschaftliche Forschung und die Aus- und Weiterbildung<br />
von Bauern gekürzt. Angesichts der Tatsache,<br />
dass zwei Drittel aller Afrikaner in ländlichen Gebieten<br />
leben, können Investitionen in Forschung und Entwicklung<br />
von neuen landwirtschaftlichen Verfahren die Nahrungsmittelsicherheit<br />
direkt unterstützen, ländliche Einkommen<br />
steigern und die Exporte erhöhen.<br />
Verdoppelung der Kapazitäten für die Lagerung von<br />
Getreide. Afrika leidet unter chronischer Nahrungsmittelunsicherheit;<br />
wechselweise verderben Rekordernten<br />
213
214<br />
oder es werden hohe Ausgaben für Nahrungsmittel-<br />
Notlieferungen in Dürrezeiten notwendig. Investitionen<br />
in gut organisierte Nahrungsmittellager- und -sicherheitssysteme<br />
könnten die Preise stabilisieren und bäuerliche<br />
Investitionen ermutigen, da die Preise für Bauern<br />
voraussehbarer würden. Verlässlichere Einkommen erlauben<br />
es den Bauern, stärker in produktive Landwirtschaftstechnologien<br />
zu investieren.<br />
Subventionierung des Verkaufs kleiner Bewässerungsanlagen<br />
auf kommerzieller Basis. Indien, Bangladesch,<br />
Malawi und andere Länder haben dramatische<br />
Erhöhungen der Produktivität und Wohlfahrt von Kleinbauern<br />
durch den kommerziellen Verkauf subventionierter<br />
Kleinbewässerungsanlagen erreicht. Sie ermöglichen<br />
auch in trockenen Jahren die Produktion, erlauben<br />
Mehrfachernten und höhere Ernteerträge.<br />
Steuerliche Anreize für Exporteure und verarbeitende<br />
Industrie mithilfe von contract farming. Viele kommerzielle<br />
Agrarerzeugnisse müssen vor dem Export zentral<br />
weiterverarbeitet werden. Während Regierungen sich<br />
damit abmühen, landwirtschaftliche Aus- und Weiterbildung,<br />
Vorleistungen und Kredite bereitzustellen, bieten<br />
kommerzielle Verarbeitungsbetriebe eine effizient<br />
arbeitende zentrale Anlaufstelle, die Kleinbauern beim<br />
Einstieg in die kommerzielle Landwirtschaft hilft. <strong>Die</strong>se<br />
Firmen bilden Bauern aus, sorgen für das richtige Maß<br />
an Vorleistungen und bieten Kredite sowie Marktzugang<br />
zu vereinbarten Preisen. <strong>Die</strong>se Kombination hat<br />
große Zuwächse bei den ländlichen Einkommen gebracht.<br />
Contract farming sollte durch steuerliche Anreize<br />
und infrastrukturelle Unterstützung gefördert werden.<br />
Erfolgreiche Beispiele gibt es in der Tabak-, Kaffee- und<br />
Teeindustrie. South African Breweries bedient sich in<br />
Uganda eines solchen Modells für die Produktion des<br />
für sein Bier benötigten Getreides. Zu anderen erfolg-
eichen Firmen gehören Clark Cotton in Sambia, die Blue<br />
Skies-Fruchtexporteure in Ghana und verschiedene Verarbeitungsbetriebe<br />
in Kenia und Südafrika.<br />
Investitionen in Molkereibetriebe, Kühllager und<br />
Vermarktung, um den Wert von Afrikas großen Viehbeständen<br />
zu erschließen. Afrika verfügt über ein erhebliches<br />
heimisches Wissen beim Management von<br />
Viehbeständen und großen Herden, realisiert bei Milchprodukten<br />
aber nur sehr wenig von ihrem Wert. Investitionen<br />
in Molkereigenossenschaften könnten die ländlichen<br />
Einkommen und die Nahrungsmittelsicherheit<br />
verbessern.<br />
Schaffung oder Ausweitung von Forschungs- und<br />
Zertifizierungseinrichtungen, um Bauern zu unterstützen,<br />
die geforderten Standards bei Agrarexporten<br />
(Pflanzengesundheit, Qualität und Verpackung) zu<br />
erfüllen. Afrikas Klima bietet das Potenzial für erheblich<br />
größere Agrar-, Vieh- und Fischexporte, doch fehlt<br />
Kleinbauern die Möglichkeit, den Nachweis zu führen,<br />
dass ihre Produkte den Standards der Importländer entsprechen.<br />
Investitionen in genossenschaftliche nationale<br />
oder regionale Prüfzentren und von ihren Mitgliedern<br />
getragene Vermarktungsorganisationen könnten Kleinbauern<br />
helfen, sich über lukrative ausländische Märkte<br />
zu informieren und Zugang zu ihnen zu erhalten. Während<br />
sich staatliche Vermarktungs- und Prüfmonopole<br />
als schwerfällig und unflexibel gezeigt haben, können<br />
Bauernorganisationen und Genossenschaften mit staatlicher<br />
Unterstützung bei Prüf- und Forschungszentren<br />
das ungenutzte Potenzial afrikanischer Bauern durchaus<br />
erschließen.<br />
Verdoppelung der Investitionen in ländliche Zubringerwege.<br />
Kleinbauern können den Wert ihrer Erzeugnisse<br />
nur realisieren, wenn sie diese auf den Markt bringen<br />
können. Investitionen in ländliche Zubringerwege<br />
215
216<br />
können den Marktzugang erweitern und die ländliche<br />
Entwicklung vorantreiben.<br />
3. Investitionen in Ausbildung und Forschung: <strong>Die</strong> MDG-<br />
Konzentration auf Grundschulbildung wird wenig dabei<br />
helfen, Afrika wettbewerbsfähig zu machen. Afrika kann<br />
nur zum Rest der Welt aufschließen und die Konkurrenzfähigkeit<br />
seiner Produkte erhöhen, wenn es in technische<br />
Fähigkeiten investiert. Ein konzertiertes Programm zur Ermittlung<br />
und Korrektur des Mangels an Fertigkeiten wird<br />
das Wachstum fördern.<br />
Verdreifachung des jährlichen Ausstoßes an qualifizierten<br />
und angelernten Arbeitskräften. Afrikanische<br />
Firmen berichten von einem großen Mangel an technischen<br />
Arbeitskräften, darunter Elektriker, Zimmerleute,<br />
Maurer, Installateure und Mechaniker, die sie für<br />
den Auf- und Ausbau ihrer Unternehmen bräuchten.<br />
Direktinvestitionen in technische Schulen sowie steuerliche<br />
Anreize zur Ausbildung für Unternehmen können<br />
die Zahl dieser wertvollen Arbeitskräfte steigern.<br />
Verdreifachung der Zahl von Universitätsabsolventen<br />
in Buchhaltungswesen und Projektmanagement. Das<br />
UN-<strong>Millennium</strong>-Projekt und die Commission for Africa<br />
stellten, neben anderen, einen erheblichen Kapazitätsmangel<br />
beim Finanz- und Projektmanagement und im<br />
Buchhaltungswesen fest. <strong>Die</strong>s vermindert Afrikas Fähigkeit,<br />
Entwicklungsgelder nutzbar zu machen, und ist<br />
ein Hindernis für das Wachstum von Unternehmen.<br />
Verabschiedung von Gesetzen zur gemeinsamen Nutzung<br />
von Patenten und Lizenzen, damit Hochschulen<br />
mit der Privatwirtschaft in der industriellen und landwirtschaftlichen<br />
Forschung zusammenarbeiten können.<br />
Der Erfolg der elektronischen, chemischen, pharmazeutischen,<br />
landwirtschaftlichen und anderer Industrien<br />
in den USA, Europa, Brasilien und Asien basierte
auf enger Zusammenarbeit zwischen Universitäten und<br />
der Industrie. Sie wurden durch Gesetze dazu gebracht,<br />
die die gemeinsame Verwendung von Lizenzen und Patenten<br />
sowie Joint Ventures zulassen. Afrika sollte dasselbe<br />
tun.<br />
Halbierung der Studiengebühren für technische, natur-<br />
und ingenieurwissenschaftliche Fächer. Afrika<br />
bringt zu viele Absolventen in den Geistes- und Sozialwissenschaften<br />
hervor, während an technischen und naturwissenschaftlichen<br />
Fähigkeiten Mangel herrscht. Anreize<br />
und differenzierende Studiengebühren könnten<br />
mehr Studenten dazu bringen, für die wirtschaftliche<br />
Entwicklung wichtige Studienfächer zu wählen.<br />
Steigerung der Investitionen in den Mathematik- und<br />
naturwissenschaftlichen Unterricht auf Sekundarschulebene.<br />
Der Mangel an naturwissenschaftlichen<br />
Universitätsabsolventen ist die Folge von mangelndem<br />
und mangelhaftem Unterricht in den Sekundarschulen.<br />
Höhere Investitionen in Mathematik und Naturwissenschaften<br />
auf Sekundarschulebene werden sich für Afrika<br />
auszahlen.<br />
4. Erhöhung von Krediten und Ersparnissen: Schätzungsweise<br />
40 % von Afrikas Einnahmen werden im Ausland<br />
investiert, während es afrikanischen Firmen an Krediten<br />
mangelt. Afrika kann das Wachstum durch Strategien zur<br />
Förderung von Ersparnissen steigern, aus denen Kredite für<br />
produktive Investitionen vergeben werden können.<br />
Zinssenkung auf 15 % oder weniger innerhalb von<br />
fünf Jahren. Überall auf der Welt senken Regierungen<br />
Zinsen, um Investitionen und Wachstum zu steigern.<br />
Doch die afrikanischen Zinsen sind aufgrund von hohen<br />
Inflationsraten, deficit spending und dem Versuch,<br />
den Außenwert der Währungen zu verteidigen, unerschwinglich<br />
hoch. Ein konzertiertes Programm zur Be-<br />
217
218<br />
schränkung von Defiziten, Begrenzung von Inflation<br />
und Zinssenkungen würde das Kreditvolumen für die<br />
industrielle Expansion erhöhen.<br />
Stärkung der Bankenaufsicht, um faule Kredite abzuschreiben,<br />
politische Kreditvergabe zu vermeiden und<br />
das Kreditvolumen für produktive Investitionen zu<br />
erhöhen. Afrikanische Banken sind schwach, schlecht<br />
reguliert und oft wegen uneinbringlicher Forderungen<br />
an politisch mächtige Schuldner vom Zusammenbruch<br />
bedroht. Eine bessere Aufsicht würde die Abschreibung<br />
fauler Kredite erleichtern und eine gesunde Kreditvergabepraxis<br />
gewährleisten.<br />
Schaffung eines computergestützten Erfassungssystems<br />
und Registrierung säumiger Schuldner. Banken<br />
scheuen die Kreditvergabe, weil faule Kredite schwer<br />
einzutreiben und Problemschuldner kaum auffindbar<br />
sind. Helfen kann eine computergestützte Erfassung<br />
und ein Register säumiger Schuldner. Beides kann Kreditverluste<br />
verringern und Banken zur verstärkten Darlehensvergabe<br />
veranlassen.<br />
Investition nationaler Pensionsgelder in Afrika statt<br />
in der entwickelten Welt. Afrikanische Pensionsfonds<br />
investieren Milliarden US-$, die auf dem Kontinent produktiv<br />
investiert werden könnten, außerhalb Afrikas.<br />
Einer Schätzung zufolge verfügen die Pensionsfonds für<br />
Staatsangestellte in 14 afrikanischen Ländern über einen<br />
Gesamtwert von 127 Mrd. US-$.<br />
5. Erhöhung der Inlandseinnahmen: Afrika leidet chronischen<br />
Mangel an Mitteln für die Entwicklungsfinanzierung,<br />
könnte aber viel mehr unternehmen, um Mittel für<br />
Wachstum zu mobilisieren.<br />
Besteuerung von Luxusgütern einschließlich teurer<br />
Autos und Konsumelektronik zur Finanzierung zusätzlicher<br />
Investitionen. Werden Luxusautos, Heimki-
nosysteme und importierte Nahrung sowie alkoholische<br />
Getränke für Gourmets wirklich gebraucht? <strong>Die</strong> Erhebung<br />
hoher Steuern auf solche Waren würde die Einnahmen<br />
erhöhen und helfen, Mittel für produktivere Ausgaben<br />
bereitzustellen.<br />
Halbierung der Regierungsausgaben für die Nutzung<br />
von Mobiltelefonen, für Fahrzeuge und internationale<br />
Reisen. Regierungen verschwenden ungeheure Summen<br />
für Luxus. Hier kann gespart werden.<br />
<strong>Die</strong> politische Reformagenda<br />
1. Förderung von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit: <strong>Die</strong><br />
mangelnde Bereitschaft der Banken, Kredite zu vergeben<br />
und das Zögern ausländischer Firmen, zu investieren ist<br />
auch auf das Versagen afrikanischer Gerichte zurückzuführen,<br />
gerechte und schnelle Urteile zu fällen. Investi tionen<br />
in die Kompetenz und Effizienz der Gerichte könnten auch<br />
das Vertrauen der Bürger in das Gemeinwesen verbessern,<br />
denn derzeit sind sie vielerorts mit Bestechungsforderungen<br />
konfrontiert, wenn sie bei der Polizei oder bei Gericht um<br />
Hilfe nachsuchen.<br />
Verdopplung der Kapazität der Gerichte und Drittelung<br />
der Zeit und Kosten für Urteile in Wirtschaftssachen.<br />
2. Abbau von Bürokratie: <strong>Die</strong> jährliche Übersicht der Weltbank<br />
zu den Auswirkungen von Regulierung auf Unternehmen<br />
weist Afrika als den schwierigsten Kontinent für<br />
unternehmerische Aktivitäten aus. Im Durchschnitt dauert<br />
es 433 Tage und erfordert 35,4 Vorgänge, um in Afrika<br />
südlich der Sahara einen Vertrag durchzusetzen. 1 Ein Un-<br />
1 Für die Zahlen vgl. World Bank Doing Business 2005 Online Database:<br />
http://www.doingbusiness.org/CustomQuery (2.8.2006).<br />
219
220<br />
ternehmen zu eröffnen erfordert durchschnittlich 10,84 Vorgänge<br />
und dauert 62 Tage, wobei die Kosten das Dreifache<br />
des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens betragen. 2<br />
Verringerung der für die Unternehmenseröffnung nötigen<br />
Anzahl von Schritten und des Zeitaufwandes um<br />
zwei Drittel.<br />
Verringerung der notwendigen Schritte und des Zeitaufwandes,<br />
um Grundstücke für Wirtschaftsaktivitäten zu<br />
erwerben, um zwei Drittel.<br />
Umwandlung des Grundbesitzes vom gewohnheitsrechtlichen<br />
in freie Rechtstitel bis 2015.<br />
3. Herstellung gleicher Bedingungen für alle wirtschaftlichen<br />
Akteure durch Korruptionsbekämpfung: Korruption<br />
wird regelmäßig als wichtiges Investitionshindernis<br />
in Afrika angeführt. Sie verhindert effiziente unternehmerische<br />
Aktivitäten, verzerrt und verzögert Regierungsentscheidungen<br />
und lenkt Geld aus der produktiven Nutzung<br />
in private Taschen um.<br />
Verdopplung der finanziellen und personellen Ausstattung<br />
von Anti-Korruptions-Behörden, der Rechungshöfe,<br />
Ausschreibungsgremien und Rechnungsprüfungsabteilungen.<br />
2 In China, Afrikas wahrscheinlich größtem Konkurrenten bei Investitionen<br />
und verarbeiteten Produkten, erfordert es nur 13 Vorgänge und 48 Tage,<br />
um ein Unternehmen zu eröffnen, sowie 25 Vorgänge und 241 Tage, um<br />
einen Vertrag durchzusetzen. Der Durchschnitt für die Länder der Organisation<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt<br />
bei 6,5 Vorgängen und 19,5 Tagen für eine Unternehmenseröffnung sowie<br />
19,5 Vorgängen und 225,7 Tagen, einen Vertrag durchzusetzen. In Ost asien<br />
braucht man 8,88 Vorgänge und 34,5 Tage, um ein Unternehmen zu eröffnen,<br />
sowie 26,38 Verfahren und 265,5 Tage, um einen Vertrag durchzusetzen.<br />
(Zu Ostasien zählen hier China, Hongkong, Malaysia, die Philippinen,<br />
Singapur, Thailand, Taiwan und Vietnam.)
Einführung von Ausschreibungsgesetzen, die zu Transparenz<br />
verpflichten.<br />
Verabschiedung von Gesetzen, die Interessenkonflikte<br />
für Staatsangestellte klar benennen und Angehörigen<br />
von Politikern und Staatsdienern die Teilnahme an staatlichen<br />
Ausschreibungen verbieten.<br />
Verabschiedung von Gesetzen, die die vollständige Offenlegung<br />
der Privatvermögen von Parlamentariern,<br />
Ministern, Präsidenten, Richtern und Angehörigen des<br />
höheren öffentlichen <strong>Die</strong>nstes vorschreiben. <strong>Die</strong> Informationen<br />
müssen für die Allgemeinheit und die Medien<br />
zugänglich sein.<br />
Verpflichtung aller Unternehmen, alle direkten oder<br />
über Mittelsmänner vorgenommene Zahlungen an Regierungsbeamte<br />
offen zu legen.<br />
Verabschiedung von Gesetzen, die Bürgern und Medien<br />
den zeitnahen Zugang zu allen Ausschreibungsdokumenten<br />
ermöglichen.<br />
Abschaffung von Zulassungsvoraussetzungen für Journalisten<br />
und Medieneinrichtungen und Entkriminalisierung<br />
von »Ehrverletzungen«.<br />
Zulassung unabhängiger kommerzieller Radio- und<br />
Fernsehanstalten im gesamten Staatsgebiet.<br />
Afrika braucht eine andere Reformagenda<br />
<strong>Die</strong> MDGs sind nicht nur zu einem globalen Leistungsmaß,<br />
sondern zunehmend auch zu einem Wegweiser für Entwicklungsprogramme<br />
geworden. <strong>Die</strong> Ziele werden als politisches<br />
Mantra verwendet, das verhindert, die Fokussierung der Entwicklungszusammenarbeit<br />
zu überprüfen. Afrika hat mehr<br />
Bedürfnisse als es finanzielle Mittel hat – auch angesichts der<br />
jüngsten Versprechungen, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit<br />
zu verdoppeln. Wenn alle neuen Gelder auf die<br />
221
MDGs umgelenkt würden, könnte der Kontinent die schlimmsten<br />
Aspekte seiner Armut mildern – schlechte Gesundheitsversorgung,<br />
unzureichende Bildung und weit verbreiteten Hunger.<br />
Ein solcher Ansatz wird aber nichts dazu beitragen, etwas<br />
an den tiefer liegenden Ursachen der afrikanischen Armut zu<br />
ändern: Der Kontinent ist arm, weil seine Industrien nicht wettbewerbsfähig<br />
und die Kosten zu hoch sind. Steigende Mittel<br />
für die Entwicklungszusammenarbeit stellen eine seltene Gelegenheit<br />
für Afrika dar, in Dinge zu investieren, die seine produktive<br />
Kapazität und Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Statt<br />
sich auf Gesundheitsversorgung, Bildung und Hunger zu konzentrieren,<br />
muss Afrika eine alternative Strategie verfolgen,<br />
die auf die Förderung von Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit<br />
abzielt. <strong>Die</strong>ses Alternativrezept sollte sich auf<br />
konkrete Verbesserungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />
konzentrieren, die den Zugang für Investoren erleichtern,<br />
die Kosten senken, grundlegende, von der Wirtschaft benötigte<br />
öffentliche <strong>Die</strong>nstleistungen verbessern, die Korruption<br />
bekämpfen und die Rechtsstaatlichkeit stärken können.<br />
Afrika sollte nicht seine Sozialprogramme kürzen, aber darf<br />
für sie nicht Maßnahmen hintanstellen, die es zu einem besseren<br />
Wirtschaftsstandort mit mehr Arbeitsplätzen machen.<br />
Übersetzung: Henning Boekle<br />
222
EVELINE HERFKENS, MANDEEP BAINS<br />
Damit die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
nicht nur eine Vision bleiben<br />
Herausforderungen für den Norden<br />
Als sich im September 2000 Staats- und Regierungschefs aus<br />
aller Welt bei den Vereinten Nationen trafen, herrschte Aufbruchstimmung.<br />
<strong>Die</strong> 189 politischen Führer betrachteten es als<br />
dringend, »unsere Mitmenschen – Männer, Frauen und Kinder<br />
– aus den erbärmlichen und entmenschlichenden Lebensbedingungen<br />
der extremen Armut zu befreien«. 1<br />
Dringlich war und ist dieses Anliegen tatsächlich: 1,1 Mrd.<br />
Menschen leiden unter derart extremer Armut, dass sie gezwungen<br />
sind, mit weniger als 1 US-$ am Tag zu überleben.<br />
Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, um ein aktives<br />
Leben führen zu können, und mehr als 100 Mio. Kinder<br />
gehen nicht zur Schule. Und obwohl das Recht auf Leben und<br />
Sicherheit zu den grundlegenden Menschenrechten gehört,<br />
wird dieses Recht durch bewaffnete Konflikte in der ganzen<br />
Welt systematisch verletzt.<br />
Vor diesem Hintergrund unterzeichneten die Staats- und<br />
Regierungschefs die <strong>Millennium</strong>-Erklärung, mit der sie sich<br />
verpflichteten, gemeinsam gegen Armut und Hunger, die Ungleichheit<br />
der Geschlechter, Umweltverschmutzung und HIV/<br />
AIDS zu kämpfen. Sie versprachen auch, den Zugang zu Bildung,<br />
Gesundheitsversorgung und sauberem Trinkwasser<br />
deutlich zu verbessern, und dies alles bis zum Jahr 2015. Mit<br />
1 <strong>Millennium</strong>s-Erklärung der Vereinten Nationen, Resolution der Generalversammlung,<br />
UN/DOC/A/RES/55/2. New York 8. September 2000.<br />
223
der Erklärung gaben sie den Bürgern der Welt ein feierliches<br />
Versprechen, das sich insbesondere in den acht <strong>Millennium</strong>-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong>n (<strong>Millennium</strong> Development Goals, MDGs)<br />
manifestierte.<br />
Mit der Einigung auf die MDGs zeigten die politischen Führer<br />
ein enormes Maß an visionärer Kraft: sie entwickelten die<br />
Vision, unsere Welt wahrhaftig zu verändern, und dies innerhalb<br />
einer Generation. Doch Visionen sind ohne ihre Verwirklichung<br />
nur Illusionen. Wo stehen wir also bei der Verwirklichung?<br />
Fortschritte bei der Umsetzung der MDGs<br />
Nach sechs Jahren der 15-jährigen Umsetzungsperiode kann<br />
man nur von einem langsamen und ungleichmäßigen Fortschritt<br />
sprechen. Wenn es weitergeht wie bisher werden wir –<br />
auf globaler Ebene – nur einige der Ziele erreichen. Und selbst<br />
wenn es Erfolge auf globaler Ebene geben sollte, werden die<br />
ärmsten Länder und die verwundbarsten Bevölkerungsteile<br />
zurückbleiben.<br />
Ein Beispiel hierfür ist das medienwirksame Ziel, den Anteil<br />
der Weltbevölkerung, der von weniger als 1 US-$ am Tag leben<br />
muss, bis 2015 zu halbieren. Wir sind auf gutem Wege, dieses<br />
Ziel auf globaler Ebene zu erreichen. Obwohl dies eine bedeutende<br />
Leistung darstellt und nicht unterschätzt werden sollte,<br />
wird dieses Ziel hauptsächlich durch Entwicklungen in den bevölkerungsreichen<br />
Ländern Indien und China erreicht werden.<br />
Viele Länder – vor allem in Afrika südlich der Sahara – sind<br />
vom erforderlichen Fortschritt weit entfernt.<br />
Das Bild erscheint noch weniger rosig, wenn wir die anderen<br />
Ziele betrachten. Keine Region ist auf dem Weg, alle Ziele<br />
zu erreichen, und weder Südasien noch Afrika südlich der Sahara<br />
sind dabei, auch nur eines der auf menschliche Entwicklung<br />
gerichteten Ziele zu erfüllen, also der Ziele 2 bis 6.<br />
224
Dennoch sollten wir nicht die Hoffnung verlieren. Auch<br />
wenn das Gesamtbild keineswegs befriedigend ist, gibt es einige<br />
ermutigende Zeichen. Beispielsweise können Mosambik<br />
und eine Reihe anderer afrikanischen Länder südlich der Sahara<br />
das Armutsziel erreichen, auch wenn es die Region als<br />
Ganzes verfehlen wird. Zehn afrikanische Länder südlich der<br />
Sahara – einschließlich Ruanda, Uganda, Mali, Mosambik und<br />
Tansania – sind auf dem Wege, das Ziel allgemeiner Grundschulbildung<br />
bis 2015 zu erreichen. Hinzu kommen in Ostasien<br />
und Lateinamerika eine Zunahme der Impfraten bei Kindern<br />
und eine steigende Zahl der Geburten, die von ausgebildetem<br />
Personal begleitet werden. <strong>Die</strong>s wird bei der Erreichung der<br />
auf Kinder- und Müttersterblichkeit gerichteten Ziele helfen.<br />
Und schließlich haben einige hauptbetroffene Länder die HIV-<br />
Infektionsrate erfolgreich verringert, obwohl sich HIV/AIDS<br />
weltweit weiterhin ausbreitet.<br />
<strong>Die</strong>se Erfolge zeigen, dass selbst die ärmsten Länder die<br />
Ziele erreichen können. Das Geheimnis hinter diesen Erfolgen<br />
ist, dass sowohl die Empfänger- als auch die Geberregierungen<br />
ihren Teil dazu beitrugen: <strong>Die</strong> Regierungen der Entwicklungsländer<br />
trafen die richtigen Entscheidungen, indem sie der Entwicklung<br />
und den Bedürfnissen der Armen Priorität einräumten,<br />
während die Geber mehr und qualitativ bessere Entwicklungszusammenarbeit<br />
(EZ) sowie Schuldenerlasse gewährten.<br />
Trotz dieser positiven Anzeichen dürfen wir nicht verkennen,<br />
dass das gegenwärtige Fortschrittstempo keinesfalls ausreicht,<br />
um alle MDGs bis 2015 zu erreichen. Keine noch so<br />
große Zahl positiver Beispiele darf verdecken, dass das der<br />
Welt gegebene Versprechen nach gegenwärtigem Stand aller<br />
Voraussicht nach gebrochen werden wird.<br />
Aber wir sollten daraus nicht schließen, dass die MDGs selbst<br />
das Problem sind. Natürlich sind die Ziele nicht perfekt. Und es<br />
gibt auch sicher mehr, was Entwicklung ausmacht, als die acht<br />
MDGs. Trotzdem haben sie gegenüber vorangegangenen internationalen<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong>n zahlreiche Vorteile.<br />
225
Mit den MDGs entstand zum ersten Mal eine gemeinsame<br />
Vision der Entwicklungsgemeinschaft, die über nahezu vier<br />
Jahrzehnte von Meinungsverschiedenheiten geprägt war. Während<br />
der 1990er Jahre entwickelte sich eine bemerkenswerte<br />
Übereinstimmung über die entwicklungspolitischen Erfordernisse.<br />
Auch wenn wir noch keine Antworten auf alle Probleme<br />
der Welt besitzen, so haben wir doch ein ausreichendes Einvernehmen<br />
darüber, was getan werden muss, um direkt und massiv<br />
auf das Leben der Ärmsten einwirken zu können.<br />
<strong>Die</strong> Ziele sind ergebnisorientiert, quantifiziert und zeitgebunden.<br />
Fortschritt lässt sich dadurch direkt verfolgen. Erstmals<br />
benannten die Länder Ziele, über deren Erreichung sie<br />
Rechenschaft ablegen müssen. Anders als in der Vergangenheit<br />
sind die Ziele messbar und können kontrolliert werden.<br />
Dadurch wurden die MDGs zu den zentralen Parametern für<br />
die Messung von Fortschritt bei den globalen Entwicklungsanstrengungen.<br />
<strong>Die</strong> MDGs sind aber nicht nur wichtige Parameter auf globaler<br />
Ebene, sondern auch Richtgrößen für politische Strategien<br />
und Planungen in den Entwicklungsländern. <strong>Die</strong> Ziele<br />
und ihre Indikatoren können an die jeweilige nationale, regionale<br />
und lokale Situation und dortige Prioritäten angepasst<br />
werden. In manchen Fällen wurde bestimmten Zielen gegenüber<br />
anderen Priorität gegeben, in anderen haben Länder oder<br />
Regionen Ziele hinzugefügt oder Zielvorstellungen erweitert.<br />
Auch sind die MDGs sehr umfassend; sie schließen eine<br />
große Zahl verschiedener Aspekte der Armut ein, wie sie von<br />
den verwundbarsten Bevölkerungsteilen in den Entwicklungsländern<br />
erfahren werden. <strong>Die</strong> umfassende Natur der Ziele ermöglicht<br />
wichtige Synergien. Wenn wir etwa in Sambia, wo<br />
Schulen wegen an AIDS erkrankten Lehrern geschlossen wurden,<br />
Fortschritte beim AIDS-Ziel machen, wird dies auch dabei<br />
helfen, die Bildungsziele zu verwirklichen.<br />
Noch wichtiger ist, dass die MDGs auf einem menschenrechtlichen<br />
Ansatz basieren. <strong>Die</strong>ser Ansatz erinnert daran, dass<br />
226
es bei Entwicklung um Freiheit geht: Freiheit von Elend und<br />
Leiden, von Hunger, von Analphabetismus, von Krankheit,<br />
von schlechten Wohnverhältnissen und von Unsicherheit. Er<br />
verweist auch darauf, dass es bei Entwicklungsanstrengungen<br />
nicht um Mildtätigkeit geht, sondern um Rechte und gerechtfertigte<br />
Ansprüche – traditionelle Menschenrechte, aber auch<br />
soziale und wirtschaftliche Rechte – auf der Grundlage der Anerkennung<br />
struktureller Ursachen von Armut.<br />
Doch die Ziele tragen im Kern nicht nur die Rechte der<br />
einzelnen Bürgerinnen und Bürger armer Länder, sondern reflektieren<br />
auch das, wonach sie streben. Und das sind Bestrebungen,<br />
auf die sich Menschen überall auf der Welt beziehen<br />
können – wie etwa Zugang zu Gesundheitsversorgung oder<br />
Bildung. So konnten die Ziele zu einer gemeinsamen Forderung<br />
für verschiedene Gruppen werden. <strong>Die</strong> Einfachheit, Klarheit<br />
und Messbarkeit der MDGs hatte einen katalytischen Effekt<br />
auf die globalen Entwicklungsanstrengungen.<br />
<strong>Die</strong> Einzigartigkeit der Ziele liegt aber vor allem darin, dass<br />
sie – insbesondere durch das achte Ziel – ausdrücklich anerkennen,<br />
dass die Ausrottung der Armut die gemeinsame Verantwortung<br />
sowohl der reichen als auch der armen Welt ist<br />
und dass die Ziele nur durch eine globale Partnerschaft für<br />
Entwicklung erreicht werden können.<br />
<strong>Die</strong> Anerkennung gemeinsamer Verantwortung reifte aus<br />
der Einsicht, dass unsere Nationen voneinander abhängig<br />
sind – sei es durch unsere gemeinsame Umwelt, durch Migrationsströme<br />
oder durch die Ausbreitung von Krankheiten oder<br />
Konflikten. <strong>Die</strong>se globalen Interdependenzen machen Armut<br />
und Ungleichheit zu unseren gemeinsamen Feinden. Heute bezeichnen<br />
wir sie als Globalisierung; Willy Brandt sprach schon<br />
in den 1970er und 1980er Jahren von diesen Interdependenzen<br />
und unterstrich, dass zunehmend offene Volkswirtschaften einer<br />
regelbasierten Global Governance bedürfen.<br />
Auch wenn wir von einer umfassenden und fairen Weltordnung<br />
noch weit entfernt sind, geben uns die MDGs die<br />
227
Möglichkeit, eine inklusivere Weltgemeinschaft zu errichten,<br />
die auf eine sicherere und bessere Welt hinarbeitet. Denn die<br />
Ziele stellen eine Vereinbarung für Entwicklung zwischen reichen<br />
und armen Ländern und einen brauchbaren Handlungsrahmen<br />
dar.<br />
Der von den Zielen skizzierte Rahmen weist armen und reichen<br />
Ländern eine klare Arbeitsteilung zu. <strong>Die</strong> Entwicklungsländer<br />
– sie haben die Hauptarbeit zu verrichten – müssen die<br />
politischen Bedingungen schaffen, damit die ersten sieben Ziele<br />
erreicht werden können. Darüber hinaus haben sie sich verpflichtet,<br />
ihr Regierungshandeln, dessen Transparenz und Verantwortlichkeit<br />
zu verbessern. Damit erhöht sich die Chance,<br />
dass die Regierungen die eingegangenen Verpflichtungen auch<br />
umsetzen, und es wird die Fähigkeit der Zivilgesellschaft und<br />
der Parlamente gestärkt, Fortschritte zu kontrollieren. <strong>Die</strong> reichen<br />
Länder haben sich dagegen verpflichtet, globale Bedingungen<br />
zu schaffen, die den Entwicklungsländern die Erfüllung<br />
ihrer Aufgaben erleichtern.<br />
Obwohl Entwicklung mehr beinhaltet als die MDGs, bieten<br />
sie doch einen auf Arbeitsteilung gründenden globalen Handlungsrahmen<br />
für Entwicklungsfragen. Das ist neu. Selbst wenn<br />
sie nicht perfekt sind, bleibt uns keine Zeit für weitere Reflektionen.<br />
Wir müssen uns schnell ihrer entschlossenen Umsetzung<br />
zuwenden.<br />
Gegenwärtig fehlt es an schnellem Handeln seitens der Regierungen<br />
– und es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür. Wir<br />
verfügen über die Technologie, das Wissen und die Ressourcen,<br />
die für die Umsetzung der Ziele nötig sind. Warum also<br />
liegen wir zurück?<br />
Es fehlt an der Aufbruchstimmung, wie man sie im September<br />
2000 in New York spürte. Es fehlt an der Entschlossenheit,<br />
diese Ziele in den Mittelpunkt lokaler, nationaler und internationaler<br />
Politiken zu stellen. Es fehlt der politische Wille, nach<br />
dieser Vision zu handeln. Wir müssen die Aufbruchstimmung<br />
228
wiederherstellen, und wir müssen Regierungen zum Handeln<br />
bringen.<br />
Reiche und prosperierende Länder – etwa in Europa – liegen<br />
genauso weit zurück wie die ärmsten Länder, und dafür gibt<br />
es keine Entschuldigung. <strong>Die</strong> Versprechen der reichen Länder<br />
sind im achten MDG enthalten. <strong>Die</strong>se verpflichten sie zu mehr<br />
und qualitativ besserer EZ, zum Schuldenerlass für die ärmsten<br />
Länder und zur Schaffung eines Welthandelssystems, das<br />
es Produzenten in den Entwicklungsländern erlaubt, sich ihren<br />
eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften.<br />
Das achte MDG ist genauso erreichbar, wie die übrigen<br />
Ziele: Es bedarf hierzu des Politikwandels und der politischen<br />
Entschlossenheit auf höchster Ebene. Bürger müssen Druck auf<br />
ihre Regierungen ausüben, damit diese ihre Versprechen halten.<br />
Es kommt darauf an, dass normale Bürger zu sagen beginnen:<br />
»Wir müssen unsere Zusagen mit Blick auf die Hilfeleistungen<br />
halten und unsere schädlichen Handelspolitiken ändern,<br />
um die MDGs zu erreichen.« Politischer Wille kann nur<br />
entstehen, wenn Politiker politischen Druck seitens der Bürger<br />
verspüren – die Angst, Wahlen zu verlieren, ist ein machtvoller<br />
Ansporn.<br />
Mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit<br />
Im Jahr 2005 beschlossen die Mitgliedsländer der EU-15, bis<br />
2015 endlich gemeinsam ihr 35-jähriges Versprechen umzusetzen,<br />
0,7 % ihres Bruttoinlandseinkommens als Mittel für öffentliche<br />
Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance,<br />
ODA) zur Verfügung zu stellen. Obwohl 1970 nahezu<br />
alle reichen Länder dieses Versprechen gegeben hatten, wird es<br />
gegenwärtig gerade von fünf Ländern – allesamt in Europa –<br />
erfüllt (und übererfüllt). Für die übrigen gilt, dass sie nun einen<br />
Zeitplan für die Umsetzung des Versprechens aufstellen und<br />
zügig mehr ODA-Ressourcen bereitstellen müssen. Eine Erhö-<br />
229
hung der ODA-Budgets bedarf nicht nur der Überwindung finanzieller<br />
Hürden, sondern auch erheblicher Anstrengungen<br />
bei Verwaltung und Management. <strong>Die</strong>s kann nicht über Nacht,<br />
sollte aber sobald wie möglich geschehen.<br />
Deutschland ist ein Beispiel für ein Land, das endlich für<br />
die Umsetzung seines 0,7 %-Versprechens tätig werden muss.<br />
2005 entsprach Deutschlands ODA lediglich 0,35 % seines Nationaleinkommens,<br />
doch ergab sich dieser relativ hohe Wert<br />
aus den Schuldenerlassen von 2005. 2004 lag Deutschlands<br />
ODA bei nur 0,28 %; zieht man die Schuldenerlasse ab, so nahm<br />
die ODA von 2004 auf 2005 um nahezu 10 % ab! <strong>Die</strong>s bedeutet,<br />
dass das tatsächliche ODA-Niveau nach wie vor weit von<br />
der 0,7 %-Zielmarke entfernt ist. Und nicht nur das: Anders als<br />
andere Länder hat die deutsche Bundesregierung nicht einmal<br />
einen eigenen Zeitplan für die ODA-Erhöhungen bekannt gegeben<br />
– obwohl Kanzlerin Angela Merkel ihr Bekenntnis zum<br />
0,7 %-Ziel im schweizerischen Davos im Januar 2006 erneuert<br />
hat.<br />
Kanzlerin Merkel betonte, dass 2006 ein wichtiger Zwischenschritt<br />
auf dem Weg zur Zielmarke von 0,7 % sei. Für<br />
dieses Jahr haben Deutschland – und alle anderen Staaten der<br />
EU-15 – beim EU-Gipfel 2002 in Barcelona vereinbart, mindestens<br />
0,33 % ihres Inlandseinkommens für ODA aufzuwenden.<br />
Für die Umsetzung der Mittelzusagen sind neue Finanzierungsquellen<br />
vonnöten. Mittlerweile gibt es darüber in Euro pa<br />
zahlreiche Diskussionen. Doch solche Diskussionen sind Zeitvergeudung,<br />
solange die Regierungen nicht das tun, was sie<br />
aus eigener Kraft zu tun versprochen haben. Das Gerede von<br />
innovativen Finanzierungsmechanismen ist eher geeignet, einen<br />
Nebelvorhang aufzuziehen, hinter dem sich die Regierungen<br />
untätig verstecken können.<br />
Innovative Finanzierungsquellen, die von einem einzelnen<br />
Land umgesetzt werden können, sind letztlich wenig mehr als<br />
eine Zweckbindung bestehender Steuereinnahmen. Es ist nicht<br />
klar, ob sie signifikante zusätzliche Mittel aufbringen können.<br />
230
Und indem spezielle Gruppen von Steuerzahlern – Passagiere<br />
oder andere – herausgegriffen werden, mindern diese Mechanismen<br />
die Zahl der Bürger, die eine höhere ODA befürwortet.<br />
Internationale Arrangements über neue Finanzierungsquellen,<br />
die tatsächlich erhebliche Mittel aufbringen, werden nur<br />
in langwierigen, möglicherweise Jahre andauernden Verhandlungen<br />
vereinbart werden können. Doch dafür haben wir keine<br />
Zeit, wenn wir die MDGs erreichen wollen.<br />
Qualitativ bessere Entwicklungszusammenarbeit<br />
Auch wenn die Quantität der ODA wichtig ist und wir die moralische<br />
Verpflichtung haben, dass unsere Regierungen Versprechen<br />
halten, die sie vor Jahrzehnten gegeben haben, ist die<br />
Qualität der EZ genauso wichtig, möglicherweise sogar noch<br />
wichtiger. <strong>Die</strong>s wurde von Premierminister Tony Blairs Commission<br />
for Africa hervorgehoben, der auch neun Mitglieder<br />
aus Afrika angehörten. 2 Ohne Verbesserungen der EZ-Qualität<br />
kann die Armut nicht beseitiget werden.<br />
Zusammen mit anderen großen Geberländern hat Deutschland<br />
zugesagt, die Erklärung von Rom zur Geberharmonisierung<br />
von 2003 sowie die Erklärung von Paris zur Steigerung<br />
der Wirksamkeit der EZ von 2005 umzusetzen. <strong>Die</strong> Erklärung<br />
von Paris – die umfangreichste ihrer Art – basiert auf fünf Prinzipien.<br />
Um die Art der Veränderungen zu bennen, die die Geberländer<br />
in ihrer EZ vornehmen müssen, seien hier einige erwähnt.<br />
Ownership über Entwicklungspolitiken sollte – erstens – in<br />
den Händen der Entwicklungsländer liegen. <strong>Die</strong> Geberländer<br />
dürfen nicht ihre eigene Entwicklungsprioritäten setzen, sie<br />
müssen sich EZ-Methoden bedienen, die auf lokale ownership<br />
2 »Our Common Interest: Report of the Commission for Africa«. London,<br />
März 2005.<br />
231
abzielen. <strong>Die</strong> Geberländer müssen – zweitens – ihre Unterstützung<br />
in höchstmöglichem Maße in die Strategien, Institutionen<br />
und Verfahren der Empfängerregierung integrieren. <strong>Die</strong> Regierungen<br />
der Entwicklungsländer müssen für die Entwicklung<br />
ihrer Länder verantwortlich gemacht werden – schließlich sind<br />
es nicht die Geber, die die Länder entwickeln, sondern die Länder<br />
selbst. Deshalb müssen die Entwicklungsländer eine wirksame<br />
Kontrolle über und Verantwortung für Ressourcen ausüben<br />
und die Umsetzung ihrer Entwicklungspolitiken und<br />
-programme selbst organisieren.<br />
<strong>Die</strong>s ist von besonderer Bedeutung für das Erreichen der<br />
MDGs, schließlich geht es bei vielen Zielen um die dauerhafte<br />
Sicherstellung öffentlicher <strong>Die</strong>nstleistungen, sei es Gesundheitsversorgung,<br />
Bildung oder Trinkwasser.<br />
Das dritte Prinzip, das der Erklärung von Paris zugrunde<br />
liegt, ist Harmonisierung auf Seiten der Geberländer. Es gibt<br />
viele Wege, auf denen die Geberländer mehr und besser zusammenarbeiten<br />
können, so dass das Management der EZ<br />
für das Empfängerland weniger belastend ist. Zu oft führen<br />
die Geberländer Kleinprojekte durch – oft viele gleichzeitig in<br />
einem Bereich –, ohne sich miteinander zu koordinieren. Sie<br />
alle wollen Monitoring-Berichte, Evaluierungen, Rechnungsprüfungen<br />
sowie ihr Projekt mehrmals im Jahr besuchen, wobei<br />
sie oft genau dieselben Fragen stellen wie andere. Kurz:<br />
unzählige Geberanforderungen absorbieren erhebliche administrative<br />
Kapazität, die für die Erreichung der MDGs besser<br />
eingesetzt wäre. Deshalb ruft die Erklärung von Paris – und<br />
die ihr vorausgehende von Rom – die Geber dazu auf, ihren<br />
Partnern in den Entwicklungsländern weniger Lasten aufzubürden,<br />
etwa indem sie sich gemeinsamer Arrangements bei<br />
der Planung, Finanzierung und Umsetzung der EZ bedienen.<br />
Obwohl die Geberländer die Erklärungen von Paris und<br />
Rom unterzeichnet haben, sind sie bei der Erfüllung ihrer Zusagen<br />
zögerlich. <strong>Die</strong> neue deutsche Bundesregierung hat ihr<br />
Versprechen bekräftigt, die Effektivität ihrer EZ zu erhöhen.<br />
232
Zusätzlich hat Deutschland in den vergangenen Jahren eine<br />
Reihe von Pilotvorhaben durchgeführt, in denen einige – für<br />
Deutschland neue – EZ-Modalitäten getestet werden (vgl. den<br />
Beitrag von Kranz-Plote). <strong>Die</strong> Organisation für wirtschaftliche<br />
Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat angeregt, die<br />
deutsche Regierung solle auf diesen Erfahrungen aufbauen<br />
und die neuen Verfahren in das Management der EZ integrieren.<br />
3 <strong>Die</strong>s sollte von einer stärkeren Zusammenarbeit und einer<br />
besseren Arbeitsteilung mit anderen Gebern begleitet werden.<br />
<strong>Die</strong> neue Bundesregierung bekennt sich auch zur stärkeren<br />
Integration von Deutschlands Technischer und Finanzieller<br />
Zusammenarbeit (TZ/FZ). <strong>Die</strong> deutsche EZ war lange<br />
Zeit entlang dieser Unterscheidung institutionell aufgeteilt,<br />
jede Organisation mit getrennten Finanzierungsinstrumenten,<br />
-bedingungen und Berichtspflichten. Für die Regierungen der<br />
Entwicklungsländer bedeutet dies hohe Verwaltungskosten.<br />
Während es bei der Modernisierung und Integration dieser<br />
Organisationen Fortschritte gibt, vermutet die OECD, dass die<br />
Möglichkeiten für weitere Effektivitätsgewinne innerhalb der<br />
existierenden Struktur beschränkt sind und rät der Bundesregierung<br />
deshalb, eine grundlegendere Umstrukturierung in<br />
Betracht zu ziehen.<br />
Außerdem erleichtern die deutschen EZ-Mechanismen<br />
nicht gerade die ownership. Zum einen sind deutsche EZ-<br />
Organisationen vor Ort nur eingeschränkt präsent. Zum anderen<br />
zeigt sich Deutschland bei der Übergabe des finanziellen<br />
Managements an die Empfängerregierungen oder an von<br />
den Geberländern verwaltete Fonds zögerlich. Deutschland<br />
muss die Aktivitäten seiner Durchführungsorganisationen vor<br />
Ort integrieren sowie die Beschäftigung lokaler und regionaler<br />
Kräfte verstärken, insbesondere bei der Technischen Zusammenarbeit.<br />
3 OECD, DAC Peer Review of German Aid. Paris 2005.<br />
233
Der Sündenfall der EZ heißt Lieferbindung. Man mag zunächst<br />
denken, dass sowohl das Empfänger- als auch das Geberland<br />
auf seine Kosten kommen, wenn die EZ-Mittel dazu<br />
verwendet werden, Güter und <strong>Die</strong>nstleistungen aus dem<br />
Geberland zu beziehen. Doch das ist grundfalsch! Nur das Geberland<br />
ist der Gewinner. <strong>Die</strong> Erfahrung zeigt, dass das Empfängerland<br />
in der Regel Güter kaufen muss, die teurer sind,<br />
als wenn sie regional gekauft würden, und es muss obendrein<br />
noch Transportkosten zahlen (die sehr hoch sein können). Und<br />
die gekauften Güter entsprechen durchaus nicht immer den<br />
Bedürfnissen des Empfängerlandes – oft sind sie technologisch<br />
nicht angepasst und verursachen hohe oder gar nicht aufzubringende<br />
Instandhaltungskosten. <strong>Die</strong>s alles kann den Wert<br />
der gewährten Mittel erheblich verringern. Und schließlich<br />
gibt es häufig zusätzlichen Verwaltungsaufwand für das Empfängerland.<br />
<strong>Die</strong> OECD hat festgestellt, dass Lieferbindung das<br />
Potenzial für Korruption erhöht. Dennoch wird sie in der EZ<br />
weiterhin praktiziert.<br />
Deutschland ist eines dieser Länder. Obwohl es in den vergangenen<br />
Jahren den Umfang seiner gebundenen Mittel erheblich<br />
reduziert hat, hat Deutschland die Lieferbindung noch<br />
nicht vollständig aufgegeben. Andere Länder – etwa Großbritannien<br />
– haben den Schritt zur vollständigen Aufhebung bereits<br />
getan. Eines der Kernprobleme ist der hohe Anteil deutscher<br />
EZ, die als Technische Zusammenarbeit geleistet wird<br />
und traditionell an deutsche Experten gebunden ist.<br />
Schuldenerlasse<br />
Das achte MDG verpflichtet die reichen Länder zu mehr und<br />
umfassenderen Schuldenerlassen. Entscheidend ist, dass sie<br />
zusätzlich zu bereits gegebenen ODA-Zusagen gewährt werden.<br />
Gegenwärtig werden Schuldenerlasse – gemäß der offiziellen<br />
ODA-Definition der OECD – in die ODA eingerechnet.<br />
234
<strong>Die</strong>s ermöglicht es Ländern, ihre ODA-Quote in die Höhe zu<br />
treiben und so ihre Zusagen einzuhalten, ohne neue Ressourcen<br />
für den Kampf gegen Armut zur Verfügung zu stellen.<br />
Gleichzeitig können sie sich ihrer Schuldenerlasse rühmen. In<br />
den vergangenen Jahren war dies wiederholt der Fall, so 2005<br />
beim großen Schuldenerlass zugunsten Nigerias.<br />
Deutschlands ODA-Zahlen für 2005 zeigen deutlich, wie<br />
Schuldenerlasse dazu benutzt werden können, Hilfszahlen in<br />
die Höhe zu treiben. Laut OECD entfielen im Jahr 2005 mehr<br />
als 3 der insgesamt 10 Mrd. US-$ deutscher ODA auf Schuldenerlasse.<br />
Gerechtere Handelsregeln<br />
Das vielleicht wichtigste Versprechen, das die reichen Länder<br />
unter dem achten MDG gegeben haben, ist das Welthandelssystem<br />
für die armen Länder und deren Produzenten gerechter<br />
zu machen. Doch die Handelspolitiken reicher Länder<br />
verweigern armen Ländern und Menschen weiterhin einen<br />
gerechten Anteil am globalen Reichtum – und weichen so der<br />
<strong>Millennium</strong>-Erklärung aus. Mehr als EZ hat Handel das Potenzial,<br />
den Anteil der ärmsten Länder und Menschen an der<br />
globalen Wohlfahrt zu erhöhen. <strong>Die</strong> Beschränkung dieses Potenzials<br />
durch ungerechte Handelspolitiken widerspricht dem<br />
Bekenntnis zu den MDGs. Mehr noch, sie ist ungerecht und<br />
verlogen.<br />
Gegenwärtig befindet sich der Welthandel in einer Schieflage<br />
zugunsten der reichen Länder, und die Europäische Union<br />
trägt dafür ebenso Verantwortung wie alle anderen. <strong>Die</strong> größten<br />
Probleme mit dem EU-Handelsregime liegen im Agrarsektor,<br />
und gerade dieser Bereich ist für die Verringerung von Armut<br />
am wichtigsten. Denn nahezu 70 % der Armen in der Welt<br />
leben nach wie vor in ländlichen Gebieten und sind für ihren<br />
235
Lebensunterhalt direkt oder indirekt von der Landwirtschaft<br />
abhängig.<br />
Ende Juli 2006 scheiterten die Gespräche über ein neues<br />
Handelsabkommen bei der Welthandelsorganisation (WTO).<br />
<strong>Die</strong> Verhandlungsrunde wurde »Doha-Entwicklungsrunde«<br />
genannt, weil sie die Ungleichgewichte im globalen Handelssystem<br />
angehen sollte, das sich momentan in einer starken<br />
Schieflage zu Gunsten der reichen Länder auf Kosten der armen<br />
befindet. <strong>Die</strong> Gespräche scheiterten, weil die Verhandlungspartner<br />
in der gegebenen Zeit ihre Differenzen in Schlüsselfragen<br />
nicht überwinden konnten. <strong>Die</strong> Zeit drängte, weil es<br />
für die aktuelle Verhandlungsrunde eine feste Deadline gibt:<br />
ein endgültiges Handelsabkommen muss vom US-Kongress<br />
ratifiziert werden, bevor die Trade Promotion Authority (eine Art<br />
Handelsvollmacht) von US-Präsident George W. Bush im Juli<br />
2007 ausläuft. Nach diesem Datum wird es dem US-Kongress<br />
möglich sein, detaillierte Änderungen als Bedingung für eine<br />
Ratifizierung des verhandelten Abkommens zu verlangen; dies<br />
könnte das Aus für jedes verhandelte Dokument bedeuten.<br />
Während wir dies schreiben – im August 2006 – versuchen<br />
einige Parteien, das Abkommen zu retten. Zwar ist alles möglich<br />
– auch frühere Handelsabkommen wurden erst fünf vor<br />
zwölf geschlossen –, doch wir sind sehr skeptisch, dass diese<br />
Zeilen zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überholt sein<br />
werden. Sie könnten sogar noch relevant sein, wenn ein neues<br />
Handelabkommen abgeschlossen wird.<br />
Unsere Skepsis speist sich aus Erfahrung. Seit vielen Jahren<br />
verspricht die EU eine bessere »Kohärenz« zwischen ihren<br />
(löblichen) <strong>Entwicklungsziele</strong>n und anderen EU-Politiken, insbesondere<br />
Handel und Landwirtschaft. Kohärenz ist seit dem<br />
Maastricht-Vertrag von 1991 sogar eine vertragliche Zusage –<br />
trotzdem ist nichts geschehen.<br />
Um die von der europäischen Handels- und Landwirtschaftspolitik<br />
verursachten Probleme zu beheben, bedarf es<br />
erheblicher Anstrengungen. Zunächst muss die EU sämtliche<br />
236
Subventionen für Agrarexporte abschaffen. <strong>Die</strong>se Subventionen<br />
entschädigen die europäischen Bauern für die niedrigen<br />
Preise, die sie auf dem Weltmarkt für Agrarprodukte erhalten,<br />
die sie in Europa nicht verkaufen können. <strong>Die</strong> Preise sind vor<br />
allem deshalb so niedrig, weil die EU ihre Überproduktion<br />
auf dem Weltmarkt zu Dumpingpreisen verkauft! Schlimmer<br />
noch, zur Überproduktion wird überhaupt erst durch andere<br />
Subventionen ermutigt. Wir bezahlen die EU-Bauern dafür, zu<br />
viel zu produzieren, die Produkte auf dem Weltmarkt billig<br />
zu verkaufen und den Preis für alle zu drücken – und so die<br />
eigentlich konkurrenzfähigen armen Bauern in den Entwicklungsländern<br />
um ihren Lebensunterhalt zu bringen. Und dann<br />
bezahlen wir die Bauern ein zweites Mal, um sie für die niedrigen<br />
Preise zu entschädigen, die wir überhaupt erst geschaffen<br />
haben!<br />
Bei den WTO-Verhandlungen hat die EU versprochen, alle<br />
Subventionen für Agrarexporte bis 2013 abzuschaffen. <strong>Die</strong>s ist<br />
kein großes Zugeständnis, denn aufgrund des EU-Budgetabkommens<br />
entfallen die meisten dieser Subventionen zu diesem<br />
Termin ohnehin. <strong>Die</strong> EU muss auch ihre handelsverzerrenden<br />
internen Agrarsubventionen kürzen, also die Subventionen,<br />
die zu Überproduktion ermutigen. Als Handelsblock mit den<br />
höchsten internen Subventionen fördern gerade die EU-Subventionen<br />
jene Art von Großproduktion, die der Umwelt schadet<br />
und das Argument, unsere Agrarpolitik bewahre unsere<br />
Landschaft, ad absurdum führt.<br />
Zusätzlich sollte die EU ihre Agrarmärkte durch die Senkung<br />
von Zöllen auf landwirtschaftliche Produkte für Exporteure<br />
aus den Entwicklungsländern öffnen. Das Zögern der<br />
EU war einer der Gründe, warum die Agrarverhandlungen<br />
und die Verhandlungen in anderen Bereichen ins Stocken gerieten.<br />
<strong>Die</strong> Angebote der EU, die Zölle zu senken, sind völlig<br />
unzureichend. Wir brauchen drastische Senkungen der hohen,<br />
nach dem WTO-Abkommen zulässigen Zoll-Höchstsätze. Andernfalls<br />
wird die EU in der Lage sein, genau dieselben Zölle<br />
237
zu erheben wie zuvor, denn gegenwärtig liegen sie (trotz ihrer<br />
Höhe) in vielen Fällen weit unterhalb der zulässigen Höchstgrenzen!<br />
Darüber hinaus versucht die EU, einen großen Teil<br />
landwirtschaftlicher Produkte von jeder Kürzung auszunehmen<br />
und argumentiert, es handle sich um »sensible« Güter.<br />
<strong>Die</strong>s würde es der EU ermöglichen, weiterhin gerade jene Exporte<br />
zu verhindern, mit denen die Entwicklungsländer konkurrenzfähig<br />
sind.<br />
Weiterhin muss die EU auch ihre nichtlandwirtschaftlichen<br />
Märkte für alle Länder mit geringem Einkommen öffnen. Gegenwärtig<br />
werden Exporte – sogar im Rahmen der Everything<br />
but Arms-Initiative, gemäß der die ärmsten Länder nahezu alles<br />
in die EU zollfrei exportieren können – durch komplizierte<br />
und übermäßig strikte Regeln behindert. <strong>Die</strong>se Regeln betreffen<br />
auch den Bereich der Nahrungsmittelsicherheit, in dem die<br />
EU weit über internationale Standards hinausgeht.<br />
Offensichtlich setzen die notwendigen Veränderungen der<br />
EU-Politik einen starken politischen Willen voraus, doch es ist<br />
nur schwer zu verstehen, weshalb er nicht aufgebracht wird.<br />
Denn von der gegenwärtigen Landwirtschaftspolitik profitieren<br />
nur eine Hand voll großindustrieller Betriebe, wohingegen<br />
die eingeforderten Veränderungen immerhin für jede europäische<br />
Durchschnittsfamilie eine Steuererleichterung von rund<br />
100 € monatlich bedeuten würden.<br />
Zusammengefasst: <strong>Die</strong> EU muss ihre Märkte für Exporte<br />
aus den Entwicklungsländern ohne Einschränkungen öffnen,<br />
ohne dafür Zugeständnisse von den armen Ländern zu fordern.<br />
Der vorige Handelskommissar der EU, Pascal Lamy, versprach<br />
den am wenigsten entwickelten Ländern und Afrika<br />
»gratis« Handelsöffnungen. Doch dieses Versprechen materialisiert<br />
sich nicht. <strong>Die</strong> EU stellt weiterhin aggressive Forderungen<br />
an die Entwicklungsländer und hält sie an, die Bereiche<br />
<strong>Die</strong>nstleistungen und verarbeitendes Gewerbe im Gegenzug<br />
für die lange überfälligen Änderungen beim landwirtschaftlichen<br />
Handelsregime zu öffnen.<br />
238
Auch wenn die EU-Handelspolitik von der Europäischen<br />
Kommission initiiert und umgesetzt wird, ihre Richtung wird<br />
von den Mitgliedstaaten bestimmt. Und hier hat Deutschland<br />
eine Schlüsselrolle. Deutschlands eigene Politik und Haltung<br />
ist richtig, und Deutschland gehört auch nicht zu jenen Ländern,<br />
die von der gegenwärtigen Landwirtschaftspolitik profitieren.<br />
Dennoch gelingt es Deutschland nicht, eine Änderung<br />
der Landwirtschaftspolitik gegenüber jenen Ländern durchzusetzen,<br />
die am gegenwärtigen Modell festhalten wollen.<br />
Deutschland sollte sich mit anderen gleichgesinnten Mitgliedstaaten<br />
zusammentun und sich auch hinter den Kulissen engagieren,<br />
um andere – etwa Frankreich – davon zu überzeugen,<br />
dass die gegenwärtige EU-Landwirtschaftspolitik unhaltbar<br />
und schädlich ist. Wir plädieren nicht dafür, dass die<br />
EU die Unterstützung ihrer Bauern oder ihrer Landwirtschaft<br />
einstellt, sondern dass sie die Art und Weise ändert, in der sie<br />
dies tut. Sie muss sich künftig Mechanismen bedienen, die die<br />
Lebensbedingungen armer Produzenten in den Entwicklungsländern<br />
nicht verschlechtern.<br />
Wie oben skizziert gibt es eine lange Liste von Aufgaben,<br />
die die Regierungen in Europa, insbesondere die deutsche<br />
Bundesregierung, sofort anpacken sollten, um die Umsetzung<br />
der MDGs in den ärmsten Ländern zu erleichtern. Deutschland<br />
hat 2007 zwei wichtige Möglichkeiten, diese Agenda zu<br />
befördern und sein Engagement in Entwicklungsfragen unter<br />
Beweis zu stellen: Deutschland übernimmt die Präsidentschaft<br />
der G8 und die der Europäischen Union. Eine starke Führungsrolle<br />
Deutschlands in Entwicklungsfragen ist gefordert!<br />
Fazit<br />
Wir brauchen keine weiteren Diskussionen und Analysen darüber,<br />
ob die MDGs den idealen Weg für die Entwicklungspolitik<br />
darstellen. Wir müssen dringend zum Handeln kommen.<br />
239
Wir haben zwar nicht die Antwort auf alle Probleme der Welt,<br />
aber ausreichende Analysen und Einvernehmen darüber, was<br />
getan werden muss, um die Lebensbedingungen der Ärmsten<br />
zu verbessern. <strong>Die</strong> MDGs bieten einen idealen Rahmen für koordiniertes<br />
Handeln, um die globale Ungleichheit zu überwinden.<br />
Wir brauchen politische Entschlossenheit. Dafür muss energischer<br />
Druck der Bürger erzeugt werden, der entwicklungspolitisches<br />
Handeln für die Regierungen zu einer politischen<br />
Notwendigkeit macht. Ein erster Schritt ist die Unterrichtung<br />
der Bürger. Aber nur wenn die Bürger aktiv werden – etwa<br />
durch die Teilnahme an Demonstrationen oder durch Briefe an<br />
ihre Abgeordneten –, werden sich Politiker überzeugen lassen,<br />
dass den Wählern Entwicklungsfragen am Herzen liegen. <strong>Die</strong><br />
Angst nicht wiedergewählt zu werden, ist eine wichtige Motivation.<br />
Wir brauchen einen Politikwandel – darauf müssen<br />
sich die gesellschaftlichen Entwicklungsgruppen in Europa<br />
konzentrieren.<br />
Wir sind die erste Generation, die über die Ressourcen verfügt,<br />
die Armut zu beseitigen. <strong>Die</strong> fehlende Schlüsselzutat hierfür<br />
ist der politische Wille, die MDGs und den Kampf gegen<br />
die Armut zum Herzstück politischer Prioritäten zu machen.<br />
Wir müssen den politischen Druck für Wandel erzeugen.<br />
Übersetzung: Henning Boekle<br />
240
Anhang
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> mit<br />
Zielvorgaben und Indikatoren<br />
242<br />
<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />
Ziele und Zielvorgaben Indikatoren<br />
Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers<br />
Zielvorgabe 1<br />
1. Anteil der Bevölkerung mit weni-<br />
Zwischen 1990 und 2015 ger als 1 US-$ pro Tag<br />
den Anteil der Menschen 2. Armutslückenverhältnis<br />
halbieren, deren Einkom- (poverty ratio gap, Armutsvorkommen<br />
weniger als 1 US-$ pro men x Armutstiefe)<br />
Tag beträgt<br />
3. Anteil des ärmsten Fünftels am<br />
nationalen Konsum<br />
Zielvorgabe 2<br />
4. Verbreitung von Untergewicht bei<br />
Zwischen 1990 und 2015 Kindern unter fünf Jahren<br />
den Anteil der Menschen 5. Anteil der Bevölkerung un-<br />
halbieren, die Hunger ter dem Mindestniveau des<br />
leiden<br />
Nahrungsenergieverbrauchs<br />
Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung<br />
Zielvorgabe 3<br />
Bis zum Jahr 2015 sicherstellen,<br />
dass Kinder in der<br />
ganzen Welt, Jungen wie<br />
Mädchen, eine Grundschulbildung<br />
vollständig<br />
abschließen können<br />
6. Nettoeinschulungsquote im<br />
Primarschulbereich<br />
7. Anteil der Erstklässler, die das<br />
fünfte Schuljahr erreichen<br />
8. Alphabetisierungsquote bei den<br />
15- bis 24-Jährigen
Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter und Empowerment der<br />
Frauen<br />
Zielvorgabe 4<br />
Das Geschlechtergefälle in<br />
der Grund- und Sekundarschulbildung<br />
beseitigen,<br />
vorzugsweise bis 2005 und<br />
auf allen Bildungsebenen<br />
bis spätestens 2015<br />
Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit<br />
Zielvorgabe 5<br />
Zwischen 1990 und 2015<br />
die Sterblichkeitsrate von<br />
Kindern unter fünf Jahren<br />
um zwei Drittel senken<br />
9. Verhältnis Mädchen/Jungen<br />
in der Primar-, Sekundar- und<br />
Tertiärausbildung<br />
10. Verhältnis weibliche/männliche<br />
Alphabeten (15- bis 24-Jährige)<br />
11. Anteil der Frauen an den nichtselbständig<br />
Erwerbstätigen im<br />
Nicht-Agrarsektor<br />
12. Sitzanteil der Frauen in nationalen<br />
Parlamenten<br />
13. Sterblichkeitsrate von Kindern<br />
unter fünf Jahren<br />
14. Säuglingssterblichkeitsrate<br />
15. Anteil der Einjährigen, die gegen<br />
Masern geimpft wurden<br />
Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern<br />
Zielvorgabe 6<br />
Zwischen 1990 und 2015<br />
die Müttersterblichkeitsrate<br />
um drei Viertel senken<br />
16. Müttersterblichkeitsrate<br />
17. Anteil der von medizinischem<br />
Fachpersonal begleiteten<br />
Geburten<br />
243
Ziel 6: Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen<br />
Krankheiten<br />
Zielvorgabe 7<br />
Bis 2015 die Ausbreitung<br />
von HIV/Aids zum Stillstand<br />
bringen und eine<br />
Trendumkehr bewirken<br />
Zielvorgabe 8<br />
Bis 2015 die Ausbreitung<br />
von Malaria und anderen<br />
schweren Krankheiten zum<br />
Stillstand bringen und eine<br />
Trendumkehr bewirken<br />
244<br />
18. Verbreitung von HIV bei<br />
Schwangeren (15- bis 24-Jährige)<br />
19. Anteil der Kondombenutzung<br />
bei der Empfängnisverhütung<br />
a. Kondombenutzung beim<br />
letzten risikoreichen<br />
Geschlechtsverkehr<br />
b. Prozentsatz der 15- bis 24-<br />
Jährigen mit umfassenden<br />
korrekten Kenntnissen über<br />
HIV/Aids<br />
c. Empfängnisverhütungsrate<br />
20. Schulbesuchsquote von Waisen<br />
im Verhältnis zu Nichtwaisen<br />
(10- bis 14-Jährige)<br />
21. Malariaverbreitung und Sterblichkeitsraten<br />
im Zusammenhang<br />
mit Malaria<br />
22. Anteil der Bevölkerung in malariagefährdeten<br />
Gebieten, der<br />
wirksame Malariaverhütungs-<br />
und -bekämpfungsmaßnahmen<br />
ergreift<br />
a. Anteil der Kinder unter 5 Jahren,<br />
die unter Moskitonetzen<br />
schlafen<br />
23. Tuberkuloseverbreitung und<br />
Sterblichkeitsraten im Zusammenhang<br />
mit Tuberkulose<br />
24. Anteil der diagnostizierten und<br />
mit Hilfe der direkt überwachten<br />
Kurzzeittherapie DOTS (Directly<br />
Observed Treatment Short Course)<br />
geheilten Tuberkulo<strong>sef</strong>älle
Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit<br />
Zielvorgabe 9<br />
<strong>Die</strong> Grundsätze nachhaltiger<br />
Entwicklung in einzelstaatliche<br />
Politiken und<br />
Programme überführen<br />
und dem Verlust von Umweltressourcen<br />
Einhalt<br />
gebieten<br />
Zielvorgabe 10<br />
Bis 2015 den Anteil der<br />
Menschen halbieren, die<br />
keinen dauerhaften Zugang<br />
zu einwandfreiem Trinkwasser<br />
und zu elementaren<br />
sanitären Einrichtungen<br />
haben<br />
Zielvorgabe 11<br />
Bis 2020 die Lebensbedingungen<br />
von mindestens<br />
100 Mio. Slumbewohnern<br />
deutlich verbessern<br />
25. Anteil der Flächen mit<br />
Waldbedeckung<br />
26. Verhältnis der geschützten Flächen<br />
zur Erhaltung der biologischen<br />
Vielfalt zur Gesamtfläche<br />
27. Energieverbrauch (Kilogramm<br />
Erdöläquivalent) pro<br />
US-$ Bruttoinlandsprodukt in<br />
Kaufkraftparitäten<br />
28. CO2 -Ausstoß pro Kopf und Verbrauch<br />
von ozonabbauenden<br />
FCKW<br />
29. Anteil der feste Brennstoffe nutzenden<br />
Bevölkerung<br />
30. Anteil der städtischen und ländlichen<br />
Bevölkerung mit dauerhaftem<br />
Zugang zu einer verbesserten<br />
Wasserquelle<br />
31. Anteil der städtischen und ländlichen<br />
Bevölkerung mit Zugang<br />
zu Sanitärversorgung<br />
32. Anteil der Haushalte mit<br />
sicheren Nutzungs- und<br />
Besitzrechten<br />
245
Ziel 8: Aufbau einer globalen Entwicklungspartnerschaft<br />
Zielvorgabe 12<br />
Öffentliche Entwicklungshilfe<br />
Ein offenes, regelgestütztes, (ODA)<br />
berechenbares und nicht- 33. Netto-ODA, insgesamt und für<br />
diskriminierendesHan- die am wenigsten entwickelten<br />
dels- und Finanzsystem Länder (LDCs), als prozentualer<br />
weiterentwickeln;<br />
Anteil am Bruttonationaleinkom-<br />
dies umfasst die Verpflichmen (BNE) der Geber, die dem<br />
tung zu guter Regierungs- OECD-Entwicklungsausschuss<br />
und Verwaltungsführung (DAC) angehören<br />
(good governance), Entwick- 34. Anteil der gesamten bilateralen,<br />
lung und Armutsreduzie- sektoral aufschlüsselbaren ODA<br />
rung auf nationaler und der DAC-Geber für die soziale<br />
internationaler Ebene<br />
Grundversorgung (Grundbildung,Basisgesundheitsversorgung,<br />
Ernährung, sauberes Wasser<br />
und Sanitärversorgung)<br />
35. Anteil der ungebundenen bilateralen<br />
ODA der DAC-Geber<br />
36. Von Binnenländern empfangene<br />
ODA als Anteil an ihrem BNE<br />
37. Von kleinen Inselentwicklungsländern<br />
empfangene ODA als<br />
Anteil an ihrem BNE<br />
Zielvorgabe 13<br />
Den besonderen Bedürfnissen<br />
der am wenigsten entwickelten<br />
Länder (LDCs)<br />
Rechnung tragen;<br />
dies umfasst einen zollund<br />
quotenfreien Zugang<br />
für die Exportgüter der<br />
LDCs, erweiterte Schuldenerleichterung<br />
für die hochverschuldeten<br />
armen Länder<br />
(HIPCs), die Streichung<br />
von bilateralen Schulden<br />
sowie die Gewährung<br />
großzügiger öffentlicher<br />
Entwicklungshilfe (Official<br />
Development Assistance,<br />
ODA) für Länder, die sich<br />
zur Armutsbekämpfung<br />
verpflichten<br />
246<br />
Marktzugang<br />
38. Anteil der zollfreien Gesamtimporte<br />
der entwickelten Länder<br />
(nach Wert und unter Ausschluss<br />
von Waffen) aus den Entwicklungsländern<br />
und den LDCs<br />
39. Von den entwickelten Ländern<br />
erhobene Durchschnittszölle<br />
für Agrarprodukte, Textilien<br />
und Kleidung aus den<br />
Entwicklungsländern
Zielvorgabe 14<br />
Den besonderen Bedürfnissen<br />
der Binnen- und<br />
kleinen Inselentwicklungsländer<br />
Rechnung tragen<br />
(durch das Aktionsprogramm<br />
für nachhaltige<br />
Entwicklung der kleinen<br />
Inselstaaten unter den Entwicklungsländern<br />
und auf<br />
der Grundlage der Ergebnisse<br />
der 22. Sondertagung<br />
der Generalversammlung)<br />
Zielvorgabe 15<br />
<strong>Die</strong> Schuldenprobleme der<br />
Entwicklungsländer durch<br />
Maßnahmen auf nationaler<br />
und internationaler Ebene<br />
umfassend angehen und<br />
so die Schulden langfristig<br />
tragbar gestalten<br />
Zielvorgabe 16<br />
In Zusammenarbeit mit<br />
den Entwicklungsländern<br />
Strategien zur Schaffung<br />
menschenwürdiger und<br />
produktiver Arbeitsplätze<br />
für junge Menschen erarbeiten<br />
und umsetzen<br />
40. Geschätzte Agrarsubventionen in<br />
den OECD-Ländern als prozentualer<br />
Anteil an ihrem BIP<br />
41. Anteil der ODA, die für den Aufbau<br />
von Handelskapazität gewährt<br />
wird<br />
Schuldentragfähigkeit<br />
42. Gesamtzahl der Länder, die den<br />
Entscheidungs- und Erfüllungszeitpunkt<br />
im Rahmen der HIPC-<br />
Schuldeninitiative erreicht haben<br />
(kumulativ)<br />
43. Schuldenerleichterung im Rahmen<br />
der HIPC-Schuldeninitiative<br />
44. Schuldendienst als Prozentwert<br />
der Güter- und<br />
<strong>Die</strong>nstleistungsexporte<br />
45. Arbeitslosenquote bei den 15- bis<br />
24-Jährigen nach Geschlecht und<br />
insgesamt<br />
247
Zielvorgabe 17<br />
In Zusammenarbeit mit<br />
den Pharmaunternehmen<br />
unentbehrliche Arzneimittel<br />
zu erschwinglichen Preisen<br />
in den Entwicklungsländern<br />
verfügbar machen<br />
Zielvorgabe 18<br />
In Zusammenarbeit mit<br />
dem Privatsektor dafür<br />
sorgen, dass die Vorteile<br />
neuer Technologien, insbesondere<br />
der InformationsundKommunikationstechnologien,<br />
genutzt werden<br />
können<br />
248<br />
46. Anteil der Bevölkerung mit<br />
dauerhaftem Zugang zu erschwinglichen<br />
unentbehrlichen<br />
Arzneimitteln<br />
47. Telefonanschlüsse (Fest- und<br />
Mobilnetz) je 100 Personen<br />
48. Genutzte Personalcomputer<br />
und Internetnutzer jeweils je<br />
100 Personen<br />
Quelle: United Nations Statistic Division: <strong>Millennium</strong> Development Goals<br />
Indicators, Effective 8 September 2003 (http://mdgs.un.org/unsd/mdg/<br />
Host.aspx?Content=Indicators/OfficialList.htm, 18.8.2006).<br />
<strong>Die</strong> deutsche Übersetzung ist weitgehend übernommen aus: Bundesministerium<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), 2005:<br />
<strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>. Herausforderungen zu Beginn des dritten<br />
Jahrtausends. Bonn, S. 4–5 (www.bmz.de/de/service/infothek/buerger/<br />
beihefter_MDG.pdf, 18.8.2006).
Autorinnen, Autoren und Herausgeber<br />
MANDEEP BAINS<br />
Politikberaterin bei der <strong>Millennium</strong> Campaign der Vereinten Nationen<br />
in New York. Zuvor unter anderem Management von<br />
Hilfsprogrammen sowie wirtschaftspolitische Beratung von<br />
Entwicklungsländern im Auftrag der Europäischen Kommission<br />
und des britischen Department for International Development<br />
(DFID).<br />
RICHARD BRAND<br />
Entwicklungspolitischer Referent mit Schwerpunkt <strong>Millennium</strong>-<br />
<strong>Entwicklungsziele</strong> und Armutsbekämpfung auf einer gemeinsamen<br />
Stelle von Brot für die Welt und des Evangelischen Entwicklungsdienstes<br />
(EED), Bonn.<br />
THOMAS FUES<br />
Dr., Dipl.-Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen<br />
Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; aktueller<br />
Forschungsschwerpunkt: Vereinte Nationen und Global Governance<br />
aus entwicklungspolitischer Perspektive.<br />
ROSS HERBERT<br />
Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu Afrika und Manager des<br />
NEPAD- und Governance-Projektes am South African Institute<br />
of International Affairs (SAIIA), Johannesburg; aktuelle Forschungsschwerpunkte:<br />
NEPAD, Afrikanische Union, Wirksamkeit<br />
von Entwicklungshilfe, Korruption und Konditionalität.<br />
249
EVELINE HERFKENS<br />
Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die <strong>Millennium</strong><br />
Campaign, New York. Zuvor unter anderem niederländische Ministerin<br />
für Entwicklungszusammenarbeit, Botschafterin der<br />
Niederlande bei den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation<br />
in Genf sowie Exekutivdirektorin der Weltbank.<br />
UWE HOLTZ<br />
Prof. Dr., Hochschullehrer am Institut für Politische Wissenschaft<br />
und Soziologie der Universität Bonn und Senior Fellow am Bonner<br />
Zentrum für Entwicklungsforschung; freiberuflicher Development<br />
Consultant. Von 1974–1994 Vorsitzender des entwicklungspolitischen<br />
Ausschusses des Deutschen Bundestages.<br />
STEPHAN KLINGEBIEL<br />
Dr., Leiter der Abteilung »Governance, Staatlichkeit, Sicherheit«<br />
am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; aktuelle<br />
Forschungsschwerpunkte: bilaterale und multilaterale<br />
Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere mit Afrika südlich<br />
der Sahara; Krisenprävention.<br />
JUTTA KRANZ-PLOTE<br />
Referentin im Referat 310 »Armutsbekämpfung; Aktionsprogramm<br />
2015; Sektorale und thematische Grundsätze« des Bundesministeriums<br />
für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />
(BMZ) in Bonn. Zuvor von Oktober 2004 bis Juni 2006<br />
Referentin in der MDG-Stabsstelle des BMZ.<br />
KARIN KÜBLBÖCK<br />
Wissenschaftliche Referentin für Internationale Entwicklungspolitik<br />
und Weltwirtschaft bei der Österreichischen Forschungs-<br />
250
stiftung für Entwicklungshilfe (ÖFSE) und Lektorin am Institut<br />
für Internationale Entwicklung der Universität Wien.<br />
FRANZ NUSCHELER<br />
Prof. em., Dr., Stv. Vorstandsvorsitzender der Stiftung Entwicklung<br />
und Frieden (SEF) und Senior Fellow am Institut für Entwicklung<br />
und Frieden (INEF), Duisburg. Von 1974–2003 Professor<br />
für Internationale und Vergleichende Politik an der Universität<br />
Duisburg-Essen und von 1990–2006 Direktor des INEF.<br />
MICHÈLE ROTH<br />
Dr., Geschäftsführerin der Stiftung Entwicklung und Frieden<br />
(SEF), Bonn, und Mitglied im Vorstand des Global Policy Forum<br />
Europe.<br />
VERONIKA WITTMANN<br />
Dr., Universitätsassistentin am Institut für Soziologie /Abteilung<br />
für Politik- und Entwicklungsforschung an der Johannes Kepler<br />
Universität Linz.<br />
251
Jochen Hippler (Hg.)<br />
Nation-Building<br />
Ein Schlüsselkonzept für<br />
friedliche Konfliktbearbeitung?<br />
Reihe EINE WELT<br />
Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bd. 20<br />
276 Seiten | Broschur<br />
Euro 12,70 | ISBN 3-8012-0338-7<br />
<strong>Die</strong> Eroberungen Afghanistans und des Irak verbunden mit<br />
dem Versuch, dort neue Staaten zu etablieren, haben den Begriff<br />
»Nation-Building« (Nationenbildung) so populär werden lassen,<br />
dass er heute selbst von Ministern und dem Bundeskanzler<br />
verwendet wird. In einer Zeit, die von ökonomisch-politischer<br />
Globalisierung, zahlreichen ethnischen Konflikten und drohenden<br />
oder akuten staatlichen Zusammenbrüchen gekennzeichnet<br />
ist, gewinnt die Frage der Bildung neuer Nationalstaaten eine<br />
herausragende Bedeutung.<br />
<strong>Die</strong>ses Buch erweitert und systematisiert, das Verständnis von<br />
Prozessen der Nationenbildung. Fallstudien aus Afrika, dem<br />
Nahen und Mittleren Osten und dem Balkan illustrieren wie viele<br />
Aspekte dieses Themas hat. Als Ausblick entwickeln Praktiker und<br />
Wissenschaftler konkrete Strategien, wie Nation-Building-Prozesse<br />
durch kluge und behutsame politische Strategien externer Akteure<br />
unterstützt werden können.<br />
Verlag J. H. W. <strong>Die</strong>tz Nachf.<br />
Dreizehnmorgenweg 24 – 53175 Bonn<br />
www.dietz-verlag.de<br />
E-Mail: info@dietz-verlag.de
Franz Nuscheler<br />
Lern- und Arbeitsbuch<br />
Entwicklungspolitik<br />
656 Seiten | Broschur<br />
Euro 16,80 | ISBN 3-8012-3050-6<br />
Was ist Unterentwicklung? Wird sie durch Entwicklungshilfe<br />
verstärkt? Kann die Verelendung der Dritten Welt aufgehalten<br />
werden oder bleibt am Ende nur Resignation? Welche Folgen<br />
haben die Terroranschläge vom 11. September für die Nord-<br />
Süd-Beziehungen? Was bedeutet »nachhaltige Entwicklung«,<br />
»Feminisierung der Armut« oder »globale Strukturpolitik«?<br />
Ist die Globalisierung für die Dritte Welt Heilsversprechen<br />
oder Teufelswerk?<br />
Antworten gibt Franz Nuscheler in seinem völlig neu<br />
bearbeiteten »Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik«.<br />
Er verbindet nüchterne Analyse mit engagierter Kritik und<br />
bringt die Unmenge von Zahlen, Begriffen und Theorien in<br />
eine ordnende Zusammenschau.<br />
Eine gut verständliche Einführung in die Entwicklungspolitik<br />
– auch für interessierte Laien.<br />
Verlag J. H. W. <strong>Die</strong>tz Nachf.<br />
Dreizehnmorgenweg 24 – 53175 Bonn<br />
www.dietz-verlag.de<br />
E-Mail: info@dietz-verlag.de