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Die Millennium-Entwicklungsziele - sef

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EINE Welt<br />

Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden<br />

Band 20<br />

<strong>Die</strong> STIFTUNG ENTWICKLUNG UND FRIEDEN wurde<br />

1986 auf Initiative von Willy Brandt unter Mitwirkung des damaligen<br />

Ministerpräsidenten und späteren Bundespräsidenten<br />

Johannes Rau gegründet.<br />

<strong>Die</strong> überparteiliche und gemeinnützige Stiftung plädiert für<br />

eine politische Neuordnung in einer Welt, die zunehmend<br />

durch die Globalisierung geprägt ist. <strong>Die</strong> Arbeit der Stiftung<br />

beruht auf drei Prinzipien: globale Verantwortung, überparteilicher<br />

und interkultureller Dialog sowie interdisziplinäres Verstehen<br />

von Interdependenzen.<br />

Für diese Orientierung bürgen die führenden Persönlichkeiten<br />

der Stiftung. Dem Kuratorium stehen die Ministerpräsidenten<br />

der vier Stifterländer Nordrhein-Westfalen, Berlin,<br />

Brandenburg und Sachsen vor. Dem Vorstand gehören<br />

als Vorsitzender Staatssekretär a. D. Volker Kähne und seine<br />

Stellvertreter Staatssekretär a. D. Dr. Klaus <strong>Die</strong>ter Leister und<br />

Prof. em. Dr. Franz Nuscheler an. Vorsitzender des Beirates ist<br />

Prof. Dr. <strong>Die</strong>ter Senghaas. Geschäftsführerin der Stiftung ist<br />

Dr. Michèle Roth.


Franz Nuscheler / Michèle Roth (Hg.)<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Entwicklungspolitischer<br />

Königsweg oder ein Irrweg?<br />

Mit einem Vorwort von<br />

Minister Armin Laschet<br />

EINE Welt-<br />

Texte der Stiftung Entwicklung<br />

und Frieden


EINE Welt. Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden.<br />

Lektorat: Dr. Thomas Siebold<br />

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek<br />

<strong>Die</strong> Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen<br />

Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im<br />

Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar.<br />

ISBN-10: 3-8012-0364-6<br />

ISBN-13: 978-3-8012-0364-1<br />

Titelfoto: Make Poverty History-Marsch am 2. Juli 2005 in Edinburgh<br />

Picture Alliance/dpa/Chris Radburn<br />

Copyright © 2006 by Stiftung Entwicklung und Frieden<br />

Gotenstraße 152, D-53175 Bonn, http://www.<strong>sef</strong>-bonn.org<br />

Alle Rechte: Verlag J.H.W. <strong>Die</strong>tz Nachfolger GmbH<br />

Dreizehnmorgenweg 24, D-53175 Bonn<br />

Umschlaggestaltung: Groothuis & Consorten<br />

Druck und Verarbeitung: Ebner & Spiegel, Ulm<br />

Printed in Germany 2006


Inhalt<br />

Vorwort 11<br />

Einleitung<br />

FRANZ NUSCHELER, MICHÈLE ROTH 15<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>:<br />

ihr Potenzial und ihre Schwachstellen<br />

Eine kritische Zusammenfassung<br />

Kontroverse Debatte über die MDGs 16 – Weichenstellungen<br />

zum UN-<strong>Millennium</strong>-Projekt 17 – Make Poverty History: Mehr<br />

als alter Wein in neuen Schläuchen? 20 – Ansatz- und Schwerpunkte<br />

der Kritik 23 – Ist das Glas halb voll oder halb leer? 37 –<br />

Zusammenfassung: Königsweg oder Irrweg? 39<br />

Erster Teil:<br />

Was wurde bislang erreicht?<br />

THOMAS FUES 44<br />

Ist das Glas halb voll oder halb leer?<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> in den<br />

einzelnen Weltregionen<br />

Umsetzungsstand bei den MDGs 46 – Kritische Faktoren für die<br />

Erreichung der MDGs 53 – Fazit und Ausblick 57<br />

RICHARD BRAND 61<br />

Mehr Worte als Taten?<br />

Der deutsche Beitrag zur Erfüllung der <strong>Millennium</strong>-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Das Aktionsprogramm 2015 62 – Armutsbekämpfung, MDG-<br />

Orientierung und Wirkungsmonitoring 67 – Geringe Ressour-<br />

5


cenmobilisierung zur Entwicklungsfinanzierung 71 – Entwicklungspolitische<br />

Kohärenz 76 – Schlussbemerkung 78<br />

JUTTA KRANZ-PLOTE 81<br />

Chancen und Herausforderungen bei der operativen<br />

Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Eine Innenperspektive<br />

Ein verbindlicher Referenzrahmen für die strategische Ausrichtung<br />

der deutschen Entwicklungszusammenarbeit 81 – <strong>Die</strong><br />

deutsche EZ im Kontext der internationalen Prozesse zur<br />

Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-Agenda 84 – Eigenverantwortung<br />

der Entwicklungsländer und Partnerorientierung der<br />

Geber 85 – <strong>Die</strong> deutsche EZ als Teil der internationalen Gebergemeinschaft<br />

89 – <strong>Die</strong> Wirksamkeit der EZ als entscheidendes<br />

Qualitätsmerkmal 90 – Politikkohärenz als Voraussetzung für<br />

erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit 95 – Fazit 96<br />

MICHÈLE ROTH 98<br />

Armutsbekämpfung durch Massenmobilisierung?<br />

<strong>Die</strong> Kampagnen zu den <strong>Millennium</strong>-Entwicklungs zielen<br />

Zwischen Kooperation und Konkurrenz: die MDG-Kampagnen<br />

99 – Versuche einer Wirkungsanalyse 109 – »Cui bono außer<br />

Bono?« – Zur Kritik an den Kampagnen 112 – Fazit 114<br />

Zweiter Teil:<br />

Nur kurieren an Symptomen?<br />

UWE HOLTZ 118<br />

<strong>Die</strong> Zahl undemokratischer Länder halbieren!<br />

Armutsbekämpfung durch Demokratie, Menschenrechte und<br />

good governance<br />

<strong>Die</strong> MDGs: Fortschritt, aber fehlende politische Dimension 118<br />

– Was bedeuten Entwicklung und Demokratie? 122 – <strong>Die</strong> »dritte<br />

Welle der Demokratisierung« 124 – Demokratie in der Mil-<br />

6


lennium-Erklärung, aber nicht in den MDGs 125 – Demokratie,<br />

Menschenrechte und good governance als Voraussetzung und<br />

Ziel für die Realisierung der MDGs 127 – Plädoyer für eine Ergänzung<br />

des MDG-Zielkatalogs 132 – Schlussfolgerungen 135<br />

KARIN KÜBLBÖCK 138<br />

Schmerztherapie statt Ursachenbekämpfung?<br />

Eine strukturelle Kritik an den <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>n<br />

Entstehung der Ziele 138 – Fortschritt oder Rückschritt? 140<br />

– Quick fixes für Armut? 142 – Armut als technisches Problem –<br />

Entpolitisierung der Armutsdebatte 143 – Armut getrennt von<br />

Reichtum? 144 – Ausblendung weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen<br />

146 – Beschränkte Partnerschaft 149 – Schlussfolgerungen<br />

151<br />

FRANZ NUSCHELER 155<br />

Sinnentleerung des Prinzips Nachhaltigkeit<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> haben eine ökologische<br />

Lücke<br />

Das Umweltproblem ist ein Kernproblem internationaler Entwicklung<br />

156 – Analyse der Problemlage, die dem MDG 7<br />

zugrunde liegt 157 – Statt gemeinsamer »globaler Verantwortung«<br />

ein Feilschen um Positionsvorteile 160 – <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

als Referenzdokument 161 – Der diffuse Inhalt<br />

des MDG 7: Verflüchtigung des Leitbildes der globalen nachhaltigen<br />

Entwicklung 163 – Vorschläge zur Verkoppelung von<br />

Umwelt- und Entwicklungspolitik 167 – Fazit: Wider den Ungeist<br />

der ökologischen Bedenkenlosigkeit 169<br />

VERONIKA WITTMANN 173<br />

Gender und die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Empowerment ohne Veränderung der Machtstrukturen?<br />

<strong>Die</strong> feministische Kritik an den MDGs 173 – Gender in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung:<br />

ein rudimentärer Bereich 177 – <strong>Die</strong> Entmys-<br />

7


tifizierung der MDGs durch den Gender-Blick 179 – Fort- und<br />

Rückschritte bei der Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit<br />

182 – Ausblick auf 2015: Ohne Empowerment von Frauen<br />

wird kein MDG-Ziel erreicht werden 189<br />

Dritter Teil:<br />

Herausforderungen<br />

STEPHAN KLINGEBIEL 194<br />

Mit einem big push aus der Armutsfalle?<br />

Der Sachs-Bericht ist kein Patentrezept<br />

Afrika im Mittelpunkt der Debatte über eine neue Entwicklungspolitik<br />

194 – <strong>Die</strong> »Armutsfalle«: Ein Erklärungsansatz für<br />

Afrika südlich der Sahara? 197 – Wie viel Hilfe hilft Afrika südlich<br />

der Sahara? 200 – Wie wichtig ist Governance in Afrika südlich<br />

der Sahara? 202 – Wirksamere Entwicklungspolitik 203<br />

ROSS HERBERT 207<br />

Wachstumsziele statt <strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Afrika braucht eine andere Reformagenda<br />

<strong>Die</strong> MDGs können Afrikas wirkliche Probleme nicht lösen 208 –<br />

Kernpunkte für afrikanische <strong>Millennium</strong>-Wachstumsziele 212<br />

– <strong>Die</strong> politische Reformagenda 219 – Afrika braucht eine andere<br />

Reformagenda 221<br />

EVELINE HERFKENS, MANDEEP BAINS 223<br />

Damit die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> nicht nur eine<br />

Vision bleiben<br />

Herausforderungen für den Norden<br />

Fortschritte bei der Umsetzung der MDGs 224 – Mehr Mittel<br />

für die Entwicklungszusammenarbeit 229 – Qualitativ bessere<br />

Entwicklungszusammenarbeit 231 – Schuldenerlasse 234 – Gerechtere<br />

Handelsregeln 235 – Fazit 239<br />

8


Anhang<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> mit<br />

Zielvorgaben und Indikatoren 242<br />

Autorinnen, Autoren und Herausgeber 249<br />

9


Vorwort<br />

Das Ereignis schrieb Geschichte – nicht nur in Deutschland.<br />

Doch am Tag des Mauerfalls 1989 glaubten zunächst nur wenige<br />

daran, dass auch dem Ost-West-Konflikt ein rasches Ende<br />

beschieden sein würde. Umso größer war die Freude, als die<br />

globale Wende tatsächlich einsetzte – nicht zuletzt deshalb,<br />

weil auch die Krisengebiete und armen Länder des Südens<br />

nach dem plötzlichen Ende des Kalten Krieges auf Frieden,<br />

Freiheit und wirtschaftliche Entwicklung hoffen konnten.<br />

Aber es kam anders. Ein weltweiter Entwicklungsschub,<br />

die »Friedensdividende«, blieb aus. Kurz vor der Jahrtausendwende<br />

mussten die Vereinten Nationen eine bittere Bilanz ziehen:<br />

Mehr als eine Milliarde Menschen leben in extremer Armut,<br />

immer mehr Menschen müssen hungern, und die Schere zwischen<br />

reichen und armen Staaten vergrößert sich zusehends.<br />

Gewiss, die 1990er Jahre waren geprägt von einer intensiven<br />

Debatte über nachhaltige Entwicklung. Sie schärfte etwa<br />

das Bewusstsein für die globalen Umweltveränderungen. Außerdem<br />

wurde das Phänomen der Globalisierung eingehend<br />

untersucht und auf Chancen und Risiken abgeklopft. Was jedoch<br />

am Ende dieses Jahrzehnts bei nüchterner Betrachtung<br />

übrig blieb, war kaum mehr als die Erkenntnis, dass alle bisherigen<br />

Entwicklungsanstrengungen die extreme Armut nur in<br />

Ansätzen lindern konnten.<br />

Politische Beschlüsse zur Bekämpfung der Armut blieben<br />

aber zunächst aus. Es mussten andere Faktoren hinzukommen,<br />

um den Handlungsdruck auf die Weltgemeinschaft zu erhöhen.<br />

Dazu gehörte die Aufbruchsstimmung, die vom Jahrtausendwechsel<br />

ausging. Nur so ist zu erklären, dass es gelang,<br />

am 8. September 2000 die »<strong>Millennium</strong>-Erklärung der Vereinten<br />

Nationen« und in ihrer Folge die acht <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

(MDGs) zu verabschieden – ein Novum in der<br />

Geschichte der Entwicklungspolitik.<br />

11


In jüngster Zeit werden die MDGs aber zunehmend kritisch<br />

diskutiert. <strong>Die</strong>se Auseinandersetzung ist wichtig, weil sie hilft,<br />

die <strong>Entwicklungsziele</strong> weiterzuentwickeln. Doch trotz berechtigter<br />

Kritik: Es sollte nicht vergessen werden, dass sich die<br />

Weltgemeinschaft auf ganz konkrete Ziele und einen verbindlichen<br />

Zeitrahmen zur Bekämpfung der Armut festlegt hat.<br />

Allein das war ein großer Schritt vorwärts – weg von den zahlreichen<br />

wohl klingenden, aber unverbindlichen Erklärungen<br />

der Vergangenheit. Selbst die Gründungsmitglieder der Stiftung<br />

Entwicklung und Frieden (SEF) wollten an globale Beschlüsse<br />

zunächst nicht so recht glauben. So heißt es in einer<br />

vom SEF-Vorstand in den 1980er Jahren formulierten Zielsetzung:<br />

»Uns eint die Vision einer Welt ohne Grenzen und Vorurteile,<br />

ohne Hunger und Angst vor Zerstörung. Wir sind uns bewusst, dass<br />

diese Vision weder heute noch morgen verwirklicht werden kann.<br />

Aber wir wollen uns dafür einsetzen, schrittweise jenem Ziel näher<br />

zu kommen. <strong>Die</strong> Zukunft der Menschheit hängt davon ab, ob wir uns<br />

als Weltbürger begreifen und in globaler Verantwortung handeln.«<br />

Doch zurück in die Gegenwart: Mit der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

verfügen wir über einen konkreten Leitfaden für unser<br />

künftiges entwicklungspolitisches Handeln. Aber wir erreichen<br />

die MDGs nur, wenn sich alle entwicklungspolitischen<br />

Akteure bis 2015 gemeinsam auf die acht <strong>Entwicklungsziele</strong><br />

konzentrieren.<br />

<strong>Die</strong> G8, die EU und die Bundesregierung schufen mit der<br />

Entscheidung, die Quote für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit<br />

(Official Development Assistance, ODA) bis 2015 stufenweise<br />

auf 0,7 % zu erhöhen und weit reichende Schuldenerlasse<br />

zu gewähren, auch einen finanziellen Grundstein für die<br />

armutsorientierte Entwicklungszusammenarbeit. Auch wenn<br />

die ODA-Quote zunächst vor allem durch die Schuldenerlasse<br />

stieg, werden die weiteren Steigerungen künftig doch frisches<br />

Geld bringen. Das freilich setzt voraus, dass die Regierungen<br />

im Norden ihre Verpflichtungen gegenüber den Entwicklungs-<br />

12


ländern einhalten – was angesichts hoch verschuldeter öffentlicher<br />

Haushalte nicht einfach sein wird.<br />

Nordrhein-Westfalen, neben Berlin, Brandenburg und Sachsen<br />

Stifter der Stiftung Entwicklung und Frieden, konzentriert<br />

seine internationale Entwicklungszusammenarbeit ebenfalls<br />

auf die MDGs. So pflegen wir gute Beziehungen zu zahlreichen<br />

Entwicklungsländern und fördern die entwicklungspolitische<br />

Bildungsarbeit. Nordrhein-Westfalen ist in diesem Bereich der<br />

größte Akteur unter den Bundesländern.<br />

Freilich müssen wir uns darauf konzentrieren, eine den<br />

Möglichkeiten unseres Landes angemessene Praxis der Entwicklungspolitik<br />

zu entwerfen und umzusetzen. <strong>Die</strong>s kann<br />

nur gelingen durch die Kooperation mit Partnern aus der Wirtschaft<br />

und der Zivilgesellschaft sowie durch die Nutzung landesspezifischer<br />

Standortpotenziale. Für Nordrhein-Westfalen<br />

steht das <strong>Millennium</strong>ziel 8, der Aufbau einer Internationalen<br />

Entwicklungspartnerschaft, im Mittelpunkt. Dabei legen wir<br />

den Schwerpunkt auf Afrika südlich der Sahara, eine Region,<br />

die in besonderem Maße unter Armut leidet. <strong>Die</strong> Konzentration<br />

auf ein Gebiet erlaubt es uns auch, unsere eigenen Förderprogramme<br />

zielgerichteter umzusetzen und die Aktivitäten<br />

unserer Partner aus Wirtschaft und Zivilgesellschaft besser<br />

einzubinden. Eine wichtige Rolle werden dabei künftig die<br />

rund 65.000 in unserem Land lebenden Menschen aus Afrika<br />

südlich der Sahara spielen. Ihre Potenziale als »Brückenbauer«<br />

sind bislang noch weitgehend ungenutzt. Es geht nicht nur um<br />

die privaten Rücküberweisungen von hier lebenden Zuwanderern,<br />

die für viele arme Länder Afrikas eine wichtige Einnahmequelle<br />

darstellen und die öffentliche Entwicklungshilfe<br />

mittlerweile übertreffen, sondern vor allem darum, stabilere<br />

Kommunikationsbeziehungen zu afrikanischen Ländern herzustellen,<br />

kulturelle und sprachliche Barrieren zu verkleinern<br />

und die Rückkehr zu erleichtern.<br />

Es gibt aber noch weitere gute Gründe, die Kooperation<br />

mit Afrika auszubauen. Nordrhein-Westfalen ist das deutsche<br />

13


Nord-Süd-Land. Fast alle wichtigen entwicklungspolitischen<br />

Einrichtungen sind bei uns zu Hause. Außerdem verfügen<br />

wir mit Bonn über den einzigen UN-Standort in Deutschland.<br />

Kurzum: <strong>Die</strong> Entwicklungspolitik und ihre Institutionen bereichern<br />

unser Land wie kaum ein anderes Politikfeld.<br />

Aber auch als Exportland ist es für Nordrhein-Westfalen<br />

wichtig, gute Beziehungen zu Afrika aufzubauen. <strong>Die</strong> Möglichkeiten<br />

der Zusammenarbeit sind vielfältig. Einen Schwerpunkt<br />

soll der Energiesektor bilden, in dem Nordrhein-Westfalen<br />

über besonders umfangreiche Erfahrungen verfügt. Im<br />

Bereich der erneuerbaren Energien zum Beispiel bieten sich<br />

eine Reihe von Kooperationen mit dem südlichen Afrika an.<br />

Und mit Blick auf die Fußball-Weltmeisterschaft im Jahr 2010<br />

in Südafrika werden wir unsere Partnerprovinz Mpumalanga<br />

bei ihren Vorbereitungen als Austragungsort unterstützen.<br />

Nordrhein-Westfalen wird sich aber nicht an den MDGs<br />

festklammern. Ziele wie Gute Regierungsführung, Frieden<br />

und Sicherheit sind für uns genauso wichtig. Gerade mit unseren<br />

Erfahrungen als Bundesland können wir Impulse für<br />

den Dezentralisierungs- und Demokratisierungsprozess in den<br />

Entwicklungsländern geben.<br />

Uns ist es ein wichtiges Anliegen, den Blick über den Tellerrand<br />

zu richten. Deshalb engagiert sich Nordrhein-Westfalen<br />

in der Stiftung Entwicklung und Frieden. So entsteht wichtiges<br />

Know-how zu allen zentralen Fragen der globalen Entwicklung<br />

und Friedenssicherung. In diesem Sinne wird auch das<br />

vorliegende Buch den Blick auf die MDGs schärfen und einen<br />

Beitrag dazu leisten, dass die weltweite Armutsbekämpfung<br />

ihre Wirkung entfaltet.<br />

14<br />

Armin Laschet<br />

Minister für Generationen, Familie, Frauen und<br />

Integration des Landes Nordrhein-Westfalen<br />

Mitglied im Kuratorium der Stiftung Entwicklung<br />

und Frieden


FRANZ NUSCHELER, MICHÈLE ROTH<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>:<br />

ihr Potenzial und ihre Schwachstellen<br />

Eine kritische Zusammenfassung<br />

In einer Flut von Reden und Publikationen, die bei Google schon<br />

Millionen Webseiten füllen, finden sich viele Wortschöpfungen,<br />

um die Bedeutung der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong><br />

Development Goals, MDGs) in der Geschichte der internationalen<br />

Entwicklungspolitik hervorzuheben. Da war gar die<br />

Rede von einem neuen »Mantra« (Martens 2005). <strong>Die</strong>ses geheimnisvolle<br />

Wort kommt aus dem Sanskrit und bedeutet laut<br />

Fremdwörter-Duden eine als »wirkungskräftig geltende religiöse<br />

Formel«. <strong>Die</strong> Betonung liegt auf »wirkungskräftig geltend«,<br />

also auf dem quasi-religiösen Glauben, dass die Formel auch<br />

praktische Wirkungskraft entfaltet. Christa Wichterich (2005)<br />

entdeckte in den MDGs einen »entwicklungspolitischen Katechismus«,<br />

der ebenfalls religiös untermauerte Ge- und Verbote<br />

enthält und bei Zuwiderhandeln Strafen androht.<br />

<strong>Die</strong> MDGs haben offensichtlich die Bedeutung einer Beschwörungsformel<br />

gewonnen, die sowohl den Glauben als<br />

auch die Hoffnung stärkt, dass die acht MDGs (vgl. Anhang)<br />

im geplanten Zeitraum erreicht werden können; dass also eine<br />

Halbierung der in extremer Armut lebenden Menschen in den<br />

noch verbleibenden zehn Jahren trotz einer wachsenden Weltbevölkerung<br />

möglich sein wird. <strong>Die</strong> auf dem <strong>Millennium</strong>+5-<br />

Gipfel vom September 2005 vorgelegten Zwischenbilanzen<br />

nährten allerdings die Zweifel, dass die Ziele auch dort erreicht<br />

werden können, wo die Statistiken internationaler Organisationen<br />

in den ersten fünf Jahren wenig Fortschritte oder gar<br />

Rückschritte registrierten. Wie der Beitrag von Thomas Fues<br />

15


zeigt, ist das Glas in globaler Perspektive schon halb voll, aber<br />

bei einer regionalen Aufschlüsselung der Daten an manchen<br />

Orten nicht einmal halb leer.<br />

<strong>Die</strong> Mantra-Formel verlor ihre Geltung als »wirkungskräftig«,<br />

aber nicht ihre Funktion als Beschwörungsformel: Denn<br />

dies ist gewiss, dass eine Erfolge nachweisende Politik der Armutsbekämpfung<br />

für eine nationale und internationale Entwicklungspolitik,<br />

die nicht den letzten Rest ihrer ohnehin angeschlagenen<br />

Glaubwürdigkeit und Legitimation verlieren<br />

möchte, die Nagelprobe bildet. Umfragen haben immer wieder<br />

zutage gefördert, dass die Menschen prinzipiell immer noch –<br />

obgleich angesichts wachsender Sozialprobleme im eigenen<br />

Land immer weniger – auch eine höhere Entwicklungshilfe akzeptieren<br />

würden, sofern sie davon überzeugt werden können,<br />

dass sie wirklich bei den Armutsgruppen ankommt.<br />

Kontroverse Debatte über die MDGs<br />

Es geht in diesem Sammelband weder um eine Romantisierung<br />

noch um eine Entmystifizierung des MDG-Mantra, sondern<br />

um eine nüchterne Bestandsaufnahme und Antwort auf<br />

die Titelfrage, ob die MDGs einen entwicklungspolitischen<br />

Königsweg oder eher einen Irrweg beschritten haben. Anders<br />

formuliert: Erweist sich der programmatische große Wurf bei<br />

näherem Hinsehen als ein letztlich hilfloses Kurieren an Symptomen<br />

der Armut? Oder gleichen sie gar, wie Ross Herbert vom<br />

South African Institute of International Affairs bissig kommentiert,<br />

einer politischen Camouflage, die von den wirklichen Problemen<br />

ablenkt?<br />

Zwar kommen die Beiträge überwiegend zu einer kritischen<br />

Bewertung einzelner MDGs und des »Gesamtkunstwerkes«<br />

des MDG-Kataloges, aber nicht deshalb, weil sie das<br />

Ziel der Armutsbekämpfung nicht teilen, sondern weil sie in<br />

den MDGs nicht den richtigen Weg zu diesem Ziel erkennen<br />

16


können. <strong>Die</strong> Kritik gilt also nicht dem Ziel, sondern dem vom<br />

MDG-Zielkatalog aufgestellten Wegweiser.<br />

Nach Einschätzung des Sachs-Reports (2005, 2) sind die<br />

MDGs »die am breitesten unterstützten, umfassendsten und<br />

konkretesten Vorgaben zur Verringerung der Armut, die die<br />

Welt je aufgestellt hat«. Breit unterstützt und konkret sind sie<br />

sicherlich, aber umfassend ist allenfalls die <strong>Millennium</strong>-Erklärung.<br />

Ein Hauptkritikpunkt dieses Bandes ist deshalb, dass<br />

sich von den vier in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung formulierten<br />

grundlegenden, interdependenten Herausforderungen, denen<br />

sich die internationale Gemeinschaft stellen muss – nämlich<br />

Frieden und Sicherheit, Entwicklung und Armutsbekämpfung,<br />

Schutz der Umwelt sowie Menschenrechte, Demokratie<br />

und good governance –, drei in den MDGs nicht oder nicht<br />

angemessen wiederfinden. Auch andere, für eine erfolgreiche<br />

Armutsbekämpfung höchst relevante, jedoch politisch brisante<br />

Themen wurden im MDG-Katalog ausgespart.<br />

<strong>Die</strong> Kritik zeigt, dass die allseitigen Bekenntnisse zu den<br />

MDGs keineswegs alle entwicklungspolitischen Kontroversen<br />

in einem allseitigen Konsens aufgehoben haben. Der vorliegende<br />

Sammelband zielt auf eine Rekonstruktion dieser Kontroversen<br />

und auf eine Überprüfung der Frage, welche Wirkungskraft<br />

die Mantra-Formel als »wirkungskräftig geltende<br />

religiöse Formel« in der praktischen Entwicklungspolitik entfalten<br />

konnte.<br />

Weichenstellungen zum UN-<strong>Millennium</strong>-Projekt<br />

Was die Staats- und Regierungschefs in der <strong>Millennium</strong>-<br />

Erklärung unterzeichneten, war schon vorher in vielen UN-<br />

Dokumenten und Berichten von internationalen Kommissionen<br />

enthalten. Es war also nicht neu, was plötzlich als Mantra<br />

der internationalen Entwicklungspolitik entdeckt wurde.<br />

Schon in den 1970er Jahren, als sich die Weltbank, damals unter<br />

17


der Leitung von Robert McNamara, auf einen Kampf gegen die<br />

»absolute Armut« mittels einer Grundbedürfnisstrategie einschwor,<br />

überschlugen sich die UN-Organisationen und nationalen<br />

Entwicklungsbehörden mit den folgenden Ziel- und Willenserklärungen:<br />

»Nahrung für alle« (Welternährungsorganisation),<br />

»Gesundheit für alle« (Weltgesundheitsorganisation),<br />

»Bildung für alle« (UNESCO) oder sogar »Arbeit für alle« (Internationale<br />

Arbeitsorganisation). <strong>Die</strong>se hoch gesteckten Ziele<br />

sollten schon bis Ende des vergangenen Jahrhunderts erreicht<br />

werden. Auch die so genannten UN-Entwicklungsdekaden<br />

waren voll gepackt mit hohen Zielsetzungen, die am Ende der<br />

Dekaden jedes Mal unerfüllt blieben.<br />

Dann kam zu Beginn der 1980er Jahre, eingeleitet durch die<br />

Verschuldungskrise vieler Entwicklungsländer, die ordnungspolitisch<br />

vom Washington-Konsensus unterlegte »neo-liberale<br />

Wende«, die auch der als »Armenpolitik« diskreditierten<br />

Grundbedürfnisstrategie den schnellen Garaus machte. Mit ihr<br />

kamen die vom Internationalen Währungsfonds (IWF) und der<br />

Weltbank mit dem Knüppel der Kreditverweigerung durchgesetzten<br />

Strukturanpassungsprogramme, die den zusätzlich<br />

von hohen Ölpreissteigerungen heimgesuchten Schuldnerländern<br />

makroökonomische Struktur- und Sparpolitiken aufzwangen.<br />

Sie forderten vor allem den Armutsgruppen ab, den<br />

ohnehin engen Gürtel noch enger zu schnallen. Der erzwungene<br />

Abbau von Subventionen für Grundnahrungsmittel und<br />

Medikamente erschwerte das Überleben, die Einführung von<br />

Schulgebühren senkte die Einschulungsraten. Hier ging es um<br />

die basic needs des nackten Überlebens.<br />

Es waren damals neben den Nichtregierungsorganisatio nen<br />

(NGOs), die weltweit Kampagnen gegen diese Politik organisierten,<br />

auch UN-Organisationen wie das UN-Entwicklungsprogramm<br />

(UNDP) und das UN-Kinderhilfswerk (UNICEF),<br />

die eine »Strukturanpassung mit menschlichem Gesicht« ohne<br />

allzu große soziale Grausamkeiten forderten. <strong>Die</strong> Länder der<br />

Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Ent-<br />

18


wicklung (OECD), die nach der weltpolitischen Zeitenwende<br />

vom Ballast des Kalten Krieges befreit waren, konnten Berichte<br />

nicht mehr ignorieren, die eine Verschärfung des Armutsproblems<br />

und der in der »globalen Risikogesellschaft«<br />

(Ulrich Beck) auch auf sie zurück wirkenden armutsbedingten<br />

Folgeprobleme belegten. Sie erklärten bereits auf dem Kopenhagener<br />

Weltsozialgipfel von 1995 einen »Krieg gegen die Armut«<br />

mit dem – freilich illusionären – Ziel ihrer weltweiten<br />

»Ausrottung«. Gleichzeitig drängten sie die mächtigen Bretton<br />

Woods-Institutionen, in denen sie mit ihren überlegenen Kapitalanteilen<br />

das Sagen haben, zu Kursänderungen ihrer mit harten<br />

Konditionen ausgestatteten Kreditpolitik. Schon ein Jahr<br />

später formulierte die OECD in ihrem Strategiepapier »Shaping<br />

the 21 st Century« das Kernziel der MDGs, die Halbierung<br />

der statistisch errechneten Armutsquote (also des Anteils von<br />

Menschen mit einem Pro-Kopf-Einkommen von weniger als<br />

1 US-$ pro Tag).<br />

Zur Vorgeschichte der MDGs gehören die folgenden Erfahrungen<br />

und Weichenstellungen:<br />

Erstens die Erfahrung, dass die vielen Milliarden Dollar,<br />

die in den Süden flossen, das Anwachsen der Armut in einigen<br />

Weltregionen nicht aufhalten konnten und aus diesem<br />

Ver elendungswachstum auch dem reichen Norden Risiken erwachsen.<br />

Zweitens die Konsequenz, welche die OECD schon 1996<br />

aus den Handlungsempfehlungen des Kopenhagener Weltsozialgipfels<br />

zog: nämlich die Willenserklärung zu einer Halbierung<br />

der Armutsquote.<br />

Drittens die Folgerungen, die die Bretton Woods-Institutionen<br />

auf ihrer gemeinsamen Jahrestagung vom Herbst 1999 aus<br />

dem Kurswechsel ihrer Anteilseigner zogen. Innovativ war vor<br />

allem ihr neuer Ansatz zum Schuldenmanagement, der in den<br />

Poverty Reduction Strategy Papers (PRSPs) verankert wurde und<br />

erstmals zivilgesellschaftliche Akteure beteiligte.<br />

19


Viertens konnten die MDGs auf den Vereinbarungen aufbauen,<br />

die auf der Serie von Weltkonferenzen der 1990er Jahre<br />

im internationalen Konsens getroffen wurden. <strong>Die</strong>se Weltkonferenzen,<br />

auf denen die NGOs nicht mehr an Katzentische abgedrängt,<br />

sondern in die Verhandlungen einbezogen wurden,<br />

waren keine folgenlosen Rituale des internationalen Konferenztourismus,<br />

sondern in der Tat »Baustellen für Global Governance«<br />

(Fues/Hamm 2001).<br />

Weder das Kernziel Nr. 1, die Halbierung der Armutsquote,<br />

noch die weiteren Einzelziele im MDG-Zielkatalog können irgendeine<br />

Originalität beanspruchen. Man kann sie eher als<br />

einen »ultimative[n] Kraftakt der UN, um die Serie gescheiterter<br />

Entwicklungskonzepte mit einem pragmatischen Hauruck-Verfahren<br />

zu beenden« (Wichterich 2005), sowie als einen<br />

Versuch dieser häufig kritisierten Weltorganisation deuten,<br />

durch eine spektakuläre Initiative ihre eigene Existenzberechtigung<br />

nachzuweisen. Auch deshalb engagieren sich Eveline<br />

Herfkens, die Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für<br />

die <strong>Millennium</strong> Campaign, und ihre Kollegin Mandeep Bains in<br />

diesem Sammelband vehement für die MDGs.<br />

Make Poverty History:<br />

Mehr als alter Wein in neuen Schläuchen?<br />

Den Kritikern fallen viele Formulierungen ein, um das »Mantra«<br />

der MDGs zu entmystifizieren. Sind sie wirklich nicht mehr als<br />

»viel Lärm um nichts« oder »alter Wein in neuen Schläuchen«?<br />

Es gibt mehrere Gründe, in ihnen doch etwas Neues und einen<br />

entwicklungspolitischen Befreiungsschlag zu entdecken, der<br />

aus den Orientierungs- und Legitimationsproblemen herausführen<br />

könnte, in welche die internationale Entwicklungspolitik<br />

nach der Verflüchtigung der geostrategischen Schubkraft,<br />

die ihr die Interessenlogik des Kalten Krieges verschafft hatte,<br />

geraten war.<br />

20


Erstens: Es ist zwar richtig, dass alle Ziele und Forderungen,<br />

welche die MDGs in einem entwicklungspolitischen Achteck<br />

zusammenfassen, schon in diversen UN-Dokumenten und<br />

Absichtserklärungen von Weltkonferenzen auftauchten. Aber<br />

keiner dieser Forderungskataloge erhielt den Nachdruck, den<br />

die in New York versammelten Repräsentanten der Staatengemeinschaft<br />

der <strong>Millennium</strong>-Erklärung und den aus ihr abgeleiteten<br />

MDGs verliehen. Nach Ansicht von UN-Generalsekretär<br />

Kofi Annan haben die MDGs bereits das »Antlitz der<br />

internationalen Entwicklungspolitik« verändert.<br />

Zweitens: Sechs der acht MDGs wurden erstmals – und im<br />

Unterschied zu früheren ebenso ambitionierten, aber unverbindlichen<br />

Absichtserklärungen – mit quantitativen und damit<br />

auch überprüfbaren Ziel- und Zeitvorgaben zu ihrer Verwirklichung<br />

gehärtet. <strong>Die</strong>s ist neu und setzt die entwicklungspolitischen<br />

Entscheidungsträger unter erheblichen Handlungsdruck.<br />

Drittens: Nie zuvor schienen sich alle Akteure über einen<br />

entwicklungspolitischen Zielkatalog so einig zu sein. Aber es<br />

stellte sich bald heraus, dass die Einigkeit über das Ziel keineswegs<br />

die Einigkeit über Mittel und Wege einschließt, wie dieses<br />

Ziel zu erreichen ist. So reaktivierten die Erfolge in China und<br />

Indien bei der Armutsbekämpfung die alte trickle down-Streitfrage,<br />

ob die Armut am erfolgreichsten durch ein möglichst hohes<br />

Wirtschaftswachstum bekämpft werden kann.<br />

Viertens: Nie zuvor wurden sowohl die Entwicklungs- als<br />

auch die Industrieländer so nachdrücklich angehalten, nationale<br />

Strategien zur Armutsbekämpfung zu erarbeiten. In<br />

Deutschland geschah dies bemerkenswert schnell durch das<br />

auch von der NGO-Szene gelobte »Aktionsprogramm 2015«,<br />

das alle Ressorts in einen Verpflichtungskatalog einband, aber<br />

dem BMZ die Führungsrolle zuwies (vgl. den Beitrag von<br />

Brand).<br />

Fünftens: Eine wichtige Innovation enthalten nicht die<br />

MDGs selbst, sondern ein Instrument zu den im MDG 8 gefor-<br />

21


derten Schuldenerlassen: nämlich das in den PRSPs verankerte<br />

Erfordernis der gesellschaftlichen Partizipation bei ihrer Gestaltung.<br />

Schuldenerlasse spielen für die Armutsbekämpfung<br />

eine wichtige Rolle, weil sie besonders die ärmsten und hoch<br />

verschuldeten Länder (HIPC) vom Druck befreien, erhebliche<br />

Anteile ihrer knappen Devisenerlöse für den Schuldendienst<br />

aufbringen zu müssen. Ebenso wichtig ist, dass nicht nur Bürokratien,<br />

sondern auch betroffene gesellschaftliche Gruppen<br />

mitentscheiden dürfen, für welche Zwecke die nach Schuldenerlassen<br />

verfügbaren Mittel verwendet werden sollen. Auf<br />

diese Weise wird möglich, was die zivilgesellschaftliche Entwicklungslobby<br />

schon lange gefordert hatte: Entschuldung für<br />

Entwicklung und für die Bekämpfung der Armut.<br />

Sechstens: <strong>Die</strong> Verkündung der MDGs förderte breite öffentliche<br />

Kampagnen und gab der entwicklungspolitischen<br />

Bildungsarbeit einen kräftigen Schub. Selten zuvor beteiligten<br />

sich neben der buntscheckigen NGO-Gemeinde auch Ministerien,<br />

Bundesländer (wie NRW), Kommunen, Kirchen und<br />

Medien mit vielerlei Aktivitäten an einer Kampagne wie der<br />

von den Vereinten Nationen weltweit organisierten <strong>Millennium</strong><br />

Campaign. VENRO, der Dachverband entwicklungspolitischer<br />

NGOs, organisierte und koordinierte zusammen mit Herbert<br />

Grönemeyer die nationale NGO-Kampagne Deine Stimme gegen<br />

Armut. <strong>Die</strong> Tatsache, dass mit Armin Laschet ein Landesminister<br />

und mit Eveline Herfkens eine UN-Repräsentantin<br />

Beiträge zu diesem Sammelband beisteuern, belegt dieses auf<br />

verschiedenen politischen Handlungsebenen verankerte Engagement<br />

für die MDGs.<br />

<strong>Die</strong> Unterstützung durch Popstars wie Bob Geldorf, Bono<br />

und Herbert Grönemeyer zur Mobilisierung der Massen wurde<br />

allerdings, wie der Beitrag von Michèle Roth zeigt, auch kritisch<br />

und gelegentlich gar höhnisch kommentiert. Unter anderem<br />

wurde den beteiligten Stars unterstellt, mehr für das eigene<br />

Image von Wohltätern der Menschheit als für die Sache<br />

zu werben. Welche Motive sie auch dazu bewogen haben mö-<br />

22


gen, gegen die Armut in der Welt auf die Bühne zu gehen: Sie<br />

haben mehr Menschen erreicht als alle Informationskampagnen<br />

von UN-Organisationen, Ministerien und NGOs es alleine<br />

vermocht hätten. Angesichts des ernüchternden demoskopischen<br />

Nachweises, dass nach Umfragen von Euro barometer<br />

Ende 2004 nur 12 % der Europäer etwas mit den MDGs anzufangen<br />

wussten, ist der unerwünschte Nebeneffekt einer Personalityshow<br />

zu verschmerzen.<br />

Neu waren also nicht so sehr die Inhalte der MDGs, sondern<br />

das weltweite Echo, das sie auslösten. Es gab bisher in der<br />

internationalen Entwicklungspolitik keinen so großen Konsens<br />

und kein vergleichbares Momentum, feierliche Absichtserklärungen<br />

in rasche Taten umzusetzen. <strong>Die</strong>sem Zweck diente<br />

auch die Verdichtung der <strong>Millennium</strong>-Erklärung auf konkrete<br />

und mittels Indikatoren überprüfbare Ziele. <strong>Die</strong> MDGs mögen<br />

inhaltlich »alter Wein in neuen Schläuchen« gewesen sein, aber<br />

diese neuen Schläuche verliehen dem alten Inhalt hohe Aktualität<br />

und Dringlichkeit.<br />

Ansatz- und Schwerpunkte der Kritik<br />

<strong>Die</strong> internationale Diskussion über die MDGs hebt in der Regel<br />

die oben erwähnten positiven Aspekte hervor, reibt sich<br />

aber zunehmend auch an einigen Schwachstellen. <strong>Die</strong> Gewichtung<br />

von Lob und Kritik hängt dabei sowohl von subjektiven<br />

Wertentscheidungen als auch von entwicklungsstrategischen<br />

Überlegungen ab, die auf entwicklungstheoretische Debatten<br />

der vergangenen Jahrzehnte zurückgreifen. <strong>Die</strong> Leitfrage lautet:<br />

Bilden die MDGs den entwicklungspolitischen Königsweg<br />

für das beginnende 21. Jahrhundert oder erweisen sie sich nach<br />

einer nüchternen Analyse der sozio-ökonomischen und politischen<br />

Strukturen in den Zielländern und der internationalen<br />

Rahmenbedingungen eher als ein Irrweg? Dabei ist eine<br />

von Jutta Kranz-Plote in diesem Band betonte Einschränkung<br />

23


wichtig: <strong>Die</strong> MDGs beschreiben »Mindestvoraussetzungen für<br />

ein menschenwürdiges Leben«, stellen aber keine »umfassende<br />

Entwicklungsagenda« dar.<br />

»Frieden ist nicht alles, aber ohne Frieden ist alles nichts«<br />

(Willy Brandt)<br />

Das friedens- und entwicklungspolitische Credo von Willy<br />

Brandt, dem Friedensnobelpreisträger und Gründer der Stiftung<br />

Entwicklung und Frieden (SEF), lautete: Ohne Frieden<br />

gibt es keine Entwicklung und ohne Entwicklung gibt es keinen<br />

Frieden. <strong>Die</strong>ses Credo liegt auch der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

zugrunde, wird aber im MDG-Zielkatalog gänzlich ausgeblendet.<br />

Seine Konstrukteure hätten bei der Friedens- und<br />

Konfliktforschung aussagefähige Indikatoren abrufen können,<br />

um den Schlüsselproblemen der Friedenssicherung und politischen<br />

Stabilisierung fragiler Staatsgebilde einen dem Problemdruck<br />

angemessenen Stellenwert zu geben.<br />

Welche elementare Bedeutung die Friedenssicherung für<br />

die Bekämpfung der Massenarmut hat, kann am Beispiel<br />

des an mineralischen Rohstoffen ungemein reichen, aber von<br />

Warlords und räuberischen Milizen terrorisierten sowie von<br />

externen Beutemachern ausgeplünderten Kongo ver deutlicht<br />

werden. <strong>Die</strong>ses potenziell reiche Land im Zentrum Afrikas<br />

könnte die Armut aus eigener Kraft überwinden – könnte,<br />

wenn ihm mit internationaler Hilfe die Wiederherstellung einer<br />

funktionierenden Staatlichkeit und politische Stabilisierung<br />

gelingen würden; und wenn es außerdem die entäußerte<br />

Verfügungsgewalt über seinen Ressourcenreichtum zurück gewinnen<br />

könnte. Darüber hinaus ist dann allerdings good governance<br />

die bare Voraussetzung, dass dieser Reichtum auch der<br />

Bevölkerung zugute kommt.<br />

Ähnlich verhält es sich bei anderen fragilen oder schon kollabierten<br />

Staatsgebilden (failing states), zu denen in Afrika süd-<br />

24


lich der Sahara ein Viertel aller Staaten gezählt wird (Debiel/<br />

Werthes 2006). Sie sind allesamt beim Human Development Index<br />

und beim Poverty Index von UNDP oder beim neuen Bertelsmann<br />

Transformation Index an das Ende der Ranking-Tabellen<br />

zurückgefallen. Wie dramatisch die Lage in dieser Ländergruppe<br />

ist, belegte das britische Department for International Development<br />

(DFID) mit Zahlen: <strong>Die</strong> Müttersterblichkeit beispielsweise<br />

liegt hier dreimal so hoch wie in anderen armen Ländern.<br />

<strong>Die</strong> Wahrscheinlichkeit, dass die MDGs in diesen Ländern umgesetzt<br />

werden können, schätzt das DFID auf unter 20 %.<br />

Es ist also nicht nachvollziehbar, warum sich die MDGs<br />

auch bei den Zielvorgaben und Indikatoren über das Kardinalproblem<br />

der Sicherheit ausschweigen. VENRO hat hierzu<br />

erste Anregungen entwickelt und schlägt unter anderem eine<br />

Beschränkung des Waffenhandels und die Reduzierung der<br />

nationalen Rüstungsausgaben als konkrete Ziele vor (VENRO<br />

2006, 7). Allerdings kann die kontrollierte Lieferung von militärischen<br />

Ausrüstungsgütern sinnvoll und notwendig sein, um<br />

nationale Sicherheitskräfte in die Lage zu versetzen, das staatliche<br />

Gewaltmonopol und die innere Sicherheit zu bewahren.<br />

Keine Entwicklung ohne good governance,<br />

Demokratie und Menschenrechte<br />

Der UN-Generalsekretär räumte in seinem programmatischen<br />

Bericht zum <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel unter dem Titel »In Larger<br />

Freedom« der Demokratie und den Menschenrechten einen<br />

ebenso hohen Stellenwert wie der Entwicklung und der Friedenssicherung<br />

ein. Dagegen hatte die diplomatische Rücksichtnahme<br />

der MDG-Konstrukteure auf die politischen Empfindlichkeiten<br />

vieler Entwicklungsländer abermals zur Folge,<br />

dass das Grundübel bad governance, vor allem in Gestalt der alle<br />

Lebensbereiche und politischen Entscheidungsebenen durchdringenden<br />

Korruption, verschwiegen wird. Uwe Holtz er-<br />

25


kennt in seinem Beitrag im Zurückfallen der MDGs hinter die<br />

starken Bekenntnisse der <strong>Millennium</strong>-Erklärung und vieler anderer<br />

internationaler Konferenzbeschlüsse zu Demokratie und<br />

Menschenrechten die entscheidende Schwach- und Bruchstelle.<br />

Für ihn bildet eine auf der Achtung der Menschenrechte<br />

beruhende Demokratie die Voraussetzung dafür, dass die Armen<br />

zu ihren Rechten kommen können.<br />

Stephan Klingebiel verweist in seinem Beitrag auf empirische<br />

Nachweise, dass in Afrika good governance die wirtschaftliche<br />

Leistungsfähigkeit positiv beeinflusst und in einer engen<br />

Wechselwirkung mit der Anfälligkeit für Gewaltkonflikte<br />

steht. Und was folgt aus dem Mangel an diesen politischen<br />

Voraussetzungen? Selbst wenn die reichen Länder aufbringen<br />

sollten, was ihnen Jeffrey Sachs in seinem Bericht zum <strong>Millennium</strong>-Projekt<br />

abverlangte, nämlich eine sofortige Verdoppelung<br />

und bis 2015 eine Verdreifachung des derzeitigen Volumens<br />

öffentlicher Entwicklungsgelder (Official Development<br />

Assistance, ODA), könnten diese mangels funktionierender<br />

Rechts- und Verwaltungsstrukturen nicht sinnvoll eingesetzt<br />

werden. Afrika galt deshalb schon als over-aided. Eine Erfolge<br />

versprechende Armutsbekämpfung setzt die Überwindung<br />

schlechter Regierungsführung, die Bekämpfung des vielerorts<br />

wuchernden Krebsgeschwürs der Korruption und die Herstellung<br />

rechtsstaatlicher Verhältnisse voraus. Erst dann können<br />

externe Subsidien zur Verwirklichung der MDGs beitragen.<br />

Uwe Holtz stellt eine bemerkenswerte Korrelation her: <strong>Die</strong><br />

Halbierung undemokratischer, schlecht regierter Staaten mit<br />

einem hohen Grad der Korruption könnte die von den MDGs<br />

angestrebte Halbierung der Armut eher bewirken als eine Verdoppelung<br />

der ODA. Deshalb plädiert er nachdrücklich für<br />

die Ergänzung des MDG-Zielkatalogs um ein neuntes MDG,<br />

das lautet: »Diktaturen überwinden«. Allerdings ist angesichts<br />

der Stimmenverteilung in UN-Gremien die Realisierung dieser<br />

Forderung ziemlich unwahrscheinlich. Außerdem sollte angemerkt<br />

werden, dass das emphatische Plädoyer für das univer-<br />

26


selle Leitbild der parlamentarischen Demokratie auch Antworten<br />

auf die alte entwicklungs- und demokratietheoretische<br />

Streitfrage geben muss, unter welchen sozio-ökonomischen<br />

und sozio-kulturellen Bedingungen ein solches Modell überhaupt<br />

funktionieren kann.<br />

<strong>Die</strong> Entwicklungspolitik hatte immer ein Problem mit<br />

schlecht regierten und korrupten Regimen. Das Problem, das<br />

sich auch bei der Umsetzung der MDGs stellt, liegt darin, dass<br />

politische Sanktionen nicht die ohnehin malträtierte Bevölkerung<br />

treffen sollen. Dann bleibt nur die von Uwe Holtz aufgezeigte<br />

Konsequenz, dass die bi- und multilaterale Gebergemeinschaft<br />

mehr Energie in die politische Stabilisierung fragiler<br />

Staatswesen und in die Förderung rechtsstaatlicher und<br />

demokratischer Strukturen investiert, um Voraussetzungen<br />

zu schaffen, dass die ODA nicht in Fässern ohne Böden verschwindet.<br />

Soziale Ungleichheit als<br />

verschwiegene Ursache von Armut<br />

Vor einigen Jahren rang sich die Weltbank, die politische Bewertungen<br />

zu scheuen pflegt, zu der mit Daten unterfütterten<br />

Aussage durch, dass in Lateinamerika schon eine gerechtere<br />

Besteuerung der oberen Einkommensgruppen genügend Mittel<br />

für eine wirksame Armutsbekämpfung aus eigener Kraft<br />

mobilisieren könnte. Auch ihre Bewunderung für das »ostasiatische<br />

Wunder« versah sie mit dem Hinweis, dass hier die<br />

Armut deshalb deutlich verringert werden konnte, weil das<br />

wirtschaftliche Wachstum für eine aktive Sozialpolitik genutzt<br />

wurde. <strong>Die</strong> internationalen Einkommensstatistiken belegen,<br />

dass der Anteil der 20 % reichsten Privathaushalte am nationalen<br />

Einkommen nicht nur in Lateinamerika, sondern auch<br />

in Afrika südlich der Sahara deutlich über dem Durchschnitt<br />

der Industrieländer liegt (Fues 2006). Es gibt deshalb nicht nur<br />

27


das ethische Postulat der Gerechtigkeit, sondern auch entwicklungspolitische<br />

Gründe, warum der Weltentwicklungsbericht<br />

2006 der Weltbank das Thema der Gleichheit (equity) in den<br />

Mittelpunkt stellte.<br />

Karin Küblböck wertet in ihrem Beitrag die MDGs zu einer<br />

»Schmerztherapie« ab, die Krankheitsbeschwerden nur lindert,<br />

aber die Krankheit nicht heilt. Ihre Diagnose wird durch die<br />

Tatsache erhärtet, dass die MDGs die internen und internationalen<br />

Ausprägungen sozialer Ungleichheit und die Ungerechtigkeiten<br />

in der Verteilung von Ressourcen völlig tabuisieren.<br />

Viele empirische Studien, auf die Küblböck hinweist, belegen,<br />

dass extreme Ungleichheit nicht nur ein Wachstumshindernis<br />

darstellt, weil sie die Kaufkraft von Bevölkerungsmehrheiten<br />

schmälert und große Teile der Bevölkerung von produktiven<br />

Tätigkeiten ausschließt, sondern auch die extreme Armut verfestigt.<br />

<strong>Die</strong> altbekannten Argumente der Wachstumstheoretiker,<br />

die im neoliberalen Washington-Konsensus wieder aufgefrischt<br />

wurden, waren seit den 1950er Jahren immer wieder Gegenstand<br />

heftiger wirtschafts- und entwicklungstheoretischer<br />

Kontroversen: Eine Umverteilung der Wachstums gewinne<br />

verringere die Spar- und Investitionsrate, weil die Armen jeden<br />

zusätzlichen Dollar konsumieren würden, oder gefährde<br />

gar die politische Stabilität, weil sich die Besitzer von Produktionsmitteln<br />

nicht widerstandslos schröpfen ließen – als ob sich<br />

die Nichtbesitzer von Produktionsmitteln auf Dauer widerstandslos<br />

schröpfen lassen. <strong>Die</strong> Geschichte der sozialen Marktwirtschaft<br />

lässt den Schluss zu, dass solche Argumente »theoretisch<br />

dünn, empirisch falsch und in der Praxis zynisch« sind<br />

(Berner 2005, 248).<br />

Hier stellt sich auch die Frage, ob die Fundamentalkritik von<br />

Ross Herbert an der MDG-Strategie und sein Plädoyer für eine<br />

Wachstumsstrategie für Afrika mehr überzeugen kann als die<br />

Vorschläge des Sachs-Berichts. Herbert wirft den MDGs übermäßige<br />

Vereinfachung und falsche Schwerpunktsetzung vor.<br />

28


Sie würden die Aufmerksamkeit von Investitionen ablenken,<br />

die das Wachstum und den Arbeitsmarkt direkt ankurbeln. Er<br />

stellt deshalb einen Katalog von <strong>Millennium</strong>-Wachstumszielen<br />

auf. Sein Beitrag stellt ein provozierendes Kontrastprogramm<br />

zur MDG-Programmatik dar, das sich weitgehend mit den Forderungen<br />

des jüngsten UNCTAD-Berichts über die am wenigsten<br />

entwickelten Länder (LDCs) deckt. <strong>Die</strong> UN-Konferenz für<br />

Handel und Entwicklung (UNCTAD) warnt ebenfalls davor,<br />

mehr Geld in ein falsches Entwicklungsmodell mit sozialpolitischem<br />

Fokus zu pumpen und fordert einen Paradigmenwechsel,<br />

der die Förderung produktiver Kapazitäten in den Mittelpunkt<br />

rückt (UNCTAD 2006, 283ff.). Konkret fordert sie eine<br />

Ergänzung des MDG-Zielkatalogs für die LDCs beispielsweise<br />

um eine Wachstumsrate von 7 % oder eine Investitionsquote<br />

von 25 % (jeweils pro Jahr, bezogen auf das Bruttoinlandsprodukt)<br />

(UNCTAD 2006, 30).<br />

Nicht vergessen werden darf jedoch die Erkenntnis, dass<br />

Wachstum zwar notwendig ist, allein das Armutsproblem<br />

aber nicht lösen kann, weil es nur dann nach der trickle down-<br />

Annahme zu den Armutsgruppen durchsickert, wenn diese<br />

mittels einer aktiven Sozial- und Umverteilungspolitik an den<br />

Wachstumserfolgen beteiligt werden. So forderte Social Watch<br />

die Regierungen vor dem <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel zu einer Politik<br />

der Reduzierung von Ungleichheiten auf, einschließlich einer<br />

»redistributiven Steuerpolitik« (Social Watch Deutschland<br />

2005, 55).<br />

Ohne Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen<br />

keine Überwindung der Armut<br />

<strong>Die</strong> Kernthese des Beitrags von Franz Nuscheler lautet: <strong>Die</strong><br />

Imperative der Nachhaltigkeit, welche die <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

zu den vier prioritären Handlungsfeldern zählt, erhielten<br />

im MDG-Zielkatalog nicht den Stellenwert, den ihnen bereits<br />

29


die Rio-Konferenz von 1992 gegeben hatte. Das Jahresgutachten<br />

2005 des »Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung<br />

Globale Umweltveränderungen« (WBGU) über »Armutsbekämpfung<br />

durch Umweltpolitik« liefert hierzu zahlreiche unterstützende<br />

Argumente.<br />

Viele Menschen sind inzwischen existenziell durch Umweltkrisen<br />

verschiedenen Ursprungs mehr bedroht als durch<br />

Kriege. So übersteigt die Zahl der Umweltflüchtlinge, die der<br />

Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen entfliehen müssen, inzwischen<br />

die Zahl der Kriegsflüchtlinge – und sie wird nach<br />

Prognosen internationaler Organisationen weiter dramatisch<br />

ansteigen. Arme Menschen leiden nicht nur besonders unter<br />

lokalen Umweltproblemen wie Wasserverschmutzung oder<br />

Bodendegradation, die ihre Lebensgrundlagen und ihre Gesundheit<br />

bedrohen, sondern auch unter den Folgen des Klimawandels.<br />

Sie haben nicht zuletzt gravierende Auswirkungen<br />

auf die Gesundheit (Sauerborn 2006).<br />

Eine offensive Klimapolitik über das Kioto-Regelwerk hinaus<br />

ist deshalb für eine langfristig Erfolg versprechende<br />

Verwirklichung der MDGs wichtiger oder zumindest ebenso<br />

wichtig wie das Bohren von vielen Brunnen im Sahel, die bald<br />

versanden werden; die Umsetzung der »Wüstenkonvention«<br />

ist für die langfristige Ernährungssicherung ebenso wichtig<br />

wie viele mehr oder weniger erfolgreiche Agrarprojekte. Es<br />

war konsequent, dass die britische NGO Christian Aid angesichts<br />

der apokalyptischen Folgen des Klimawandels forderte,<br />

dem MDG-Zielkatalog die Reduktion der CO 2 -Emissionen als<br />

neuntes MDG hinzuzufügen (Christian Aid 2006, 3; vgl. auch<br />

VENRO 2006, 8).<br />

Inzwischen hat sich die Einsicht durchgesetzt, dass eine<br />

globale nachhaltige Entwicklung eine Energiewende, vor<br />

allem durch eine stärkere Nutzung von erneuerbaren Energien<br />

voraussetzt (WBGU 2003). <strong>Die</strong>sen Zusammenhang ignoriert<br />

das MDG 7, das die environmental sustainability sichern soll. Es<br />

ignoriert auch das gravierende Problem der Energiearmut, also<br />

30


den Tatbestand, dass etwa zwei Milliarden Menschen keinen<br />

Zugang zu sauberer Energie in Form von Elektrizität haben.<br />

Berichte der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben gezeigt,<br />

dass jährlich rund 900.000 Kinder und 700.000 Erwachsene,<br />

unter ihnen vor allem Frauen, an der Vergiftung von Innenräumen<br />

durch das Verbrennen von Biomasse (Holz, Tierdung)<br />

sterben.<br />

Dass die Imperative der Nachhaltigkeit eher den Rang einer<br />

pflichtschuldigen Marginalie denn einen dem Problem<br />

angemessenen Stellenwert erhielten, liegt auch an der unterschiedlichen<br />

Interessenlage von Industrie- und Entwicklungsländern.<br />

Letztere halten den Umweltschutz noch immer für einen<br />

postmaterialistischen Luxus, der die eigene Entwicklung<br />

und Ressourcennutzung behindert; und sie können mit guten<br />

Gründen darauf verweisen, dass die OECD-Länder für den<br />

Klimawandel und für die Verschwendung knapper und nichterneuerbarer<br />

Ressourcen hauptverantwortlich sind. Auf diese<br />

Weise verflüchtigt sich der »Geist von Rio«, der Umwelt und<br />

Entwicklung in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht<br />

hatte.<br />

<strong>Die</strong> Entproblematisierung des Bevölkerungswachstums<br />

Jeder der jährlich vom Weltbevölkerungsfonds (UNFPA) vorgelegten<br />

Berichte belegt mit einer Fülle von Daten, dass die Geburtenraten<br />

zwar auch in den Entwicklungsländern deutlich<br />

sinken, aber immer noch dort am höchsten sind, wo die Statistiken<br />

die größte Armut ausweisen. In Afrika südlich der Sahara<br />

leben drei Viertel der Bevölkerung unter der Armutsgrenze.<br />

Dort wird die Bevölkerung von heute rund 750 Mio. bis zur<br />

Jahrhundertmitte auf geschätzte 1,7 Mrd. anwachsen, sich also<br />

mehr als verdoppeln – falls die internationalen Programme zur<br />

Bildungs- und Gesundheitsförderung sowie zur Familienplanung<br />

nicht doch noch eine Trendumkehr bewirken.<br />

31


<strong>Die</strong> Statistiken belegen einen eindeutigen Zusammenhang<br />

zwischen der Verbesserung der Sozialindikatoren (Lebenserwartung<br />

bei Geburt, Kindersterblichkeit und Alphabetisierungsrate)<br />

und der Verringerung des Bevölkerungswachstums,<br />

gleichzeitig eine Korrelation zwischen der Entwicklung der Bildungs-<br />

und Gesundheitssysteme und dem Gebrauch von Verhütungsmitteln.<br />

Viele Untersuchungen haben gezeigt, dass mit<br />

steigendem Bildungsstand von Männern und Frauen die Kinderzahl<br />

sinkt und Familienplanung zu einer gesellschaftlichen<br />

Norm wird. <strong>Die</strong> entwicklungs- und bevölkerungspolitischen<br />

Erfolgsländer in Ost- und Südostasien, in Afrika auch der Inselstaat<br />

Mauritius, haben gezeigt, dass nur eine Kombination<br />

von sozialer Entwicklung und Familienplanung das Bevölkerungswachstum<br />

unter eine bedrohliche Marke drücken kann.<br />

Hohes Bevölkerungswachstum belastet die verknappenden<br />

Ressourcen von Lebensraum, Nahrung und Wasser sowie<br />

die Bildungs- und Gesundheitssysteme zusätzlich; eine<br />

Verringerung der Massenarmut ohne massive und gezielte Investitionen<br />

in die Familienplanung wird nicht möglich sein.<br />

Wir schließen uns zwar nicht der populären Dramatisierung<br />

der »Bevölkerungsexplosion« an, die in Unkenntnis der vielfältigen<br />

Ursachen von Armut diese vor allem der »B-Bombe«<br />

anlastet. Dennoch dürfen wir uns nicht der empirisch hinreichend<br />

belegten Einsicht verschließen, dass Armut das Bevölkerungswachstum<br />

anschiebt und dieses wiederum die Überwindung<br />

von Armut erschwert.<br />

Es ist deshalb schwer nachvollziehbar, dass die MDGs<br />

dieses entwicklungspolitische Schlüsselproblem nicht anpacken.<br />

Beim Indikator zur Empfängnisverhütung (Indikator 19<br />

zum MDG 6) geht es allein um die Benutzung von Kondomen<br />

zur HIV-Prävention. Es fehlt der Rückgriff auf den »Kairo-Prozess«,<br />

der 1994 von der Weltbevölkerungskonferenz eingeleitet<br />

wurde. Das von dieser Konferenz verabschiedete Aktionsprogramm<br />

gab überzeigende Hinweise, was nationale Regierungen<br />

und internationale Entwicklungsagenturen zur »re-<br />

32


produktiven Gesundheit«, zur wirksamen Eindämmung des<br />

Bevölkerungswachstums und damit auch zum Erreichen der<br />

MDGs tun müssten. Es enthält alle Kernelemente der MDGs 1<br />

bis 6, stellt aber einen entwicklungs- und bevölkerungspolitischen<br />

Zusammenhang her, den der MDG-Zielkatalog vermissen<br />

lässt.<br />

Gender: eine Schmalspuragenda im MDG-Zielkatalog<br />

»Armut ist weiblich« – diese oft zitierte Feststellung verweist<br />

auf die Tatsache, dass Frauen am häufigsten von Armut betroffen<br />

sind. Ohne aktive Beteiligung von Frauen wird deshalb<br />

keine Strategie der Armutsbekämpfung erfolgreich sein können.<br />

Dabei reicht es keinesfalls aus, wie Veronika Wittmann<br />

in ihrem Beitrag deutlich macht, die Stärkung der Frauen auf<br />

ein einzelnes MDG zu beschränken. Geschlechtergerechtigkeit<br />

muss vielmehr als übergreifendes, umfassendes Konzept – als<br />

Querschnittsthema – verstanden werden. Zwar kann es als Erfolg<br />

gewertet werden, dass die Förderung der Gleichstellung<br />

der Geschlechter und das Empowerment von Frauen Eingang<br />

in den MDG-Zielkatalog gefunden haben. Doch die Einschränkung<br />

dieses Ziels auf die Gleichstellung in der Schulbildung,<br />

auf dem formellen Arbeitsmarkt und in nationalen Parlamenten<br />

durch die Indikatoren zu MDG 3 haben in der Frauenbewegung<br />

zu Vorwürfen wie »Schmalspuragenda« oder »Täuschungsmanöver«<br />

geführt. Kritisiert wird unter anderem, dass<br />

überprüfbare Zielquoten, zum Beispiel ein 30 %-Anteil von<br />

Frauen in Parlamenten, gänzlich fehlen.<br />

Auch Empowerment-Indikatoren sind nicht zu finden. Birte<br />

Rodenberg (2005, 65) verweist beispielsweise auf diskriminierende<br />

Erbschafts- und Eigentumsrechte, die zur extrem<br />

schwachen »wirtschaftlichen Verfügungsmacht« von Frauen<br />

beitragen. Veronika Wittmann kritisiert, dass das Ziel des Empowerment<br />

zu einem »unwesentlichen Nebenelement« ver-<br />

33


komme und die Rolle von Frauen als Hauptakteurinnen von<br />

Entwicklung vernachlässigt werde. Statt als Rechtssubjekte<br />

würden Frauen lediglich als Unterstützungsbedürftige und<br />

Zielgruppe von Investitionen wahrgenommen. Kritische Themen<br />

wie reproduktive und sexuelle Rechte sowie psychische<br />

und physische Gewalt gegen Frauen würden von den MDGs<br />

ebenso ausgeblendet wie die notwendigen Veränderungen von<br />

Hierarchien und Machtverhältnissen. Somit fallen die MDGs<br />

deutlich hinter das Aktionsprogramm der Weltfrauenkonferenz<br />

von Beijing und das Abkommen der Vereinten Nationen<br />

zur Beseitigung jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen<br />

(CEDAW) zurück.<br />

Social Watch forderte deshalb unter anderem »sinnvolle<br />

Ziele und Indikatoren« zur Messung des Fortschritts bei der<br />

Verwirklichung von Geschlechtergerechtigkeit bei Entwicklungsstrategien.<br />

Zehn Prozent der Mittel sollten speziell zur<br />

Förderung von Geschlechtergerechtigkeit und von Empowerment<br />

der Frauen aufgewendet werden. Auch im Kontext von<br />

MDG 8 müssten Maßnahmen zur Gleichberechtigung der Geschlechter<br />

– etwa im Rahmen der PRSP-Prozesse – identifiziert<br />

werden (Social Watch Deutschland 2005, 57). Rodenberg (2005,<br />

63) kam nach einer Analyse der vorliegenden PRS-Papiere zu<br />

dem Ergebnis, dass bislang »die Lebensrealitäten armer Frauen<br />

und ihre geschlechtsspezifischen Interessen unberücksichtigt«<br />

bleiben.<br />

Mehr Geld allein kann das Armutsproblem nicht lösen<br />

Das MDG 8 fasst mit sieben Zielvorgaben die auf vielen Nord-<br />

Süd-Konferenzen erhobenen und in den Aktionsprogrammen<br />

der Weltkonferenzen konsensual verabschiedeten Forderungen<br />

des Südens an die OECD-Länder zusammen. Was die<br />

Zusagen wert sind, wurde besonders bei der Zielvorgabe 12<br />

deutlich, welche die Entwicklung eines offenen, regelgestütz-<br />

34


ten und nicht-diskriminierenden Finanz- und Handelssystems<br />

fordert. Das möglicherweise endgültige Scheitern der »Doha-<br />

Runde« im Sommer 2006 bedeutet vor allem für die Entwicklungsländer<br />

ein handelspolitisches Fiasko, obwohl durchaus<br />

begründete und durch die Entwicklungsgeschichte der alten<br />

und neuen Industrieländer belegte Zweifel bestehen, ob der<br />

von der Welthandelsorganisation (WTO) vorangetriebene Freihandel<br />

wirklich die verheißenen Vorteile bringt (vgl. den Beitrag<br />

von Küblböck).<br />

<strong>Die</strong> öffentliche Debatte konzentriert sich vor allem auf die<br />

Verheißungen größerer Geldströme aus dem Norden in den<br />

Süden. Etwas versteckt in den Indikatoren zur »Entwicklungspartnerschaft«<br />

verpflichten sich die OECD-Länder – allerdings<br />

ohne konkrete Zeitvorgabe – zur Steigerung ihrer ODA auf<br />

das berühmt-berüchtigte UN-Ziel von 0,7 % des Bruttonationaleinkommens<br />

(BNE) und deren stärkere Ausrichtung auf<br />

die MDGs. <strong>Die</strong> OECD-Länder haben sich zu einem Stufenplan<br />

durchgerungen, der bis zum Jahr 2010 das »Barcelona-Ziel«<br />

von 0,51 % des BNE anvisiert und bis 2015 das »UN-Ziel« von<br />

0,7 % in Reichweite rücken soll. Schon die mittelfristigen Haushaltsplanungen<br />

in mehreren OECD-Ländern nähren Zweifel,<br />

ob den Versprechen auch Taten folgen werden.<br />

Ob das umstrittene »UN-Ziel«, das manche schon für eine<br />

»Schimäre« oder gar für eine »Absurdität« halten, irgendwann<br />

oder sogar schon 2015 erreicht werden kann, ist allerdings nicht<br />

nur eine Frage des politischen Willens. Wenn Afrika schon jetzt<br />

als over-aided gilt, weil die milliardenschwere Afrika-Hilfe nicht<br />

die erhofften Erfolge erzielte, dann sind Zweifel berechtigt, ob<br />

ein big push den gordischen Knoten von Unterentwicklung und<br />

Armut lösen könnte. Der Beitrag von Stephan Klingebiel attestiert<br />

dem vom Sachs-Bericht propagierten Konzept mit überzeugenden<br />

Argumenten, keine Patentlösung für den Ausbruch<br />

aus der Armutsfalle zu offerieren.<br />

<strong>Die</strong> Finanzierungsfrage bildet also nicht den »strategischen<br />

Knackpunkt« bei der Umsetzung der MDGs, wie häufig zu hö-<br />

35


en ist, vor allem bei Stellungnahmen von Repräsentanten des<br />

Südens, aber auch von NGOs hierzulande. Es geht zunächst<br />

nicht um mehr Geld, sondern um einen zielgerichteten Einsatz<br />

des bereits verfügbaren Geldes – und zwar sowohl auf<br />

Seiten der Gebergemeinschaft als auch auf Seiten der Zielländer.<br />

Schon jetzt stellt sich die Frage, ob die vorhandenen Mittel<br />

tatsächlich vorwiegend in die so genannte »soziale Priorität«<br />

der Armutsbekämpfung investiert werden (und werden sollten).<br />

Richard Brand unterlegt in seinem Beitrag mit harten Fakten,<br />

dass die deutsche Entwicklungspolitik bei der Umsetzung<br />

der MDGs und des von der Bundesregierung beschlossenen<br />

»Aktions programm 2015« kräftig nachbessern muss. Sein Beitrag<br />

fasst die kritischen Diskussionen in der NGO-Szene über<br />

die »Wirklichkeit der Entwicklungshilfe« zusammen.<br />

Der Beitrag von Jutta Kranz-Plote, die im Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(BMZ) tagtäglich mit den Herausforderungen bei der operativen<br />

Umsetzung der MDGs konfrontiert ist, macht deutlich,<br />

dass es schwierig ist, das richtige Maß an Unterstützung zu finden<br />

und bei allen Maßnahmen die Wirksamkeit der Entwicklungszusammenarbeit<br />

zu sichern. Ihr Beitrag erinnert nachdrücklich<br />

daran, das die Verdopplung oder gar Verdreifachung<br />

des ODA-Volumens allein noch nicht alle Prob leme der armen<br />

Welt lösen kann; dass sowohl die internatio nale Gebergemeinschaft<br />

als auch die Empfängerländer noch tragfähige Strukturen<br />

der »Entwicklungspartnerschaft« aufbauen müssen. Natürlich<br />

muss einer Vertreterin des BMZ auch daran gelegen<br />

sein, das eigene »Haus« in das richtige Licht zu rücken, indem<br />

sie bei der Umsetzung des MDG-Zielkataloges auf Schwierigkeiten<br />

im internationalen Umfeld und vor allem bei den<br />

Partnerländern im Süden hinweist. Aber ihre Lektion ist für<br />

alle heilsam, die nur die Ziele rezitieren, ohne über die komplizierten<br />

und häufig steinigen Wege zum Erreichen der Ziele<br />

nachzudenken.<br />

36


Trotz der vielfältigen Ursachen von Armut und der operativen<br />

Umsetzungsprobleme hängt für die UN-Sonderbeauftragte<br />

für die <strong>Millennium</strong> Campaign, Eveline Herfkens, und ihre<br />

Mitarbeiterin Mandeep Bains der Erfolg des MDG-Projekts<br />

wesentlich davon ab, dass die Industrieländer ihre im MDG 8 –<br />

allerdings ohne konkrete Zeitvorgaben – eingegangenen Verpflichtungen<br />

einhalten. <strong>Die</strong> Schärfe ihrer Kritik beruht auch<br />

auf der Erfahrung, dass in den ersten fünf Jahren nach dem<br />

New Yorker <strong>Millennium</strong>-Gipfel nicht geschah, was zur schrittweisen<br />

Verwirklichung der MDGs hätte geschehen müssen.<br />

Eveline Herfkens hält im Rahmen der <strong>Millennium</strong> Campaign in<br />

allen Hauptstädten flammende Reden und spricht damit den<br />

Entwicklungspolitikern aus dem Herzen, kann aber die Finanzminister<br />

nicht dazu bewegen, ihre Knauserigkeit bei der<br />

Aufstellung der Entwicklungshaushalte zu überwinden. Alle<br />

wohlfeilen Bekenntnisse zu den Vereinten Nationen und ihren<br />

Projekten sollen weder viel Geld kosten noch die Welthandelsordnung<br />

zum eigenen Nachteil verändern.<br />

Ist das Glas halb voll oder halb leer?<br />

Angesichts der vielen berechtigten Kritikpunkte an den<br />

MDGs – die sich, wie eingangs dargestellt, nicht gegen das Ziel<br />

der Armutsminderung, sondern gegen den vorgegebenen Pfad<br />

richten – stellt sich die Frage, welche Ergebnisse die MDGs bislang<br />

vorweisen können. Auf der politischen Ebene sieht der<br />

frühere MDG-Beauftragte des Bundesministeriums für wirtschaftliche<br />

Entwicklung und Zusammenarbeit, Klemens van<br />

de Sand, die wesentliche Bedeutung der MDGs darin, »dass<br />

sie einen deutlich spürbaren und belegbaren politischen Prozess<br />

angestoßen haben« (van de Sand 2006, 111). Mit Blick auf<br />

die konkreten Ergebnisse dieses Prozesses zieht Thomas Fues<br />

in seinem Beitrag jedoch eine zwiespältige Bilanz. Nachdem<br />

bereits fast die Hälfte der Zeitspanne bis 2015 abgelaufen ist,<br />

37


lassen sich positive Trends bei der Grundbildung, beim Zugang<br />

zu sauberem Trinkwasser und bei der Senkung der Kindersterblichkeit<br />

feststellen. Kaum Fortschritte gibt es bei der<br />

Eindämmung von Infektionskrankheiten, beim Zugang zu Sanitäranlagen<br />

und beim Schutz der natürlichen Lebensgrundlagen.<br />

<strong>Die</strong> drohenden Umweltveränderungen könnten gar<br />

jeglichen sozialen Fortschritt zunichte machen. Insgesamt hat<br />

das Tempo der Entwicklungsfortschritte gegenüber den 1970er<br />

und 1980er Jahren abgenommen (van de Sand 2006, 114).<br />

Auch wenn sich bei einigen Zielen, allen voran beim Hauptziel<br />

der Halbierung der Armutsquote, Fortschritte feststellen<br />

lassen, sind diese oft gering oder sehr ungleich verteilt. <strong>Die</strong>s<br />

führt zu einem zunehmenden Gefälle sowohl innerhalb als<br />

auch zwischen Staaten und Regionen. Während Ostasien und<br />

Teile Südasiens »auf Kurs« sind, fällt Afrika südlich der Sahara<br />

weiter zurück. Inwieweit beide Entwicklungen ursächlich mit<br />

den MDGs zusammenhängen, bleibt indes unklar. Folgt man<br />

Ross Herbert, so führen möglicherweise gerade die MDGs<br />

dazu, Afrika dauerhaft von Almosen abhängig zu machen.<br />

Jutta Kranz-Plote verweist auf die Schwierigkeit, angesichts<br />

der Komplexität der Aufgabe und der Vielzahl der Akteure einen<br />

direkten Beitrag der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />

zur Erreichung der MDGs auszumachen.<br />

Fues kritisiert gerade den Beitrag der Industrieländer<br />

zur Erreichung der MDGs. Ihren »wohlklingenden Versprechungen«<br />

seien allenfalls »Trippelschritte« in der Umsetzung<br />

gefolgt. Kritische Faktoren für ein Erreichen der MDGs in der<br />

noch verbleibenden Zeitspanne seien die Mobilisierung zusätzlicher<br />

Finanzmittel sowie eine MDG-förderliche Politik auf<br />

globaler Ebene, also good global governance. Doch fehle es am<br />

politischen Willen, die Strukturen der Weltwirtschaft zu verändern.<br />

<strong>Die</strong>sen Befund teilen Eveline Herfkens und Mandeep<br />

Bains, die deshalb dazu aufrufen, Druck auf die westlichen Regierungen<br />

zur Umsetzung ihrer Zusagen auszuüben.<br />

38


Zusammenfassung: Königsweg oder Irrweg?<br />

<strong>Die</strong> MDGs können keinen entwicklungspolitischen Königsweg<br />

weisen, weil sie keine umfassende Entwicklungsagenda<br />

entwerfen, sondern »Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges<br />

Leben« skizzieren wollen. Bei der Bewertung<br />

der MDGs ist es also wichtig, von ihrer prioritären Zielsetzung<br />

auszugehen. Es bleibt dabei die Frage, ob sie richtige Rezepte<br />

zur Armutsbekämpfung enthalten. <strong>Die</strong>se Frage kann nicht mit<br />

einem eindeutigen Ja oder Nein beantwortet werden. Weil die<br />

MDGs aus diplomatischer Rücksichtnahme Krieg und Staatsverfall,<br />

interne Entwicklungshindernisse von der Korruption<br />

bis zu ausbleibenden Landreformen, das Bevölkerungswachstum<br />

sowie soziale Ungleichheit als strukturelle Ursache von<br />

Armut tabuisieren und die Umwelt- und Genderproblematik<br />

vernachlässigen, bekämpfen sie in der Tat nur Symptome.<br />

Karin Küblböck kritisiert zu Recht die Entpolitisierung und<br />

»Technisierung« der Armut und greift damit Argumente auf,<br />

die auch Kritiker aus dem Süden, zum Beispiel Samir Amin<br />

(2006), ein Klassiker der Dependenztheorie, gegen die MDGs<br />

vorbringen.<br />

Weil die formulierten Ziele politische Schlüsselprobleme erfolgreicher<br />

Armutsbekämpfung nicht anpacken – von Krisenprävention<br />

über good governance, das politische Empowerment<br />

der Armutsgruppen, die Überwindung sozialer Ausgrenzung,<br />

breitenwirksame Wirtschaftsförderung, die Verpflichtung von<br />

Regierungen zur Eigenverantwortung und Fürsorge für ihre<br />

arme Bevölkerung bis hin zu weltwirtschaftlichen Strukturreformen<br />

– laufen sie Gefahr, einen von der internationalen<br />

Entwicklungspolitik lange beschriebenen Irrweg fortzusetzen<br />

oder gar zu verstärken. Ohne verantwortliches Handeln der<br />

Regierenden, das die MDGs nicht mit allem Nachdruck anmahnen,<br />

kann mehr Geld sogar Fehlentwicklungen verstärken,<br />

die schon zur zwiespältigen Erfolgsgeschichte der Entwicklungszusammenarbeit<br />

gehören.<br />

39


Was bleibt zur Verteidigung des UN-<strong>Millennium</strong>-Projekts?<br />

Erstmals in der Geschichte der internationalen Entwicklungspolitik<br />

hat die an den MDGs orientierte Armutsbekämpfung<br />

eine von allen bi- und multilateralen Akteuren mitgetragene<br />

Priorität erhalten. <strong>Die</strong> MDGs mit ihren quantitativen Ziel- und<br />

Zeitvorgaben und ihrer »Kampagnenfähigkeit« bieten der nationalen<br />

und internationalen Entwicklungspolitik die Chance,<br />

ihrer Rechtfertigungskrise zu entgehen. Sollten die MDGs allerdings<br />

auch nach den noch verbleibenden Jahren bis 2015<br />

weit verfehlt werden, würde die Entwicklungszusammenarbeit<br />

ihren ohnehin geringen Kredit wohl endgültig verspielen.<br />

Eine erfolgreiche Armutsbekämpfung ist, abgesehen von Imperativen<br />

der Humanität und internationalen Solidarität, eine Bedingung<br />

für die Akzeptanz von Solidarleistungen, vor allem<br />

dann, wenn sie noch deutlich gesteigert werden sollen.<br />

<strong>Die</strong>s muss am Ende mit allem Nachdruck betont werden:<br />

Mehr Geld allein kann das weltweite Armutsproblem nicht lösen,<br />

aber ohne mehr Geld kann es auch nicht gelöst werden.<br />

Es wäre ein epochaler Erfolg der Staatengemeinschaft und<br />

der sie bedrängenden internationalen Zivilgesellschaft, wenn<br />

sie bis zum Jahr 2015 für wesentlich mehr Menschen in einer<br />

weiterhin wachsenden Weltbevölkerung die Mindestvoraussetzungen<br />

für ein menschenwürdiges Leben schaffen würde.<br />

Sollte dieses Ziel verfehlt werden, würde den Staats- und Regierungschefs<br />

am Vorabend des Stichjahres 2015 wohl kaum<br />

etwas anderes einfallen als eine Fristverlängerung zur Verwirklichung<br />

der MDGs. Eine solche schlug die Weltbank in realistischer<br />

Vorausschau bereits vor. <strong>Die</strong>s ist kein optimistischer<br />

Ausblick. Nur entschlossenes politisches Handeln könnte diesen<br />

Pessimismus noch entkräften.<br />

40


Literatur<br />

Amin, Samir, 2006: The <strong>Millennium</strong> Development Goals: A Critique from<br />

the South, in: Monthly Review 10/57 (http://www.monthlyreview.<br />

org/0306amin.htm, 14.7.2006).<br />

Berner, Erhard, 2005: Hilfe-lose Illusionen, in: Entwicklung und Zusammenarbeit<br />

(E+Z), Nr. 6, S. 248–249.<br />

Christian Aid, 2006: The Climate of Poverty: Facts, Fears, and Hope. London<br />

et al.<br />

Debiel, Tobias/Sascha Werthes, 2006: Fragile Staaten und globale Friedenssicherung,<br />

in: Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler<br />

(Hg.), Globale Trends 2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt. Frankfurt/M.,<br />

i.E.<br />

Fues, Thomas, 2006: Weltsozialpolitik und Entwicklung, in: Tobias Debiel/<br />

Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends 2007. Frieden –<br />

Entwicklung – Umwelt. Frankfurt/M., i.E.<br />

Fues, Thomas/Brigitte Hamm (Hg.), 2001: <strong>Die</strong> Weltkonferenzen der 90er<br />

Jahre. Baustellen für Global Governance (Reihe EINE Welt der Stiftung<br />

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Martens, Jens, 2005: Das neue Mantra der Entwicklungspolitik, in:<br />

INKOTA-Brief 132 (Juni), S. 5–9.<br />

Rodenberg, Birte, 2005: Gender und Armutsbekämpfung: Sichern neuere<br />

Konzepte und Instrumente auch Frauenrechte?, in: ZTG Bulletin<br />

29/30, S. 59–67.<br />

Sachs, Jeffrey, 2005: Investing in Development: a Practical Plan to Achieve<br />

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York.<br />

van de Sand, Klemens, 2006: <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>: Herausforderungen<br />

für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit, in:<br />

Stephan Klasen et al., Globalisierung und Armut. Wie realistisch sind<br />

die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong> der Vereinten Nationen? (Globale<br />

Solidarität, Bd. 13). Stuttgart, S. 109–122.<br />

Sauerborn, Rainer, 2006: Klimawandel und globale Gesundheitsrisiken, in:<br />

Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends<br />

2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt. Frankfurt/M., i.E.<br />

Social Watch Deutschland, 2005: Report 2005. Handeln statt Versprechen –<br />

Soziale Gerechtigkeit und Armutsbekämpfung. o.O.<br />

41


UNCTAD (United Nations Conference on Trade and Development), 2006:<br />

The Least Developed Countries Report 2006. Developing Productive<br />

Capacities. New York/Genf.<br />

VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>!<br />

Bonn/Berlin.<br />

WBGU, 2003: Welt im Wandel – Energiewende zur Nachhaltigkeit. Berlin/<br />

Heidelberg/New York.<br />

WBGU, 2005: Welt im Wandel – Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik.<br />

Berlin/Heidelberg/New York.<br />

Wichterich, Christa, 2005: Ein entwicklungspolitischer Katechismus, in:<br />

iz3w Nr. 285, S. 20–23 (http://iz3w.org/iz3w/Ausgaben/285/LP_<br />

s20.html. 15.08.2006).<br />

42


Erster Teil:<br />

Was wurde bislang erreicht?


THOMAS FUES<br />

Ist das Glas halb voll oder halb leer?<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong> in den einzelnen<br />

Weltregionen<br />

Für eine breite Weltöffentlichkeit sind die von allen Mitgliedstaaten<br />

der Vereinten Nationen getragene <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

aus dem Jahr 2000 und das daraus abgeleitete Zielbündel<br />

der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />

Goals, MDGs) die entscheidenden Eckpunkte einer globalen<br />

Strategie zur Armutsreduzierung und globalen Nachhaltigkeit.<br />

Das MDG-Konzept wurde vom <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel<br />

(September 2005) noch erweitert im Hinblick auf menschenwürdige<br />

Arbeit, Frauenrechte und reproduktive Gesundheitsversorgung<br />

(Fues/Loewe 2005). Daneben sind der Monterrey-<br />

Konsens der Konferenz für Entwicklungsfinanzierung und das<br />

Umsetzungsprogramm des Johannesburg-Gipfels für nachhaltige<br />

Entwicklung, beide aus dem Jahr 2002, wichtige Elemente<br />

einer gerechteren Weltordnung – eine Vision, die freilich in der<br />

Praxis erst noch verwirklicht werden muss.<br />

Fast die Hälfte der Frist zur Erreichung der MDGs bis 2015<br />

ist bereits abgelaufen. <strong>Die</strong> Zwischenbilanz 2006 liefert ein<br />

zwiespältiges Bild. <strong>Die</strong> Polarisierung zwischen und innerhalb<br />

der Staaten schreitet voran; die an vielen Stellen erzielten Fortschritte<br />

sind global ungleich verteilt. Einzelne Weltregionen,<br />

beispielsweise Ostasien und Teile Südasiens, sind auf gutem<br />

Kurs. Als wettbewerbsfähige Akteure profitieren sie von der<br />

Ausweitung des Welthandels und der ausländischen Direktinvestitionen.<br />

Für andere Regionen, dies gilt insbesondere<br />

in Afrika südlich der Sahara, und ebenso für marginalisierte<br />

44


Schichten in dynamischen Ökonomien haben sich die Aussichten<br />

– von einzelnen Ausnahmefällen abgesehen – eher verdüstert.<br />

Es müsste schon ein kleines Wunder geschehen, damit<br />

sie die Ziellinie rechtzeitig überschreiten. Allgemein zeigt sich<br />

ein positiver Trend bei den MDGs für Grundbildung, Trinkwasser,<br />

Impfschutz und Senkung der Kindersterblichkeit. Wenig<br />

Anlass zur Hoffnung bietet hingegen die Situation bei Infektionskrankheiten,<br />

Sanitäranlagen und Bewahrung der natürlichen<br />

Lebensgrundlagen.<br />

Der Beitrag der westlichen Industrieländer zur Erreichung<br />

der MDGs, denn es handelt sich ja um eine wechselseitige Verpflichtung,<br />

ist bisher alles andere als zufrieden stellend. Den<br />

wohlklingenden Versprechungen von mehr Entwicklungshilfe,<br />

wirksamer Entschuldung und Handelserleichterungen<br />

sind bisher allenfalls Trippelschritte in der praktischen Umsetzung<br />

gefolgt (Social Watch Deutschland 2005; Kaiser 2006). Vor<br />

allem fehlt es dem Norden am politischen Willen, die von ihm<br />

dominierten Strukturen der Weltwirtschaft und der Globalpolitik<br />

auf den Prüfstand zu stellen. Beunruhigend im Hinblick<br />

auf die künftigen Lebensbedingungen auf diesem Planeten ist<br />

auch das unbeirrbare Festhalten an umweltschädlichen Produktions-<br />

und Konsummustern. Es besteht die Gefahr, dass die<br />

drohenden Umweltveränderungen, zum Beispiel die bereits<br />

jetzt feststellbaren Folgen des Klimawandels, jeden sozialen<br />

Fortschritt untergraben und die Weltgesellschaft schon bald<br />

vor existenzielle Herausforderungen stellen werden (WBGU<br />

2005).<br />

Im Folgenden wird der aktuelle Stand der MDGs in den<br />

Staaten des Südens und den osteuropäischen/zentralasiatischen<br />

Transformationsländern beschrieben. Daran knüpft<br />

sich die Frage, mit welchen Entwicklungsstrategien soziale<br />

Fortschritte erzielt werden können, wie die Industrieländer<br />

ihre Unterstützung ausbauen müssten und welcher institutionelle<br />

Rahmen für die internationalen Bemühungen angemessen<br />

ist.<br />

45


Umsetzungsstand bei den MDGs<br />

MDG 1: Absolute Armut zurückdrängen<br />

Der Bevölkerungsanteil, der mit weniger als 1 US-$ auskommen<br />

muss und an chronischem Hunger leidet, soll halbiert<br />

werden. Für die Länder mit höherem Einkommen, beispielsweise<br />

in Lateinamerika, ist allerdings eher eine Messlatte von 2<br />

US-$ passend. Global betrachtet liegt die Erreichung von MDG<br />

1 (1 US-$ pro Tag) wegen der hohen Wachstumsraten in Ost-<br />

und Südasien im Bereich des Möglichen. <strong>Die</strong> globale Armutsquote<br />

ist seit 1990 von rund 28 % auf derzeit 19 % gefallen. Für<br />

die eine Milliarde Menschen, die heute noch unter dieser extremen<br />

Form von Entbehrung leiden, bedeutet der positive Befund<br />

jedoch nichts. <strong>Die</strong> Fortschreibung aktueller Trends lässt<br />

eine weitere Absenkung auf weltweit 10 % bis 2015 erwarten,<br />

deutlich unter den angestrebten MDG-Wert von 14 %. Dann<br />

wären »nur« noch 600 Mio. Menschen betroffen.<br />

Auffälliges Ergebnis der volkswirtschaftlichen Dynamik in<br />

Ostasien ist das prognostizierte Verschwinden der absoluten<br />

Armut dort. Bereits heute wird die erst für 2015 angestrebte<br />

Messlatte deutlich überboten. Auch die Projektion für Süd asien<br />

spricht für eine erfolgreiche Armutsreduzierung. In Lateinamerika<br />

hingegen stagniert die Entwicklung; die Halbierung<br />

der Armutsquote könnte knapp verpasst werden. Besonders<br />

drastisch fällt die Zielverfehlung in Afrika südlich der Sahara<br />

aus. In der Region ist die Anzahl der absolut Armen seit 1990<br />

um 140 Mio. gestiegen. <strong>Die</strong> Armutsrate verharrt bei über 40 % –<br />

trotz der historisch überdurchschnittlich hohen Wachstumsraten<br />

in jüngster Zeit.<br />

Eine entscheidende nichtmonetäre Dimension von Armut<br />

betrifft die chronische Mangelernährung. Nur 34 von 143 Ländern<br />

können auf diesem Gebiet die gewünschten Fortschritte<br />

vorweisen. Noch immer leiden 842 Mio. Menschen auf der Erde<br />

unter ständigem Hunger. Nur in Ostasien und Lateinamerika<br />

46


ist die absolute Zahl der Hungrigen zurückgegangen. Besonders<br />

kritisch ist die Lage in Afrika südlich der Sahara. Dort<br />

nimmt die Mangelernährung zu – auch bedingt durch die hohen<br />

HIV/AIDS-Infektionsraten. Erfolge bei der Bekämpfung<br />

des Hungers sind trotz eines niedrigen Durchschnittseinkommens<br />

und widriger weltwirtschaftlicher Rahmenbedingungen<br />

möglich, wenn Staat und Gesellschaft entsprechende Prioritäten<br />

setzen. Mit Unterstützung von ausländischen Gebern und<br />

einheimischen Nichtregierungsorganisationen (NGOs) hat beispielsweise<br />

die Regierung von Bangladesch ein flächendeckendes<br />

Ernährungsprogramm für Mütter und Kinder als zentrales<br />

Element ihrer Armutsstrategie eingeführt.<br />

MDG 2: Universale Grundbildung durchsetzen<br />

Weltweit kommen derzeit 115 Mio. Kinder nicht in den Genuss<br />

einer schulischen Ausbildung. In nur 37 von 155 Entwicklungsländern<br />

ist der Grundschulabschluss für alle – wie von MDG 2<br />

gefordert – derzeit Realität. In Afrika südlich der Sahara sind<br />

die Probleme am größten. Hier haben derzeit 40 % eines Jahrgangs<br />

überhaupt keinen Zugang zu Grundbildung; die Erreichung<br />

des MDGs in der vorgegebenen Frist ist mehr als unwahrscheinlich.<br />

Auch Südasien wird das Ziel wohl verfehlen.<br />

In den anderen Weltregionen hingegen stehen die Chancen<br />

gut. Im schulischen Bereich lässt sich die durch den MDG-Prozess<br />

ausgelöste Dynamik der internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />

gut dokumentieren. 2002 wurde die Education<br />

for All Fast-Track Initiative (FTI) als erste globale Übereinkunft<br />

im Bildungsbereich zwischen Gebern und Entwicklungsländern<br />

ins Leben gerufen. Das Netzwerk verfolgt das Ziel, Staaten<br />

mit niedrigem Durchschnittseinkommen bei der flächendeckenden<br />

Einführung einer kostenfreien Grundbildung bis<br />

2015 zu unterstützen. Auf Geberseite sind über 30 bilaterale,<br />

regionale und internationale Institutionen vertreten, die sich<br />

47


zu einem hohen Maß an Harmonisierung verpflichtet haben.<br />

Auf Empfängerseite sind bislang 20 Länder beigetreten, deren<br />

bildungspolitische Anstrengungen breite Anerkennung gefunden<br />

haben. Ein herausstechendes Beispiel für schnelle bildungspolitische<br />

Reformen ist Niger, das bis vor kurzem eine<br />

der niedrigsten Einschulungsraten der Welt hatte: Hier wurden<br />

rund 2.500 Lehrer/innen pro Jahr neu eingestellt. Von 1998<br />

bis 2003 stieg deshalb die Einschulungsquote im Primarbereich<br />

um 60 %.<br />

MDG 3: Gleichstellung der Geschlechter verwirklichen<br />

Das einzige MDG, dessen Frist bereits im Jahr 2005 abgelaufen<br />

ist, betrifft die Gleichstellung der Geschlechter im Bildungswesen.<br />

Zwar konnte das angestrebte Ziel gleicher Einschulungsraten<br />

auf der Primar- und Sekundarstufe nicht erreicht<br />

werden, aber die Lage der Schülerinnen hat sich eindeutig verbessert.<br />

Bis 2015 wird in den meisten Ländern mit einer Angleichung<br />

gerechnet, zumindest im Bereich der Grundbildung.<br />

Auf höheren Ebenen ist die Lage nicht so günstig. Beispielsweise<br />

kommen in Afrika südlich der Sahara nur 68 Mädchen<br />

auf 100 Jungen im tertiären Bildungssektor. In Südasien ist<br />

die Quote mit 71 zu 100 nur wenig besser. Rasche Fortschritte<br />

sind bei entsprechendem politischen Willen möglich. In Bangladesch<br />

beispielsweise umfasst das staatliche Engagement für<br />

Gleichberechtigung im Bildungswesen massive Anreize für<br />

Mädchen durch Stipendien und Bereitstellung von Schulmaterialien.<br />

In Mauretanien wurde die Primareinschulungsrate für<br />

Mädchen enorm gesteigert, von 39 % (1990) auf 85 % (2001). Einer<br />

der Indikatoren von MDG 3 misst die politische Beteiligung<br />

von Frauen an ihrem Sitzanteil in nationalen Parlamenten. Das<br />

inoffizielle Ziel von 30 % wird nur in wenigen Fällen erreicht<br />

(Anfang 2005: 17 Länder). Weltweit lag zu dem Zeitpunkt der<br />

Anteil der weiblichen Parlamentssitze bei 15,9 %, eine leichte<br />

48


Steigerung gegenüber dem Jahr 2000 (13,5 %). Aber auch hier<br />

gibt es Vorreiter. Ruanda steht an der Weltspitze, was die Vertretung<br />

von Frauen in politischen Führungsgremien angeht.<br />

Auf sie entfallen 49 % der Mandate der Nationalversammlung.<br />

Und in Lateinamerika ist der Anteil der weiblichen Sitze von<br />

12 % in 1990 auf jetzt 20 % gestiegen.<br />

MDG 4: Überleben der Kinder sichern<br />

Derzeit sterben jährlich rund 11 Mio. Kinder, das sind 30.000<br />

Kinder pro Tag, bevor sie ein Lebensalter von fünf Jahren erreichen<br />

an vermeidbaren oder heilbaren Krankheiten. In den armen<br />

Ländern stirbt jedes zehnte Kind, während in den reichen<br />

Ländern statistisch nur eines von 143 dieses Schicksal ereilt. <strong>Die</strong><br />

gute Nachricht ist, dass die Kindersterblichkeit in allen Weltregionen<br />

in den vergangenen Jahrzehnten spürbar gesunken<br />

ist (UNICEF 2005). Selbst Afrika südlich der Sahara, das bei allen<br />

anderen Armutsdimensionen extrem schlecht abschneidet,<br />

verzeichnet hier seit 1970 einen leichten Fortschritt (Rückgang<br />

der Sterbequote von 24 % auf 17 %). In Südasien nahm die Rate<br />

in den vergangenen 35 Jahren von über 20 % auf 9 % ab. 117 der<br />

148 Entwicklungsländer, für die Daten erhältlich sind, schaffen<br />

es aber nicht, die Kindersterblichkeit im erforderlichen Tempo<br />

für die fristgerechte Erreichung der MDGs zu reduzieren. In<br />

15 Ländern verschlechtern sich die Gesundheitsbedingungen<br />

für Kinder sogar, darunter befinden sich die Konfliktfälle Kambodscha,<br />

Zentralafrikanische Republik, Elfenbeinküste, Irak<br />

und die HIV/AIDS-betroffenen Länder Botswana, Kenia und<br />

Südafrika. Positiv bei der Senkung der Kindersterblichkeit wirken<br />

sich die Bemühungen um wirksamen Impfschutz unter<br />

Führung der Global Alliance on Vaccines and Immunizations aus.<br />

So hat es seit 2000 einen Rückgang der Masernfälle um 90 % in<br />

19 Ländern Afrikas südlich der Sahara gegeben.<br />

49


MDG 5: Gesundheitsversorgung für Mütter verbessern<br />

Jährlich müssen weltweit mehr als 500.000 Frauen und Mädchen<br />

jedes Jahr bei einer Schwangerschaft oder Geburt ihr Leben<br />

lassen, weil die Gesundheitsversorgung defizitär ist oder<br />

völlig fehlt. Ein wichtiger Indikator für MDG 5 ist der Anteil an<br />

Geburten, die von medizinischem Fachpersonal begleitet werden.<br />

In diesem Bereich haben alle Entwicklungsregionen bis<br />

auf Afrika südlich der Sahara spürbare Fortschritte erzielt. Unter<br />

der Bezeichnung Partnership for Maternal, Newborn, and Child<br />

Health entstand 2005 durch die Fusion von drei bestehenden Initiativen<br />

ein übergreifendes Multiakteursnetzwerk. Seine mehr<br />

als 80 Mitglieder, zu denen Regierungen, staatliche und akademische<br />

Einrichtungen, Gesundheitsorganisationen und internationale<br />

Institutionen wie Weltbank und Weltgesundheitsorganisation<br />

(WHO) gehören, wollen politische Unterstützung<br />

und Finanzen mobilisieren, nationale Planungsprozesse unterstützen<br />

und die Geberkohärenz auf Länderebene verbessern.<br />

MDG 6: Schwere Krankheiten bekämpfen<br />

2005 lebten 40,3 Mio. Menschen mit dem HIV-Erreger, davon<br />

63 % in Afrika südlich der Sahara. Ein Hoffnung machender<br />

Trend ist die wachsende Zahl der HIV/AIDS-Kranken in Entwicklungsländern,<br />

die in den Genuss einer antiretroviraler<br />

Behandlung kommen: 1,65 Mio. 2006 gegenüber weniger als<br />

100.000 im Jahr 2000. <strong>Die</strong>s entspricht einer Versorgungsquote<br />

von 24 %; mehr als 5 Mio. Erkrankte müssen weiter auf die lebensrettenden<br />

Medikamente warten (WHO 2006).<br />

In Argentinien, Brasilien, Chile und Kuba konnten mehrere<br />

hunderttausend Menschenleben gerettet werden, weil der nationale<br />

Versorgungsgrad auf über 80 % geklettert ist. Vorbildlich<br />

sind auch die vorbeugenden Anstrengungen in Simbabwe,<br />

wo es trotz widriger wirtschaftlicher und politischer Rahmen-<br />

50


edingungen gelungen ist, die Ausbreitung des Virus durch<br />

Kondome und Verhaltensänderungen zurückzudrängen.<br />

Für mindestens 1 Mio. Menschen jährlich ist Malaria die<br />

Todesursache, aber die Behandlungsmethoden werden besser<br />

und der Einsatz von imprägnierten Netzen breitet sich aus.<br />

Zum Beispiel hat das kombinierte Programm für Impf- und<br />

Malariaschutz in Togo zu einer Verbreitungsrate von 62 % für<br />

Bettnetze innerhalb weniger Jahre geführt, bei einer Ausgangsposition<br />

von 6 %.<br />

MDG 7: Ökologische Nachhaltigkeit sieht anders aus<br />

MDG 7 erfasst nur einen kleinen Ausschnitt der ökologischen<br />

Nachhaltigkeit. Hier müssten in erster Linie die nichtnachhaltigen<br />

Lebensstile und Konsummuster in den Industrieländern<br />

thematisiert werden. Es macht sich negativ bemerkbar, dass<br />

die auf dem Erdgipfel 1992 begonnene Suche nach aussagekräftigen<br />

Indikatorensystemen für nachhaltige Entwicklung<br />

wegen mannigfaltiger politischer Widerstände im Sand verlaufen<br />

ist (Fues 1998). Der bei MDG 7 angesiedelte Wassersektor<br />

spielt für die menschliche Gesundheit eine zentrale Rolle.<br />

Mehr als 1 Mrd. Menschen auf der Welt hat keinen Zugang<br />

zu sauberem Trinkwasser und mehr als 2,5 Mrd. leiden unter<br />

unzureichender Sanitärversorgung. In Afrika südlich der Sahara<br />

ist die Lage dramatisch: Nur 64 % haben Zugang zu sauberem<br />

Trinkwasser und nur 37 % können Sanitäranlagen nutzen.<br />

Im Bereich der Infrastruktur äußert sich das Stadt-Land-<br />

Gefälle besonders deutlich. In den ärmsten Ländern genießen<br />

83 % der städtischen Bewohner/innen sauberes Trinkwasser,<br />

aber nur 55 % auf dem Land. Vor allem in Afrika setzen sich<br />

zunehmend dezentrale, kleinteilige Lösungen für die Wasser-,<br />

Sanitär- und Elektrizitätsversorgung von armen und isolierten<br />

Bevölkerungsgruppen durch, die meist von Nachbarschaftsgruppen<br />

oder informellen Privatanbietern getragen werden.<br />

51


In der tansanischen Hauptstadt Daressalam wurde beispielsweise<br />

das öffentliche Monopol zur Latrinensäuberung nach<br />

dem Ausbruch einer Seuche aufgehoben. Jetzt können die Verbraucher/innen<br />

zwischen lokalen Unternehmen wählen, die<br />

sich im Wettbewerb bewähren müssen.<br />

Entwaldung, die von einem weiteren Indikator für MDG 7<br />

erfasst wird, findet weiterhin in einem beachtlichen Umfang<br />

statt. Pro Jahr beläuft sich der weltweite Verlust auf rund<br />

13 Mio. Hektar. <strong>Die</strong> Waldbedeckung ist seit 1990 besonders<br />

auffällig in Südostasien zurückgegangen, von 56 % auf 47 %<br />

der gesamten Fläche. Ein Schlüsselindikator für MDG 7, der<br />

allerdings nur die relative, nicht die absolute ökologische Belastung<br />

misst, ist die gesamtwirtschaftliche Energieeffizienz.<br />

Extreme Verbesserungen sind hier in den Transformationsländern<br />

Mittel- und Osteuropas zu verzeichnen, in denen der<br />

Systemwechsel zu massivem Strukturwandel in Industrie und<br />

Ener gieversorgung geführt hat. Auch in Ostasien wurden hohe<br />

Steigerungsraten bei der Energieproduktivität erzielt.<br />

MDG 8: Globale Partnerschaft als ferne Vision<br />

<strong>Die</strong> Operationalisierung der globalen Partnerschaft durch<br />

MDG 8 umfasst wichtige Aspekte der Nord-Süd-Beziehungen.<br />

Da aber feste Zielvorgaben fehlen, handelt es sich hierbei eher<br />

um symbolische Appelle an die Industrieländer ohne jeden<br />

Verpflichtungscharakter. <strong>Die</strong> durchaus vorzeigbaren Fortschritte<br />

im Bereich der Entwicklungszusammenarbeit und Entschuldung<br />

werden durch anhaltende Agrarsubventionen und<br />

Marktabschottung des Nordens konterkariert, eklatante Beispiele<br />

mangelnder Kohärenz. <strong>Die</strong> öffentliche Entwicklungshilfe<br />

(Official Development Aid, ODA) stieg zwar 2005 zum ersten<br />

Mal auf über 100 Mrd. US-$; die Steigerung ist jedoch vor<br />

allem dem Schuldenerlass für Nigeria und Irak zu verdanken.<br />

Im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde sollten die Agrar-<br />

52


Exportsubventionen der Industrieländer bis 2013 abgebaut<br />

werden, aber es ist unklar, ob diese Zusagen nach dem vorläufigen<br />

Scheitern der Welthandelsgespräche Bestand haben<br />

werden.<br />

Kritische Faktoren für die Erreichung der MDGs<br />

Finanzierung der MDGs<br />

<strong>Die</strong> Erreichung der MDGs setzt die Mobilisierung zusätzlicher<br />

Finanzmittel voraus. Bei Niedrigeinkommensländern werden<br />

die öffentlichen Entwicklungsleistungen auf längere Sicht eine<br />

unverzichtbare Rolle spielen. Das <strong>Millennium</strong>sprojekt der Vereinten<br />

Nationen hat die notwendigen jährlichen Entwicklungstransfers<br />

für die weltweite Umsetzung der MDGs auf 135 Mrd.<br />

US-$ für 2006 und auf 195 Mrd. US-$ für 2015 geschätzt (UN<br />

<strong>Millennium</strong> Project 2005). Umstritten ist allerdings, ob in den<br />

Partnerländern überhaupt die Voraussetzungen zur sinnvollen<br />

Verwendung der Mittel gegeben sind (Martens 2005). Kritische<br />

Stimmen warnen mit guten Argumenten vor einer Überforderung<br />

der einheimischen Institutionen und setzen stattdessen<br />

auf ein selektives Vorgehen, das die notwendigen und verkraftbaren<br />

Entwicklungsleistungen im Einzelfall festlegt.<br />

Da die sozialpolitischen MDGs eng mit dem allgemeinen<br />

Zugang zu sozialen Grunddiensten (Grundbildung, Basisgesundheitsdienste<br />

einschließlich der reproduktiven Gesundheitsversorgung,<br />

Trinkwasser und Sanitäranlagen) verbunden<br />

sind, sollten diese Kernbereiche der direkten Armutsbekämpfung<br />

einen angemessenen Stellenwert in den einheimischen<br />

Haushalten sowie in der Entwicklungszusammenarbeit erhalten.<br />

Zu diesem Zweck könnte die so genannte 20 : 20-Initiative<br />

wiederbelebt werden, die anlässlich des Weltsozialgipfels 1995<br />

verabschiedet wurde (UNDP et al. 1998). Damit wurde eine<br />

wechselseitige Verpflichtung zwischen Geberstaaten und Ent-<br />

53


wicklungsländern begründet, mindestens 20 % Entwicklungsgelder<br />

einerseits und der nationalen Budgets andererseits für<br />

soziale Grunddienste zu reservieren (Fues 1996).<br />

Angaben zur öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit<br />

legen den Schluss nahe, dass bereits Verschiebungen in diesem<br />

Sinne stattfinden. <strong>Die</strong> Geberzusagen für Erziehung und<br />

Gesundheit haben sich seit 2000 deutlich erhöht. 2004 wurden<br />

11,4 Mrd. US-$ für Gesundheit und 9,5 Mrd. US-$ für Bildung<br />

über ausländische Hilfe zur Verfügung gestellt. Heute fließen<br />

50 % der Bildungstransfers an arme Länder in den Primarschulbereich,<br />

gegenüber rund 33 % am Ende des vergangenen<br />

Jahrzehnts. Im Gegensatz dazu ist der Anteil für Basisgesundheitsdienste<br />

an der sektoralen Gesamtsumme rückläufig, von<br />

28 % (1999) auf 15 % (2004). Inzwischen gibt es etwa 70 globale<br />

Partnerschaften im Gesundheitswesen, die 2004 mehr als 20 %<br />

der Gesamt-ODA für den Sektor aufgebracht haben. <strong>Die</strong> Pluralisierung<br />

der Akteure ist mit Skepsis zu betrachten ist, da sie<br />

die Kohärenz des Gesamtsystems schwächt und die Transaktionskosten<br />

erhöht.<br />

Noch wichtiger als die Geberleistungen sind die staatlichen<br />

Ausgaben für die sozialen Schlüsselsektoren in den Ländern<br />

selber. Statistische Angaben in diesem Feld sind jedoch spärlich<br />

gesät. <strong>Die</strong> für 2003, dem letzten verfügbaren Jahr, erhältlichen<br />

Daten decken nur 21 von 79 Mittel- und 27 von 57 Niedrigeinkommensländern<br />

ab. <strong>Die</strong>se Zahlen signalisieren einen bescheidenen<br />

Aufwärtstrend für Bildung, während die Finanzierung<br />

des öffentlichen Gesundheitswesens nicht zugenommen hat.<br />

Gesamtwirtschaftliche Strategien und MDGs<br />

Konsens besteht in der internationalen Debatte darüber, dass<br />

die direkte Armutsbekämpfung, etwa über eine Förderung der<br />

sozialen Grunddienste, durch entwicklungsfreundliche politische<br />

Rahmenbedingungen und durch armutsorientierte Wirt-<br />

54


schaftspolitiken (pro-poor growth) flankiert werden muss. Good<br />

governance, also gute Regierungsführung, Partizipation und<br />

Anti-Korruptionsmaßnahmen, werden zunehmend als unverzichtbarer<br />

Bestandteil einer erfolgreichen MDG-Politik thematisiert<br />

(World Bank/IMF 2006). Konsequenterweise müssen<br />

dann aber auch die Industrieländer selbstkritisch reflektieren<br />

und sich von der Weltöffentlichkeit fragen lassen, inwieweit sie<br />

auf internationaler Ebene MDG-förderliche Politiken, also good<br />

global governance, praktizieren.<br />

Der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel hat alle Staaten dazu verpflichtet,<br />

bis 2006 nationale MDG-Strategien zu beschließen, die eng mit<br />

den bereits vorhandenen, häufig von Weltbank und IWF unterstützten<br />

Plänen zur Armutsreduzierung (Poverty Reduction<br />

Strategy Papers) verzahnt werden sollen. Eine zeitnahe Umsetzung<br />

dieser Vorgabe ist aber nicht in Sicht, da den Niedrigeinkommensländern<br />

aus dem UN-System dafür bislang keine<br />

nennenswerte Unterstützung angeboten wird. Wichtig für<br />

langfristige Erfolge im MDG-Prozess ist, das gerade bei Nichtregierungsorganisationen<br />

weit verbreitete Missverständnis<br />

auszuräumen, soziale Ziele seien vor allem durch sozialpolitische<br />

Maßnahmen zu erzielen. Der Bericht des <strong>Millennium</strong>sprojekts<br />

weist zu Recht darauf hin, dass die Zielebenen nicht<br />

mit den Interventionsebenen identisch sind. Wer Grundbildung<br />

fördern will, darf sich beispielsweise nicht ausschließlich<br />

auf diesen Sektor konzentrieren. Insbesondere in Afrika südlich<br />

der Sahara sind Investitionen in die Infrastruktur (Transport,<br />

Energie, Wasser) zur MDG-Verwirklichung erforderlich;<br />

das Bildungswesen muss auch auf höheren Stufen ausgebaut<br />

werden (zum Beispiel im universitären Bereich). Eine MDGorientierte<br />

Entwicklungspolitik muss drei Stoßrichtungen gleichermaßen<br />

verfolgen (Messner/Wolff 2005): Erstens muss sie<br />

unmittelbare Armutsbekämpfung betreiben, um die Lebensverhältnisse<br />

der Armen spürbar zu verbessern (universeller<br />

Zugang zu Grundbildung und Gesundheit, besonders im Hinblick<br />

auf Mädchen). Gleichzeitig muss sie, zweitens, die pro-<br />

55


duktiven Potenziale der Armen entfalten helfen, zum Beispiel<br />

durch Modernisierung der Landwirtschaft und Stärkung des<br />

informellen Sektors. Drittens muss die Wettbewerbsfähigkeit<br />

der dynamischen Wirtschaftssektoren gestärkt und deren Vernetzung<br />

mit den Wirtschaftssektoren der Armen vorangetrieben<br />

werden.<br />

Internationale Überprüfung der MDGs<br />

Eine für die MDGs zentrale Frage bezieht sich darauf, in welchem<br />

Rahmen die Harmonisierung der internationalen Entwicklungszusammenarbeit<br />

und die Arbeitsteilung zwischen<br />

Gebern und Entwicklungsländern organisiert wird. <strong>Die</strong><br />

west lichen Industrieländer setzen in dieser Hinsicht auf den<br />

OECD-Entwicklungsausschuss (Development Assistance Committee,<br />

DAC), wo sie unter sich tagen und nach Bedarf Partner<br />

aus der Entwicklungswelt hinzuladen. <strong>Die</strong> »neuen« Geber des<br />

Südens, zum Beispiel China, Indien, Brasilien und Südkorea,<br />

werden sich auf diese westlich dominierte Plattform nicht einlassen,<br />

aber sie sind durchaus offen für Kooperation. Auf der<br />

programmatischen Ebene hat sich beispielsweise China in seiner<br />

neuen Afrika-Strategie für die Unterstützung der MDGs<br />

ausgesprochen (GoC 2006).<br />

<strong>Die</strong> beste Chance für Erfahrungsaustausch und gemeinsame<br />

Strategiebildung mit Gebern außerhalb des DAC bietet<br />

sich unter dem Dach der Vereinten Nationen. Vor diesem Hintergrund<br />

gewinnt die laufende Reform des UN-Wirtschafts-<br />

und Sozialrats (ECOSOC) neue Bedeutung. <strong>Die</strong>ses bisher weitgehend<br />

einflusslose Gremium soll nach dem Beschluss des<br />

<strong>Millennium</strong>+5-Gipfels eine größere Rolle in der Entwicklungspolitik<br />

einnehmen. Zur Überprüfung der Umsetzungserfolge<br />

bei den MDGs sollen jährliche Sitzungen auf Ministerebene<br />

stattfinden, zu denen auch Berichte der Geber und der internationalen<br />

Institutionen vorgelegt werden. Und alle zwei Jahre<br />

56


wird ECOSOC eine hochrangige Entwicklungskonferenz einberufen,<br />

die einen Kooperationsrahmen für alle maßgeblichen<br />

Akteure bieten soll. In diesem Kontext ließe sich auch eine UN-<br />

Konditionalität etablieren, die sich an den universell gültigen<br />

Menschenrechts- und Nachhaltigkeitsnormen orientiert – und<br />

nicht einseitig an Geberinteressen. Nach anfänglichem Zögern<br />

hat auch der DAC-Vorsitzende, Richard Manning (2006) die<br />

Chance erkannt, auf diesem Weg die weltweite Verständigung<br />

über gemeinsame Werte, Prinzipien und Verfahren in der Entwicklungszusammenarbeit<br />

voranzubringen.<br />

Fazit und Ausblick<br />

Wie stehen die Chancen zur termingerechten Erreichung der<br />

MDGs heute – nicht nur global, sondern in jedem einzelnen<br />

Land? Viel Anlass für Optimismus gibt es wohl kaum, insbesondere<br />

im Hinblick auf Problemregionen wie Afrika südlich<br />

der Sahara und schwache Staaten, die unter Gewaltkonflikten<br />

und autoritären Systemen leiden. <strong>Die</strong> fehlende Kompromissbereitschaft<br />

der Industrieländer im Rahmen der Doha-Entwicklungsrunde<br />

und andere Erscheinungsformen mangelnder<br />

Kohärenz machen wenig Hoffnung auf weltwirtschaftliche<br />

Weichenstellungen, die für langfristige Erfolge bei den MDGs<br />

unerlässlich sind. Auch in der Entwicklungszusammenarbeit<br />

kann der Norden weitreichenden Reformen nicht mehr lange<br />

ausweichen. Dabei geht es nicht nur um eine Ausweitung des<br />

Ressourcentransfers, etwa über innovative Instrumente wie die<br />

Flugticketabgabe, sondern auch um die Bereitschaft, laufende<br />

Kosten in den sozialen Schlüsselsektoren zu übernehmen (zum<br />

Beispiel für Lehr- und Gesundheitspersonal). Heute wird nur<br />

ein Drittel der Entwicklungsgelder an die Niedrigeinkommensländer<br />

in Form frei verfügbarer Zuschüsse geleistet; der<br />

Rest nutzt zuallererst der Geberseite, beispielsweise in Form<br />

von hoch dotierten Expertengehältern. Hoffnung machen die<br />

57


zahlreicher werdenden Beispiele von Multiakteursnetzwerken,<br />

insbesondere im Bildungs- und Gesundheitsbereich, in denen<br />

die Ressourcen von Staaten aus Nord und Süd, internationalen<br />

Organisationen, Zivilgesellschaft, Wirtschaft und Wissenschaft<br />

gebündelt werden.<br />

Es muss bis 2015 gelingen, in allen Ländern handfeste Fortschritte<br />

bei Armutsreduzierung und ökologischer Nachhaltigkeit<br />

vorzuweisen. Sonst droht ein gravierender Rückschlag in<br />

der Weltöffentlichkeit, der die Legitimationsbasis der Entwicklungszusammenarbeit<br />

insgesamt untergraben könnte (Loewe<br />

2005). Damit dies nicht geschieht, müssen alle Akteure ihre<br />

Interessen neu definieren (Fues 2006). <strong>Die</strong> MDGs sind nicht<br />

ausschließlich als ethisch-humanitäre Selbstverpflichtung zur<br />

weltweiten Durchsetzung von Menschenwürde und nachhaltiger<br />

Entwicklung zu verstehen. Neben diese wichtige Dimension<br />

einer neuen Universalethik tritt das aufgeklärte Eigeninteresse<br />

der reichen Gesellschaften an globaler Stabilität und<br />

Frieden. <strong>Die</strong> Bereitstellung solcher globalen öffentlichen Güter<br />

ist eine unverzichtbare Bedingung für eine gelingende Globalisierung.<br />

In einer immer stärker vernetzten Weltgesellschaft<br />

sind Wohlstand und Sicherheit in den privilegierten Ländern<br />

bedroht, solange Verelendung und soziale Desintegration zur<br />

Auflösung staatlicher Strukturen, Flüchtlingsbewegungen und<br />

Umweltzerstörungen führen. Auch die Eindämmung des internationalen<br />

Terrorismus und der grenzüberschreitenden Kriminalität<br />

bleibt eine Illusion ohne Reduzierung der globalen<br />

Kluft zwischen Arm und Reich.<br />

58


Literatur<br />

Fues, Thomas, 1996: Soziale Prioritäten in der Entwicklungszusammenarbeit.<br />

<strong>Die</strong> 20:20-Initiative im Umsetzungsprozess (Friedrich-Ebert-<br />

Stiftung) Bonn (http://www.fes.de/fulltext/iez/00737toc.htm,<br />

10.07.2006).<br />

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nachhaltige Entwicklung. Frankfurt/M. u.a.<br />

Fues, Thomas, 2006: Weltsozialpolitik und Entwicklung, in: Tobias Debiel/<br />

Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends 2007. Frieden<br />

– Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung und Frieden,<br />

Frankfurt/M., i. E.<br />

Fues, Thomas/Markus Loewe, 2005: Zwischen Frustration und Zuversicht:<br />

<strong>Die</strong> entwicklungspolitische Bilanz des <strong>Millennium</strong>+5-Gipfels<br />

(Deutsches Institut für Entwicklungspolitik: Analysen und Stellungnahmen<br />

Nr. 7). Bonn.<br />

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Affairs). Beijing (http://www.fmprc.gov.cn/eng/zxxx/t230615.<br />

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Kaiser, Jürgen, 2006: Ein historischer Durchbruch bei der Entschuldung,<br />

in: VENRO (Hg.): <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>sziele in Reichweite: Eine Bewertung<br />

des entwicklungspolitischen Ertrags des Entscheidungsjahrs<br />

2005. Bonn, S. 16–26.<br />

Loewe, Markus, 2005: <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong> Development Goals. Hintergrund,<br />

Bedeutung und Bewertung aus Sicht der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />

(Deutsches Institut für Entwicklungspolitik: Discussion<br />

Paper 12). Bonn.<br />

Manning, Richard, 2006: Will »emerging donors« change the face of international<br />

co-operation? (Development Assistance Committee). Paris<br />

(http://www.oecd.org/dataoecd/35/38/36417541.pdf, 05.07.2006).<br />

Martens, Jens, 2005: Der Bericht des UN <strong>Millennium</strong>projekts »Investing<br />

in Development« (Friedrich-Ebert-Stiftung: Dialogue on Globalization<br />

briefing papers). Berlin (http://library.fes.de/pdf-files/iez/<br />

global/50048.pdf, 07.07.2006).<br />

Messner, Dirk/Peter Wolff, 2005: <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>.<br />

Über den Sachs-Bericht hinausdenken (Deutsches Institut für Entwicklungspolitik:<br />

Analysen und Stellungnahmen Nr. 5) Bonn.<br />

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und Armutsbekämpfung. Bonn.<br />

59


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2006. New York (http://mdgs.un.org/unsd/mdg/Resources/Static/<br />

Products/Progress2006/MDGReport2006.pdf,.06.07.2006).<br />

UNDP (United Nations Development Programme) et al., 1998: Implementing<br />

the 20/20 Initiative. New York (http://www.unicef.org/<br />

publications/index_5597.html, 07.07.2006).<br />

UNDP, 2005: Bericht über die menschliche Entwicklung 2005, hg. v. Deutsche<br />

Gesellschaft für die Vereinten Nationen. Berlin.<br />

UNICEF (United Nations Children’s Fund), 2005: Zur Situation der Kinder<br />

der Welt 2006, Frankfurt/M.<br />

UN <strong>Millennium</strong> Project 2005: Investing in Development. A Practical Plan<br />

to Achieve the <strong>Millennium</strong> Development Goals. Report to the UN Secretary-General.<br />

New York.<br />

WBGU (Wissenschaftlicher Beirat der Bundesregierung Globale Umweltveränderungen),<br />

2005: Keine Entwicklung ohne Umweltschutz. Empfehlungen<br />

zum <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel (Politikpapier 4), Berlin (http://<br />

www.wbgu.de/wbgu_pp2005.pdf, 10.07.2006).<br />

WHO (World Health Organization), 2006: Progress in scaling up access<br />

to HIV treatment in low and middle-income countries. Genf (http://<br />

www.who.int/hiv/toronto2006/FS_Treatment_en.pdf, 19.08.2006).<br />

World Bank, 2006: World Development Indicators 2006. Washington,<br />

D.C.<br />

World Bank/IMF (International Monetary Fund), 2006: Global Monitoring<br />

Report 2006. <strong>Millennium</strong> Development Goals. Strengthening mutual<br />

accountability, aid, trade, and governance. Washington, D.C.<br />

60


RICHARD BRAND<br />

Mehr Worte als Taten?<br />

Der deutsche Beitrag zur Erfüllung der<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

<strong>Die</strong> auf dem <strong>Millennium</strong>-Gipfel der Vereinten Nationen im<br />

September 2000 verabschiedete <strong>Millennium</strong>-Erklärung behandelt<br />

wesentliche Fragen der zukünftigen Gestaltung der internationalen<br />

Beziehungen im 21. Jahrhundert. Als Handlungsorientierung<br />

für Entwicklung und Armutsbekämpfung wurden<br />

aus der <strong>Millennium</strong>-Erklärung acht <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

(<strong>Millennium</strong> Development Goals, MDGs) abgeleitet,<br />

die es bis 2015 zu erreichen gilt. Betont wird die gemeinsame<br />

Verantwortung von Industrie- und Entwicklungsländern im<br />

Rahmen einer globalen Entwicklungspartnerschaft (MDG 8).<br />

<strong>Die</strong> MDGs haben sich nach schleppendem Beginn mittlerweile<br />

als zentraler Referenzrahmen der internationalen Zusammenarbeit<br />

etabliert.<br />

<strong>Die</strong>s gilt auch für die Debatte in Deutschland. Bundesregierung<br />

und staatliche Entwicklungsorganisationen haben die<br />

MDGs und die <strong>Millennium</strong>-Erklärung als verbindlichen Orientierungsrahmen<br />

integriert. Auch nichtstaatliche Organisationen<br />

(NGOs) orientieren ihre Projektunterstützungen daran<br />

und gestalten ihre Bildungs- und Öffentlichkeitsarbeit »MDGkompatibel«.<br />

Zivilgesellschaftliche Kampagnen wie Global Call<br />

to Action against Poverty und die UN-gestützte <strong>Millennium</strong> Campaign<br />

werben für mehr Engagement und Solidarität.<br />

<strong>Die</strong>ser Beitrag beschäftigt sich mit der Politik der Bundesregierung:<br />

Wie hat sie auf die MDGs reagiert? Welche Maßnahmen<br />

wurden getroffen? Welche Änderungen sind notwendig?<br />

61


Das Aktionsprogramm 2015<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung reagierte relativ zügig und mit einem<br />

umfassenden konzeptionellen Ansatz auf die neuen entwicklungspolitischen<br />

Vorgaben. Am 4. April 2001 verabschiedete<br />

sie das »Aktionsprogramm 2015 – Der Beitrag der Bundesregierung<br />

zur Halbierung extremer Armut«. Als Zielsetzung formulierte<br />

Bundeskanzler Gerhard Schröder:<br />

»<strong>Die</strong>ses Programm bündelt alle Kräfte der Bundesregierung<br />

auch in dem Bestreben, die Zusammenarbeit mit den<br />

relevanten internationalen Organisationen und anderen Regierungen<br />

konsequent auf ihren Beitrag zur Minderung der<br />

weltweiten Armut auszurichten. Es unterstreicht den Willen<br />

Deutschlands, aktiv an der Halbierung der Armut mitzuwirken.«<br />

(BMZ 2001, Vorwort).<br />

Das Aktionsprogramm 2015 zeigte den Gestaltungswillen der<br />

rot-grünen Regierung. <strong>Die</strong> Übertragung der Federführung an<br />

das Bundesministerium für wirtschaftliche Zusammenarbeit<br />

und Entwicklung (BMZ) war eine Aufwertung der Entwicklungspolitik<br />

und der Ministerin in der Kabinettsrunde. Neu<br />

war, dass ein ressortübergreifender strategischer Rahmen für<br />

alle deutschen Beiträge zum Erreichen der MDGs geschaffen<br />

wurde, um die Verringerung der Armut als Kernaufgabe und<br />

Kernlegitimation der Entwicklungspolitik zu bestärken und<br />

um ein kohärentes Vorgehen in allen relevanten Politikbereichen,<br />

die Koordinierung mit anderen bilateralen und internationalen<br />

Akteuren und die Einbindung von Zivilgesellschaft<br />

und Privatwirtschaft zu fördern (van de Sand 2005).<br />

Das Aktionsprogramm identifiziert zehn vorrangige thematische<br />

Ansatzpunkte, die sich sowohl auf die Umsetzung<br />

der MDGs beziehen als auch Elemente aus der <strong>Millennium</strong>-<br />

Erklärung aufnehmen. Es stellt keine völlige Neuorientierung<br />

der Entwicklungspolitik dar, sondern kombiniert bestehende<br />

Zielsetzungen mit den neuen internationalen Vereinbarungen<br />

und soll strukturelle Änderungen unterstützen. Es geht damit<br />

62


in seinem Anspruch über die Entwicklungspolitik hinaus und<br />

benennt Handlungsfelder auf der multilateralen Ebene (Global<br />

Governance, gleichberechtigte Partnerschaft), auf der Ebene<br />

der Partnerländer (strukturelle Reformen, Armutsbekämpfungsstrategien)<br />

und bei den Strukturen in Deutschland und<br />

Europa (Kohärenz aller Politikfelder, wirtschaftliche und ökologische<br />

Nachhaltigkeit).<br />

<strong>Die</strong> zehn Ansatzpunkte des Aktionsprogramms 2015<br />

1. Wirtschaftliche Dynamik und aktive Teilnahme der Armen<br />

erhöhen (insbesondere MDGs 1, 8)<br />

2. Das Recht auf Nahrung verwirklichen und Agrarreformen<br />

durchführen (MDGs 1, 7, 8)<br />

3. Faire Handelschancen für die Entwicklungsländer schaffen<br />

(MDG 8)<br />

4. Verschuldung abbauen – Entwicklung finanzieren<br />

(MDGs 1, 8)<br />

5. Soziale Grunddienste gewährleisten – Soziale Sicherung<br />

stärken (MDGs 1, 2, 3, 4, 5, 6, 8)<br />

6. Zugang zu lebensnotwendigen Ressourcen sichern –<br />

Eine intakte Umwelt fördern (MDG 7, <strong>Millennium</strong>-<br />

Erklärung)<br />

7. Menschenrechte verwirklichen – Kernarbeitsnormen respektieren<br />

(<strong>Millennium</strong>-Erklärung)<br />

8. Gleichberechtigung der Geschlechter fördern (MDG 3)<br />

9. Beteiligung der Armen sichern – Verantwortungsvolle<br />

Regierungsführung stärken (MDGs 1, 3, <strong>Millennium</strong>-<br />

Erklärung)<br />

10. Konflikte friedlich austragen – Menschliche Sicherheit<br />

und Abrüstung fördern (<strong>Millennium</strong>-Erklärung)<br />

Quelle: BMZ 2005c<br />

63


Dem Aktionsprogramm liegt ein umfassendes Armutsverständnis<br />

zugrunde, da es auf die strukturellen wirtschaftlichen<br />

und gesellschaftlichen Ursachen der Armut, die Notwendigkeit<br />

zur Stärkung der Selbsthilfepotenziale und die Partizipation<br />

der Armen als tragende Prinzipien der Armutsbekämpfung<br />

verweist. Es geht damit über den Armutsbegriff der<br />

MDGs hinaus, da nicht nur die Einkommensarmut (weniger<br />

als 1 US-$ pro Tag) als Indikator verwendet wird, sondern weitere<br />

Indikatoren wie geringe Chancen und mangelnde Beteiligungsmöglichkeiten<br />

am politischen und wirtschaftlichen Leben,<br />

besondere Gefährdung durch Risiken, Missachtung der<br />

Menschenwürde und Menschenrechte sowie fehlender Zugang<br />

zu Ressourcen Berücksichtigung finden.<br />

Das Aktionsprogramm wurde von der Zivilgesellschaft<br />

und den Kirchen prinzipiell begrüßt. <strong>Die</strong>s galt besonders für<br />

den Anspruch, die entwicklungspolitische Kohärenz zu stärken<br />

und künftig alle neuen Gesetze auf ihre Entwicklungsverträglichkeit<br />

und auf ihre Bedeutung für die Armutsminderung<br />

zu prüfen. <strong>Die</strong> Evangelische Kirche in Deutschland (EKD)<br />

lobte in ihrer Stellungnahme zu den MDGs die konzeptionelle<br />

Pionierarbeit des Aktionsprogramms hinsichtlich der Armutsbekämpfung,<br />

mahnte aber an, sein Handlungspotenzial auch<br />

auszuschöpfen (EKD 2005). Kritisch bemerkt wurde, dass trotz<br />

des Anspruchs, die Ursachen der Armut anzugehen, kaum<br />

Handlungsvorschläge für den Bereich nationaler und internationaler<br />

Strukturpolitik zu finden sind. Es wurde befürchtet,<br />

dass das Programm weniger ein Programm der gesamten Bundesregierung<br />

ist, sondern eher eines des Entwicklungsministeriums<br />

(EED 2002).<br />

Zur Koordination und Steuerung des Aktionsprogramms<br />

hat das federführende BMZ im Referat 300 einen Arbeitsstab<br />

2015 gebildet. Anfang 2002 kam ein Sektorprogramm »Aktionsprogramm<br />

2015« hinzu, welches von der Gesellschaft für technische<br />

Zusammenarbeit (GTZ) betreut wird. Der Arbeitsstab<br />

verfügte 2002 und 2003 über einen eigenen Sondertitel (Haus-<br />

64


haltstitel 687 05) in Höhe von 90 Mio. € (40 Mio. € Barmittel und<br />

50 Mio. € Verpflichtungsermächtigungen), der ab 2004 in die<br />

Haushaltsstruktur des BMZ (Einzelplan 23) überführt wurde.<br />

Aus dem Sondertitel wurden unter anderem die Zusammenarbeit<br />

in den vier Pilotländern Bolivien, Jemen, Mosambik und<br />

Vietnam aufgestockt und zusätzliche Vorhaben der staatlichen<br />

Durchführungsorganisationen, der kirchlichen Zentralstellen<br />

für Entwicklungszusammenarbeit (EZ), der politischen Stiftungen<br />

sowie von privaten Trägern finanziert.<br />

In allen Ministerien und im Kanzleramt wurden Kontaktpersonen<br />

für den Arbeitsstab benannt. Über Kohärenzgespräche<br />

mit anderen Ministerien und durch die Beteiligung<br />

an der Rahmenplanung des BMZ wirkt der Arbeitsstab an der<br />

Politikgestaltung mit. Im Jahr 2003 wurde zur Koordinierung<br />

aller MDG-Fragen in der deutschen EZ zusätzlich die Stelle<br />

eines MDG-Beauftragten direkt beim Staatssekretär im BMZ<br />

eingerichtet. In den staatlichen Durchführungsorganisationen<br />

(GTZ, KfW, InWent, DED) wurden ebenfalls MDG-Beauftragte<br />

benannt und eine Orientierung auf die MDGs in die Wege geleitet.<br />

Trotz der konzeptionellen Ausrichtung auf die MDGs, zahlreicher<br />

neuer Initiativen und institutioneller Änderungen blieb<br />

die Umsetzung des Programms hinter den Erwartungen zurück.<br />

Der Anspruch, Referenzrahmen für die gesamte Bundesregierung<br />

zu sein, wurde nur bedingt eingelöst. Schon bei<br />

den Koalitionsgesprächen 2002 ließen sich erweiterte Kompetenz-<br />

und Führungsansprüche für das BMZ gegenüber anderen<br />

Ministerien nicht vereinbaren. <strong>Die</strong> Folgen waren, dass die<br />

politische Wirkung als ressortübergreifendes Programm und<br />

als Programm der gesamten Bundesregierung de facto an Gewicht<br />

verlor, auch wenn die Ministerin die Bedeutung des Aktionsprogramms<br />

als Referenzrahmen weiterhin betonte. Indizien<br />

für den Bedeutungsverlust waren, dass Bundeskanzler<br />

Schröder sich wenig für das Programm einsetzte, der angekündigte<br />

Operationsplan nie vorgelegt und der Haushalts-Sonder-<br />

65


titel später in die bestehenden Titel im Einzelplan 23 integriert<br />

wurde.<br />

Das Aktionsprogramm 2015 blieb weitgehend auf entwicklungspolitische<br />

Aktivitäten konzentriert und ist damit de facto<br />

ein Programm des BMZ. Zum 2. Zwischenbericht kommentierte<br />

der Verband Entwicklungspolitik Deutscher Nichtregierungsorganisationen<br />

(VENRO), das Programm stelle noch<br />

immer eine bemerkenswerte Selbstverpflichtung der Bundesregierung<br />

dar, die Bekämpfung der Armut zu einer gesamtpolitischen<br />

Aufgabe zu machen, leider sei es aber bei dem<br />

programmatischen Anspruch geblieben, da die Umsetzungsschritte<br />

dem nicht gerecht würden (VENRO 2004). <strong>Die</strong> Gemeinsame<br />

Konferenz Kirche und Entwicklung (GKKE) mahnte<br />

an, dass im Hinblick auf die Bewertung der Zielerreichung der<br />

vom BMZ angekündigte Umsetzungsplan endlich vorgelegt<br />

werden sollte und bemängelte, dass trotz vieler Einzelmaßnahmen<br />

keine deutliche Umsteuerung in Richtung einer Überwindung<br />

der extremen Armut und einer Fokussierung auf<br />

die ärmsten Länder zu erkennen sei (GKKE 2004). Der Social<br />

Watch Report sieht die Ergebnisse der entwicklungspolitischen<br />

Kohärenz kritisch, da diese häufig den Interessen anderer Ministerien<br />

untergeordnet wurde (Heidel 2005). 1<br />

Mit dem Regierungswechsel 2005 hat sich der Bedeutungsverlust<br />

des Aktionsprogramms weiter verstärkt. In den Koalitionsvereinbarungen<br />

wurde es nicht erwähnt. Obwohl es nach<br />

Aussage der Entwicklungsministerin weiter als ein Referenzrahmen<br />

neben anderen Vereinbarungen gelten soll, ist seine<br />

politische Bedeutung für die Regierungspolitik ungewiss. Der<br />

bisher ausgebliebene 3. Zwischenbericht, der nun im Frühjahr<br />

1 <strong>Die</strong> GKKE legt seit 2002 jährlich einen Bericht zur Umsetzung des Aktionsprogramms<br />

2015 vor (www.gkke.org). Als Beitrag der Zivilgesellschaft<br />

zum Monitoring der Fortschritte bei der Armutsbekämpfung und der<br />

Gleichstellung der Geschlechter versteht sich der jährliche internationale<br />

Social Watch Report (www.socialwatch.org). Ein darauf basierender deutscher<br />

Report wird seit 2001 vorgelegt (www.woek.de).<br />

66


2007 vorgelegt werden soll, könnte in dieser Frage eine Klärung<br />

bringen.<br />

Armutsbekämpfung, MDG-Orientierung<br />

und Wirkungsmonitoring<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung versteht Armutsbekämpfung als eine<br />

überwölbende Zielsetzung, die durch direkte und indirekte<br />

Maßnahmen erreicht werden soll. Dazu gehören die Förderung<br />

einer nachhaltigen Entwicklung (soziale Gerechtigkeit,<br />

ökologische Nachhaltigkeit, Förderung der wirtschaftlichen<br />

Rahmenbedingungen) und politisch dimensionierte Maßnahmen<br />

(Förderung von Demokratie, Rechtsstaatlichkeit, friedliche<br />

Konfliktbeilegung). <strong>Die</strong>ser umfassende Ansatz entspricht<br />

dem internationalen entwicklungspolitischen Konsens. <strong>Die</strong><br />

Frage ist, wie die Maßnahmen gewichtet werden, in welchem<br />

Zusammenhang sie stehen und wie sie zur Verbesserung der<br />

Lebensbedingungen der Armen beitragen.<br />

Überarbeitung des BMZ-Leitfadens zur<br />

Armutsorientierung erforderlich<br />

Ein wichtiges Projekt ist die Überarbeitung des derzeit gültigen<br />

BMZ-Leitfadens zur Beurteilung der Armutsorientierung aus<br />

dem Jahr 1997 (BMZ 1997). Nach Veränderungen der inhaltlichen<br />

und institutionellen Rahmenbedingungen war dieser<br />

Schritt überfällig. Es gilt im BMZ-Leitfaden neue Grundsatzdokumente<br />

zu berücksichtigen, die Änderungen des OECD-<br />

Entwicklungsausschusses (Development Assistance Committee,<br />

DAC) bei den Leitlinien zur Armutsbekämpfung aufzunehmen,<br />

aber auch die stärkere Ausrichtung der EZ auf Wirkung<br />

und die Verschiebung vom Projektansatz in Richtung Budgethilfe<br />

und Programmfinanzierung zu reflektieren. Ein vom<br />

67


BMZ in Auftrag gegebenes Gutachten ergab, dass eine Aktualisierung<br />

nicht ausreicht, sondern ein neuer Leitfaden erstellt<br />

werden sollte; dieser liegt derzeit noch nicht vor.<br />

<strong>Die</strong> Notwendigkeit zur Überarbeitung illustriert eine Kontroverse<br />

zwischen dem BMZ und NGOs über die Armutsorientierung<br />

der deutschen EZ. Laut Leitfaden erhalten Vorhaben<br />

der unmittelbaren Armutsbekämpfung die Kennungen SHA<br />

(selbsthilfeorientierte Armutsbekämpfung) und SUA (sonstige<br />

unmittelbare Armutsbekämpfung). <strong>Die</strong> Kennung MSA (übergreifende<br />

Armutsbekämpfung auf Makro- und Sektorebene)<br />

gilt für Vorhaben, bei denen eine plausible Wirkungskette zwischen<br />

Vorhaben und Verbesserung der Lebensbedingungen<br />

der Armen herzustellen ist. <strong>Die</strong> Kennung EPA (allgemeine entwicklungspolitische<br />

Ausrichtung) gilt für Vorhaben, die nicht<br />

unmittelbar armutsorientiert wirken, aber aus entwicklungspolitischen<br />

Gründen förderungswürdig sind. Der Anteil der armutsorientierten<br />

Vorhaben mit einer MSA-Kennung stieg von<br />

27 % im Jahr 2002 auf 60 % im Jahr 2004. Während die GKKE<br />

dem BMZ »Etikettenschwindel« vorwarf (GKKE 2004), verwies<br />

das BMZ auf die indirekte armutsorientierte Wirkung von<br />

strukturbildenden Aktivitäten auf der Meso- und Makro ebene.<br />

Auch wenn die Argumentation des BMZ analytisch a priori<br />

nicht falsch ist, bleibt die Frage, warum der Anteil von plausiblen<br />

Wirkungsketten fast sprunghaft zugenommen haben<br />

soll. Es ist zu vermuten, dass für eine Vielzahl von mehr oder<br />

minder armutsorientierten Maßnahmen die MSA- Kennung als<br />

Auffangbecken diente.<br />

Sektorale und regionale MDG-Orientierung erhöhen<br />

Um den Beitrag der deutschen EZ zur Erfüllung der MDGs<br />

zu beurteilen, ist genauer zu betrachten, ob der im Aktionsprogramm<br />

2015 formulierte politische Anspruch sich auch in<br />

einer stärkeren Mittelallokation zugunsten der MDG-Sektoren<br />

68


niederschlägt und eine Fokussierung auf besonders arme Länder<br />

zu verzeichnen ist. In einer vergleichenden Untersuchung<br />

zur Entwicklungspolitik von Dänemark, Deutschland, Irland,<br />

Italien, Niederlande, der Tschechischen Republik und der Europäischen<br />

Union schneidet die Bundesrepublik hinsichtlich<br />

ihrer MDG-Orientierung mit 44 von 100 möglichen Punkten<br />

eher mittelmäßig ab (Alliance 2015 2 2005).<br />

Kritisiert wird vor allem die geringe Mittelzuweisung für<br />

soziale Grunddienste. Im Jahr 2003 wurden nur 10,4 % der bilateralen<br />

EZ dafür verwandt, weniger als im Jahr 2000 mit 11,64 %<br />

(Alliance 2015 2005, 40). Deutschland ist damit weit von der Erfüllung<br />

der 20/20-Initiative entfernt, die beim Weltsozialgipfel<br />

1995 in Kopenhagen beschlossen wurde. <strong>Die</strong> Initiative sieht<br />

vor, dass sich Entwicklungs- und Industrieländer verpflichten,<br />

durchschnittlich 20 % des Staatshaushaltes bzw. 20 % der Mittel<br />

für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development<br />

Assistance, ODA) für soziale Grunddienste zu verwenden,<br />

also zum Beispiel für Grundbildung, Basisgesundheit, reproduktive<br />

Gesundheit, Ernährungsprogramme, Trinkwasserversorgung<br />

und Abwasserbeseitigung.<br />

In der bilateralen Zusammenarbeit zeichnet sich seit einigen<br />

Jahren eine Verschiebung zu Gunsten der ärmeren Länder<br />

ab. 1998 leitete das BMZ eine stärkere geographische Konzentration<br />

von zuvor 120 Kooperationsländern auf ca. 70 Länder<br />

ein. Damit verbunden war auch eine Reduzierung der bis<br />

dahin geltenden Präferenz für Länder der mittleren Einkommensgruppe,<br />

deren Anteil von über 50 % der bilateralen ODA<br />

im Jahr 2002 auf ca. 44 % im Jahr 2004 zurückging (OECD 2005,<br />

34f.). Trotz dieser positiven Entwicklung ist die Bundesregierung<br />

vom Ziel der Vereinten Nationen, 0,15 % des Bruttonationaleinkommens<br />

(BNE) für die am wenigsten entwickelten Länder<br />

(LDC) zu verwenden, noch entfernt. Nach Berechnungen<br />

2 Alliance 2015 ist ein Zusammenschluss von sechs europäischen NGOs, die<br />

regelmäßig einen 2015-Watch Report zur Umsetzung der MDGs vorlegen.<br />

69


der OECD betrug der über bilaterale und multilaterale Stellen<br />

gehende ODA-Anteil an LDCs im Jahr 2003 37 % der gesamten<br />

deutschen ODA. <strong>Die</strong>s entspricht einem Anteil von 0,10 % am<br />

BNE (OECD 2005, 35 u. 94).<br />

Um den deutschen Beitrag zur Erreichung der MDG-Ziele<br />

zu stärken, ist daher eine substanzielle Erhöhung der BMZ-<br />

Mittel für soziale Grunddienste wie Bildung, Gesundheit und<br />

Wasserversorgung sowie Ernährungssicherung zwingend erforderlich.<br />

Der Anteil der Mittelvergabe an die ärmsten Länder<br />

sollte stetig und dauerhaft erhöht werden (GKKE 2005, 42f.).<br />

Mehr Wirkung erzielen<br />

Durch die quantitativen und mit einem eindeutigen Zeithorizont<br />

versehenen MDGs wurde international die Debatte über<br />

Wirkungsorientierung und über eine stärkere Effektivität und<br />

Effizienz der EZ gefördert. Es gilt analytisch zu erfassen und<br />

zu belegen, ob und wie die Konzepte, Maßnahmen und Strategien<br />

zur Erfüllung der MDGs beitragen. <strong>Die</strong> seit langem bestehenden<br />

Systeme des Monitorings, der Evaluierung und Erfolgskontrolle<br />

auf der Projekt- und Programmebene müssen<br />

um eine aggregierte, MDG-orientierte Gesamtperspektive ergänzt<br />

werden. Um die politische und gesellschaftliche Unterstützung<br />

für eine Erhöhung der öffentlichen EZ zu erwirken,<br />

muss diese außerdem zeigen können, dass zusätzliche Gelder<br />

auch zusätzliche Wirkungen erzielen.<br />

Um Wirkungen besser belegen zu können, startete das BMZ<br />

diverse Initiativen in Zusammenarbeit mit dem Deutschen Institut<br />

für Entwicklungspolitik (DIE) und den Durchführungsorganisationen<br />

und ist aktiv an den Diskussionen im OECD-<br />

Entwicklungsausschuss beteiligt. Auch wenn damit wichtige<br />

Erkenntnisse zur Ermittlung aggregierter Wirkungszusammenhänge<br />

geschaffen wurden, ist nach Aussage der Leiterin<br />

des BMZ-Evaluierungsreferates aufgrund der komplexen Zu-<br />

70


sammenhänge und methodischen Schwierigkeiten nicht damit<br />

zu rechnen, dass demnächst mit Zahlen belegt werden kann,<br />

welche Beiträge die deutsche EZ zu einzelnen MDGs geleistet<br />

hat (Zintl 2006, vgl. auch den Beitrag von Kranz-Plote).<br />

Im März 2005 verabschiedete die OECD die Paris Declaration<br />

on Aid Effectiveness, in der die Bedeutung einer stärkeren<br />

Wirkungsorientierung bekräftigt wurde. <strong>Die</strong> MDG-Stabsstelle<br />

erstellte daraufhin ein Umsetzungspapier, in dem das Kohärenzgebot,<br />

das Partnerschaftsprinzip und die Orientierung auf<br />

Wirkungen als handlungsleitende Prinzipien bekräftigt und<br />

die nötigen Maßnahmen in einem Operationsplan 2005/2006<br />

konkretisiert werden (BMZ 2005b).<br />

Ein öffentlicher Fortschrittsbericht zur Umsetzung des<br />

Operationsplans liegt noch nicht vor. Zur Verbesserung der<br />

Transparenz wäre es zu begrüßen, wenn das BMZ seine Anstrengungen<br />

in regelmäßigen Zwischenberichten dokumentieren<br />

würde. Spannende Fragen für die fachliche Debatte sind,<br />

inwiefern das geltende Effektivitäts- und Effizienz-Paradigma<br />

bestimmte technokratische Ansätze bevorzugt, die Pluralität<br />

von Ansätzen erschwert, die Unabhängigkeit der Arbeit von<br />

NGOs negativ beeinflusst und ob damit letztlich einer formierten<br />

Entwicklungspolitik Vorschub geleistet wird.<br />

Geringe Ressourcenmobilisierung zur<br />

Entwicklungsfinanzierung<br />

Für die Umsetzung der MDGs braucht es zusätzliche finanzielle<br />

Mittel. <strong>Die</strong> betroffenen Länder müssen neue inländische<br />

Ressourcen mobilisieren oder ihre Ausgaben stärker zur Förderung<br />

der MDG-relevanten Handlungsfelder verwenden.<br />

Gleichzeitig sind bei der Finanzierung der MDGs die wohlhabenderen<br />

Staaten gefordert. Das von UN-Generalsekretär<br />

Kofi Annan eingesetzte <strong>Millennium</strong>-Projekt unter der Leitung<br />

von Jeffrey Sachs hat die Kosten für die weltweite Umsetzung<br />

71


der MDGs bis zum Jahr 2015 geschätzt und eine Erhöhung der<br />

jährlichen ODA auf 135 Mrd. US-$ bis 2010 und eine Steigerung<br />

auf 195 Mrd. US-$ bis 2015 gefordert.<br />

Der deutsche ODA-Anteil ist in den 1990er Jahren auf Werte<br />

unterhalb von 0,3 % des Bruttonationaleinkommens (BNE) gesunken.<br />

Um einen adäquaten Beitrag zu leisten, muss die deutsche<br />

Entwicklungshilfe deutlich erhöht werden.<br />

Zögerliche Anhebung der ODA<br />

<strong>Die</strong> Antwort der Bundesregierung fiel zunächst enttäuschend<br />

aus. Der BMZ-Etat, der den größten Anteil der ODA umfasst,<br />

blieb zwar von den allgemeinen Haushaltskürzungen weitgehend<br />

verschont, wurde aber auch nicht nennenswert erhöht.<br />

Von 2001 bis 2004 verharrte der Anteil der ODA (Bund, Länder<br />

und Kommunen) zwischen 0,27 % und 0,28 % des BNE. Länder<br />

wie Norwegen, Schweden, Niederlande und Dänemark erreichen<br />

dagegen Anteile von über 0,8 % am BNE.<br />

72<br />

Tabelle 1<br />

Öffentliche Entwicklungszusammenarbeit Deutschlands<br />

(in Mio. US-$ zu jeweiligen Preisen und Wechselkursen)<br />

Jahr 2000 2001 2002 2003 2004 2005<br />

ODA insgesamt<br />

Davon:<br />

5.030 4.990 5.324 6.784 7.534 9.915<br />

Bilateral 2.687 2.853 3.328 4.060 3.823 7.129<br />

Multilateral 2.343 2.136 1.997 2.724 3.712 2.786<br />

ODA (in % des BNE) 0,27 0,27 0,27 0,28 0,28 0,35<br />

Quelle: OECD 2005, Zahlen 2005 entnommen aus den DAC-Statistiken<br />

auf der OECD-Website


Erst im Vorfeld des <strong>Millennium</strong>+5-Gipfels im September 2005<br />

kam es zu weiter gehenden politischen Initiativen. Durch den<br />

Beschluss des Europäischen Rates vom 16./17. Juni 2005 verpflichtete<br />

sich die Bundesregierung im Rahmen eines Stufenplanes,<br />

ihre ODA bis zum Jahr 2015 auf 0,7 % des Bruttosozialprodukts<br />

aufzustocken. Der EU-Stufenplan bedeutet für<br />

Deutschland, dass bis zum Jahr 2010 0,51 % erreicht werden sollen.<br />

<strong>Die</strong> Mittel für EZ müssten dann auf 15,5 Mrd. US-$ erhöht<br />

werden. <strong>Die</strong>s entspricht im Vergleich zu 2004 einem Anstieg<br />

um 106 % in realer Rechnung (OECD 2005, 29). Der 13. Bericht<br />

2004/2005 zur Wirklichkeit der Entwicklungshilfe erstellte<br />

auf der Basis von Schätzungen der Europäischen Kommission<br />

eine Projektion für einen möglichen 2015-Stufenplan Deutschlands.<br />

Der deutsche Beitrag müsste demnach zwischen 2006<br />

und 2010 um jährlich 1,27 Mrd. € wachsen und danach um<br />

jährlich 1 Mrd. € bis 2015 (terre des hommes/Welthungerhilfe<br />

2005, 9f.)<br />

Der EU-Beschluss stellt eine wichtige politische Selbstverpflichtung<br />

dar und erhöht den Druck auf die einzelnen Staaten.<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung hatte sich für die Annahme des EU-<br />

Beschlusses eingesetzt. Im Koalitionsvertrag 2005 wird das<br />

Ziel bekräftigt. Um die politische Ernsthaftigkeit zu untermauern<br />

und um die Transparenz zu erhöhen, sollte die Bundesregierung<br />

umgehend einen eigenen Stufenplan verabschieden,<br />

der Umsetzungsstrategien, Finanzierungsquellen und Maßnahmen<br />

benennt. Sie würde damit mit anderen EU-Ländern<br />

gleichziehen, die solche Umsetzungspläne schon verabschiedet<br />

haben.<br />

Kritik an der Berechnung der ODA-Quoten<br />

<strong>Die</strong> Erhöhung der öffentlichen EZ wird seitens der internationalen<br />

Zivilgesellschaft nicht in Frage gestellt. Deutliche Kritik<br />

gibt es an der derzeit gültigen Berechnung der ODA-Quote.<br />

73


Im April 2006 stellten europäische NGOs den Bericht »EU Aid:<br />

Genuine Leadership or Misleading Figures?« vor, in dem für<br />

einige EU-Mitglieder die absoluten und relativen Anteile von<br />

»aufgeblähter« Hilfe (inflated aid) ermittelt wurden (Joint European<br />

NGO Report 2006). Ihrer Meinung nach sollten bei der<br />

Berechnung Schuldenerlasse, Ausgaben für Studienplatzkosten<br />

von Studierenden aus Entwicklungsländern und die Kosten<br />

für die Betreuung von Asylbewerbern und deren zwangsweise<br />

Rückführung ausgeklammert werden, da damit keine<br />

zusätzlichen Ressourcentransfers in die Entwicklungsländer<br />

realisiert werden. Für Deutschland ermittelte der Bericht für<br />

das Jahr 2005 einen Betrag von ca. 3,4 Mrd. € an aufgeblähter<br />

Hilfe, das entspricht 43 % der offiziellen ODA. <strong>Die</strong> deutsche<br />

ODA-Quote würde sich von 0,35 % auf 0,2 % des BNE reduzieren,<br />

wenn dieser Betrag abgezogen wird (Joint European NGO<br />

Report 2006).<br />

Der Anstieg der deutschen ODA-Quote 2005 ist primär eine<br />

Folge der Schuldenerlasse für den Irak und Nigeria. Der Anteil<br />

der Schuldenerlasse wird für 2005 mit ca. 32 % der ODA angegeben.<br />

Da die Schulden von den Entwicklungsländern meist seit<br />

Jahren nicht mehr bedient werden, führt dies nicht zu einem<br />

zusätzlichen Ressourcentransfer. <strong>Die</strong>s gilt für die Mehrzahl der<br />

LDCs, die in der HIPC-Entschuldungsinitiative für hoch verschuldete<br />

arme Länder (heavily indebted poor countries, HIPC)<br />

berücksichtigt wurden. Bei den Irak-Schulden kommt hinzu,<br />

dass damit ehemalige kommerzielle Handelsforderungen von<br />

Unternehmen, die über die Hermes-Kreditversicherung in öffentliche<br />

Forderungen verwandelt wurden, nachträglich zu<br />

EZ-Leistungen gemacht werden.<br />

Bei der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung im<br />

März 2002 in Monterrey war die Bundesregierung in dieser<br />

Frage schon weiter, denn im unterzeichneten Abschlussdokument<br />

werden die Geberländer aufgefordert, auf die Anrechnung<br />

von Schuldenerlassen auf die ODA-Quote zu verzichten.<br />

<strong>Die</strong> NGOs fordern daher, dass die Bundesrepublik und andere<br />

74


Staaten freiwillig auf die Anrechnung verzichten. Ein Vorschlag<br />

ist, die Leistungen aus Schuldenerlassen in einer eigenen Statistik<br />

zu dokumentieren. <strong>Die</strong> Aussagekraft der ODA- Zahlen<br />

würde erhöht, wenn Leistungen ohne Ressourcentransfer ausgeklammert<br />

werden und dadurch erlassbedingte Schwankungen<br />

entfallen. Das Festhalten der Bundesregierung an der<br />

gängigen Praxis deutet allerdings darauf hin, dass sie die Erreichung<br />

des EU-Stufenplans mittels Erhöhung der Haushaltsmittel<br />

oder durch die Einführung innovativer Finanzierungsinstrumente<br />

eher skeptisch beurteilt und Schuldenerlasse eine<br />

wichtige Funktion bei der Steigerung der ODA-Quote haben.<br />

Wenig Initiative bei innovativen<br />

Finanzierungsinstrumenten<br />

Seit der UN-Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung 2002<br />

gibt es eine intensive Debatte zu innovativen Finanzierungsmechanismen,<br />

mit denen zusätzliche Mittel aufgebracht werden<br />

sollen, um die Finanzierungslücke zwischen ODA und MDG-<br />

Erfordernissen zu schließen. Im Zentrum stehen internationale<br />

Steuern und Umweltabgaben für globale Gemeinschaftsgüter,<br />

mit denen sowohl Finanzierungs- als auch Lenkung<strong>sef</strong>fekte erzielt<br />

werden können. Dazu gehören beispielsweise die Abgabe<br />

auf Flugtickets, die Besteuerung von Flugbenzin, eine Devisenumsatzsteuer<br />

(Tobin-Steuer), die Nutzung von Kapitalmarktanleihen,<br />

eine Abgabe auf Waffengeschäfte und Abgaben auf<br />

den Kohlendioxidausstoß. Mittlerweile haben 18 Länder, darunter<br />

Chile, Frankreich, Großbritannien und Südkorea, eine<br />

Abgabe auf Flugtickets eingeführt. Großbritannien forciert einen<br />

Vorschlag, Entwicklungshilfe durch Anleihen am Kapitalmarkt<br />

(internationale Finanzfazilität) vorzufinanzieren.<br />

Obwohl sich die Bundesregierung bei der Monterrey-Konferenz<br />

durchaus offen für Innovationen zeigte und das BMZ<br />

auf einer Veranstaltung sogar eine Studie über die Machbarkeit<br />

75


einer Devisenumsatzsteuer (Vorschlag von Wirtschaftsprofessor<br />

Paul Bernd Spahn) präsentierte, spielte sie in der Folgezeit<br />

international eine zögerliche und wenig aktive Rolle. Sie beteiligt<br />

sich lediglich an der Leading Group zur Weiterentwicklung<br />

von globalen Abgaben, die auf der Pariser Konferenz zur<br />

Entwicklungsfinanzierung im März 2006 gebildet wurde. Eine<br />

Entscheidung zur Einführung eines bestimmten innovativen<br />

Finanzierungsinstruments steht weiterhin aus. <strong>Die</strong> Beteiligung<br />

an der Internationalen Finanzfazilität lehnt die Bundesregierung<br />

ab, und sie beabsichtigt auch nicht, eine Wertpapierumsatzsteuer<br />

oder eine Devisentransaktionssteuer einzuführen<br />

(Deutscher Bundestag 2006).<br />

Als Fazit lässt sich konstatieren, dass die Bundesregierung<br />

seit Monterrey über allgemeine Absichtserklärungen nicht hinausgekommen<br />

ist. Gute Chancen zur Profilierung bieten sich<br />

durch die EU-Präsidentschaft im ersten Halbjahr 2007 und den<br />

G8-Gipfel 2007 in Deutschland. In einem ersten Schritt sollte<br />

zumindest und umgehend eine Abgabe auf Flugtickets eingeführt<br />

werden. Globale Steuern zur Entwicklungsfinanzierung<br />

und zur Gestaltung der internationalen Wirtschaftsbeziehungen<br />

sind wichtige Zukunftsthemen. <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />

sollte sich aktiv an dieser Debatte beteiligen und eigene Konzepte<br />

unterbreiten, statt nur mitzulaufen, abzuwarten und bestehende<br />

Vorschläge abzulehnen.<br />

Entwicklungspolitische Kohärenz 3<br />

<strong>Die</strong> OECD hatte in ihrem Prüfbericht zu Deutschland 2001 im<br />

Bereich Kohärenz institutionelle und konzeptionelle Defizite<br />

konstatiert und Handlungsbedarf angemahnt. Mit dem Ak-<br />

3 In einer allgemeinen Definition wird Kohärenz als das Zusammenwirken<br />

aller im jeweiligen Kontext relevanten Politiken zur Erreichung übergeordneter<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong> beschrieben.<br />

76


tionsprogramm 2015 formalisierte die Bundesregierung ihr<br />

Konzept für ein kohärentes entwicklungsorientiertes Vorgehen<br />

in allen Politikbereichen in Deutschland, in der EU und auf<br />

internationaler Ebene. Aufbauend auf einer Evaluierung der<br />

laufenden Kohärenzaktivitäten durch das DIE im Jahr 2003 erstellte<br />

das BMZ eine Kohärenzagenda mit 14 Zielen, die sich<br />

überwiegend auf die Verbesserung der Instrumentarien und<br />

der Verfahren beziehen.<br />

Im Bericht von 2005 würdigt der OECD-Entwicklungsausschuss,<br />

die Bundesregierung habe eine solidere Basis zur Förderung<br />

verstärkter Politikkohärenz geschaffen. Zugleich unterbreitet<br />

er weiterführende Vorschläge in den Bereichen Politik,<br />

analytische Kapazität und Monitoring-Mechanismen.<br />

Empfohlen wird unter anderem eine bessere Abstimmung<br />

der Kohärenzagenda mit dem Aktionsprogramm 2015, indem<br />

explizite Kohärenzziele für jeden Prioritätsbereich des Programms<br />

formuliert und Umsetzungsstrategien entwickelt werden.<br />

Nachholbedarf wird beim Kohärenz-Monitoring gesehen,<br />

da darüber noch nicht systematisch berichtet wird und noch<br />

keine Ergebnisindikatoren festgelegt wurden (OECD 2005).<br />

So behandelt der BMZ-Bericht »Der Beitrag Deutschlands zur<br />

Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>« das Thema<br />

lediglich auf einer Seite (BMZ 2005a). In allgemeinen Worten<br />

werden Mitbestimmungsmöglichkeiten des BMZ, die Ressortabstimmungen<br />

und befristete interministerielle Arbeitsgruppen<br />

erwähnt, ohne näher auf Ergebnisse, Strategien oder Konflikte<br />

einzugehen.<br />

<strong>Die</strong> Forderung nach entwicklungspolitischer Kohärenz<br />

wird von den Kirchen und zivilgesellschaftlichen Organisationen<br />

schon seit Jahren erhoben. Schon Anfang der 1990er<br />

Jahre wurde auf die negativen Auswirkungen subventionierter<br />

Rindfleischexporte der EU verwiesen, die mit Dumpingpreisen<br />

lokale Märkte in Westafrika zerstören, das Einkommen von<br />

Kleinbauern reduzieren und Entwicklungsprojekte konterkarieren.<br />

So schreibt »Brot für die Welt« 2000 in seiner Grundsatz-<br />

77


erklärung »Den Armen Gerechtigkeit«: »Entwicklungspolitik,<br />

internationale Menschenrechts-, Friedens- und Umweltpolitik<br />

müssen als globale Strukturpolitik einen zentralen Rang erhalten.<br />

Das Handeln der politisch Verantwortlichen muss kohärent<br />

dem Ziel der Gerechtigkeit verpflichtet sein.« (Brot für die<br />

Welt 2000, 35). Zentrale Forderungen sind gerechte Welthandelsregeln<br />

und eine armutsorientierte Handels-, Agrar- und<br />

Wirtschaftspolitik, die im Einklang mit den im internationalen<br />

Pakt für wirtschaftliche, soziale und kulturelle Rechte definierten<br />

Menschenrechten steht und die internationalen Vereinbarungen<br />

und Kernprinzipien des Umweltschutzes respektiert<br />

(VENRO 2006). <strong>Die</strong> aktuelle Debatte um entwicklungspolitische<br />

Kohärenz beinhaltet eine Vielzahl weiterer Themen, zu<br />

denen zivilgesellschaftliche Organisationen und Netzwerke<br />

arbeiten und ihre Positionen und die ihrer Partner aus dem Süden<br />

in die Debatte einbringen. Bei allen Unterschieden kann<br />

das Eintreten für einen menschenrechtlichen Ansatz (rightsbased<br />

approach), der in diversen UN-Konventionen kodifiziert<br />

ist, als gemeinsamer Nenner der zivilgesellschaftlichen Positionen<br />

gelten. <strong>Die</strong> Instrumentalisierung der Entwicklungspolitik<br />

für außenpolitische, wirtschaftliche oder andere Zielsetzungen<br />

wird abgelehnt.<br />

Schlussbemerkung<br />

<strong>Die</strong> Anstrengungen der deutschen staatlichen EZ zur Erfüllung<br />

der MDGs können bisher als ambivalent bezeichnet werden.<br />

Positiv ist zu vermerken, dass die Bundesregierung sich<br />

programmatisch frühzeitig auf die Erfüllung der MDGs bezogen,<br />

institutionelle Änderungen vorgenommen sowie Initiativen<br />

zur Verbesserung der Armutsorientierung und für ein<br />

besseres Wirkungsmonitoring gestartet hat. Enttäuschend ist,<br />

dass sie ihren Verpflichtungen zur deutlichen Erhöhung der<br />

Mittel für die Entwicklungsfinanzierung bisher kaum nachge-<br />

78


kommen ist und dass bei der Allokation der Mittel noch erheblicher<br />

Nachholbedarf für eine stärkere MDG-Orientierung<br />

besteht. Auf politischer Ebene ist es notwendig, sich stärker für<br />

verbesserte internationale politische und wirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />

einzusetzen, die den Entwicklungsländern<br />

und armen Bevölkerungsgruppen faire Partizipationsmöglichkeiten<br />

bieten und ökologisch nachhaltig sind. <strong>Die</strong> Umsetzung<br />

einer entwicklungspolitisch kohärenten Politik steht noch aus.<br />

Literatur<br />

Alliance 2015, 2005: 2015-Watch. The <strong>Millennium</strong> Development Goals. A<br />

comparative performance of six EU Member States and the EC aid<br />

programme. Den Haag.<br />

BMZ, 1997: Leitfaden zur Beurteilung der Armutsminderung von Vorhaben<br />

der Zusammenarbeit vom 24.11.1997. Bonn.<br />

BMZ, 2001: Armutsbekämpfung – Eine globale Aufgabe, Aktionsprogramm<br />

2015. Der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten Halbierung<br />

der extremen Armut (BMZ-Materialien Nr. 106). Bonn.<br />

BMZ, 2004: Auf dem Weg zur Halbierung der Armut. 2. Zwischenbericht<br />

über den Stand der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015 (BMZ<br />

Spezial Nr. 88). Bonn.<br />

BMZ, 2005a: Der Beitrag Deutschlands zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong> (BMZ-Materialien Nr. 140). Bonn.<br />

BMZ, 2005b: Mehr Wirkung erzielen. <strong>Die</strong> Ausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />

auf die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

(BMZ-Spezial Nr. 130). Bonn.<br />

BMZ, 2005c: Zwölfter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung<br />

(BMZ-Materialien Nr. 131). Bonn.<br />

Brot für die Welt, 2000: Den Armen Gerechtigkeit. Herausforderungen<br />

und Handlungsfelder. Stuttgart.<br />

Deutscher Bundestag, 2006: Antwort der Bundesregierung auf die Kleine<br />

Anfrage der Fraktion DIE LINKE, Drucksache 16/1072, 18.04.2006.<br />

Berlin.<br />

EED (Evangelischer Entwicklungsdienst), 2002: … dass du Recht schaffest<br />

den Armen. Plädoyer für eine kohärente Entwicklungspolitik (EED<br />

Dialog 2). Bonn.<br />

79


EKD (Evangelische Kirche in Deutschland), 2005 (Hg.): Schritte zu einer<br />

nachhaltigen Entwicklung. <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>sentwicklungsziele der<br />

Vereinten Nationen. Eine Stellungnahme der Kammer für nachhaltige<br />

Entwicklung der EKD zur Sondervollversammlung der Vereinten Nationen<br />

im September 2005. Hannover.<br />

GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung), 2004: Halbierung<br />

der extremen Armut. Dritter GKKE-Bericht (GKKE-Schriftenreihe<br />

Nr. 35). Berlin.<br />

GKKE (Gemeinsame Konferenz Kirche und Entwicklung), 2005: <strong>Millennium</strong>sziele<br />

auf dem Prüfstand, Vierter GKKE-Bericht zur Halbierung<br />

der extremen Armut (GKKE-Schriftenreihe Nr. 37). Berlin.<br />

Heidel, Klaus, 2005: Gemischte Bilanz. Zehn Jahre deutsche Entwicklungspolitik,<br />

in: Social Watch Deutschland Report 2005, S. 39–40.<br />

Joint European NGO Report, 2006: EU Aid: Genuine Leadership or Misleading<br />

Figures? Brüssel.<br />

OECD, 2005: DAC-Prüfbericht über die Entwicklungszusammenarbeit –<br />

Deutschland. Paris<br />

van de Sand, Klemens, 2005: Armutsbekämpfung als entwicklungspolitische<br />

Kernaufgabe, in: Zeitschrift Entwicklungspolitik Nr. 12/13,<br />

S. 29–32.<br />

terre des hommes/Welthungerhilfe, 2005: <strong>Die</strong> Wirklichkeit der Entwicklungshilfe,<br />

Dreizehnter Bericht 2004/2005. Bonn/Osnabrück.<br />

VENRO, 2004: In der Armutsbekämpfung der Bundesregierung klaffen<br />

Anspruch und Wirklichkeit auseinander, Pressemitteilung 2/2004,<br />

5. April. Bonn.<br />

VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die <strong>Millennium</strong>sentwicklungsziele.<br />

VENRO-Positionspapier. Bonn.<br />

Zintl, Michaela, 2006: Von Wirkungen und Nebenwirkungen, in: EINS<br />

Entwicklungspolitik Nr. 9, S. 30–33.<br />

80


JUTTA KRANZ-PLOTE 1<br />

Chancen und Herausforderungen<br />

bei der operativen Umsetzung der<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Eine Innenperspektive<br />

Auf dem UN-Gipfeltreffen im September 2000 hat die Bundesregierung<br />

gemeinsam mit 188 anderen Staaten der <strong>Millennium</strong>-<br />

Erklärung zugestimmt. Damit hat sie sich verpflichtet, ihren<br />

Beitrag zur Erreichung der darin formulierten <strong>Entwicklungsziele</strong><br />

einschließlich der später abgeleiteten acht <strong>Millennium</strong> Development<br />

Goals (MDGs) zu leisten. Für alle Unterzeichner der<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung – Entwicklungsländer wie Industrienationen<br />

– stellt dies eine erhebliche Herausforderung dar. Der<br />

mit der <strong>Millennium</strong>-Erklärung angestoßene Prozess beinhaltet<br />

aber auch große Chancen, die Entwicklungszusammenarbeit<br />

(EZ) signifikant zu verbessern.<br />

Ein verbindlicher Referenzrahmen für die<br />

strategische Ausrichtung der deutschen<br />

Entwicklungszusammenarbeit<br />

<strong>Die</strong> acht MDGs definieren Ziele, die für jeden unmittelbar verständlich<br />

sind. Hierin liegt ihre besondere Überzeugungskraft<br />

und aus diesem Grund wurden sie so einfach und eindeutig<br />

formuliert. Es wäre aber fatal, wollte man daraus eine ebenso<br />

einfache Strategie für ihre Umsetzung ableiten. <strong>Die</strong>s würde<br />

dem Charakter der MDGs und ihrem qualitativen Mehrwert<br />

1 Der Beitrag gibt den Standpunkt der Autorin wieder.<br />

81


für die internationale Entwicklungszusammenarbeit nicht gerecht.<br />

Es kann daher nicht primär darum gehen, nun möglichst<br />

viele EZ-Mittel in die Bereiche zu lenken, die in den MDGs unmittelbar<br />

angesprochen sind, wie zum Beispiel die Grundbildung,<br />

die Verbesserung der Gesundheitsversorgung oder die<br />

Bereitstellung von sauberem Trinkwasser. Schon in den vergangenen<br />

Jahrzehnten wurde in diese Sektoren viel investiert,<br />

ohne dass die Ergebnisse zufrieden stellend gewesen wären.<br />

Gerade die Enttäuschung über unzureichende Entwicklungsfortschritte<br />

war es ja, die zu den großen Weltkonferenzen der<br />

1990er Jahre und schließlich zum <strong>Millennium</strong>sgipfel führte.<br />

<strong>Die</strong> Gründe für die mangelnden Erfolge sind vielschichtig und<br />

können nicht nur in den unzureichenden Mitteln für die EZ<br />

gesehen werden. Eine nachhaltige und sozial gerechte Entwicklung<br />

lässt sich weder erkaufen noch importieren. Es hängt<br />

vielmehr ganz wesentlich vom politischen Willen der Partner-<br />

und Geberländer ab, die hierfür notwendigen Rahmenbedingungen<br />

zu schaffen.<br />

Welch bedeutende Rolle entwicklungsförderliche Faktoren<br />

wie gute Regierungsführung und faire Handelschancen spielen,<br />

ist seit langem bekannt. Mit der <strong>Millennium</strong>s-Agenda besteht<br />

die Chance, hier einen entscheidenden Schritt weiterzukommen.<br />

Wenn die <strong>Millennium</strong>-Erklärung und die MDGs die<br />

Welt tatsächlich verändern sollen, dann muss ihr Potenzial zur<br />

Umsetzung struktureller Veränderungen genutzt werden. Genau<br />

das ist die Herausforderung, der sich alle Beteiligten, auch<br />

in der deutschen EZ, zu stellen haben.<br />

Um diese Chance zu nutzen, müssen die MDGs richtig verstanden<br />

werden. <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong> beschreiben<br />

Mindestvoraussetzungen für ein menschenwürdiges Leben:<br />

die Freiheit von Armut und ihre Auswirkungen in den Bereichen<br />

Bildung, Gleichberechtigung der Geschlechter, Gesundheit<br />

und Schutz natürlicher Ressourcen. <strong>Die</strong> MDGs stellen aber<br />

keine umfassende Entwicklungsagenda dar, denn sie enthalten<br />

nicht den Schutz der Bürger- und Menschenrechte sowie<br />

82


Frieden und Sicherheit als Grundbedingungen menschlicher<br />

Entwicklung. Daher müssen die MDGs immer im Kontext der<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung gesehen werden. <strong>Die</strong>se ist eine umfassende<br />

Agenda für die internationale Politik zu Beginn des<br />

21. Jahrhunderts und entspricht dem systemischen Entwicklungsansatz,<br />

der sich insbesondere seit den 1980er und 1990er<br />

Jahren in der EZ herausgebildet hat. <strong>Die</strong> MDGs können nur<br />

verwirklicht werden, wenn es Fortschritte in allen Handlungsfeldern<br />

der Erklärung gibt. Aus diesem Grund sind für die<br />

deutsche Entwicklungszusammenarbeit nicht nur die MDGs,<br />

sondern alle Ziele der <strong>Millennium</strong>-Erklärung der verbindliche<br />

Referenzrahmen.<br />

<strong>Die</strong> Ziele der deutschen Entwicklungspolitik – Armut mindern,<br />

Frieden sichern, Globalisierung gerecht gestalten und<br />

Umwelt schützen – entsprechen dem systemischen Ansatz der<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung, wobei Armutsbekämpfung die Kernaufgabe<br />

der Entwicklungspolitik ist. Zugrunde liegt dabei ein<br />

mehrdimensionales Armutsverständnis, wie es heute international<br />

gültig ist. Demnach bedeutet Armut nicht nur geringes<br />

Einkommen, sondern auch geringe Chancen und mangelnde<br />

Beteiligungsmöglichkeiten am politischen und wirtschaftlichen<br />

Leben, besondere Gefährdung durch Risiken, Missachtung der<br />

Menschenrechte sowie fehlender Zugang zu Ressourcen.<br />

Aus diesem Grund ist es zwar wichtig, dass sich die deutsche<br />

EZ in den Handlungsfeldern engagiert, die sich aus den<br />

MDGs ergeben und hierzu wichtige Beiträge leistet (BMZ<br />

2005a) 2 . Doch eine strukturell wirksame Unterstützung der<br />

<strong>Millennium</strong>s-Agenda erfordert mehr als das.<br />

2 So werden beispielsweise die Gleichberechtigung der Geschlechter und<br />

der Kampf gegen HIV/AIDS sowohl durch die Verankerung als Querschnittsthemen<br />

in der EZ als auch durch spezielle Fördermaßnahmen<br />

unterstützt. Deutschland ist weltweit der zweitgrößte Geber im Wassersektor<br />

und setzt sich sehr stark für Umweltbelange ein. Mit Blick auf MDG<br />

8 engagiert sich die deutsche EZ unter anderem für die Umsetzung des<br />

ODA-Stufenplans der EU, die Entschuldungsinitiative sowie Handelsverbesserungen<br />

für Entwicklungsländer.<br />

83


<strong>Die</strong> deutsche EZ im Kontext der internationalen<br />

Prozesse zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-Agenda<br />

Als Folge des in New York angestoßenen Prozesses sind seit<br />

dem Jahr 2000 weitere internationale Vereinbarungen getroffen<br />

worden, die den programmatischen Rahmen für die deutsche<br />

Entwicklungspolitik bilden. Als wichtigste sind hier der Konsens<br />

der Entwicklungsfinanzierungskonferenz 2002 in Monterrey,<br />

der Aktionsplan des Weltnachhaltigkeitsgipfels 2002 in<br />

Johannesburg, die Erklärung von Rom zur Geberharmonisierung<br />

aus dem Jahr 2003, die im Frühjahr 2005 verfasste Paris-<br />

Erklärung zur Steigerung der Wirksamkeit der EZ und schließlich<br />

der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel im September 2005 in New York<br />

zu nennen. <strong>Die</strong> Bedeutung dieses Gipfels für die Arbeit der EZ<br />

muss im Kontext seiner Vor- und Nachbereitung gesehen werden.<br />

Der Stufenplan zur Erhöhung der Mittel für die öffentliche<br />

Entwicklungszusammenarbeit (ODA) der EU, der vorsieht,<br />

dass alle Mitgliedstaaten gemeinsam bis 2015 0,7 % des<br />

Bruttonationaleinkommens für Entwicklungshilfe zur Verfügung<br />

stellen, sowie die Erweiterung der Entschuldungsinitiative<br />

von Gleneagles für sehr arme hoch verschuldete Länder,<br />

stehen hiermit in unmittelbarem Zusammenhang.<br />

<strong>Die</strong> deutsche EZ gestaltet diese internationalen Prozesse<br />

mit und hat sich den entsprechenden neuen Herausforderungen<br />

frühzeitig gestellt. Bereits im April 2001 verabschiedete<br />

die Bundesregierung als einer der ersten Geber mit dem<br />

Aktionsprogramm 2015 ihre Strategie zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

(BMZ 2001). Das Programm umfasst zehn<br />

Ansatzpunkte in den Bereichen Wirtschaft und Landwirtschaft,<br />

Handel, Verschuldung, Sozialsysteme, Umwelt- und<br />

Ressourcenschutz, Menschenrechte, Gleichberechtigung der<br />

Geschlechter, Partizipation, Abrüstung und Sicherheit. Es<br />

stellt aber keinen detaillierten Operationsplan dar. Ein solcher<br />

würde zwar den Erwartungen der entwicklungspolitischen<br />

Öffentlichkeit entgegenkommen, er kann aber nicht einsei-<br />

84


tig von deutscher Seite verwirklicht werden. <strong>Die</strong> Umsetzung<br />

des Aktionsprogramms 2015 muss in einem kontinuierlichen<br />

Prozess zusammen mit den Partnerländern, bi- und multilateralen<br />

Gebern sowie nationalen und internationalen zivilgesellschaftlichen<br />

wie wirtschaftlichen Akteuren erfolgen. Daher<br />

wird über den Fortschritt des Aktionsprogramms in regelmäßigen<br />

Statusberichten Rechenschaft abgelegt.<br />

Nach der Verabschiedung der Paris-Erklärung im März<br />

2005 hat die deutsche EZ die darin formulierten sehr konkreten<br />

Handlungsvorgaben in einen verbindlichen Operationsplan für<br />

die deutsche EZ umgesetzt. <strong>Die</strong>ser wurde mit der Strategie zur<br />

Ausrichtung der Verfahren und Instrumente der deutschen EZ<br />

auf die MDGs verknüpft (BMZ 2005b) und wird durch eine<br />

Handreichung ergänzt, die die Umsetzung auf der operativen<br />

Ebene erleichtern sollen.<br />

<strong>Die</strong> oben genannten internationalen Vereinbarungen der<br />

vergangenen Jahre beinhalten mehrere handlungsleitende<br />

Prinzipien, die den qualitativen Mehrwert der neuen Agenda<br />

gegenüber der EZ früherer Jahre ausmachen: Partnerorientierung,<br />

Geberharmonisierung, Wirkungsorientierung und Politikkohärenz.<br />

<strong>Die</strong>se sind nicht unbedingt neu, sie haben aber<br />

im Kontext der <strong>Millennium</strong>s-Agenda eine wesentlich größere<br />

Verbindlichkeit erhalten.<br />

Eigenverantwortung der Entwicklungsländer<br />

und Partnerorientierung der Geber<br />

Mit den MDGs gibt es erstmals einen gemeinsamen, bindenden<br />

Bezugsrahmen für die internationale Entwicklungszusammenarbeit,<br />

der das Ziel der Armutsbekämpfung in den Fokus rückt<br />

und mit überprüfbaren Indikatoren konkretisiert. <strong>Die</strong>s impliziert<br />

eine klare Aufteilung der Verantwortlichkeiten zwischen<br />

Entwicklungs- und Industrieländern. <strong>Die</strong> Ziele 1 bis 7 müssen<br />

in erster Linie von den Partnern selber umgesetzt werden. Sie<br />

85


müssen hierfür die entsprechenden nationalen Politiken und<br />

Strategien definieren sowie soweit wie möglich interne Ressourcen<br />

mobilisieren. Der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel im September<br />

2005 hat diesen Kerngedanken noch einmal bestätigt und die<br />

Entwicklungsländer im Abschlussdokument entsprechend in<br />

die Pflicht genommen. <strong>Die</strong>s erfordert die Formulierung nationaler<br />

Entwicklungsstrategien durch die Partnerländer, die die<br />

globalen <strong>Entwicklungsziele</strong> im Länderkontext konkretisieren<br />

sowie die Identifizierung der erforderlichen Schritte. Denn so<br />

unterschiedlich wie die Ausgangssituation und die Problemlagen,<br />

so unterschiedlich sind die Wege zur Zielerreichung. Bei<br />

der Verbesserung der Gesundheitssituation von Müttern mögen<br />

fehlende Entbindungsstationen den entscheidenden Engpass<br />

darstellen. Es kann aber auch sein, dass der gesellschaftliche<br />

und rechtliche Status der Frauen das eigentliche Problem<br />

und der entscheidende Ansatzpunkt sind. Welche Prioritäten<br />

bei den nationalen <strong>Entwicklungsziele</strong>n zu setzen sind und auf<br />

welchem Weg diese am besten erreicht werden, können letztlich<br />

nur die Partner – und das heißt sowohl staatliche wie nichtstaatliche<br />

Akteure – entscheiden.<br />

<strong>Die</strong> Geber müssen ihre Förderstrategien und die diesbezüglichen<br />

Maßnahmen aus den nationalen Strategien der Partner<br />

ableiten. Dabei erfordern unterschiedliche Ländertypen<br />

auch unterschiedliche Ansätze. <strong>Die</strong> größte Herausforderung<br />

stellt sich in Ländern mit schlechter Regierungsführung und<br />

in den so genannten fragilen Staaten. Sehr häufig ist die Armut<br />

hier besonders ausgeprägt und der Bedarf an Unterstützung<br />

am größten. Es fehlen aber zentrale Voraussetzungen für eine<br />

wirksame Entwicklungszusammenarbeit. Trotzdem darf sich<br />

die Gebergemeinschaft nicht völlig zurückziehen. <strong>Die</strong> Bundesregierung,<br />

vertreten durch das Bundesministerium für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), nimmt<br />

diese Herausforderung an und arbeitet im Kontext der hierzu<br />

laufenden internationalen Diskussion aktiv daran mit, Förderstrategien<br />

für diese Länder zu entwickeln. <strong>Die</strong> entwicklungs-<br />

86


politischen Instrumente müssen dazu beitragen, fragile Staatlichkeit<br />

und schlechte Regierungsführung zu überwinden und<br />

Prozesse entwicklungsorientierter Transformation zu unterstützen.<br />

Aber auch mit den schon weit entwickelten Ländern darf<br />

die Zusammenarbeit nicht völlig eingestellt werden. Zum einen<br />

haben Staaten wie Indien, China oder Brasilien im eigenen<br />

Land noch erhebliche Entwicklungsprobleme zu lösen,<br />

zum anderen spielen sie sowohl in ihrer Region, aber auch zunehmend<br />

auf der globalen Ebene eine wichtige Rolle. Da diese<br />

»Ankerländer« bedeutenden Einfluss auf die Weltwirtschaft,<br />

auf globale Umweltfragen wie den Klimawandel sowie auf<br />

die politische Entwicklung in ihren Nachbarländern nehmen,<br />

ist es wichtig, eine strategische Partnerschaft mit ihnen fortzusetzen.<br />

<strong>Die</strong> konsequente Partnerorientierung beschränkt sich aber<br />

nicht nur darauf, dass sich die Geber an den nationalen Politiken<br />

und Strategien der Entwicklungsländer ausrichten. Sie<br />

erfordert auch, die Institutionen und Verfahren der Partner<br />

zu nutzen und zu stärken und den Aufbau von Parallelstrukturen<br />

zu vermeiden. <strong>Die</strong> konsequenteste Form der Nutzung<br />

von Partnerstrukturen ist die Bereitstellung von Gebermitteln,<br />

die direkt in die nationalen Budgets einfließen. <strong>Die</strong>se Art der<br />

Finanzierung wird jedoch nur gewährt, wenn die Voraussetzungen<br />

für eine adäquate Verwendung und Kontrolle der Mittel<br />

gegeben sind.<br />

In vielen Entwicklungsländern sind die Strukturen derzeit<br />

noch schwach entwickelt und die nationalen Kapazitäten begrenzt,<br />

so dass sich die Geber hierauf nicht vollständig stützen<br />

können. Den nationalen Entwicklungsstrategien, insbesondere<br />

zur Armutsbekämpfung, fehlt es beispielsweise häufig an einer<br />

ausreichenden inhaltlichen Prioritätensetzung und einer angemessenen<br />

Einbeziehung von Parlamenten und Zivilgesellschaft<br />

in den Erstellungs- und Umsetzungsprozess. <strong>Die</strong> Geber<br />

sind daher gefordert, die Partner bei der Verbesserung der Stra-<br />

87


tegien zu unterstützen. <strong>Die</strong> deutsche EZ hat zahlreiche Länder<br />

bei der Erstellung von Armutsbekämpfungsstrategien (Poverty<br />

Reduction Strategy Papers, PRSP) unterstützt. Sie besitzt auf diesem<br />

Gebiet viel Erfahrung und ein großes Potenzial, dass zur<br />

Beratung der Partnerländer für unterschiedliche Zielgruppen<br />

und auf unterschiedlichen Ebenen eingesetzt werden kann.<br />

<strong>Die</strong>ses muss zukünftig noch konsequenter genutzt werden.<br />

Das Prinzip der Partnerorientierung erfordert von den Gebern<br />

oft einen schwierigen Balanceakt, um das richtige Maß an<br />

Unterstützung zu finden. Einerseits müssen die Entwicklungserfolge<br />

beschleunigt werden, wenn die MDGs bis 2015 noch<br />

erreicht werden sollen – das erwartet auch die kritische Öffentlichkeit.<br />

Andererseits brauchen Reformprozesse Zeit, vor allem<br />

wenn sie wirklich aus der Eigenverantwortung der Partnerländer<br />

resultieren sollen. Eine Überforderung und Überförderung<br />

der Partnerstrukturen kann diese Prozesse leicht konterkarieren.<br />

Auch diese Erfahrung hat man in der EZ schon oft machen<br />

müssen.<br />

Hinzu kommt, dass damit einhergehende Veränderungen<br />

nicht immer gradlinig und konfliktfrei verlaufen. Bei der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

und den MDGs handelt es sich um eine<br />

hoch politische Agenda. Es geht nicht nur um die Bekämpfung<br />

von Einkommensarmut und Hunger sowie Verbesserungen<br />

in sozialen Bereichen. Es geht auch um Verteilungsfragen und<br />

den Zugang zu Ressourcen. Hier kommen zwangsläufig unterschiedliche<br />

Interessen ins Spiel, die es auszuhalten und auszuhandeln<br />

gilt. Dabei sollten Konflikte nicht grundsätzlich<br />

nur negativ gesehen werden, sondern als notwendiger Teil<br />

von Entwicklungsprozessen. Wichtig ist, wie mit ihnen umgegangen<br />

wird. Konfliktmanagement, Krisenprävention und die<br />

Förderung von Demokratisierungsprozessen sind daher zentrale<br />

Handlungsfelder im Kontext der MDG-Agenda, die auch<br />

im Rahmen der deutschen Entwicklungszusammenarbeit immer<br />

stärker an Bedeutung gewinnen.<br />

88


<strong>Die</strong> Unterstützung der Partnerländer bei der Erreichung<br />

der MDGs ist somit eine sehr vielschichtige Aufgabe, deren<br />

Komplexität häufig nur schwer zu vermitteln ist. Zudem ist ein<br />

einzelner Geber wie die deutsche EZ nur ein Akteur unter vielen.<br />

Ob die deutsche Entwicklungspolitik einen angemessenen<br />

Beitrag zur Erreichung der MDGs leistet, kann daher nur im<br />

Kontext des Zusammenwirkens aller Geber beurteilt werden.<br />

<strong>Die</strong> deutsche EZ als Teil der<br />

internationalen Gebergemeinschaft<br />

Komplexe Herausforderungen sind nicht von einzelnen Akteuren<br />

zu lösen. Hier müssen alle Beteiligten – Partnerland und<br />

Geber – so effizient wie möglich zusammenwirken. Mit den<br />

MDGs hat daher auch das Prinzip der Geberharmonisierung<br />

eine neue Qualität und Verbindlichkeit erfahren.<br />

Um die Entwicklungsländer von der Vielzahl unterschiedlicher,<br />

komplizierter Verfahrensfragen zu entlasten und die<br />

Strukturen der Partnerländer zu stärken, fordert die Paris-<br />

Erklärung eine bessere Abstimmung zwischen den Geberorganisationen.<br />

<strong>Die</strong> Vorgehensweise bei der Planung und Umsetzung<br />

von Fördermaßnahmen soll harmonisiert werden. Darüber<br />

hinaus sollen sich alle Geber in eine sinnvolle, aus den<br />

Partnerstrategien abgeleitete Arbeitsteilung einfügen. <strong>Die</strong>ses<br />

Prinzip ist grundsätzlich richtig, stellt aber in der Praxis eine<br />

große Herausforderung dar, denn die erforderliche Abstimmung<br />

kostet viel Zeit. Erste Erfahrungen mit gemeinsamen<br />

Länderstrategien der Geber (so genannten Joint Assistance Strategies)<br />

zeigen, dass der Zeit- und Ressourcenaufwand hoch ist.<br />

Da aber auch mangelnde Kooperation zu hohen Transaktionskosten<br />

führt, gibt es zu einer stärkeren Geberharmonisierung<br />

letztlich keine Alternative. Zudem werden mit zunehmenden<br />

Erfahrungen und gemeinsamen Grundlagen auch die Abstimmungsprozesse<br />

leichter werden.<br />

89


Für die deutsche Entwicklungszusammenarbeit hat das<br />

Thema Harmonisierung angesichts der sehr differenzierten<br />

Strukturen auf der Durchführungsebene eine besondere Relevanz.<br />

Denn im Gegensatz zu vielen anderen Gebern verfügt<br />

Deutschland über eine sehr komplexe Organisationslandschaft.<br />

<strong>Die</strong> unterschiedlichen Instrumente wie Finanzielle Zusammenarbeit<br />

(FZ), die Technische Zusammenarbeit (TZ) und<br />

TZ im weiteren Sinne haben zwar alle ihre spezifischen Stärken.<br />

Damit sie optimal zusammenwirken und Synergien erzielen,<br />

ist aber ein hoher Abstimmungsaufwand erforderlich.<br />

In der Praxis funktioniert dieses Zusammenspiel nicht immer<br />

optimal. Darüber hinaus liegt es in der Natur von Institutionen,<br />

auch eigene Interessen zu verfolgen. <strong>Die</strong>s erschwert die<br />

übergeordnete entwicklungspolitische Steuerung. <strong>Die</strong> Bundesregierung<br />

hat daher im Koalitionsvertrag die stärkere Zusammenführung<br />

von TZ und FZ vereinbart und entsprechende<br />

Maßnahmen eingeleitet.<br />

<strong>Die</strong> Wirksamkeit der EZ als<br />

entscheidendes Qualitätsmerkmal<br />

<strong>Die</strong> Prinzipien der Partnerorientierung und Geberharmonisierung<br />

haben auch erhebliche Auswirkungen auf ein weiteres<br />

zentrales Element der <strong>Millennium</strong>s-Agenda: die Wirkungsorientierung<br />

der EZ. <strong>Die</strong>se hat mit der Formulierung messbarer<br />

und damit auch überprüfbarer Zielmarken für die Armutsbekämpfung<br />

einen zentralen Stellenwert erhalten. Oberstes<br />

Ziel aller Konferenzen und Beschlüsse, die im Kontext der<br />

<strong>Millennium</strong>sziele stehen, ist die Verbesserung der Lebensbedingungen<br />

der armen und benachteiligten Menschen. Das bedeutet,<br />

dass die Leistungen der Entwicklungszusammenarbeit<br />

nicht an den investierten Mitteln, sondern an den damit tatsächlich<br />

erzielten Wirkungen gemessen werden müssen. <strong>Die</strong>s<br />

90


ist vom Grundprinzip her unmittelbar einleuchtend, aber nicht<br />

leicht umzusetzen.<br />

Wirkungszusammenhänge sind komplex und das Ergebnis<br />

von Entwicklungsvorhaben ist immer das Resultat gemeinsamer<br />

Anstrengungen von Partnerland und Geberorganisationen.<br />

Je mehr die Prinzipien der Partnerorientierung<br />

und Geberko operation umgesetzt werden, desto weniger ist<br />

es sinnvoll und möglich, Erfolge einzelnen EZ-Organisationen<br />

zuzuschreiben. Auch die zunehmende Nutzung neuer Instrumente<br />

wie Budgetfinanzierung oder die Durchführung gemeinschaftlicher<br />

Programme durch mehrere Geber erschweren<br />

die Abgrenzung von Wirkungsbeiträgen. Zudem ändert sich<br />

der gesamte Fokus der Wirkungsbeurteilung. Im Zentrum der<br />

Betrachtung stehen die Entwicklungserfolge der Partner und<br />

deren Informationsbedarf für eine angemessene Steuerung ihrer<br />

Programme sowie für die Rechenschaftslegung gegenüber<br />

ihren Parlamenten und der Zivilgesellschaft. Auch das Wirkungsmonitoring<br />

muss daher – wie in der Paris-Erklärung gefordert<br />

– in der Verantwortung der Entwicklungsländer selber<br />

liegen.<br />

Gleichzeitig besteht in den Geberländern – befördert durch<br />

die MDGs als messbare Zielgrößen – ein starkes Interesse von<br />

Parlamenten und Öffentlichkeit, den Wirkungsbeitrag ihres<br />

Landes zu erfahren. <strong>Die</strong> dafür erforderlichen Daten zu Entwicklungsfortschritten<br />

in den Partnerländern werden aber<br />

von nationalen Institutionen noch zu wenig erfasst und bereitgestellt,<br />

so dass Geberorganisationen dazu tendieren, für<br />

»ihre« Fördermaßnahmen eigene Erhebungen durchzuführen.<br />

Hier besteht ein Spannungsfeld zwischen unterschiedlichen<br />

Ansprüchen, das von zwei Seiten gelöst werden muss: Einerseits<br />

müssen die nationalen Monitoring-Systeme zur Datenerfassung<br />

in den Partnerländern verbessert werden, damit sich<br />

die Geber hierauf hinsichtlich ihres Informationsbedarfs stützen<br />

können. Andererseits muss aber auch der Anspruch an den<br />

»Wirkungsnachweis« auf ein realistisches Maß gebracht wer-<br />

91


den. Auf diesem Gebiet werden gerade an die Entwicklungszusammenarbeit<br />

mit ihren sehr komplexen Aufgabenstellungen<br />

und Rahmenbedingungen Anforderungen gestellt, die in<br />

kaum einem anderen Politikfeld üblich sind – und auch dort<br />

wenig umsetzbar wären.<br />

Einigkeit besteht in der internationalen Diskussion, dass<br />

eine exakte Quantifizierung und Zuordnung des Wirkungsbeitrags<br />

einzelner Geber zu nationalen <strong>Entwicklungsziele</strong>n, wie<br />

beispielsweise der Armutsbekämpfung und den MDGs, weder<br />

sinnvoll noch möglich ist. Darüber hinaus besteht Konsens,<br />

dass die Ebene des einzelnen Vorhabens bei einer Wirkungsbeurteilung,<br />

die auch Bezug auf solche übergeordneten <strong>Entwicklungsziele</strong><br />

nehmen soll, nicht ausreicht. Als unit of account<br />

muss daher wesentlich stärker die Länderebene in den Blick<br />

genommen werden. Hinzu kommt, dass viele Wirkungen, vor<br />

allem auf struktureller Ebene, erst mittel- bis langfristig eintreten.<br />

<strong>Die</strong> Überprüfung der tatsächlich erreichten – und nicht nur<br />

der geplanten, erhofften und vermuteten – Wirkungen bleibt<br />

noch immer sehr unzureichend. Ohne eine solche Verifizierung<br />

bleibt die Wirkungsorientierung aber letztlich bei der Formulierung<br />

guter Absichten stehen.<br />

Mit der Verschiebung der Referenzziele und der Referenzebenen<br />

(also weg vom einzelnen Projekt, hin zu einer aggregierteren<br />

Betrachtung) in der Wirkungsanalyse gehen methodische<br />

Fragestellungen einher, die auch international noch<br />

nicht befriedigend beantwortet sind. Das enthebt die deutsche<br />

EZ – wie alle anderen Geber auch – aber nicht der Verpflichtung,<br />

ihren Beitrag zur Erreichung der MDGs zu erfassen und<br />

hierüber zu berichten. <strong>Die</strong> Transparenz von Entwicklungsanstrengungen<br />

und -erfolgen ist ein zentrales Element der <strong>Millennium</strong>s-Agenda.<br />

Sie ist eine wichtige Voraussetzung, um den<br />

gesellschaftlichen Druck und den politischen Willen für die Erreichung<br />

der Ziele zu verstärken.<br />

Um die Entwicklungszusammenarbeit – auf internationaler<br />

und nationaler Ebene – in dem erforderlichen Maß auf eine<br />

92


stärkere Wirksamkeit auszurichten, ist ein umfassender Ansatz<br />

notwendig. <strong>Die</strong>ses Prinzip des Managing for Development<br />

Results (MfDR) wurde auf der Konferenz zur Entwicklungsfinanzierung<br />

2002 in Monterrey erstmals formuliert, und es ist<br />

ein Kernelement der Paris-Erklärung. Damit ist es für Partner-<br />

wie Geberländer ein wesentliches und verbindliches Qualitätsmerkmal<br />

ihrer Arbeit geworden. MfDR umfasst alle Ebenen der<br />

Entwicklungszusammenarbeit (Land, Sektor und Vorhaben)<br />

sowie alle Phasen, also Planung, Implementierung und Evaluierung.<br />

Der Ansatz impliziert den Grundsatz der Partnerorientierung<br />

und Geberharmonisierung. Zielsetzung von MfDR ist<br />

es, das institutionelle Lernen zu verbessern, um die Wirksamkeit<br />

der EZ zu erhöhen. Es dient außerdem dazu, über diese<br />

Wirksamkeit Rechenschaft ablegen zu können. MfDR erfordert<br />

eine umfassende Ausrichtung der Verfahren und Instrumente<br />

auf Wirkungen sowie die Einrichtung einfacher, kosteneffizienter<br />

und nutzerfreundlicher Monitoring- und Berichtssysteme,<br />

die auf den diesbezüglichen Strukturen der Partnerländer<br />

aufbauen sollen.<br />

<strong>Die</strong>se grundsätzlichen Anforderungen setzen auch den<br />

Rahmen für eine Verstärkung der Wirkungsorientierung in der<br />

deutschen EZ, die aufgrund ihrer sehr diversifizierten Struktur<br />

vor besonderen Herausforderungen steht. Alle deutschen EZ-<br />

Organisationen haben zwar in den vergangenen Jahren große<br />

Anstrengungen unternommen, um ihre Arbeit wirkungsorientierter<br />

zu gestalten. Dabei sind sie allerdings immer noch sehr<br />

stark auf die Ebene einzelner Vorhaben fokussiert. Es können<br />

zurzeit kaum fundierte Aussagen darüber getroffen werden,<br />

welchen Wirkungsbeitrag die deutsche Entwicklungszusammenarbeit<br />

insgesamt zu den Entwicklungsfortschritten eines<br />

Partnerlandes in bestimmten Sektoren oder Schwerpunkten<br />

leistet. <strong>Die</strong>s erfordert, über die Wirkungsbeurteilung auf der<br />

Ebene einzelner Projekte hinauszukommen und die Verfahren<br />

und Instrumente der Wirkungsanalyse stärker zu harmonisieren.<br />

Dabei kommt den Schwerpunkten der deutschen EZ im<br />

93


Partnerland eine zunehmende Bedeutung zu. Hier müssen die<br />

verschiedenen Instrumente der EZ zusammenwirken und Synergien<br />

entfalten. Gemeinsam mit den Durchführungsorganisationen<br />

arbeitet das BMZ daher daran, das Instrumentarium zur<br />

Wirkungsanalyse weiterzuentwickeln.<br />

Darüber hinaus müssen auch die Planungs- und Steuerungsinstrumente<br />

konsequent wirkungsorientiert gestaltet werden.<br />

Entsprechende Anpassungen der Länder- und Sektorkonzepte<br />

sowie der Schwerpunktstrategiepapiere sind in Arbeit. Um die<br />

Effizienz der deutschen EZ zu erhöhen, die Kräfte stärker zu<br />

bündeln und die eigenen komparativen Stärken besser zu nutzen,<br />

wird die bereits eingeleitete Länderkonzentration und inhaltliche<br />

Schwerpunktsetzung fortgesetzt.<br />

Eine an den internationalen Zielvorgaben ausgerichtete<br />

Wirkungsorientierung erfordert auch eine systematische Verankerung<br />

der MDGs in der deutschen Entwicklungspolitik.<br />

Das entscheidende Instrument sind hier die Zielvereinbarungen<br />

des BMZ, die seit 2004 die mittelfristige und die kurzfristige<br />

(Jahres-) Planung auf allen Ebenen des Ministeriums<br />

bestimmen. In diesen Zielvereinbarungen werden die MDGs<br />

je nach Aufgabenstellung der Arbeitseinheiten berücksichtigt<br />

und operationalisiert.<br />

Allerdings brauchen solche Anpassungen immer eine gewisse<br />

Zeit und müssen von denjenigen, die sie umzusetzen<br />

haben, auch absorbiert werden können. Es müssen möglichst<br />

viele der Betroffenen an den Prozessen beteiligt werden, um<br />

alle wesentlichen Aspekte zu berücksichtigen. <strong>Die</strong> Belange<br />

der Partner sind in diesem Kontext ebenfalls ein wichtiger<br />

Faktor. Auch in den Entwicklungsländern werden Veränderungen<br />

meist nicht von heute auf morgen umgesetzt. <strong>Die</strong> deutsche<br />

EZ kann nicht unabhängig von den Partnern agieren und<br />

muss sich auf deren Veränderungsprozesse einstellen. Hinzu<br />

kommt, dass gerade im Kontext der <strong>Millennium</strong>s-Agenda auf<br />

internationaler Ebene ein sehr dynamischer Prozess in Gang<br />

gesetzt wurde, der immer wieder neue konzeptionelle und<br />

94


strategische Anpassungen erfordert. Work in progress ist daher<br />

kein Schlagwort oder Vorwand für ein mangelndes Reformtempo,<br />

sondern das tägliche Brot der Entwicklungszusammenarbeit,<br />

die sich in einem sehr komplexen Gefüge verschiedener<br />

Akteure und Anforderungen bewegt. Unterschiede zwischen<br />

Theorie und Praxis sind daher ein unvermeidlicher Bestandteil<br />

organisationeller Veränderungsprozesse, auch in der EZ.<br />

Politikkohärenz als Voraussetzung<br />

für erfolgreiche Entwicklungszusammenarbeit<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-Agenda und der MDGs erfordert<br />

aber nicht nur Veränderungsprozesse innerhalb der<br />

deutschen EZ, sondern nimmt alle politischen Akteure in die<br />

Pflicht. <strong>Die</strong> MDGs sind eine Vorgabe für die Gesamtpolitik,<br />

sprich Armutsbekämpfung ist nicht mehr nur Aufgabe des für<br />

Entwicklungspolitik zuständigen Ministeriums. <strong>Die</strong> internationalen<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong> sind nur durch ein kohärentes Zusammenwirken<br />

von Entwicklungspolitik mit Außen-, Sicherheits-,<br />

Finanz-, Handels-, Agrar- und Umweltpolitik erreichbar.<br />

Das Aktionsprogramm 2015 zur Armutsbekämpfung ist daher<br />

bewusst ressortübergreifend angelegt und dient als Instrument,<br />

entsprechend kohärentes und abgestimmtes Vorgehen<br />

aller Politikfelder einzufordern. Das Programm bekräftigt Armutsbekämpfung<br />

als Querschnittsaufgabe der gesamten Bundesregierung<br />

und als Kernaufgabe der deutschen Entwicklungspolitik.<br />

Das Aktionsprogramm strebt außerdem eine enge Zusammenarbeit<br />

mit Zivilgesellschaft und Privatwirtschaft an. <strong>Die</strong><br />

MDGs sind nicht nur ein gemeinsamer Referenzrahmen für<br />

die Kooperation von Industrie- und Entwicklungsländern,<br />

sondern auch für staatliche Organisationen und zivilgesellschaftliche<br />

Gruppen. Bei aller Unterschiedlichkeit ihrer Rollen<br />

und Mandate sind diese doch auf die gleichen Ziele verpflich-<br />

95


tet. Nichtregierungsorganisationen sind kritische Beobachter<br />

der staatlichen EZ und wichtige Akteure bei der Umsetzung<br />

zentraler Forderungen der Entwicklungspolitik, die speziell<br />

mit MDG 8 eine stärkere Legitimation bekommen haben. Das<br />

Zustandekommen des ODA-Stufenplans der EU und die erweiterte<br />

Entschuldungsinitiative des G8-Gipfels von Gleneagles<br />

im Jahr 2005 sind sicherlich auch dem starken öffentlichen<br />

Druck zu verdanken.<br />

<strong>Die</strong> staatliche EZ unterstützt die entwicklungspolitische<br />

Arbeit zivilgesellgesellschaftlicher Organisationen und führt<br />

mit ihnen einen intensiven Dialog. Eine Herausforderung für<br />

die kommenden Jahre wird es sein, auch diesen Dialog den<br />

neuen Fragestellungen und Aufgaben anzupassen. <strong>Die</strong> durch<br />

die <strong>Millennium</strong>-Erklärung, die MDGs und die Paris-Erklärung<br />

formulierten Prinzipien wie Partnerorientierung, Geberharmonisierung,<br />

Wirkungsorientierung und Kohärenz sind grundlegende<br />

Qualitätskriterien der EZ insgesamt, gleich welchen<br />

Typs.<br />

Fazit<br />

Viele Aspekte der <strong>Millennium</strong>s-Agenda sind nicht völlig neu,<br />

sondern haben sich sukzessive aus den Erfahrungen früherer<br />

Jahre entwickelt. Eine radikale Abkehr von der bisherigen Praxis<br />

ist daher weder sinnvoll noch erforderlich. Es darf aber auch<br />

nicht zu einer reinen »Umetikettierung« der Maßnahmen kommen.<br />

Es ist verlockend zu glauben, dass Partnerorientierung,<br />

Wirkungsorientierung, Kohärenz und Armutsbekämpfung bereits<br />

ausreichend in der EZ verankert sind, weil sich alles, was<br />

gemacht wird, »irgendwie« diesen Kategorien zuordnen lässt.<br />

Doch damit würde die Chance vertan, die EZ strategischer und<br />

wirksamer zu gestalten.<br />

In der EZ – und nicht nur da – gibt es selten einfache Lösungen.<br />

<strong>Die</strong> Herausforderungen, die mit den MDGs einherge-<br />

96


hen, sind wesentlich komplexer, als dies auf den ersten Blick<br />

erscheint. Wer etwas verändert, betritt Neuland. Welche Erfahrungen<br />

mit neuen Ansätzen gemacht werden, kann erst nach<br />

einiger Zeit wirklich beurteilt werden. Das Verharren in alten<br />

Mustern ist jedoch keine Alternative.<br />

Bei allen Veränderungsprozessen muss immer berücksichtigt<br />

werden, dass Verfahrensaspekte keinen Selbstzweck haben.<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-Agenda ist nicht in erster<br />

Linie eine technische oder administrative Herausforderung.<br />

Was am Ende wirklich zählt, ist die Bekämpfung von Armut<br />

und die Verbesserung der Lebensbedingungen benachteiligter<br />

Menschen.<br />

Literatur<br />

BMZ, 2001: Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe. Aktionsprogramm<br />

2015, Bonn.<br />

BMZ, 2004: Auf dem Weg zur Halbierung der Armut: 2. Zwischenbericht<br />

über den Stand der Umsetzung des Aktionsprogramms 2015. Bonn.<br />

BMZ, 2005a: Der Beitrag Deutschlands zur Umsetzung der <strong>Millennium</strong>s-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong>. Bonn.<br />

BMZ, 2005b: Mehr Wirkung erzielen. <strong>Die</strong> Ausrichtung der deutschen Entwicklungszusammenarbeit<br />

auf die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>.<br />

<strong>Die</strong> Umsetzung der Paris Declaration on Aid Effectiveness. Bonn.<br />

97


MICHÈLE ROTH<br />

Armutsbekämpfung<br />

durch Massenmobilisierung?<br />

<strong>Die</strong> Kampagnen zu den<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>n<br />

Dass die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />

Goals, MDGs) nicht wie andere wohlgemeinte internationale<br />

Absichtserklärungen in der Versenkung verschwunden<br />

sind, sondern mehr und mehr an öffentlicher Aufmerksamkeit<br />

gewinnen konnten, liegt neben dem Impuls durch die Jahrtausendwende,<br />

dem wachsenden Problemdruck und der Griffigkeit<br />

der formulierten Ziele auch an einer weltweit betriebenen,<br />

breit angelegten Mobilisierung für die MDGs.<br />

Frühere Kampagnen zu globalpolitischen Anliegen haben<br />

gezeigt, welche Wirkung die durch die modernen Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien erst möglich gewordene<br />

weltumspannende Aktivierung und Vernetzung von<br />

gleichgesinnten Kräften haben kann. Prominente Beispiele sind<br />

die internationale Kampagne für das Verbot von Landminen<br />

und die Koalition für einen Internationalen Strafgerichtshof.<br />

Im entwicklungspolitischen Bereich ist eine derart breitenwirksame<br />

Mobilisierung, wie sie zurzeit für die MDGs stattfindet,<br />

ein Novum. Als Vorläuferin kann allenfalls die Jubilee 2000-<br />

Bewegung angesehen werden, die weltweit über 50 Kampagnen<br />

und Bündnisse vereinte und einen weit reichenden Schuldenerlass<br />

für die armen Länder bis zum Jahr 2000 sowie ein<br />

»internationales Insolvenzrecht« forderte. <strong>Die</strong> deutsche Kampagne<br />

erlassjahr.de – Entwicklung braucht Entschuldung, die bis<br />

heute fortgeführt wird, vereint über 1.000 Organisationen.<br />

98


Zwischen Kooperation und Konkurrenz:<br />

die MDG-Kampagnen<br />

Während die genannten Kampagnen das alleinige »Dach« für<br />

ihr jeweiliges Anliegen bildeten, zeigt sich bei den MDGs eine<br />

bunte Kampagnenlandschaft mit mindestens drei Hauptsträngen,<br />

die unterschiedlich stark miteinander verwoben sind. Zunächst<br />

ist die »offizielle« Kampagne der Vereinten Nationen,<br />

die <strong>Millennium</strong> Campaign, zu nennen. <strong>Die</strong> Nichtregierungsorganisationen<br />

(NGOs) haben ihre Aktivitäten unter dem Slogan<br />

Global Call to Action Against Poverty gebündelt. Und schließlich<br />

werben private Initiativen prominenter Persönlichkeiten aus<br />

dem Showbusiness für die MDGs – allen voran Bob Geldof mit<br />

seinen Live8-Konzerten.<br />

Werbung in eigener Sache:<br />

die <strong>Millennium</strong> Campaign der Vereinten Nationen<br />

<strong>Die</strong> Vereinten Nationen lancierten ihre <strong>Millennium</strong> Campaign<br />

im Oktober 2002, gut ein Jahr nachdem Kofi Annan in seinem<br />

Bericht »Road map towards the implementation of the United<br />

Nations <strong>Millennium</strong> Declaration« (2001) alle acht MDGs mit<br />

ihren Zielvorgaben und Indikatoren erstmals aufgelistet hatte. 1<br />

<strong>Die</strong> Kampagne ist beim UN-Entwicklungsprogramm (UNDP)<br />

angesiedelt und wird aus einem Treuhandfonds finanziert. Das<br />

»Gesicht« der Kampagne ist die ehemalige niederländische<br />

Entwicklungsministerin Eveline Herfkens, die vom UN-Generalsekretär<br />

zur Sonderbeauftragten für die <strong>Millennium</strong> Campaign<br />

ernannt wurde. Ihre Arbeit wird durch ein kleines Sekretariat<br />

unterstützt.<br />

1 Informationen zur <strong>Millennium</strong> Campaign der Vereinten Nationen finden<br />

sich unter www.millenniumcampaign.org. <strong>Die</strong> deutsche <strong>Millennium</strong> Campaign<br />

präsentiert sich unter www.millenniumcampaign.de.<br />

99


Hauptziel der Kampagne ist es nach eigener Angabe, die<br />

Bürger dabei zu unterstützen, ihre Regierungen aufzufordern,<br />

über das <strong>Millennium</strong>-Versprechen Rechenschaft abzulegen.<br />

<strong>Die</strong>ses Ziel fußt auf der Annahme, dass das Know-how und<br />

die Mittel zur Umsetzung der MDGs vorhanden sind und es<br />

allein am Willen der politischen Elite mangelt, ihr Versprechen<br />

zu erfüllen. Als Partner, die die Kampagne unterstützen und<br />

mobilisieren will, werden zivilgesellschaftliche und religiöse<br />

Gruppen, Jugendliche und Kinder, Parlamentarier und lokale<br />

Behörden, Gewerkschaften und Medien, Prominente sowie die<br />

allgemeine Öffentlichkeit genannt. Mit einer Vielzahl von Anregungen<br />

und weltweiten Aktionen sollen sie zum Mitmachen<br />

animiert werden. So wurde beispielsweise ein »Campaigning<br />

Toolkit« erstellt, das eine umfassende Anleitung zur Planung<br />

und Durchführung eigener Kampagnen bietet und Beispiele<br />

für gelungene Aktionen präsentiert. Auf dem Plan stehen auch<br />

Brief- und Postkartenaktionen und ein Weltrekordversuch, der<br />

am 15./16. Oktober 2006 – dem Aufruf »STAND UP Against<br />

poverty« folgend – erzielt werden soll.<br />

Um öffentliche Aufmerksamkeit zu gewinnen, arbeitet die<br />

Kampagne mit Prominenten wie der Sängerin Shakira, dem<br />

Schauspieler Michael Douglas oder dem Nobelpreisträger Elie<br />

Wiesel zusammen, die in Video-Clips – auch versendbar als<br />

elektronische Postkarte – unter dem Motto »Only with your<br />

voice« die Zuschauer dazu aufrufen, ihre Regierungen an das<br />

<strong>Millennium</strong>-Versprechen zu erinnern.<br />

Neben der direkten Ansprache der Zielgruppen hat die <strong>Millennium</strong><br />

Campaign nach eigenen Angaben ca. 60 nationale MDG-<br />

Kampagnen angestoßen. Zum überwiegenden Teil handelt es<br />

sich dabei allerdings um zivilgesellschaftliche Verbünde, die<br />

sich selber der Global Call to Action Against Poverty-Bewegung<br />

zurechnen. Entsprechend verwenden nur manche – wie die<br />

deutsche oder die italienische <strong>Millennium</strong> Campaign 2 – auf ihrer<br />

2 www.millenniumcampaign.it<br />

100


Website die gleichen Logos, Werbeslogans und Textbausteine<br />

wie die UN-Kampagne. Andere sind lose oder gar nicht mit<br />

der UN-Kampagne verbunden. Neben der Beteiligung an globalen<br />

Aktionen führen die nationalen Kampagnen individuell<br />

lokale Aktivitäten durch und setzen eigene Schwerpunkte. In<br />

den Entwicklungsländern liegt der Fokus überwiegend auf der<br />

Überwachung nationaler Armutsreduzierungs-Strategien und<br />

nationaler Budgets, aber auch fairere internationale Handelsbedingungen<br />

sind ein zentrales Thema. In den Industrieländern<br />

bilden die im MDG 8 formulierten Forderungen nach Erhöhung<br />

der Mittel für Entwicklungszusammenarbeit, Schuldenerlassen<br />

und fairen Handelsbedingungen den Schwerpunkt.<br />

<strong>Die</strong> deutsche <strong>Millennium</strong> Campaign – finanziert vom Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(BMZ), der UN-Kampagne sowie privaten Sponsoren<br />

und geleitet von Renée Ernst – wurde 2005 lanciert. Sie zielt<br />

vor allem auf die Mobilisierung junger Menschen. Dazu wurden<br />

unter anderem spezielle »Only with your voice«-Clips mit<br />

der deutschen Band »Wir sind Helden« und dem Sänger »Gentleman«<br />

produziert, die auf MTV Deutschland ausgestrahlt<br />

werden. Auch mit einem bunten Strauss weiterer Aktivitäten<br />

macht die Kampagne auf die MDGs aufmerksam. So war sie<br />

mit Ausstellungen, Filmen, Konzerten und Gesprächen bei der<br />

Nacht der Museen 2006 in Frankfurt/Main präsent, erarbeitete<br />

in einem Workshop mit dem Titel »Young Artists united<br />

for the UN-<strong>Millennium</strong> Development Goals« ein Theaterstück<br />

zu den MDGs, führte in Bonn ein Radioprojekt mit Schülern<br />

durch, organisierte einen »Beats&Lyrics Contest« oder ernennt<br />

MDG-Schülerbeauftragte. Der vielleicht bekannteste Baustein<br />

der Kampagne sind die »UN-<strong>Millennium</strong>-Gates« des italienischen<br />

Architekten Luca Cipelletti, die seit Juli 2005 durch die<br />

Fußgängerzonen deutscher Städte touren und »spielerisch die<br />

ernsten Inhalte der MDGs« vermitteln sollen. Jedes der acht<br />

Tore, gebildet aus einem mit einem Banner verbundenen Figurenpaar,<br />

illustriert ein MDG.<br />

101


Neben zivilgesellschaftlichen Organisationen mobilisierte<br />

die UN-Kampagne auch andere Zielgruppen. So startete etwa<br />

die transnationale Vereinigung United Cities and Local Governments<br />

(UCLG) unter dem Motto »2015: No excuse! The world<br />

must be a better place« die <strong>Millennium</strong> Cities and Towns Campaign<br />

und verabschiedete eine »Local Government <strong>Millennium</strong><br />

Declaration«, die die Rolle lokaler Behörden bei der Umsetzung<br />

der MDGs betont und dazu aufruft, den MDGs höchste<br />

Priorität einzuräumen. 3<br />

<strong>Die</strong> UN <strong>Millennium</strong> Campaign wirbt uneingeschränkt für die<br />

MDGs; zumindest auf internationaler Ebene ist augenscheinlich<br />

weder eine vertiefende Vermittelung der komplexen Entwicklungsproblematik<br />

beabsichtigt noch eine kritische Auseinandersetzung<br />

mit den Zielen gewünscht (vgl. den Beitrag<br />

von Herfkens/Bains). Stattdessen ist eine Tendenz erkennbar,<br />

die MDGs zu überhöhen, indem etwa auf der Website der UN-<br />

Kampagne damit geworben wird, dass die extreme Armut auf<br />

dem Planeten durch das Erreichen der MDGs bis 2015 beendet<br />

würde. »Unser Versprechen ist einfach: Wir sind die erste Generation,<br />

die die extreme Armut in der Welt beseitigen kann,<br />

und wir weigern uns, diese Gelegenheit zu verpassen«, so der<br />

Werbeslogan, der zu vergessen scheint, dass bereits das vereinbarte<br />

Ziel der Halbierung der Armut nur noch noch mit massiv<br />

verstärkten Anstrengungen erreicht werden kann. <strong>Die</strong> deutsche<br />

<strong>Millennium</strong> Campaign argumentiert hier wesentlich differenzierter<br />

und verweist etwa darauf, dass die Halbierung der<br />

Armut auf globaler Ebene dank enormer Fortschritte in China<br />

und Indien zwar erreicht werden dürfte, dass es aber darum<br />

gehen müsse, Menschen auf der ganzen Welt ein menschenwürdiges<br />

Leben zu ermöglichen.<br />

<strong>Die</strong> UN-Kampagne arbeitet eng mit den Initiatoren des Global<br />

Call to Action Against Poverty zusammen. Beide Kampagnen<br />

haben sich auf das weiße Band (als Arm- oder Stirnband oder<br />

3 www.cities-localgovernments.org/uclg<br />

102


als Band um bekannte Gebäude etc.) als Symbol für den Kampf<br />

gegen die Armut verständigt. Gemeinsame Aktionstage, so genannte<br />

»White Band Days«, bilden in unregelmäßigen Abständen<br />

einen Höhepunkt der Aktivitäten (siehe unten).<br />

Vom eigenen Erfolg überrascht:<br />

der Global Call to Action Against Poverty<br />

Über 900 zivilgesellschaftliche Organisationen und Zusammenschlüsse<br />

aus über 80 Ländern, die zusammen mehr als<br />

150 Mio. Menschen repräsentieren, haben sich bis dato dem<br />

Global Call to Action Against Poverty (GCAP) mit dem langfristigen<br />

Ziel, der Armut ganz ein Ende zu setzen, angeschlossen.<br />

<strong>Die</strong> nach einem ersten Planungstreffen in Johannesburg im<br />

September 2004 auf dem Weltsozialforum in Porto Alegre (Januar<br />

2005) lancierte Allianz sollte ursprünglich lediglich einer<br />

gemeinsamen Mobilisierung rund um die entwicklungspolitischen<br />

Großereignisse des Jahres 2005 dienen. Nach eigener<br />

Aussage entwickelte sich der GCAP jedoch binnen Jahresfrist<br />

zur größten globalen Anti-Armuts-Bewegung, die es jemals gegeben<br />

hat. An den drei »White Band Days« hätten sich insgesamt<br />

über 36 Mio. Menschen beteiligt. Überrascht von diesem<br />

Erfolg wurde auf einem Planungstreffen in Beirut beschlossen,<br />

den Aufruf zu erneuern und die gemeinsamen Aktivitäten bis<br />

ins Jahr 2007 weiterzuführen (GCAP 2006).<br />

Über die generelle Unterstützung der MDGs hinaus haben<br />

sich die unter dem Dach des GCAP vereinten, sehr heterogenen<br />

Organisationen auf vier zentrale Forderungen verständigt:<br />

gute Regierungsführung und die Durchsetzung der Menschenrechte,<br />

gerechter Welthandel,<br />

umfassende Schuldenerlasse für arme Länder sowie<br />

eine deutliche Steigerung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit<br />

und zwar quantitativ wie qualitativ.<br />

103


Auch diese Kampagne ist dezentral und subsidiär organisiert,<br />

das heißt alle beteiligten Organisationen und nationalen<br />

Kampagnen führen ihre eigenen Aktivitäten durch, verbunden<br />

durch das gemeinsame Symbol des weißen Bandes und<br />

weltweite Aktionstage. Koordiniert wird der GCAP durch ein<br />

Global Action Forum, das allen interessierten Organisationen offen<br />

steht und regelmäßigen Austausch über eine E-Mail-Liste<br />

pflegt, sowie eine kleinere International Facilitation Group (ab<br />

2006 International Facilitation Team), die aus regionalen Repräsentanten<br />

und Vertretern der wichtigsten international aktiven<br />

Organisationen zusammengesetzt ist. Höhepunkte im ersten<br />

Kampagnenjahr waren die drei »White Band Days« rund um<br />

die drei entwicklungspolitischen Großereignisse des Jahres.<br />

Auffälligstes Merkmal des ersten »White Band Day« am<br />

1. Juli 2005 war die Anbringung riesiger weißer Bänder an weltberühmten<br />

Gebäuden wie dem Brandenburger Tor, der Harbour<br />

Bridge in Sydney oder den Trocadero-Gebäuden vor dem<br />

Pariser Eiffelturm. Es folgte eine Aktionswoche, die mit einem<br />

Demonstrationsmarsch in Edinburgh – parallel zum G8-Gipfel<br />

– unter dem Motto »Long Walk to Justice« endete. Der zweite<br />

»White Band Day« am 10. September sollte dazu dienen, die<br />

zum <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel reisenden Regierungschefs »aufzuwecken«<br />

und an ihr <strong>Millennium</strong>-Versprechen zu erinnern.<br />

In Deutschland bekam Bundeskanzler Gerhard Schröder am<br />

9. September 300.000 Unterschriften überreicht, die die deutsche<br />

Kampagne bis dahin gesammelt hatte. Vor dem Reichstag<br />

wurde ein 800 Meter langes weißes Band ausgelegt. <strong>Die</strong><br />

Forderung nach fairen Handelsbedingungen stand schließlich<br />

im Mittelpunkt des dritten »White Band Day«, der am 10. Dezember<br />

stattfand, wenige Tage vor der Ministerkonferenz der<br />

Welthandelsorganisation (WTO) in Hongkong. In Deutschland<br />

bekamen politische Entscheidungsträger an diesem Tag Besuch<br />

vom Nikolaus, der handelspolitische Forderungen überbrachte.<br />

104


Für 2006 ist ein »Mobilisierungsmonat« geplant, der am<br />

16. September mit den Jahrestagungen von Internationalem<br />

Währungsfonds (IWF) und Weltbank beginnen und am 17. Oktober,<br />

dem Internationalen Tag der Ausrottung der Armut, mit<br />

einem weltweiten »White Band Day« enden soll. Höhepunkte<br />

der Aktionen 2007 werden der G8-Gipfel in Deutschland und<br />

die »Halbzeit« der MDGs sein (gedacht wird an das eingängige<br />

Datum 07/07/07).<br />

Das deutsche GCAP-Aktionsbündnis Deine Stimme gegen Armut<br />

wird getragen und finanziert vom Verband Entwicklungspolitik<br />

deutscher Nichtregierungsorganisationen (VENRO)<br />

und von Herbert Grönemeyer und Freunden. <strong>Die</strong> deutschen<br />

NGOs haben sich damit – wie andere nationale GCAP-Kampagnen,<br />

die im angelsächsischen Raum und darüber hinaus<br />

mit dem inzwischen weltbekannten Slogan »Make Poverty<br />

History« auftreten – für die Zusammenarbeit mit Prominenten<br />

entschieden, um öffentliche Aufmerksamkeit zu erreichen. Allerdings<br />

mussten die deutschen NGOs erst »zum Jagen getragen«<br />

werden. Meinungsunterschiede über die MDGs, über<br />

das geeignete Verhältnis zwischen Lobby- und Öffentlichkeitsarbeit<br />

sowie Skepsis über die eigenen Fähigkeiten zur Massenmobilisierung<br />

hatten zunächst überwogen. Insbesondere die<br />

Zusammenarbeit mit Herbert Grönemeyer kam erst auf Druck<br />

britischer NGOs sowie des U2-Sängers Bono zustande. Über<br />

die Beweggründe der britischen Partner lässt sich freilich spekulieren:<br />

»Inwieweit es sich dabei um genuin zivilgesellschaftliche<br />

Initiativen gehandelt hat oder auch um solche, die von der<br />

britischen Regierung (mit)beeinflusst worden waren, um<br />

den wegen des Irak-Desasters bedrängten Premierminister<br />

Tony Blair zu entlasten und günstige Voraussetzungen für<br />

einen erfolgreichen G8-Gipfel unter britischer Präsidentschaft<br />

zu schaffen, bleibt Spekulation.« (Hermle 2006, 37).<br />

Am 31. März 2005 trat Deine Stimme gegen Armut erstmals mit<br />

einer Pressekonferenz in die Öffentlichkeit, bei der gemeinsam<br />

105


mit Herbert Grönemeyer ein Werbespot mit prominenten Unterstützern<br />

präsentiert wurde. Alle drei Sekunden schnippt ein<br />

ganz in weiß gekleideter Prominenter – von Claudia Schiffer<br />

über Anne Will, Xavier Naidoo, Bono bis zu Grönemeyer selbst<br />

– mit den Fingern, um darauf aufmerksam zu machen, dass alle<br />

drei Sekunden ein Kind an den Folgen extremer Armut stirbt.<br />

Als letztes Bild erscheint ein ärmlich gekleideter, schwarzer<br />

Junge. 4 Der Spot wurde in den folgenden Monaten im deutschen<br />

Privatfernsehen, in Kinos und auch an anderen Orten<br />

– zum Beispiel in Mediamarkt-Filialen – ausgestrahlt. Ein weiterer<br />

Spot mit Fußballstars wurde vor Spielen der Bundesliga in<br />

Fußballstadien gezeigt. Nach einer – allerdings nicht repräsentativen<br />

– Befragung durch Studierende der Universität Münster<br />

hat sich jeder Vierte nach Betrachten des Spots mit anderen<br />

darüber unterhalten (Bonse et al. 2006, 372). Deine Stimme gegen<br />

Armut richtete sich auch wiederholt mit ganzseitigen Anzeigen<br />

in Nachrichtenmagazinen und Zeitungen an die Regierenden<br />

und erinnerte sie an ihre Versprechen. <strong>Die</strong> Aktion präsentierte<br />

sich auf Popkonzerten, bei der Musikmesse Popkomm oder<br />

beim Weltjugendtag. Auch die Fußball-WM im Sommer 2006<br />

wurde für vielfältige Aktionen genutzt. Auf der Fanmeile in<br />

Berlin war Deine Stimme gegen Armut mit einer Torwand präsent,<br />

deren acht Tore die acht MDGs symbolisierten.<br />

Eine besondere Herausforderung für die deutsche Kampagne<br />

stellt der G8-Gipfel 2007 dar, der unter deutschem Vorsitz<br />

in Heiligendamm stattfinden wird. Erklärtes Ziel ist es<br />

dazu beizutragen, mit dem Gipfel ein »historisches Zeichen<br />

für die Armutsbekämpfung« zu setzen. <strong>Die</strong> in einem VENRO-<br />

Positionspapier (siehe unten) formulierten Teilthemen sollen<br />

4 Aus feministischer Perspektive wurde der Spot als Ausdruck »weiße[r],<br />

westlicher[r] und männliche[r] Überlegenheitsphantasien« kritisiert: »Armut<br />

– so lautet die Botschaft dieses Werbefilms – ist ein schwarzes Loch;<br />

Armut, das ist der sprichwörtliche ›schwarze Kontinent‹, der die Befehlsgewalt<br />

des weißen Subjekts herausfordert und seine Definitionsmacht bestätigt.«<br />

(Mathes 2005, 174).<br />

106


sich auf der G8-Tagesordnung wiederfinden. Um diese Ziele<br />

zu erreichen, wurde eine intensivere Zusammenarbeit mit Herbert<br />

Grönemeyer vereinbart, die ab September 2006 in einem<br />

gemeinsamen Aktions-Büro in Berlin ihren Ausdruck finden<br />

wird. Im Vorfeld des Gipfels sollen unter anderem 1 Mio. Unterschriften<br />

gesammelt, eine konzertierte Briefaktion der Kampagnenpartner<br />

aller G8-Staaten an die deutsche Bundesregierung<br />

organisiert und eine Veranstaltungsreihe zur Diskussion<br />

von G8-Themen durchgeführt werden. Auch ist ein neuer<br />

Kampagnen-Spot in Planung. Als mögliche Aktionen während<br />

des Gipfels sind eine von Grönemeyer organisierte Kulturveranstaltung,<br />

ein Alternativgipfel in Rostock, eine internationale<br />

Großdemonstration und Blockadeaktionen im Gespräch.<br />

Inhaltlich konzentriert sich die deutsche Kampagne auf die<br />

im MDG 8 nicht mit quantifizierten Zielvorgaben versehenen,<br />

an die Industrieländer gerichteten Forderungen nach mehr<br />

und besserer Entwicklungszusammenarbeit, Entschuldung<br />

und fairen Handelsregeln. Dabei belässt es die Aktion nicht bei<br />

den zwar medial wirksamen, aber einfachen Schlagwörtern. In<br />

einem im Juni 2005 erstmals präsentierten und 2006 aktualisierten<br />

Positionspapier formulierte VENRO erst elf, später zwölf<br />

gemeinsame Forderungen der NGOs, die zugleich eine kritische<br />

Auseinandersetzung mit den MDGs darstellen. So dürften<br />

die MDGs nicht als Ersatz für den umfassenderen Ansatz<br />

einer ökologisch tragfähigen und sozial gerechten Entwicklung<br />

verstanden werden (VENRO 2006, 1). <strong>Die</strong> NGOs fordern<br />

von der Bundesregierung unter anderem einen an den Menschenrechten<br />

orientierten Ansatz der Armutsbekämpfung, die<br />

Demokratisierung internationaler Organisationen, verstärkte<br />

Krisenprävention als wichtiges Mittel der Armutsbekämpfung,<br />

ein wirksames Vorgehen gegen Steueroasen und internationale<br />

Steuerkonkurrenz sowie mehr Engagement beim Klimaschutz.<br />

Das Papier war 2005 Gegenstand von Gesprächen<br />

mit dem Bundespräsidenten und dem Bundeskanzler, mit Abgeordneten,<br />

Parteien und Vertretern von Ministerien.<br />

107


Show oder Politik?<br />

Privatinitiativen prominenter Persönlichkeiten<br />

Neben der UN- und der NGO-Kampagne versuchen prominente<br />

Einzelpersonen, die Massen für Armutsbekämpfung zu<br />

mobilisieren. <strong>Die</strong> derzeit bekanntesten Protagonisten solcher<br />

Privatinitiativen sind die Popstars Bob Geldof und Bono von<br />

U2. Geldof hatte bereits 1984 das Projekt Band Aid ins Leben gerufen,<br />

um mit einer Vielzahl auf einer Single vereinten Popgrößen<br />

für die Opfer einer damaligen Hungersnot in Äthiopien<br />

Geld zu sammeln. 1985 organisierte er zum gleichen Zweck<br />

das Benefiz-Konzert Live Aid, das bis dato größte Rockkonzert<br />

der Geschichte, das parallel in London und Philadelphia<br />

stattfand. Auch die am 2. Juli 2005 – im Vorlauf des G8-Gipfels<br />

– von Geldof zusammen mit Bono veranstalteten weltumspannenden<br />

Live8-Konzerte sind in dieser Tradition zu sehen.<br />

Allerdings wurde dieses Mal ausdrücklich kein Geld gesammelt:<br />

»Wir wollen nicht euer Geld, wir wollen eure Stimme«,<br />

so das von Geldof ausgegebene Motto. Insgesamt wurden über<br />

30 Mio. »Stimmen« – überwiegend per SMS – gesammelt und<br />

von den Veranstaltern den Regierungschefs der G8 übergeben.<br />

Damit sollten diese zu einem Schuldenerlass für die armen<br />

Länder gedrängt werden.<br />

Nahezu zeitgleich fanden Konzerte in allen G8-Mitgliedstaaten<br />

sowie in Südafrika statt; letzteres allerdings erst aufgrund<br />

von Protesten, es handele sich um eine reine »Nord«-Veranstaltung.<br />

Austragungsorte der Konzerte waren Barrie (bei Toronto),<br />

Berlin, Johannesburg, London, Moskau, Paris, Philadelphia,<br />

Rom und Tokio sowie – als kurzfristig hinzugefügte Sonderaktion<br />

unter dem Motto »Africa Calling« – in Cornwall (mit<br />

afrikanischen Künstlern). Ein Zusatzkonzert fand am 6. Juli<br />

parallel zum G8-Gipfel in Edinburgh statt. 150 Bands boten<br />

50 Stunden lang Musik. 140 Fernseh- und 400 Rundfunkstationen<br />

übertrugen die Konzerte. <strong>Die</strong> Veranstalter schätzten, dass<br />

1,7 Mio. Menschen die kostenlosen Einzelkonzerte live miter-<br />

108


lebten, mehr als 5 Mio. Zuschauer sich in die Liveübertragung<br />

im Internet einklickten und angeblich 2–3 Mrd. Menschen die<br />

Konzerte per Fernseh- oder Radioübertragung verfolgten. Das<br />

wäre fast die Hälfte der Menschheit!<br />

Weniger erfolgreich war die ebenfalls von Geldof geplante<br />

Aktion Sail8. 5 In einem Massentransport hätten G8-Demonstranten<br />

am 3. Juli 2005 mit Booten von Frankreich nach Edinburgh<br />

gebracht werden sollen. Auch aufgrund schlechten Wetters<br />

nahmen jedoch nur vier Boote mit weniger als 100 Personen<br />

teil, worauf Geldof den Empfang der Demonstranten absagte.<br />

Doch das Live8-Projekt soll weitergeführt werden. Über das<br />

Internet 6 ruft Geldof dazu auf, weiterzumachen und die G8-<br />

Staaten zu zwingen, die in Gleneagles gegebenen Versprechen<br />

einzulösen. Er fordert zudem weitere Schuldenerlasse für insgesamt<br />

38 Länder, freien Marktzugang für afrikanische Produkte,<br />

die Abschaffung von Subventionen, die afrikanischen<br />

Produzenten schaden, und den Verzicht auf jeglichen Liberalisierungszwang<br />

für Entwicklungsländer. Vertiefende inhaltliche<br />

Erläuterungen sind auf der Website nicht zu finden.<br />

Für sein Engagement, mit dem er eine enorm große Zahl<br />

Menschen erreicht hat, wurde Bob Geldof inzwischen vom<br />

norwegischen Parlamentsabgeordneten Jan Simonsen für<br />

den Friedensnobelpreis nominiert. Dennoch ist seine Aktion,<br />

die nicht mit den anderen MDG-Kampagnen abgestimmt ist,<br />

höchst umstritten, und ihr Erfolg, was den Kampf gegen Armut<br />

betrifft, zweifelhaft (zur Kritik an Live8 siehe unten).<br />

Versuche einer Wirkungsanalyse<br />

Für eine Erfolgsanalyse der MDG-Kampagnen ergeben sich<br />

zwei wesentliche Bereiche: erstens das erzeugte allgemeine In-<br />

5 www.sail8.ybw.com/sail8<br />

6 www.live8live.com<br />

109


teresse und die öffentliche Mobilisierung für die MDGs und<br />

zweitens die tatsächlich erreichten Politikergebnisse. In beiden<br />

Fällen kann über den Einfluss der MDG-Kampagnen nur spekuliert<br />

werden. Auch liegen bislang keine Umfragezahlen vor,<br />

die über den Bekanntheitsgrad der MDGs nach dem Kampagnenjahr<br />

2005 Auskunft geben würden. Im Jahr 2004 hatten nur<br />

12 % aller EU-Bürger schon einmal von den MDGs gehört. In<br />

Schweden konnten immerhin 27 % mit dem Begriff etwas anfangen,<br />

in Italien 19 % und in Österreich 18 %. <strong>Die</strong>se etwas höheren<br />

Werte in den beiden Ländern wurden von den Verantwortlichen<br />

der Umfrage auf die MDG-Kampagne der schwedischen<br />

Regierung bzw. auf die NGO-Kampagnen in Italien<br />

(dort unter anderem schon 2004 mit den <strong>Millennium</strong> Gates) und<br />

Österreich zurückgeführt. Kampagnen der dänischen und niederländischen<br />

Regierung hatten allerdings keinen positiven<br />

»Ausschlag« bewirkt (European Commission 2005, 4f.).<br />

<strong>Die</strong> Kampagnen-Initiatoren selber bewerten die bislang<br />

erzielten Ergebnisse zumeist zurückhaltend. So vermutet der<br />

GCAP, man habe im Jahr 2005 wohl zu einigen Politikerfolgen<br />

»beigetragen«. Explizit genannt werden der Stufenplan der EU<br />

zur Erhöhung der öffentlichen Entwicklungszusammenarbeit<br />

(Official Development Assistance, ODA), die Erneuerung des G8-<br />

Versprechens zur ODA-Verdoppelung, der Schuldenerlass für<br />

18 stark verschuldete ärmste Länder und Nigeria sowie das<br />

Versprechen der G8, arme Länder nicht länger zur Liberalisierung<br />

ihrer Wirtschaft zu zwingen. »Wir erkennen, dass dieser<br />

politische Wille durch globale Massenaktionen enormen Ausmaßes<br />

und einen Wandel in der öffentlichen Meinung bezüglich<br />

Armut erzeugt worden ist«, so die Beirut Declaration (GCAP<br />

2006, Abs. 9). Weniger bescheiden geben sich die Live8-Organisatoren,<br />

die auf ihrer Website propagieren, die Beschlüsse von<br />

Gleneagles seien durch die Live8-Zuhörer erzwungen worden.<br />

<strong>Die</strong>s ist schon deshalb abwegig, weil die Ergebnisse im Wesentlichen<br />

bereits vor dem Gipfel feststanden.<br />

110


Übereinstimmend werden die erzielten Resultate als insgesamt<br />

unzureichend gewertet. <strong>Die</strong> Erfolge seien in ihrer Bedeutung<br />

erst noch auszuloten, so VENRO, manches sei »eher symbolischer<br />

Natur, mit Fußangeln oder Handikaps versehen (…).<br />

Auch auf der Grundlage der 2005 erreichten Fortschritte ist die<br />

Verwirklichung der MDGs bis zum Jahr 2015 nicht sehr viel<br />

wahrscheinlicher geworden.« (Hermle 2006, 40). Auch deshalb<br />

werden sowohl die globale wie auch die deutsche GCAP-Kampagne<br />

über den zunächst vorgesehenen Zeitraum hinaus bis<br />

2007 fortgesetzt.<br />

Eine zentrale Rolle bei dieser Entscheidung spielte auch,<br />

dass die Initiatoren des Global Call to Action Against Poverty<br />

wie der deutschen Aktion Deine Stimme gegen Armut von ihrem<br />

eigenen Mobilisierungserfolg überrascht worden sind.<br />

Nach Reinhard Hermle, bis 2005 VENRO-Vorsitzender, hat die<br />

Aktion »neue Maßstäbe der Kampagnenfähigkeit deutscher<br />

Nichtregierungsorganisationen« gesetzt: »Insbesondere Spot<br />

und Zeitungsanzeigen verhalfen der Aktion in relativ kurzer<br />

Zeit zu einer unerwartet großen Resonanz in der Öffentlichkeit<br />

und Aufmerksamkeit in der politischen Klasse.« (Hermle 2006,<br />

35 u. 37). In wenigen Monaten kamen im Rahmen einer Sammelaktion<br />

300.000 Unterschriften zusammen; die Website der<br />

Kampagne verzeichnete bis Ende 2005 3,8 Mio. Seitenaufrufe;<br />

310.000 weiße Armbänder wurden verkauft. Bei einer internen<br />

VENRO-Mitgliederbefragung gaben 88 % aller Befragten<br />

(knapp die Hälfte waren selber an Aktionen beteiligt) an, die<br />

Kampagne habe das Medieninteresse an den MDGs erhöht,<br />

60 % machten einen verstärkten Handlungsdruck auf Politiker<br />

aus, allerdings glaubten nur 43 %, dass neue Zielgruppen für<br />

entwicklungspolitische Themen gewonnen worden seien. Gut<br />

die Hälfte vermutete zudem, dass die Aktionen »politisch etwas<br />

bewirkt« haben. 82 % der Befragten stuften die Kampagne<br />

insgesamt als »sehr erfolgreich« oder »erfolgreich« ein, 90 %<br />

plädierten für eine Fortsetzung bis 2007.<br />

111


»Cui bono außer Bono?« –<br />

Zur Kritik an den Kampagnen<br />

<strong>Die</strong> Kritik an den <strong>Millennium</strong>-Kampagnen bezieht sich zum<br />

überwiegenden Teil auf die Mitwirkung von Größen des Showbusiness.<br />

Sie richtet sich mehrheitlich an die Adresse von Bob<br />

Geldof und Bono sowie ihren Mitstreitern bei den Live8-Konzerten.<br />

Viele der vorgebrachten Argumente sind kaum von der<br />

Hand zu weisen. 7 <strong>Die</strong> Rede ist von Inhaltsleere, von Unkenntnis<br />

der Materie oder sogar »Kolonialherrenattitüde«. Live8 sei<br />

genauso politisch wie die Love Parade, das eigentliche Thema<br />

gehe in einem »gigantischen Aufmerksamkeitsspektakel« unter,<br />

nie habe Armut soviel Spaß gemacht. Das Schlimme sei<br />

allerdings, dass die Veranstalter es mit dem politischen Anspruch<br />

ernst meinten. Sie erzeugten die Botschaft, dass acht<br />

Regierungschefs allein über »Wohl und Wehe« der Welt bestimmen<br />

könnten. Das vermittelte Weltbild und die angebotenen<br />

Lösungen werden als »unterkomplex« oder gar gefährlich<br />

zurückgewiesen – so dass die »schlichte Folgenlosigkeit« solcher<br />

Events geradezu als beruhigend gewertet werden müsse.<br />

Auf die Gefahr, die durch solche Großereignisse erzeugte Erwartungen<br />

mit sich bringen können, wies Stefan Kornelius in<br />

seinem Zeitungskommentar hin: »Das gute Gewissen mag als<br />

Wochenendbefriedigung für die Instant-Gesellschaft ausreichen<br />

– gute Entwicklungspolitik aber kann an überzüchteten<br />

Erwartungen auch scheitern.« 8 Wohlgesinnte Stimmen gestehen<br />

Geldof & Co. immerhin zu, ihre Prominenz dazu genutzt<br />

zu haben, über die vergangenen Jahrzehnte ein öffentliches In-<br />

7 Einen Eindruck vermitteln die Artikel »Hilfe für Afrika? Nix Gutes von<br />

Bono« in der Süddeutschen Zeitung vom 20.12.2005; »Cui bono außer<br />

Bono?« in der TAZ vom 2.7.2005; »Stimmen gegen Armut« in Telepolis<br />

(Online-Magazin) vom 3.7.2005.<br />

8 Kommentar von Stephan Kornelius »Live8. Denn das Gute liegt so nah«,<br />

in der Süddeutschen Zeitung vom 3.7.2005.<br />

112


teresse für Afrika und seine Probleme zu erzeugen, das es ohne<br />

sie nicht gegeben hätte. 9<br />

Den prominenten Philanthropen wird vorgehalten, durch<br />

ihre gut gemeinte, aber unüberlegte Hilfe mehr Schaden als<br />

Nutzen anzurichten. Moeletsi Mbeki, der Bruder des südafrikanischen<br />

Präsidenten, warf Bob Geldof in einem offenen Brief<br />

vor, er kuriere nur Symptome und verschärfe damit die eigentliche<br />

Krankheit, nämlich den schockierenden Mangel an<br />

Rechenschaft der Regierenden in Afrika. 10 Andere vermuten<br />

hinter dem Engagement vor allem Eigenwerbung und Imagepflege.<br />

<strong>Die</strong> TAZ titelte süffisant: »Cui bono außer Bono?«<br />

<strong>Die</strong> Konzertserie war ohne wirkliche Absprache mit dem<br />

Global Call to Action Against Poverty geplant worden, was bei<br />

den NGOs zu Verärgerung führte. Denn der Live8-Event zog<br />

tage lang die mediale Aufmerksamkeit auf sich, wodurch die<br />

Aktionen zum ersten »White Band Day« am Vortag des Konzertes<br />

fast völlig untergingen. Reinhard Hermle warf Bob<br />

Geldof vor, sich zu stark mit Tony Blair verbündet zu haben:<br />

»In dieser Situation konnte er offensichtlich nicht anders,<br />

als ein drittklassiges Ergebnis als grandiosen Erfolg darzustellen,<br />

um nicht einräumen zu müssen, dass auch sein gewaltiger<br />

Einsatz, der fraglos anzuerkennen ist, nicht die erhofften<br />

Resultate zeitigte.« (Hermle 2006, 39).<br />

Dass die Beteiligung Prominenter auch anders und mehr im<br />

Sinne der Sache möglich ist, zeigt die deutsche Aktion Deine<br />

Stimme gegen Armut. Zwar berichten sowohl VENRO als auch<br />

Herbert Grönemeyer von Schwierigkeiten bei der Zusammenarbeit,<br />

da zwei offensichtlich sehr verschiedene Welten aufeinander<br />

prallten und eine gemeinsame Sprache erst gefunden<br />

9 Vgl. den Artikel »Pennen für den Frieden. Geschichte der engagierten<br />

Pop- Musik«, in der Süddeutschen Zeitung vom 20.6.2005.<br />

10 Vgl. den Artikel »Südafrikaner kritisiert Geldofs ›weiches Herz‹«, in N24.<br />

de vom 6.7.2005.<br />

113


werden musste. In einem ZEIT-Interview sagte Grönemeyer<br />

dazu:<br />

»Wir hätten vieles lieber härter formuliert, aber mit den<br />

entwicklungspolitischen Nichtregierungsorganisationen<br />

war das nicht so einfach. In deren Dachverband VENRO<br />

wurde alles erst mal abgeklopft bei Ausschüssen und Vorständen.«<br />

11<br />

Dennoch wurde eine Arbeitsgrundlage gefunden, die zur Einbindung<br />

des Sängers in die NGO-Kampagne führte und somit<br />

Prominenz mit langjährigem entwicklungspolitischen Fachverstand<br />

verband. Grönemeyer verhehlte in dem erwähnten<br />

Interview auch nicht seine Missbilligung der engen Zusammenarbeit<br />

von Bono und Bob Geldof mit Tony Blair. Er wolle<br />

der Regierung lieber von außen Druck machen und sei auch<br />

kein Fan der Live8-Konzerte: »Wenn Sänger singen, dann haben<br />

die Politiker sie da, wo sie hingehören. Man macht Musik,<br />

jeder kriegt seine Streicheleinheiten, und das Thema ist abgefrühstückt.«<br />

Grönemeyer plädierte deshalb für Anzeigen oder<br />

sonstige Aktionen als Kampagneninstrumente. Wohl auch aufgrund<br />

solcher Äußerungen beurteilen 70 % der VENRO-Mitglieder<br />

die Unterstützung durch Prominente mittlerweile als<br />

gut, 22 % als mittel und nur 3 % als schlecht.<br />

Fazit<br />

Als vorläufiges Fazit lassen sich drei Erkenntnisse aus den<br />

diskutierten MDG-Kampagnen ziehen: Erstens ist die Mobilisierung<br />

der Öffentlichkeit durch breit angelegte Kampagnen<br />

– auch unter Zuhilfenahme von Prominenten – so lange grundsätzlich<br />

positiv zu bewerten, wie die notwendigen Vereinfachungen<br />

nicht zu falschen Behauptungen führen oder unrealis-<br />

11 »Haben die Live-8-Konzerte was gebracht?« – Interview mit Herbert<br />

Gröne meyer in der ZEIT vom 21.12.2005.<br />

114


tische Erwartungen erzeugen. <strong>Die</strong>se Gefahr besteht besonders<br />

dann, wenn prominente Showgrößen ohne den notwendigen<br />

Sachverstand auf eigene Faust aktiv werden. Aber auch die<br />

Aussagen der UN-<strong>Millennium</strong> Campaign, die Armut auf dieser<br />

Welt ließe sich mit etwas politischem Willen bis 2015 beseitigen,<br />

das Know-how dazu sei vorhanden, gehen in diese Richtung.<br />

Zweitens sind plakative Vereinfachungen so lange akzeptabel,<br />

wie sie dazu dienen, die Massen zu mobilisieren und auf<br />

breiter Basis Menschen neu für die Thematik zu interessieren.<br />

Ist das Interesse jedoch geweckt, zeigt sich die Seriosität einer<br />

Kampagne darin, dass sie es auch schafft, sowohl komplexere<br />

Zusammenhänge zu vermitteln – etwa über ausführliche<br />

Informatio nen auf der Kampagnen-Website mit Hinweisen<br />

auf weiterführende Links und Literatur, als auch zu kritischem<br />

Denken anzuregen und selbst unabhängige Positionen und<br />

Forderungen zu formulieren. <strong>Die</strong>s ist der Aktion Deine Stimme<br />

gegen Armut recht vorbildlich gelungen.<br />

Schließlich reicht es nicht aus, kurzfristig öffentliches Interesse<br />

zu erzeugen und dabei möglicherweise Politikern gar dazu<br />

zu dienen, durch Scheingefechte von eigenen Misserfolgen abzulenken.<br />

Nur wenn dauerhaft mehr Menschen für entwicklungspolitische<br />

Anliegen gewonnen werden können, besteht<br />

eine Chance, den gewünschten und erforderlichen Druck auf<br />

die politischen Entscheidungsträger zu erzeugen, damit diese<br />

entwicklungsförderliche Entscheidungen treffen, auch wenn<br />

diese schmerzhaft sind, namentlich bei der Neugestaltung der<br />

Handelsbeziehungen. Insofern ist noch nicht entschieden, ob<br />

die MDG-Kampagnen in längerfristiger Perspektive als Erfolg<br />

gewertet werden können.<br />

115


Literatur<br />

Annan, Kofi, 2001: Road Map Towards the Implementation of the United<br />

Nations <strong>Millennium</strong> Declaration. Report of the Secretary-General,<br />

6. September 2001. New York.<br />

Bonse, Sebastian/Christine Drath/Sonja Ramm/Julia Völker, 2006: Mit<br />

Schnipsen gegen die Armut?, in: Ulrike Röttger (Hg.), PR-Kampagnen.<br />

Über die Inszenierung von Öffentlichkeit, Wiesbaden, 3. überarb.<br />

u. erw. Aufl., S. 365–374.<br />

European Commission, 2005: Attitudes towards Development Aid (Special<br />

Eurobarometer 222). Brüssel.<br />

GCAP (Global Call to Action Against Poverty), 2006: Renewing the Call:<br />

The Beirut Platform from the Global Call to Action Against Poverty<br />

(Beirut Declaration), 15. März (editor.whiteband.org/Lib/docs/en_<br />

beirut_platform.doc, 9.8.06).<br />

Hermle, Reinhard, 2006: Deine Stimme gegen Armut – Rekonstruktion<br />

und Analyse der Aktion deutscher NRO, in: VENRO (Hg.), <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>sziele<br />

in Reichweite? Eine Bewertung des entwicklungspolitischen<br />

Ertrags des Entscheidungsjahrs 2005. Bonn/Berlin 2006, S. 35–<br />

40.<br />

Mathes, Bettina, 2005: Das andere Geschlecht der Armut, in: ZTG Bulletin<br />

29/30, S. 172–183.<br />

VENRO, 2006: Wort halten. Mehr deutsches Engagement für die <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>.<br />

Bonn/Berlin.<br />

116


Zweiter Teil:<br />

Nur kurieren an Symptomen?


UWE HOLTZ<br />

<strong>Die</strong> Zahl undemokratischer Länder<br />

halbieren!<br />

Armutsbekämpfung durch Demokratie,<br />

Menschenrechte und good governance<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung von 2000, die aus ihr abgeleiteten<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development Goals,<br />

MDGs) und der UN-Weltgipfel von 2005 haben der politischen<br />

Gestaltung der Globalisierung Leitplanken geliefert, eine inhaltliche<br />

Fokussierung der Entwicklungsanstrengungen bewirkt,<br />

der internationalen Entwicklungspolitik eine neue Dynamik<br />

verliehen und den Druck auf die verschiedenen Akteure<br />

verstärkt.<br />

<strong>Die</strong> MDGs bieten Orientierung für staatliche und nichtstaatliche,<br />

nationale und internationale Akteure und Richtgrößen<br />

zur Bewertung von Entwicklungsanstrengungen und<br />

-erfolgen. Sie tragen dazu bei, die internationale Gemeinschaft<br />

auf lokaler, nationaler, regionaler und globaler Ebene zu mobilisieren,<br />

und dienen als Handlungsanleitung.<br />

<strong>Die</strong> MDGs:<br />

Fortschritt, aber fehlende politische Dimension<br />

<strong>Die</strong> Verständigung auf die acht MDGs ist zweifelsohne ein<br />

großer Schritt in Richtung auf einen »globalen Gemeinwillen«<br />

(volonté générale mondiale), der das »Globalwohl« repräsentiert<br />

und auf der Gemeinsamkeit der Interessen zwischen Industrie-<br />

und Entwicklungsländern beruht, von der schon 1980 Willy<br />

118


Brandt und seine Nord-Süd-Kommission in dem Bericht »Das<br />

Überleben sichern« sprachen.<br />

<strong>Die</strong> MDGs mit ihren Zielvorgaben und Indikatoren benennen<br />

angestrebte Ergebnisse von Entwicklungsprozessen, ohne<br />

jedoch die dahin führenden Wege und Instrumente, die von<br />

Land zu Land verschieden sein können, aufzuzeigen. Sie formulieren<br />

wichtige Ziele für eine menschenzentrierte Entwicklung;<br />

sie stellen aber keine umfassende Vision für eine bessere<br />

Welt dar, weil dafür unerlässliche Elemente wie Demokratie<br />

und Frieden fehlen. <strong>Die</strong>s ist ein Paradoxon, weil die Staats- und<br />

Regierungschefs in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung einerseits Menschenrechte,<br />

Demokratie und good governance wie auch Frieden,<br />

Sicherheit und Abrüstung als grundlegende Ziele, denen<br />

sie besondere Bedeutung beimessen, bezeichnen, andererseits<br />

diese Ziele aber keine direkte Berücksichtigung bei den acht<br />

MDGs finden.<br />

Eine von Wolfram Hilz und mir veranstaltete Ringvorlesung<br />

über die MDGs an der Universität Bonn im Wintersemester<br />

2005/06 führte zu folgenden Erkenntnissen (Holtz 2006):<br />

1. <strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> sind eng miteinander<br />

verbunden: <strong>Die</strong> Bekämpfung von Armut und Hunger<br />

(MDG 1) erfordert auch den Einsatz für den Umweltschutz<br />

und gegen die Bodenerosion (7); HIV/AIDS-Bekämpfung<br />

(6) ist unmöglich ohne mehr Bildung (2) und die Stärkung<br />

von Macht und Einfluss der Frauen (3).<br />

2. <strong>Die</strong> acht MDGs sind immer im Zusammenhang mit der<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung zu sehen, wodurch einige Defizite<br />

bei den MDGs (wie die weitgehende Abwesenheit konkreter<br />

politischer Forderungen nach Demokratisierung)<br />

»kompensiert« werden.<br />

3.<br />

Nationale und regionale Parlamente haben eine wichtige<br />

und noch stärkere Rolle bei der Verwirklichung der MDGs<br />

wie auch bei der Reform der Vereinten Nationen zu spielen.<br />

119


4.<br />

5.<br />

6.<br />

7.<br />

8.<br />

9.<br />

120<br />

Entwicklungsfragen sind auch Machtfragen, wie an den<br />

Beispielen eines faireren Welthandels, des Abbaus der<br />

Agrarsubventionen, der Öffnung der Märkte, der Entschuldung<br />

oder einer Kontrolle bei den modernen Informations-<br />

und Kommunikationstechnologien verdeutlicht werden<br />

kann.<br />

<strong>Die</strong> Verwirklichung der MDGs trägt maßgeblich zur<br />

menschlichen Sicherheit bei und steht für die nicht-militärische<br />

Dimension von Sicherheit.<br />

Bildung, Wissenschaft und Technologie sind von zentraler<br />

Bedeutung für Entwicklung und die MDGs.<br />

Höhere entwicklungspolitische Leistungen und eine bessere<br />

Entwicklungszusammenarbeit sind nötig, aber die<br />

Rolle der Entwicklungspolitik im gesamten Entwicklungsprozess<br />

darf nicht überschätzt werden. Geld allein verhindert<br />

nicht die stillen Tsunamis, wie das tausendfache, alltägliche<br />

Sterben von Kindern. Dauerhafte Erfolge sind ohne<br />

ein entwicklungsförderliches Umfeld, für das sich auch zivilgesellschaftliche<br />

Organisationen immer mehr einsetzen,<br />

nur schwerlich zu erreichen.<br />

Das Entwicklungsparadigma einer menschenwürdigen<br />

und nachhaltigen Entwicklung setzt sich offensichtlich<br />

immer mehr in der internationalen Entwicklungsdebatte<br />

durch und löst zumindest partiell die Washington Consensus-Philosophie<br />

ab.<br />

In vielen Ländern, vor allem in Afrika südlich der Sahara,<br />

bestehen noch erhebliche Defizite bei der Umsetzung der<br />

MDGs. Eine Reihe von Ländern kann bei einigen MDGs<br />

manche Erfolge aufweisen, so in Lateinamerika, Südostasien<br />

oder Nordafrika. <strong>Die</strong> Erfolgsbeispiele zeigen, wie<br />

viel in kurzer Zeit erreicht werden kann, wenn interne Reformen<br />

in den Entwicklungsländern selbst und externe Unterstützung<br />

durch Entschuldung, Handelsförderung und<br />

Entwicklungszusammenarbeit mobilisiert werden.


10.<br />

Entwicklungs- und Industrieländer wie auch die EU müssen<br />

ihre Anstrengungen massiv verstärken und für ein national<br />

wie international günstigeres Umfeld sorgen, wenn<br />

die Welt als Ganzes die acht MDGs und die grundlegenden<br />

Ziele der <strong>Millennium</strong>-Erklärung noch während der nächsten<br />

zehn Jahre erreichen soll.<br />

<strong>Die</strong> politische Dimension ist die oft klein geschriebene Dimension<br />

einer nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung.<br />

Auch der von Jeffrey Sachs, dem Direktor des UN-<strong>Millennium</strong>-<br />

Projekts, Anfang 2005 vorgelegte Bericht »In die Entwicklung<br />

investieren: Ein praktischer Plan zur Erreichung der <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>«<br />

vernachlässigt in seinen Empfehlungen<br />

die politischen Rahmenbedingungen. Sachs setzt – wie<br />

in seinem Buch »Das Ende der Armut« (2005a) – vor allem auf<br />

mehr Geld (»die gegenwärtige öffentliche Entwicklungshilfe<br />

muss verdoppelt werden«) und den gut koordinierten und<br />

differenzierten Einsatz dieser Mittel bei der Armutsbekämpfung.<br />

Aber was nützt mehr Geld, mehr staatliche »Entwicklungshilfe«,<br />

wenn in den Entwicklungs- und Transformationsländern<br />

Diktatoren, Kleptokraten und korrupte Cliquen herrschen?<br />

<strong>Die</strong>sen Fehler begehen erfreulicherweise weder die EU (Europäische<br />

Union 2005) noch das Bundesministerium für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ 2001).<br />

<strong>Die</strong> Erkenntnis, dass Willkür, Despotismus und die Diskriminierung<br />

der Frauen wichtige Hemmschuhe für Entwicklung<br />

sind, findet eine immer größere Anerkennung (Landes 2004).<br />

<strong>Die</strong> Weltbank erkannte schon 1989 an, dass Afrikas Malaise<br />

wirtschaftliche und politische Wurzeln hat (World Bank 1989).<br />

Zur volonté générale mondiale müssen auch der Wille und<br />

die Verpflichtung gehören, die Zahl der undemokratischen Regime<br />

zu reduzieren. Wer eine solche Forderung erhebt, sollte<br />

zunächst darlegen, was er unter Entwicklung und Demokratie<br />

versteht.<br />

121


Was bedeuten Entwicklung und Demokratie?<br />

Auch wenn es keine allgemein gültige Definition von Entwicklung<br />

gibt, dürfte die Erkenntnis weitgehend akzeptiert sein,<br />

dass Entwicklung ein mehrdimensionaler, komplizierter, langwieriger,<br />

sozioökonomischer Prozess ist, der auf die Verbesserung<br />

der Lebensbedingungen der Menschen abzielt, die Freiheit<br />

von Mangel und Furcht anstrebt, Frieden und Sicherheit<br />

garantiert und spätestens seit Rio 1992 einer nachhaltigen und<br />

menschenwürdigen Entwicklung verpflichtet ist. Langfristig<br />

gibt es eine solche Entwicklung nicht ohne Demokratie, Menschenrechte,<br />

Gleichstellung der Geschlechter und good governance<br />

(gutes Regierungs- und Verwaltungshandeln).<br />

Entwicklung umfasst zumindest folgende Dimensionen:<br />

Politik (Demokratie, Menschenrechte und good governance),<br />

Wirtschaft (Produktivitätssteigerungen, Arbeitsplätze schaffendes<br />

und Armut beseitigendes Wirtschaftswachstum, Unternehmen,<br />

die ihre gesellschaftliche Verantwortung ernst nehmen),<br />

Soziales (soziale Gerechtigkeit, soziale Grunddienste),<br />

Umwelt (ökologische Nachhaltigkeit) und Kultur (kulturbewusste<br />

Entwicklung, die kulturelle Entfaltung ermöglicht und<br />

für den Wandel offen ist). Entwicklung braucht »gute« nationale,<br />

regionale und internationale Rahmenbedingungen.<br />

Entwicklung bedeutet immer, etwas von dem, was an Fähigkeiten<br />

und Potenzial jedem Menschen und Volk Eigen ist,<br />

zur Entfaltung, zur Ent-Wicklung zu bringen. Insofern kommt<br />

Hilfe von außen vor allem eine Hebammenfunktion zu – auch<br />

bei der Förderung von Demokratie und good governance, wobei<br />

gilt: je größer die interne »Nachfrage«, desto höher die Erfolgsquote.<br />

Wenn schon der Entwicklungsprozess ein langwieriger<br />

und schwieriger Prozess ist, dann trifft dies auch auf die Demokratisierung<br />

zu. Demokratie und good governance lassen sich<br />

nicht mit Hauruck-Interventionen und imperialen Attitüden in<br />

fremde Länder exportieren; sie von außen behutsam und mit<br />

Augenmaß zu fördern, ist aber auch ein Gebot der Solidarität.<br />

122


Entwicklung ist also auch »ein Prozess, der es den Menschen<br />

ermöglicht, ihre Fähigkeiten zu entfalten, Selbstvertrauen zu<br />

gewinnen und ein erfülltes und menschenwürdiges Leben<br />

zu führen« – so die Definition des unter Leitung von Julius<br />

Nyerere erstellten Berichts der »Südkommission« von 1990<br />

(SEF 1991, 34). Von daher gewinnt die seit einiger Zeit erhobene<br />

Forderung nach ownership Relevanz. Ownership, oft nicht<br />

vollständig mit Eigenverantwortung übersetzt, besagt in der<br />

Entwicklungszusammenarbeit (EZ), dass nicht nur die Verantwortung<br />

der Partner im Entwicklungsland für die EZ-Vorhaben<br />

gestärkt und ihre Partizipation gesichert werden, sondern<br />

ihnen auch die Vorhaben »gehören« sollen (Eigentümerschaft).<br />

Natürlich steht diese Eigentümerschaft in einem Spannungsverhältnis<br />

zu den Einwirkungen von außen – seien es die internationalen<br />

Rahmenbedingungen oder die Erwartungen der<br />

Entwicklungspolitik an die Entwicklungsländer. Der ownership-Vorbehalt<br />

darf jedoch »kein Feigenblatt für Barbareien« in<br />

den Entwicklungsländern sein (Nuscheler 2005, 429).<br />

Demokratie kennt verschiedene Ausformungen. Reduziert<br />

man sie auf das Wesentliche, dann lassen sich drei Kernelemente<br />

in einer Art Demokratie-Dreieck festhalten:<br />

Freie, faire und regelmäßige Wahlen mit der Möglichkeit,<br />

einen Regierungswechsel herbeizuführen (was eine freie<br />

Presse und das Recht auf Opposition voraussetzt);<br />

Gewaltenteilung und die Bindung der Gewalten an die verfassungsmäßige<br />

Ordnung sowie an Gesetz und Recht (rule<br />

of law – Herrschaft des Rechts und Rechtssicherheit);<br />

Achtung und Verwirklichung der unveräußerlichen Menschenrechte<br />

und der politischen, bürgerlichen Freiheiten<br />

sowie die Wahrung von Minderheitenrechten.<br />

Schlüsselinstitution bzw. Herz der Demokratie ist das Parlament,<br />

das gemäß dem »Parlamentarischen Hexagon« idealiter<br />

über folgende sechs Aufgaben und Kompetenzen verfügt:<br />

Gesetzgebung, Budgetrecht inklusive der Entscheidung über<br />

Steuern und Ausgaben, Wahlfunktion /Herrschaftsbestellung,<br />

123


Kontrolle der Regierung und Verwaltung, Mitwirkung an der<br />

Außenpolitik, Forum der Nation/Repräsentation (Holtz 2003,<br />

18f.). Dabei bewegen sich, machtpolitisch gesprochen, die Parlamente<br />

auf einem Kontinuum zwischen schwachen »Abnick«-<br />

und starken »Gestaltungs«-Legislativen, wobei sogar ein und<br />

dasselbe Parlament zu verschiedenen Themen unterschiedliche<br />

Positionen auf diesem Kontinuum einnehmen kann.<br />

<strong>Die</strong> »dritte Welle der Demokratisierung«<br />

1974 galten unter den 150 Staaten der Erde ca. 40 als Demokratien.<br />

Vor allem in den vergangenen anderthalb Jahrzehnten hat<br />

es einen bemerkenswerten Siegeszug der Demokratie gegeben.<br />

Samuel Huntingtons These einer »dritten Welle der Demokratisierung«<br />

scheint sich zu bestätigen. So konstatierte der UNDP-<br />

Bericht über die menschliche Entwicklung 2002, die Welt sei<br />

demokratischer als je zuvor. Doch von den 140 Ländern, die<br />

Wahlen mit konkurrierenden Parteien abgehalten hätten, seien<br />

nur 80 (mit 55 % der Weltbevölkerung) wirklich demokratisch,<br />

und in 106 Ländern würden wichtige bürgerliche und politische<br />

Freiheiten nach wie vor eingeschränkt (UNDP 2002, 2).<br />

Heute werden etwa drei Fünftel der über 190 Staaten mit<br />

dem Etikett »demokratisch« versehen. Zwei Fünftel aller Staaten<br />

zählen immer noch zu den undemokratisch regierten Ländern.<br />

Was die Demokratien angeht, so gehört eine beträchtliche<br />

Anzahl unter ihnen zur Kategorie der defekten, ungefestigten,<br />

illiberalen Demokratien, weil in ihnen individuelle Rechte und<br />

Freiheiten nicht gesichert sind, die Unabhängigkeit der Gerichte<br />

nicht gegeben ist, Rechtsstaatlichkeit nur auf dem Papier<br />

steht und Parlamente weitgehend entmachtet sind.<br />

Nach der – nicht unumstrittenen – Klassifizierung von Freedom<br />

House (2005) werden derzeit 24 % der Länder als nicht frei,<br />

30 % als teilweise frei und 46 % als frei eingestuft. Laut Bertelsmann-Transformationsindex<br />

(BTI) werden 62 % der Weltbevöl-<br />

124


kerung inzwischen demokratisch regiert; weltweit gibt es aber<br />

immer noch 48 autoritäre/autokratische Staaten in allen Regionen<br />

der Welt, die ein großes Beharrungsvermögen aufweisen,<br />

und vornehmlich in diesen Ländern sind bad governance und<br />

bad performance anzutreffen (Bertelsmann Stiftung 2005, 7). Offensichtlich<br />

gibt es gleichzeitig Fortschritte auf dem Wege zur<br />

Demokratie und Rückschritte in Richtung auf autokratische<br />

Herrschaftsverhältnisse.<br />

In der Globalisierung kann man nicht nur einen welthistorischen<br />

Megatrend erkennen, der sehr viele Wirtschafts- und<br />

Lebensbereiche umfasst, sondern auch ein globales Zivilisationsprojekt,<br />

das zur Zivilisierung und Demokratisierung unseres<br />

Globus beizutragen vermag; denn neben der Marktwirtschaft<br />

wurde auch die Demokratie zu einem universell anerkannten<br />

Ordnungskonzept. Allerdings sind auch kritische<br />

Stimmen vernehmbar, die in der »ungezügelten Globalisierung«<br />

(Ralf Dahrendorf) eine systemische Gefährdung von Demokratie<br />

und Menschenrechten erkennen und gar ein autoritäres<br />

Jahrhundert – als Folge einer »schleichenden Erosion der<br />

Demokratie« (Karl Kaiser) – vorhersehen.<br />

Demokratie in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung,<br />

aber nicht in den MDGs<br />

Drei Hypothesen seien im Folgenden untermauert:<br />

1. Armut umfasst verschiedene Dimensionen von Mangel:<br />

an Einkommen und Nahrung, aber auch an Einfluss und<br />

Wahlmöglichkeiten.<br />

2. Demokratie, Menschenrechte und good governance sind<br />

Werte an sich.<br />

3.<br />

Demokratie, Menschenrechte und good governance sind für<br />

die Realisierung der MDGs von großer Bedeutung.<br />

Gemäß MDG 1 und den beiden ersten Zielvorgaben sollen die<br />

extreme Armut und der Hunger beseitigt und der Anteil jener<br />

125


Menschen, deren Einkommen weniger als 1 US-$ pro Tag beträgt<br />

und die hungern, bis 2015 halbiert werden. Aber Armut<br />

ist mehrdimensional und bezieht sich keineswegs nur auf das<br />

Einkommen und eine unzureichende Ernährung; sie schließt<br />

Machtlosigkeit, Ausgrenzung, Unsicherheit und Aussichtslosigkeit<br />

mit ein. Der Mensch lebt nicht von Brot, Reis oder<br />

Kassava allein – er will ebenso frei sein von Furcht und Unterdrückung<br />

und die Freiheit zur Mitwirkung an der res publica<br />

haben. Ein wichtiges Element der Armutsbekämpfung besteht<br />

in der Unterstützung der Selbstorganisation der Armen; denn<br />

der Aufbau von Gegenmacht von unten trägt mit dazu bei,<br />

nach oben Druck zu erzeugen, damit die Regierungen und Parlamente<br />

das tun, wofür sie da sind, nämlich nachhaltige und<br />

menschenwürdige Politik zu machen.<br />

Deshalb ist es enttäuschend, dass bei den acht MDGs und<br />

den daraus abgeleiteten 18 Zielvorgaben und 48 Indikatoren<br />

weitgehend auf (demokratie-)politische Forderungen verzichtet<br />

wird. Offensichtlich war dies auch politisch so gewollt. Bei<br />

lediglich einem Ziel ist eine relevante Forderung auszumachen:<br />

MDG 3 spricht von der Förderung der Gleichstellung der<br />

Geschlechter und der Stärkung von Macht und Einfluss der<br />

Frauen. Den Begriff Demokratie sucht man vergeblich.<br />

<strong>Die</strong>s ist umso unverständlicher, als die <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

ein klares Bekenntnis zur Demokratie ablegt. Mit ihrem<br />

Bekenntnis zum Recht von Männern und Frauen auf ein Leben<br />

in Würde und Freiheit, zu Demokratie und demokratischer<br />

Staatsführung, zu den verschiedenen Arten von Menschenrechten<br />

und Grundfreiheiten sowie zu good governance und zur<br />

Förderung junger Demokratien bietet sie den demokratischen<br />

Unterbau für die MDGs.<br />

Auf dem <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel bekräftigten die 154 Staats-<br />

und Regierungschefs die <strong>Millennium</strong>-Erklärung von 2000 und<br />

erklärten explizit, eine friedlichere, wohlhabendere und demokratischere<br />

Welt schaffen zu wollen (Abschlussdokument,<br />

Abs. 16). Zudem erkannten sie an, dass gutes Regierungs- und<br />

126


Verwaltungshandeln, stabile demokratische Institutionen, eine<br />

solide Wirtschaftspolitik wie auch die Herrschaft des Rechts<br />

auf nationaler und internationaler Ebene die Grundlage für<br />

eine nachhaltige Entwicklung, dauerhaftes Wirtschaftswachstum,<br />

Armutsbeseitigung und die Schaffung von Arbeitsplätzen<br />

bildeten.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung und das Weltgipfel-Abschlussdokument<br />

sind eine wichtige, wenn auch nicht die alleinige<br />

Grundlage für die Forderung an staatliche und nichtstaatliche,<br />

nationale und internationale Akteure, alles ihnen Mögliche zu<br />

tun, um zur »Halbierung« der Zahl schlecht regierter, undemokratischer<br />

Länder bis zum Jahre 2015 beizutragen. 1<br />

Demokratie, Menschenrechte und<br />

good governance als Voraussetzung und<br />

Ziel für die Realisierung der MDGs<br />

<strong>Die</strong> Demokratie ist weltweit als politischer Ordnungsrahmen<br />

anerkannt. In der 1997 angenommenen Allgemeinen Demokratie-Erklärung<br />

der Inter-Parlamentarischen Union (IPU)<br />

wird die Demokratie als Ideal, als Regierungsform und als ein<br />

universell anerkanntes Konzept bezeichnet, das auf gemeinsamen<br />

Werten beruht (IPU 1998, IIIff).<br />

Zwischen Demokratie und Entwicklung besteht kein automatischer<br />

Zusammenhang. Auf der einen Seite fördert Demokratie<br />

Entwicklung, auf der anderen Seite ist das bloße Vorhandensein<br />

von demokratischen Strukturen noch kein Garant<br />

für Fortschritt. Erst durch die zusätzliche Bildung von<br />

rechenschaftspflichtigen, funktionierenden Institutionen, die<br />

ihr Handeln nach dem Prinzip des guten Regierungs- und Verwaltungshandelns<br />

ausrichten, kann Demokratie zu einem Er-<br />

1 Von »Halbierung« wird hier in Analogie zur Halbierung von Armut und<br />

Hunger gesprochen.<br />

127


folgskriterium für Entwicklung werden. Freie Wahlen allein<br />

führen nicht automatisch zu mehr Entwicklung und Sicherheit;<br />

sie können in gespaltenen Gesellschaften Nationalismus,<br />

ethnische Konflikte und sogar gewalttätige Konflikte schüren.<br />

Dennoch: »Wenn Politik und politische Institutionen die<br />

menschliche Entwicklung fördern und die Freiheit und Würde<br />

aller Menschen sichern soll, muss die Demokratie ausgeweitet<br />

und vertieft werden.« (UNDP 2002, 2).<br />

Auch viele Nichtregierungsorganisationen setzen sich verstärkt<br />

mit den politischen und wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

für Entwicklung auseinander, weil sie erkennen, dass<br />

»die Reichweite von Einzelprojekten und Programmen – so<br />

wichtig diese sind – begrenzt ist und ihre Wirkung oft durch<br />

schlechte Regierungsführung, Korruption, Kriege und Konflikte,<br />

externe wirtschaftliche Schocks oder die internationale<br />

Politik beeinträchtigt oder konterkariert wird«. (Hermle 2006,<br />

39).<br />

<strong>Die</strong>se Erfahrung stützt die These des Bertelsmann Transformation<br />

Indexes, dass die erfolgreiche Bekämpfung der Armut<br />

sowie ein umfassender und zukunftsfester Wandel zu Demokratie<br />

und Marktwirtschaft nur mit strategisch denkenden und<br />

eigenverantwortlichen Reformern, Akteuren und »Antreibern«<br />

(agents, drivers of change) bei den Regierenden, den übrigen Eliten<br />

und der Zivilgesellschaft gelingen können. Dabei dürfen<br />

die Besonderheiten von Gesellschaften, die durch informelle<br />

Strukturen geprägt sind, nicht außer Acht gelassen werden.<br />

Menschenrechte sind dem Menschen und seinem Handeln<br />

inne wohnende Werte. Sie machen die Essenz dessen aus, was<br />

Entwicklung eigentlich ist. Sie sind die Kompassnadel für Entwicklung<br />

– und im Übrigen auch für eine humane Globalisierung.<br />

Wer Menschenrechte unterdrückt, behindert Entwicklung.<br />

Was good governance betrifft, so spiegelt sich dabei eine Erfahrung<br />

wider, die seit Ende der 1980er Jahre die internationale<br />

Zusammenarbeit in wachsendem Maße prägt: Fortschritte<br />

128


auf dem Wege zu einer nachhaltigen und menschenwürdigen<br />

Entwicklung sind nicht nur eine Frage wirtschaftlicher Erfolge.<br />

Auch »schwache« Regierungen, willkürliche Rechts- und Justizsysteme,<br />

schlecht funktionierende Verwaltungen und Korruption<br />

sind Ursachen für Armut und maldevelopment.<br />

Das Ende des Kalten Krieges öffnete den Raum für eine<br />

breite internationale Diskussion über die Bedeutung von politischen<br />

Rahmenbedingungen und effizienten Staats- und Verwaltungsstrukturen.<br />

Seitdem setzte sich die Erkenntnis durch,<br />

dass entwicklungspolitische Zusammenarbeit nur bei guten<br />

politischen Rahmenbedingungen in den Partnerländern langfristig<br />

positive Wirkungen zeitigen kann.<br />

Das für mehr als hundert Staaten völkerrechtlich verbindliche,<br />

2003 in Kraft gesetzte Partnerschaftsabkommen von<br />

Cotonou zwischen den afrikanischen, karibischen und pazifischen<br />

Staaten sowie den Mitgliedstaaten der EU hat good governance<br />

als fundamentales Element der Kooperation verankert,<br />

wobei darunter die »verantwortungsvolle Staatsführung, die<br />

transparente und verantwortungsbewusste Verwaltung der<br />

menschlichen, natürlichen, wirtschaftlichen und finanziellen<br />

Ressourcen und ihr Einsatz für eine ausgewogene und nachhaltige<br />

Entwicklung« verstanden wird (BMZ 2002, 28).<br />

Auf der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung<br />

in Monterrey im März 2002 wurde ein Richtung<br />

weisender Rahmen für eine globale Entwicklungspartnerschaft<br />

mit dem Ziel festgelegt, die Armut zu bekämpfen, dauerhaftes<br />

Wirtschaftswachstum zu erzielen und nachhaltige Entwicklung<br />

zu fördern. <strong>Die</strong> Partnerschaft zwischen reichen und armen<br />

Ländern soll auf guter Regierungs- und Verwaltungsführung,<br />

erweitertem Handel, Entwicklungszusammenarbeit sowie<br />

Schuldenerleichterung aufbauen.<br />

Der in Monterrey erzielte Konsens bezeichnet explizit good<br />

governance durch Rechtsstaatlichkeit, Korruptionsbekämpfung,<br />

Achtung der Menschenrechte, Beteiligung der Bevölkerung<br />

am politischen Prozess, eine marktwirtschaftlich orien-<br />

129


tierte Wirtschaftspolitik und makroökonomische Stabilität als<br />

Kernelement entwicklungsförderlicher Rahmenbedingungen,<br />

zu denen auch die allgemeine Verpflichtung auf eine gerechte<br />

und demokratische Gesellschaft gehört (UN 2002).<br />

Good governance ist inzwischen zu einem wichtigen Förderkriterium<br />

für die EZ geworden. In Deutschland kommt dies<br />

zusammen mit dem Bekenntnis zu Demokratie und Menschenrechten<br />

in den 1991 formulierten fünf Kriterien für die EZ zum<br />

Ausdruck: Beachtung der Menschenrechte, Beteiligung der<br />

Bevölkerung an politischen Entscheidungen, Rechtsstaatlichkeit<br />

und Rechtssicherheit, marktwirtschaftlich und sozial orientierte<br />

Wirtschaftsordnung, Entwicklungsorientierung staatlichen<br />

Handelns (BMZ 1995, 48). Good governance ist sowohl<br />

Voraussetzung als auch eigenständiges Ziel von Entwicklung.<br />

Für das BMZ (2006, 1f.) geht es dabei<br />

»um einen Staat, der sich an der Gewährleistung der Menschenrechte<br />

sowie an Demokratie und Rechtsstaatlichkeit<br />

orientiert, der transparent und leistungsfähig arbeitet, eine<br />

nachhaltige, armutsorientierte Sozial- und Wirtschaftspolitik<br />

verfolgt und sich in der internationalen Staatengemeinschaft<br />

kooperativ verhält. (…) In der Realität können nur<br />

wenige Länder durchgängig in die Kategorien ›Bad‹ oder<br />

›Good‹ Governance eingeordnet werden. In den meisten<br />

Ländern findet man eine Vielzahl von abgestuften Situationen<br />

und z.T. widersprüchlichen Entwicklungen vor.<br />

Regierung und öffentliche Verwaltung sind keine monolithischen<br />

Blöcke.«<br />

<strong>Die</strong> Bundesregierung betrachtet Frieden und Sicherheit, Demokratie,<br />

gute Regierungsführung und die Verwirklichung der<br />

Menschenrechte als Voraussetzungen für die Erreichung der<br />

MDGs in einem Land (Kortmann 2006, 22). Und der Deutsche<br />

Bundestag vertritt in seiner Entschließung »Auf dem Weg zur<br />

Erreichung der <strong>Millennium</strong> Development Goals« vom 30. September<br />

2004 die Auffassung, die MDGs seien nur realisierbar,<br />

wenn alle Kapitel der <strong>Millennium</strong>-Erklärung hinreichend be-<br />

130


achtet und die auf der Grundlage von Konventionen bestehenden<br />

Verpflichtungen umgesetzt würden.<br />

<strong>Die</strong> EU hält in ihrem entwicklungspolitischen Europäischen<br />

Konsens vom Herbst 2005 fest, ein besonderer Vorrang<br />

gelte den Menschenrechten und der Demokratisierung, der<br />

Unterstützung für notwendige Reformen zur Verhütung und<br />

Bekämpfung der Korruption, der Unterstützung der Dezentralisierung<br />

sowie der Stärkung der Rolle der Parlamente.<br />

Um diese Stärkung bemühen sich vor allem auch die deutschen<br />

politischen Stiftungen. Zu ihr gehören: 2<br />

(Mehrparteien-)Parlamente und ihre Gremien mit ihren<br />

verschiedenen Funktionen aufzuwerten (vgl. das »Parlamentarische<br />

Hexagon«);<br />

Abgeordnete zu qualifizieren (capacity building) und so zur<br />

Professionalisierung ihrer Arbeit beizutragen;<br />

die Gemeinwohlorientierung parlamentarischen Handelns<br />

zu betonen, zum Beispiel durch entsprechende Verhaltenskodizes;<br />

die Rechenschaftspflicht und Transparenz parlamentarischer<br />

Verfahren zu fördern, um das Vertrauen der Bevölkerung<br />

in die Arbeit des Parlaments zu entwickeln;<br />

die Gesetzgebung und das politische Handeln an das Leitbild<br />

einer nachhaltigen und menschenwürdigen Entwicklung<br />

zu binden, an rechtsstaatliche international anerkannte<br />

Grundsätze sowie internationale und regionale Menschenrechtsabkommen;<br />

zur Kooperation nationaler Parlamente untereinander wie<br />

im Rahmen der IPU anzuhalten;<br />

parlamentarische Netzwerke zu fördern, etwa das Parlamentarische<br />

Netzwerk der UN-Konvention zur Bekämpfung<br />

der Wüstenbildung.<br />

2 Vgl. auch die Anhörung des Bundestags-Ausschusses für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (AwZ) zum Thema »Regierungsführung<br />

als Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit« am<br />

28.6.06.<br />

131


Zivilgesellschaftliche Organisationen sollten Parlamente und<br />

andere Akteure in Staat und Wirtschaft in Koalitionen für good<br />

governance ergänzen, aber nicht ersetzen.<br />

Plädoyer für eine Ergänzung des MDG-Zielkatalogs<br />

<strong>Die</strong> bisherigen Ausführungen laufen darauf hinaus, dass die<br />

acht MDGs durch ein weiteres Ziel ergänzt werden sollten:<br />

Diktaturen zu überwinden und Demokratien zu stärken. Damit<br />

würden die Vereinten Nationen der politischen Orientierung<br />

des Entwicklungsparadigmas einer nachhaltigen und<br />

menschenwürdigen Entwicklung, der <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

und dem Weltgipfel 2005 folgen, der nicht nur die Demokratie<br />

als universellen Wert bekräftigte, sondern auch die Gründung<br />

eines neuen UN-Demokratiefonds guthieß.<br />

Zwei Zielvorgaben sind diesem neuen Oberziel beizugeben<br />

(vgl. Tabelle 1): 1) Bis 2015 ist die Zahl der undemokratischen,<br />

menschenrechtsverletzenden Regime zu halbieren;<br />

2) die Grundsätze einer nachhaltigen und menschenwürdigen<br />

Entwicklung sind in einzelstaatliche Politiken und Programme<br />

umzusetzen (sie umfassen die Verpflichtung auf Demokratie,<br />

Menschenrechte und good governance).<br />

Sechs Indikatoren sollen der Erreichung der beiden Zielvorgaben<br />

und der Fortschrittsüberwachung dienen:<br />

1. <strong>Die</strong> Zahl der Länder, die als unfrei gelten (freie Wahlen,<br />

konstitutioneller Liberalismus, Gewaltenteilung). <strong>Die</strong>ser<br />

Indikator lässt sich an Hand des Freedom House-Indexes<br />

überprüfen, der die Länder der Welt bei der Bewertung der<br />

politischen und bürgerlichen Freiheiten in frei, teilweise frei<br />

und unfrei einteilt (www.freedomhouse.org) oder durch<br />

das World Democracy Audit Overall Ranking, das 150 Länder<br />

der Welt einem Demokratierang zuordnet (www.world<br />

audit.org).<br />

132


ein neues<br />

Ziel<br />

Diktaturen<br />

überwinden<br />

und Demokratienstärken<br />

Tabelle 1<br />

Neues <strong>Millennium</strong>-Entwicklungsziel:<br />

Diktaturen überwinden<br />

zwei Zielvorgaben sechs Indikatoren<br />

1. Bis 2015 die Zahl der<br />

undemokratischen,<br />

menschenrechtsverletzenden<br />

Regime halbieren<br />

2. <strong>Die</strong> Grundsätze einer<br />

nachhaltigen und<br />

menschenwürdigen<br />

Entwicklung in einzelstaatliche<br />

Politiken und<br />

Programme umsetzen<br />

1. Zahl der Länder, die als<br />

unfrei gelten<br />

2. Parlamente mit echten<br />

Befugnissen und einer<br />

Frauenquote von 30 %<br />

3. Zeichnung und Ratifikation<br />

internationaler<br />

Menschenrechtsabkommen<br />

4. Politische Gestaltungsleistung<br />

auf dem Weg<br />

zur Demokratie<br />

5. Korruption<br />

6. ODA-Quote für Demokratie<br />

und good governance<br />

fördernde, Parlamente<br />

stärkende und<br />

menschenrechtsorientierte<br />

Programme<br />

2. Parlamente mit echten Befugnissen gemäß dem »Parlamentarischen<br />

Hexagon« und einer Frauenquote von 30 %<br />

in allen Parlamenten 3 – von der lokalen bis zur kontinentalen<br />

Ebene. 4 <strong>Die</strong> Interparlamentarische Union (www.ipu.<br />

3 Das Panafrikanische Parlament hat für alle Mitgliedstaaten Maßnahmen<br />

gefordert, die sicherstellen, dass mindestens 30 % aller gewählten Positionen<br />

Frauen zukommen.<br />

4 Insofern wird der alte dem MDG 3 zugeordnete Indikator 12 (Anteil der<br />

Frauen in nationalen Parlamenten) erweitert.<br />

133


org) liefert Daten sowohl über Rolle und Struktur von 188<br />

nationalen Parlamenten (www.ipu.org./parline-e/parlinesearch.asp)<br />

als auch über Frauenquoten. Mit Stand vom<br />

Mai 2006 nahmen Frauen weltweit 16,8 % aller Parlamentssitze<br />

ein (www.ipu.org/wmn-e/world.htm). Hinsichtlich<br />

der »echten Befugnisse« von Parlamenten fehlt jedoch bislang<br />

eine »indexierte« globale Aufbereitung der Daten.<br />

3. Zeichnung und Ratifikation der relevanten internationalen<br />

Menschenrechtsabkommen. Das mit Unterstützung der<br />

Ford Foundation gegründete entsprechende Internet-Portal<br />

(www.bayefsky.com) ist dazu eine wertvolle Informationsquelle.<br />

4. <strong>Die</strong> politische Transformations- und Gestaltungsleistung<br />

auf dem Weg zur (marktwirtschaftlichen) Demokratie. Sie<br />

wird in dem alle zwei Jahre erscheinenden Bertelsmann<br />

Transformation Index (BTI) für 119 Entwicklungs- und<br />

Transformationsländer am besten dokumentiert (www.<br />

bertelsmann-transformation-index.de). Sie würde auch dadurch<br />

unterstrichen und glaubwürdiger, wenn – auf Afrika<br />

bezogen – möglichst alle Länder den NEPAD-African Peer<br />

Review Mechanism akzeptierten (www.nepad.org).<br />

5. Korruption. Der wichtigste Index, der Korruptionswahrnehmungsindex,<br />

wird von Transparency International jährlich<br />

neu erstellt (www.transparency.org).<br />

6. <strong>Die</strong> ODA-Quote 5 für Demokratie und good governance fördernde,<br />

die Parlamente stärkende und menschenrechtsorientierte<br />

Programme. Erste Daten bietet die vom Entwicklungsausschuss<br />

(DAC) der Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) neu eingeführte<br />

übersektorale Kennung Participatory development/good governance<br />

(www.oecd.org/dac).<br />

5 Anteil der öffentlichen Mittel für Entwicklungszusammenarbeit (Official<br />

Development Assistance, ODA).<br />

134


Schlussfolgerungen<br />

Schlussfolgerungen und Orientierungen für das politische<br />

Handeln sind:<br />

Diktaturen sind nicht akzeptabel, weil sie grundlegenden<br />

menschlichen Werten widersprechen.<br />

Langfristig gibt es keine nachhaltige und menschenwürdige<br />

Entwicklung ohne demokratische Freiheiten und ohne Respektierung,<br />

Schutz und Förderung der Menschenrechte.<br />

Vornehmste Aufgabe der Entwicklungspolitik ist es, zu einer<br />

demokratieorientierten und menschenrechtsbasierten<br />

Entwicklung beizutragen.<br />

<strong>Die</strong> dauerhafte Erreichung der meisten MDGs wird durch<br />

diktatorisch regierte Staaten, durch bad governance und<br />

Missachtung der Freiheitsrechte der Menschen behindert,<br />

wenn nicht sogar verhindert.<br />

<strong>Die</strong> Erreichung der MDGs muss mit der Förderung von<br />

Demokratie, Menschenrechten und good governance verbunden<br />

werden. Dabei lehrt die Erfahrung, dass beim Verfolgen<br />

dieser Ziele Erfolge nicht kurzfristig zu erreichen<br />

sind, Rückschritte immer wieder vorkommen und bei der<br />

Ko operation mit Regierungen oft Kompromisse eingegangen<br />

werden müssen, weil deren Reformorientierung nicht<br />

realistisch eingeschätzt werden kann (vgl. Messner/Scholz<br />

2005, 36).<br />

Bei konfligierenden Interessen (etwa Verfolgung eigener<br />

wirtschaftlicher Interessen oder Transfers umweltfreundlicher<br />

Technologien in das kommunistische China) muss gegenüber<br />

Diktatoren und bad performers dennoch eine klare<br />

Sprache gesprochen und gegebenenfalls auch zu Sanktionen<br />

gegriffen werden. Dazu kann auch der Stopp der entwicklungspolitischen<br />

Zusammenarbeit gehören; die Unterstützung<br />

der Not leidenden Bevölkerung, von Reformkräften<br />

oder Organisationen der Zivilgesellschaft sollte gleichwohl<br />

aufrechterhalten werden.<br />

135


Literatur<br />

Bertelsmann Stiftung (Hg.), 2005: Bertelsmann Transformation Index 2006.<br />

Politische Gestaltung im internationalen Vergleich. Gütersloh (www.<br />

bertelsmann-transformation-index.de/fileadmin/pdf/BTI_2006_<br />

Broschuere_D_gesamt.pdf, 21.7.06).<br />

BMZ (Hg.), 1995: Zehnter Bericht zur Entwicklungspolitik der Bundesregierung,<br />

in: Deutscher Bundestag, Drucksache 13/3342, 14.12.95.<br />

BMZ (Hg.), 2001: Armutsbekämpfung – eine globale Aufgabe. Aktionsprogramm<br />

2015. Der Beitrag der Bundesregierung zur weltweiten<br />

Halbierung extremer Armut. Bonn.<br />

BMZ (Hg.), 2002: Das Abkommen von Cotonou – Neue Wege in der AKP-<br />

EG-Partnerschaft (Materialien, Nichtregierungsorganisationen 118).<br />

Bonn.<br />

BMZ, 2006: Schriftliche Stellungnahme des BMZ zur AwZ-Anhörung zum<br />

Thema »Regierungsführung als Herausforderung für die Entwicklungszusammenarbeit«<br />

am 28.6.06, Bundestags-Ausschuss für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung, Drs. 16 (19) 77.<br />

Europäische Union, 2005: Der Europäische Konsens über die Entwicklungspolitik<br />

(Gemeinsame Erklärung des Rates und der im Rat vereinigten<br />

Vertreter der Regierungen der Mitgliedstaaten, des Europäischen<br />

Parlaments und der Kommission zur Entwicklungspolitik der<br />

Europäischen Union). Brüssel (http://ec.europa.eu/comm/development/body/development_policy_statement/docs/edp_statement_<br />

oj_24_02_2006_de.pdf, 8.8.06).<br />

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House’s Annual Global Survey of Political Rights and Civil Liberties,<br />

in: www.freedomhouse.org/template.cfm?page=15&year=2005,<br />

12.06.06.<br />

Hermle, Reinhard, 2006: <strong>Die</strong> Rolle der NRO bei der Armutsbekämpfung,<br />

in: Kommunikation Global/Communicate Worldwide, hg. v. Inter<br />

Press Service Europe, Jg. 7/74, S. 38–39 (www.komglobal.info/download/2006/pdf/ausgabe_74.pdf,<br />

20.7.06).<br />

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on the United Nations Convention to Combat Desertification.<br />

Bonn (www.unccd.int/parliament/data/bginfo/PPRT(eng).pdf,<br />

20.7.06).<br />

136


Holtz, Uwe, 2006: Editorial, in: Kommunikation Global/Communicate<br />

Worldwide, hg. v. Inter Press Service Europe, Jg. 7/74, S. 4–5. (www.<br />

komglobal.info/download/2006/pdf/ausgabe_74.pdf, 20.7.06).<br />

IPU (Hg.), 1998: Democracy: Its Principles and Achievement. Genf (www.<br />

ipu.org/cnl-e/161-dem.htm, 9.8.06).<br />

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Kortmann, Karin, 2006: Anstehende Aufgaben für die deutsche und europäische<br />

Ebene bei der Umsetzung der MEZ, in: Kommunikation<br />

Global/Communicate Worldwide, hg. v. Inter Press Service Europe,<br />

Jg. 7/74, S. 21–23 (www.komglobal.info/download/2006/pdf/ausgabe_74.pdf,<br />

20.7.06).<br />

Messner, Dirk/Imme Scholz (Hg.), 2005: Zukunftsfragen der Entwicklungspolitik.<br />

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Nuscheler, Franz, 2005: Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik<br />

5., völlig neu bearb. Aufl., Bonn.<br />

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für eine gerechtere Welt. München.<br />

Sachs, Jeffrey D., 2005b: Investing in Development. A Practical Plan to<br />

Achieve the <strong>Millennium</strong> Development Goals (UN <strong>Millennium</strong> Project).<br />

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SEF (Stiftung Entwicklung und Frieden) (Hg.), 1991: <strong>Die</strong> Herausforderung<br />

des Südens. Bericht der Südkommission. Bonn.<br />

UN, 2002: Bericht der Internationalen Konferenz über Entwicklungsfinanzierung.<br />

Monterrey (Mexiko), 18.–22. März 2002, A/CONF. 198/11<br />

(www.un.org/depts/german/conf/ac198-11.pdf, 21.7.06).<br />

UNDP, 2002: Bericht über die menschliche Entwicklung. Stärkung der Demokratie<br />

in einer fragmentierten Welt. Bonn.<br />

World Bank, 1989: Sub-Saharan Africa. From Crisis to Sustainable Growth.<br />

Washington D.C.<br />

137


KARIN KÜBLBÖCK<br />

Schmerztherapie statt<br />

Ursachenbekämpfung?<br />

Eine strukturelle Kritik an den<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>n<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />

Goals, MDGs) bilden heute eine der wesentlichen Grundlagen<br />

für Entwicklungszusammenarbeit. Sie werden sowohl von offizieller<br />

Seite als auch von zahlreichen Akteuren der Zivilgesellschaft<br />

als Rahmen für entwicklungspolitische Strategien<br />

anerkannt. Das Ausmaß der Weltarmut als »größtes Verbrechen<br />

gegen die Menschlichkeit« (Pogge 2004) wird damit wieder<br />

stärker ins Licht der Öffentlichkeit gerückt. <strong>Die</strong>ser Artikel<br />

stellt die Frage, ob die MDGs etwas zur Beseitigung der strukturellen<br />

Ursachen von Armut beitragen werden; er kommt<br />

zum Schluss, dass die Chance hierfür gering ist, da die Strategien<br />

zur Erreichung der MDGs die wesentlichen Ursachen von<br />

Armut ausblenden. <strong>Die</strong> Ausführungen beziehen sich hauptsächlich<br />

auf Ziel 1, die Halbierung der absoluten Armut, da<br />

dieses das zentrale Ziel darstellt, an dem man die Erfüllung des<br />

Gesamtprojektes im Jahr 2015 messen wird.<br />

Entstehung der Ziele<br />

Der UN-<strong>Millennium</strong>gipfel in New York im Jahr 2000 bildete<br />

den Höhepunkt der in den 1990er Jahren organisierten acht<br />

großen Weltkonferenzen, die sich mit den zentralen Problemen<br />

der Welt befassten, darunter der »Erdgipfel« in Rio 1992,<br />

der Weltsozialgipfel in Kopenhagen 1995, die Weltfrauenkon-<br />

138


ferenz in Beijing 1995 und der Welternährungsgipfel in Rom<br />

1996. <strong>Die</strong> wesentlichen Inhalte der in diesem Jahrzehnt formulierten<br />

Deklarationen wurden auf dem New Yorker Gipfel<br />

zur <strong>Millennium</strong>-Erklärung zusammengeführt. Armutsbeseitigung,<br />

Friedenserhaltung und Umweltschutz wurden als die<br />

vordringlichsten Aufgaben der internationalen Gemeinschaft<br />

im neuen Jahrhundert bestätigt. <strong>Die</strong> Vereinten Nationen (UN),<br />

der Internationale Währungsfonds (IWF), die Weltbank sowie<br />

die Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(OECD) einigten sich in der Folge auf der Grundlage<br />

des Kapitels »Entwicklung und Armutsbeseitigung« der Millenium-Erklärung<br />

auf die MDGs, die von allen Mitgliedstaaten<br />

unterzeichnet wurden. Damit wurde erstmals auf internationaler<br />

Ebene ein gemeinsamer und überprüfbarer Zielkatalog<br />

mit konkreten Zeitvorgaben geschaffen.<br />

<strong>Die</strong> MDGs können als ein Versuch gesehen werden, die entwicklungspolitische<br />

Resignation der 1990er Jahre zu überwinden<br />

und eine neue Dynamik für konzertierte Aktionen zu erzeugen.<br />

<strong>Die</strong> Rechnung scheint aufzugehen: Nicht nur die Vereinten<br />

Nationen in ihrer <strong>Millennium</strong> Campaign, sondern auch<br />

zahlreiche zivilgesellschaftliche Akteure machten die MDGs<br />

weltweit zum Gegenstand von Aufrufen und Aktionen (vgl.<br />

den Beitrag von Roth). Das Ausmaß der Armut und die dringende<br />

Steigerung der Mittel für Entwicklungsfinanzierung<br />

rücken durch die Mobilisierung rund um die MDGs wieder<br />

vermehrt ins öffentliche Bewusstsein.<br />

<strong>Die</strong> gesteigerten Mittel für Entwicklungszusammenarbeit,<br />

die seit Beginn des neuen Jahrtausends zu verzeichnen sind,<br />

sind sicherlich auch auf den durch die MDGs wachsenden internationalen<br />

Druck zurückzuführen. Von großen Veränderungen<br />

zu sprechen wäre bis jetzt dennoch übertrieben: Nach<br />

einem Jahrzehnt sinkender Mittel für öffentliche Entwicklungszusammenarbeit<br />

(ODA) der Mitglieder des Entwicklungsausschusses<br />

(DAC) der OECD erreichten diese mit 0,33 % des Bruttonationaleinkommens<br />

(BNE) im Jahr 2005 wieder das Niveau<br />

139


vom Beginn der 1990er Jahre. Zurückzuführen sind die Erhöhungen<br />

im Jahr 2005 jedoch hauptsächlich auf Schuldenerlasse<br />

für den Irak und Nigeria sowie auf die Tsunami-Hilfe – also<br />

nicht auf unmittelbare Strategien zur MDG-Erreichung. Für<br />

die beiden Folgejahre prognostiziert die OECD wieder einen<br />

ODA-Rückgang (OECD 2006).<br />

Fortschritt oder Rückschritt?<br />

Der sowohl zeitlich als auch quantitativ überprüfbare Zielkatalog<br />

kann im Vergleich zu vorherigen Willensäußerungen der<br />

internationalen Gemeinschaft als klarer Fortschritt bezeichnet<br />

werden. Kommentatoren verweisen jedoch auf Rückschritte auf<br />

anderen Ebenen: So sei im Kontrast zur UN-Tradition die Formulierung<br />

ohne den üblichen Diskussionsprozess in den verschiedenen<br />

Gremien erfolgt. Eine Errungenschaft der Konferenzen<br />

der 1990er Jahre war zudem die Einbindung von zivilgesellschaftlichen<br />

Organisationen in die Vorbereitungsprozesse.<br />

Eine solche Beteiligung gab es im Vorfeld der Formulierung<br />

der <strong>Millennium</strong>-Erklärung nicht (Amin 2006). Insbesondere feministische<br />

Organisationen kritisieren den Rückschritt bei Zielen,<br />

die die Geschlechtergerechtigkeit betreffen. So kommen<br />

sexuelle und reproduktive Rechte nicht vor, und kein Indikator<br />

betrifft die Einkommensverteilung zwischen Männern und<br />

Frauen (Antrobus 2004; vgl. den Beitrag von Wittmann).<br />

Ein aufschlussreiches Beispiel dafür, dass der Teufel oft im<br />

(statistischen) Detail steckt, ist die Formulierung des ersten<br />

Zieles: War in der Abschlussdeklaration des Welternährungsgipfels<br />

von Rom (1996) noch das Ziel der Halbierung der aktuellen<br />

Anzahl der an Hunger leidenden Menschen bis zum Jahr<br />

2015 enthalten, ist in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung nur noch vom<br />

Anteil der Bevölkerung die Rede. Statt der Angabe »aktuell«<br />

(sprich: 2000) haben die MDGs das Jahr 1990 als Referenzjahr.<br />

Da die Gesamtbevölkerung im Vergleich zu 1990 bis zum Jahr<br />

140


2015 beträchtlich steigen wird, ist der tolerierbare Anteil der<br />

Armen wesentlich höher, als die Hälfte der 1996 in absoluter<br />

Armut lebenden Personen. Außerdem war weltweit gesehen<br />

die Armut zwischen 1990 und 2000 durch die wirtschaftliche<br />

Entwicklung Chinas und Indiens bereits zurückgegangen:<br />

<strong>Die</strong>se zehn Jahre werden nun schon in die angestrebte Reduktion<br />

eingerechnet. Durch diese beiden Änderungen wird die<br />

tolerierbare Zahl der absolut Armen im Vergleich zur Rom-<br />

Deklaration von 550 auf 880 Mio. erhöht und die zu reduzierende<br />

Anzahl der absolut armen Menschen um mehr als 60 %<br />

gesenkt (Pogge 2003; Reddy/Pogge 2005; Wade 2003a).<br />

Auch die Verwendung der 1 US-$ pro Tag-Grenze – bezogen<br />

auf die Kaufkraft eines Dollars in den USA im Jahr 1999<br />

(vor 1999 war das Referenzjahr 1985) – als Definition für absolute<br />

Armut wird weithin als willkürlich und viel zu niedrig<br />

eingeschätzt (Pogge 2004; Woodward/Sims 2006; Wade 2003a;<br />

Socialwatch 2005). Allein die Änderung des Bezugsjahres von<br />

1985 auf 1999 hat in 77 von 92 untersuchten Ländern die Armutsgrenze<br />

signifikant gesenkt und somit auch die Anzahl der<br />

Menschen, die darunter lagen (Pogge 2003). Da das Bezugsjahr<br />

der MDGs das Jahr 1990 ist, hat diese Änderung der Statistik<br />

wesentliche Auswirkungen. Auf ihrer Basis verkündete der damalige<br />

Weltbankpräsident Wolfensohn im Jahr 2001 eine Reduktion<br />

der Armen um 200 Mio. zwischen 1980 und 2000. Kalkuliert<br />

man stattdessen mit der (immer noch niedrigen) Grenze<br />

von 2 US-$ pro Tag, ist die Anzahl der Armen zwischen 1980<br />

und 2001 um 12 % gestiegen. Statt die zu niedrige Grenze von<br />

1 US-$ pro Tag zu verwenden, wäre es deshalb aussagekräftiger,<br />

höhere Grenzen zu verwenden und nationale Armutsindikatoren<br />

mit einzubeziehen, die eher die reale Lebenssituation<br />

widerspiegeln.<br />

<strong>Die</strong> beschriebenen Details der statistischen »Anpassung«<br />

werfen die Frage auf, wie sehr die »Erreichung« der MDGs<br />

vorrangig der politischen Legitimation des derzeitigen Weltwirtschaftssystems<br />

zu dienen hat. Denn die Tatsache, dass in<br />

141


einer Welt mit Nahrungsmittelüberproduktion, hohem technologischen<br />

Fortschritt und Produktivitätszuwächsen die Hälfte<br />

der Bevölkerung ihre dringendsten Grundbedürfnisse nicht<br />

erfüllen kann, stellt eben dieses Weltwirtschaftssystem zunehmend<br />

in Frage und ist eine Hauptursache für soziale und politische<br />

Instabilität.<br />

Quick fixes für Armut?<br />

Wie stark dieser Legitimationsbedarf ist, zeigt auch der Abschlussbericht<br />

des UN-<strong>Millennium</strong>projektes (UN <strong>Millennium</strong><br />

Project 2005), der von Jeffrey Sachs koordiniert wurde, sowie die<br />

Publikation The End of Poverty desselben Autors (Sachs 2005).<br />

Sachs wird nicht müde, über einen big push – also eine drastische<br />

Erhöhung der Finanzmittel – das Ende der big problems<br />

(Easterly 2006) bewirken zu wollen. »Das Ende der Armut ist<br />

in Reichweite – innerhalb unserer Generation – aber nur, wenn<br />

wir die vor uns liegende Gelegenheit ergreifen.« 1 (Sachs 2005,<br />

25). <strong>Die</strong> Basis für die big push-Theorie ist die Idee der »Armutsfalle«,<br />

beruhend auf den Annahmen fehlenden Sparvolumens<br />

der Armen, hohen Bevölkerungswachstums und steigender Ertragsraten<br />

bei geringer Kapitalausstattung. 2 Der Bericht erinnert<br />

damit stark an die modernisierungstheoretischen Ansätze<br />

der 1950er und 1960er Jahre (Martens 2005; Easterly 2006). 3<br />

Eine signifikante Erhöhung der ODA soll laut Jeffrey Sachs<br />

den Kapitalstock in den Entwicklungsländern erhöhen und<br />

eine Entwicklungsdynamik in Gang setzen. Des Weiteren<br />

schlägt Sachs eine Reihe von quick win-Initiativen vor, wie bei-<br />

1 Übersetzung durch die Redaktion.<br />

2 Nach Annahme der neoklassischen Theorie sind gerade bei geringem Kapitalbestand<br />

aufgrund der großen Produktivitätssteigerungen, die durch<br />

Investitionen erreicht werden, die Erträge aus diesen Investitionen höher.<br />

3 Ein Referenzwerk ist zum Beispiel »Stages of Economic Growth« von Walt<br />

Whitman Rostow (1960).<br />

142


spielsweise die Verteilung von Moskitonetzen an alle Kinder<br />

in Malariagebieten oder die Abschaffung des Schulgelds in<br />

Grundschulen. <strong>Die</strong>se Vorschläge sind zweifellos wichtig und<br />

sollten umgesetzt werden – strukturelle Ursachen von Armut<br />

bleiben dabei jedoch ausgeblendet.<br />

Armut als technisches Problem –<br />

Entpolitisierung der Armutsdebatte<br />

Zahlreiche Untersuchungen in den vergangenen Jahrzehnten<br />

konnten keinen kausalen Zusammenhang zwischen höheren<br />

ODA-Mitteln und steigendem Wachstum feststellen (einen<br />

Überblick über diverse Studien gibt Easterly 2003). Im Verhältnis<br />

zur Wirtschaftsleistung hat Afrika in den vergangenen Jahrzehnten<br />

die meisten Mittel erhalten, die Wachstumsraten waren<br />

jedoch die niedrigsten weltweit. Daraus ist zu schließen,<br />

dass ein höherer Mittelzufluss allein für den big push nicht ausreicht.<br />

Fehlendes Wachstum und hohe Armutsraten sind auf<br />

viele komplexe wirtschaftliche, politische und soziale Faktoren<br />

zurückzuführen. Dabei sind sowohl interne als auch externe<br />

Rahmenbedingungen ausschlaggebend.<br />

Armut ist kein technisches Problem, wie es der Sachs-<br />

Report nahe legt. <strong>Die</strong> Formulierung und Umsetzung von Armutsminderungsstrategien<br />

ist mehr als eine Frage von fehlenden<br />

Mitteln – sie ist vor allem eine politische Angelegenheit. Es<br />

geht um Macht und Einfluss, um die Fragen, wie einflussreiche<br />

Gruppen (einschließlich Geberorganisationen) einer Veränderung<br />

gegenüberstehen, welche Interessen die Regierung vertritt,<br />

welche Akteure durch bestimmte Maßnahmen gewinnen<br />

bzw. verlieren, etc. <strong>Die</strong> Darstellung der Armutsproblematik<br />

als technische statt gesellschaftspolitische Frage trägt wesentlich<br />

zu einer Entpolitisierung der Debatte um Armutsminderung<br />

bei und zeugt damit paradoxerweise gleichzeitig von ihrem<br />

hoch politischen Charakter: <strong>Die</strong> Gewinner des derzeitigen<br />

143


Weltwirtschaftssystems – die reichsten Staaten und ihre Transnationalen<br />

Unternehmen – haben genügend Einfluss, um der<br />

Formulierung von Forderungen nach strukturellen Veränderungen<br />

vorzubeugen.<br />

Armut getrennt von Reichtum?<br />

Ein wesentliches Merkmal der weltweiten Entwicklung der<br />

vergangenen 20 Jahre ist der enorme Anstieg der Ungleichheit<br />

– sowohl zwischen als auch innerhalb einzelner Länder – dieser<br />

Anstieg betrifft zwei Drittel der Länder mit verfügbaren Daten<br />

(WIDER 2004a). Rund 70 % der globalen Einkommensungleichheit<br />

ist auf Einkommensunterschiede zwischen Ländern<br />

zurückzuführen (UN/DESA 2006). Das Pro-Kopf-Einkommen<br />

der reichsten Länder ist mit fast 28.000 US-$ 94-mal höher als<br />

das Pro-Kopf-Einkommen der 48 ärmsten Länder (298 US-$),<br />

wobei das Pro-Kopf-Einkommen der reichsten Länder in den<br />

1990er Jahren um 6.000 US-$ gestiegen, in den ärmsten Ländern<br />

in der gleichen Zeit um 30 US-$ gesunken ist (UNDP<br />

2003). Doch auch innerhalb einzelner Länder ist die Verteilungsungleichheit<br />

frappierend, insbesondere in Lateinamerika<br />

und Afrika (Fues 2006).<br />

Das UNDP weist seit Jahren auf das groteske Ausmaß dieser<br />

Situation hin: So hätten etwa die zehn reichsten Personen<br />

der Welt 2002 mit einer 5 %-igen Rendite auf ihr Vermögen<br />

das gesamte Einkommen der 37 Mio. Einwohner in Tansania<br />

in diesem Jahr erwirtschaftet (WIDER 2004b). <strong>Die</strong>se beunruhigende<br />

Entwicklung wird – nach einer Zeit, in der das Thema<br />

aus der akademischen und politischen Debatte weitgehend<br />

ausgeklammert war – durch zunehmende Forschungsanstrengungen<br />

dokumentiert. 4<br />

4 Einen Überblick über verschiedene Forschungsstränge geben Kanbur/<br />

Lustig (1999).<br />

144


<strong>Die</strong> lange Ausblendung des Themas ist auch darauf zurückzuführen,<br />

dass ungleiche Verteilung lange Zeit als wachstumsförderlich<br />

angesehen wurde, 5 da dadurch die Investitionsbereitschaft<br />

steige (wohlhabende Schichten investieren eher<br />

als Arme, die ihr Einkommen für Konsum aufwenden) und<br />

in Folge auch das Einkommen der ärmeren Schichten (trickle<br />

down-Ansatz). Zudem vergrößere sich der Anreiz für Menschen<br />

am unteren Ende der Einkommensskala zu mehr Leistung,<br />

um ein höheres Einkommen zu erlangen. Oder, um es mit<br />

Margaret Thatcher zu sagen: »Es ist unsere Aufgabe, Ungleichheit<br />

zu glorifizieren, und dafür zu sorgen, dass sich Talente<br />

und Fähigkeiten zu unser aller Nutzen ›Luft machen‹ und ihren<br />

Ausdruck finden.« (zit. n. Wade 2004, 582).<br />

Mittlerweile hat sich aber die Erkenntnis durchgesetzt, dass<br />

Ungleichverteilung nicht nur ein moralisches, sondern auch ein<br />

ökonomisches Problem darstellt. Empirische Untersuchungen<br />

kommen zunehmend zu dem Ergebnis, dass ein hohes Ausmaß<br />

an Einkommensungleichheit Wachstum bremst (Stewart<br />

2000). 6 Ein Grund hierfür ist, dass bei einem hohen Ausmaß an<br />

Ungleichheit große Teile der Bevölkerung vom Zugang zu produktiven<br />

Tätigkeiten ausgeschlossen sind (UNDP 2002), unter<br />

anderem durch fehlende Bildungs- und Kreditmöglichkeiten.<br />

Wenn Einkommen und Vermögen in einer Gesellschaft sehr<br />

ungleich verteilt sind, schmälert dies aber nicht nur das Wachstumspotenzial,<br />

sondern das erreichte Wachstum trägt auch viel<br />

weniger zur Armutsminderung bei als in egalitäreren Gesellschaften<br />

(WIDER 2004a).<br />

In internationale Politikformulierungen hält diese Erkenntnis<br />

bisher jedoch keinen Einzug. Auch in den MDGs finden<br />

Verteilungsindikatoren trotz der ökonomischen Sinnhaftigkeit<br />

5 Sehr einflussreich waren in diesem Zusammenhang die Thesen des Ökonomen<br />

Simon Kuznets (1955).<br />

6 Auch die Weltbank kommt mittlerweile zu diesem Schluss, auch wenn sie<br />

Ungleichheit auf Chancenungleichheit beschränkt (Weltbank 2005).<br />

145


keinen Platz. Neben der personellen Einkommensverteilung<br />

wäre ein genauerer Blick auf die Verteilung zwischen den Produktionsfaktoren<br />

lohnenswert. Durch die gestiegene Mobilität<br />

des Produktionsfaktors Kapital im Vergleich zum Faktor Arbeit<br />

ist die Verhandlungsmacht des ersteren massiv verstärkt<br />

worden (UNDP 2002), real sichtbar in weltweit sinkenden Unternehmenssteuern<br />

trotz steigender Gewinne sowie sinkenden<br />

Reallöhnen auch im Falle von Produktivitätssteigerungen<br />

(zum Beispiel in Mexiko und der Türkei) (Onaran 2005).<br />

Für die Integration von Verteilungszielen in die MDGs gäbe<br />

es eine Reihe von Möglichkeiten: Sinnvoll wäre etwa die Berücksichtung<br />

des Gini-Koeffizienten 7 als traditionelles Maß<br />

der Einkommensverteilung innerhalb eines Landes. Kaushik<br />

Basu (2004) schlägt als weitere Messgröße das Einkommenswachstum<br />

der ärmsten 20 % der Bevölkerung vor. Um die Einkommensverteilung<br />

zwischen den Produktionsfaktoren zu berücksichtigen,<br />

könnte die Entwicklung der Lohn- und Gewinnquote<br />

sowie der Reallöhne bzw. der Lohnstückkosten in die<br />

Zielformulierungen miteinbezogen werden.<br />

Ausblendung weltwirtschaftlicher<br />

Rahmenbedingungen<br />

Auf den Weltkonferenzen der 1990er Jahre wurde eine Vielfalt<br />

von Themen behandelt, die in der Folge auch Eingang in die<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung fanden. Auffallend dabei ist, dass das<br />

Thema Weltwirtschaft systematisch ausgespart wurde. Dagegen<br />

wurde noch in den 1970er Jahren im Rahmen der UN-Kon-<br />

7 Der Gini-Koeffizient ist ein statistisches Maß für Verteilungsgleichheit.<br />

Der Wert kann beliebige Größen zwischen 0 und 1 annehmen. Je näher der<br />

Gini-Koeffizient an 1 ist, desto größer ist die Ungleichheit. Der Gini-Koeffizient<br />

alleine ist allerdings auch nur bedingt aussagekräftig und sollte mit<br />

anderen Indikatoren kombiniert werden (siehe zum Beispiel http://www.<br />

umverteilung.de/verteilung.htm).<br />

146


ferenzen die Debatte über eine ungerechte Weltwirtschaftsordnung<br />

und deren notwendige Neugestaltung mit einiger Intensität<br />

geführt (vgl. die Resolution der UN-Generalversammlung<br />

zur Herstellung einer neuen Weltwirtschaftsordnung aus dem<br />

Jahr 1974). <strong>Die</strong> Gründung der UN-Konferenz für Handel und<br />

Entwicklung (UNCTAD) sowie die Formierung der G77 im<br />

Jahr 1964 waren Ausdruck dieser politischen Konjunktur, in der<br />

viele ehemalige Kolonien und nun autonome Staaten Selbstbewusstsein<br />

gewannen und auf eine neue weltwirtschaftliche Arbeitsteilung<br />

drängten.<br />

Für die Entwicklungsländer ging es in diesen Debatten unter<br />

anderem um<br />

die Anerkennung des Anspruchs, über ihre natürlichen<br />

Ressourcen selbst zu bestimmen und ausländische Unternehmungen<br />

zu regulieren;<br />

die Zusage der Industrieländer für einen Technologietransfer<br />

zu günstigen Konditionen;<br />

Vereinbarungen zur Stabilisierung der Exporterlöse, unter<br />

anderem durch den Abschluss von Rohstoffpreisabkommen;<br />

ein größeres Mitspracherecht in IWF und Weltbank (UN<br />

1974; Brock 2001).<br />

<strong>Die</strong> Aktualität dieser Forderungen ist heute um nichts geringer<br />

als vor 30 Jahren. <strong>Die</strong> ökonomische Situation der am wenigsten<br />

entwickelten Länder (least developed countries, LDCs) ist zumeist<br />

noch von fehlender Diversifizierung der Wirtschaft, hoher Arbeitslosigkeit<br />

und der Abhängigkeit von wenigen Exportprodukten<br />

gekennzeichnet. Dennoch sind die strukturellen Fragen<br />

der internationalen Arbeitsteilung aus der internationalen<br />

Debatte verschwunden und bei der »zweiten Generation« der<br />

Weltkonferenzen vernachlässigt worden.<br />

<strong>Die</strong> Abkehr von der Debatte über die ungerechte Weltwirtschaftsordnung<br />

erfolgte in den 1980er Jahren durch einen ideologischen<br />

und politischen Umschwung. <strong>Die</strong>ser ist auf zahlreiche<br />

Faktoren zurückzuführen, die in der Literatur ausrei-<br />

147


chend dokumentiert sind (Schui/Blankenburg 2002; Harvey<br />

2005; Onaran 2005). Als Hebel für eine Politikänderung von<br />

Seiten der Industrieländer wurde insbesondere die Verschuldungskrise<br />

Anfang der 1980er Jahre genutzt. Sie schwächte die<br />

internationale Verhandlungsposition der Entwicklungsländer<br />

und stellte einen Wendepunkt in der Nord-Süd-Auseinandersetzung<br />

dar. <strong>Die</strong> UNCTAD büßte ihre Rolle als Forum für Verhandlungen<br />

über die Gestaltung der Weltwirtschaft ein (Brock<br />

2001). An ihre Stelle traten IWF und Weltbank, die allein durch<br />

die ungleiche Stimmverteilung von den großen Industrieländern<br />

zur Durchsetzung ihrer Interessen genutzt werden konnten.<br />

<strong>Die</strong> von der G77 initiierte Debatte über eine gerechtere<br />

Weltwirtschaft wurde abgelöst durch die von IWF und Weltbank<br />

verordnete Anpassung an die Anforderungen des Weltmarktes.<br />

Der Zusammenbruch der realsozialistischen Länder<br />

beschleunigte zusätzlich noch die ideologische und diskursive<br />

Fixierung auf Marktöffnung und Weltmarktorientierung als<br />

einzig praktikablem Entwicklungsmodell.<br />

Während in den 1960er und 1970er Jahren die endogenen<br />

Ursachen fehlender Entwicklung zu wenig Berücksichtigung<br />

fanden, drehte sich die Debatte in der Folge einseitig um Eigenverantwortung.<br />

Gute Regierungsführung und Weltmarktintegration<br />

wurden zu zentralen Faktoren für Entwicklung stilisiert.<br />

So wird man auch im Zusammenhang mit den MDGs<br />

nicht müde, die Selbstverantwortung der Entwicklungsländer<br />

in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit zu rücken. Auch der<br />

erwähnte Abschlussbericht des <strong>Millennium</strong>projekts Investing<br />

in Development, ein »praktischer Plan, um die <strong>Millennium</strong>sziele<br />

zu erreichen« (UN <strong>Millennium</strong> Project 2005), sieht die Hauptverantwortung<br />

für das bisherige Verfehlen der MDGs im Versagen<br />

der Regierungen und mangelndem Problembewusstsein<br />

der Entwicklungsländer.<br />

Unerwähnt bleibt, dass der eigenverantwortliche Handlungsspielraum<br />

der ärmsten Länder durch ein enges Korsett<br />

an wirtschaftspolitischen Vorgaben – geschnürt von den Inter-<br />

148


nationalen Finanzinstitutionen, der Welthandelsorganisation<br />

(WTO) und durch bilaterale Handels- und Investitionsabkommen<br />

– erheblich eingeschränkt ist. So werden Entschuldung und<br />

neue Kredite der internationalen Finanzinstitutionen an wirtschaftspolitische<br />

Reformen wie etwa die Privatisierung von Infrastruktur<br />

und die Liberalisierung des Außenhandels und des<br />

Finanzmarkts geknüpft. Auch die WTO-Verträge verhindern<br />

durch die festgeschriebene Öffnung der Güter- und <strong>Die</strong>nstleistungsmärkte<br />

in vielen Fällen eine auf den Binnenmarkt ausgerichtete<br />

Wirtschaftspolitik (Wade 2003b). <strong>Die</strong> stark wachsende<br />

Anzahl bilateraler Investitionsabkommen in den vergangenen<br />

Jahren führte in vielen Fällen zu einer Bevorzugung internationaler<br />

gegenüber heimischen Investoren (Bellak/Küblböck<br />

2004). <strong>Die</strong>ses enge wirtschaftspolitische Korsett wird trotz<br />

zahlreicher empirischer Ergebnisse und Erfahrungen (vgl. Kasten<br />

»Entwicklungserfahrungen«) als Ursache für mangelnde<br />

Entwicklungsfortschritte beständig ignoriert. Während also einerseits<br />

die Interdependenzen in einer globalisierten Weltwirtschaft<br />

vielfältig thematisiert werden, werden diese im aktuell<br />

dominanten Entwicklungsdiskurs ausgeblendet.<br />

Beschränkte Partnerschaft<br />

<strong>Die</strong> in Ziel 8 (Aufbau einer globalen Partnerschaft für Entwicklung)<br />

formulierten Versprechen der Industrieländer in Bezug<br />

auf ODA-Steigerung, Entschuldung, Marktzugang und Technologietransfer<br />

sind im Hinblick auf die internationalen Rahmenbedingungen<br />

zwar wichtig, werden jedoch – selbst wenn<br />

sie erfüllt werden – kaum dazu beitragen, die strukturellen Ursachen<br />

der Armut zu beseitigen. Höhere Finanzmittel werden<br />

ohne begleitende Industriepolitik nicht zu höherem Wachstum<br />

führen. <strong>Die</strong> mehr als notwendige Entschuldung wird an die<br />

Durchführung von ökonomisch nachteiligen Konditionalitäten<br />

geknüpft, wie zum Beispiel die Liberalisierung des Agrarsek-<br />

149


tors (Gaynor 2005). Von der versprochenen Marktöffnung werden<br />

insbesondere die ärmsten Entwicklungsländer aufgrund<br />

der mangelnden Konkurrenzfähigkeit ihrer Produkte nicht<br />

profitieren können.<br />

Entwicklungserfahrungen<br />

Ein Blick auf die Entwicklung der heute reichen Länder<br />

zeigt, dass kein einziges Land die heute propagierten Rezepte<br />

selbst befolgt hat (Chang 2002; Reinert 2006). <strong>Die</strong> beiden<br />

Länder, die den meisten Protektionismus betrieben, um<br />

ihre Wirtschaft zu entwickeln, sind Großbritannien und die<br />

USA selbst. Von 1830 bis 1945 hielten die USA ihre Zolltarife<br />

auf einem Niveau, das zu den höchsten der Welt gehörte.<br />

Erst nachdem die unbestrittene Vorherrschaft gesichert war,<br />

wurden die Handelsbeziehungen liberalisiert. Wie die Auseinandersetzungen<br />

in der WTO um die Agrarsubventionen<br />

zeigten, werden bis heute nicht konkurrenzfähige Sektoren<br />

geschützt bzw. unterstützt. Auch kannte beispielsweise die<br />

Schweiz bis zum Jahr 1907 kein Patentrecht. <strong>Die</strong> Niederlande<br />

schafften 1869 ihr Patentrecht mit der Begründung wieder<br />

ab, Patente seien auf politischem Wege geschaffene Monopole<br />

und daher mit den Grundsätzen des freien Marktes unvereinbar<br />

(Chang 2002). <strong>Die</strong>se geschichtliche Evidenz wird<br />

bei den aktuellen WTO-Verhandlungen geflissentlich ignoriert.<br />

Auch die südostasiatischen Tigerstaaten, die immer wieder<br />

als Vorbild für Entwicklung durch Freihandel für Länder<br />

des Südens herhalten müssen, sind einen anderen Weg<br />

gegangen. Bevor Märkte geöffnet wurden, wurde die nationale<br />

Industrie durch staatliche Maßnahmen geschützt und<br />

aufgebaut; der Export unverarbeiteter Produkte war nie ein<br />

Entwicklungsziel. <strong>Die</strong> Finanzmärkte waren bis in die 1990er<br />

Jahre strikt staatlich kontrolliert. <strong>Die</strong>se Strategien wurden<br />

auch deshalb von den westlichen Industrieländern gedul-<br />

150


det und sogar massiv subventioniert, da es galt, die Gefahr<br />

des Kommunismus zu bekämpfen.<br />

Auch China und Indien haben eine eigenständige Entwicklungsstrategie<br />

verfolgt und sich keineswegs an die Vorgaben<br />

der internationalen Finanzinstitutionen gehalten. Den<br />

ärmsten afrikanischen Ländern steht diese Möglichkeit aufgrund<br />

ihrer finanziellen Abhängigkeit jedoch nicht offen.<br />

Schlussfolgerungen<br />

Mit den öffentlichkeitswirksamen MDGs ist es gelungen,<br />

Armutsminderung wieder auf die internationale politische<br />

Agenda zu rücken. <strong>Die</strong> Erfolge, die durch die entstandene Dynamik<br />

in etlichen Ländern bei verschiedenen Teilzielen erreicht<br />

werden, sind positiv zu bewerten. Gleichzeitig reflektieren die<br />

Ziele den aktuell dominanten Entwicklungsdiskurs, in dem<br />

Armut als ein technisches Problem dargestellt wird, das unabhängig<br />

von nationalen und internationalen Rahmenbedingungen<br />

gelöst werden kann. Statt struktureller Veränderungen<br />

in den Nord-Süd-Wirtschaftsbeziehungen und in den ärmsten<br />

Ländern geht es um die Linderung der Schmerzen ihrer ökonomischen<br />

Misere (Reinert 2006).<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong>, die diesen Namen verdienen,<br />

müssten alternative weltwirtschaftliche Rahmenbedingungen<br />

anstreben. Wichtig dafür wäre eine internationale Politikkoordinierung<br />

(Pollin 2002; Onaran 2005; Wade 2003b),<br />

die Regulierung der Finanzmärkte, internationale Steuerstandards,<br />

Standards für Arbeitsmärkte, verbindliche Regeln für<br />

Transnationale Unternehmen und für entwicklungsfördernde<br />

Investitionen (Bellak/Küblböck 2004). Dadurch erst könnten<br />

Freiräume für die Formulierung von lokalen Entwicklungsstrategien<br />

sowie für verteilungspolitische Maßnahmen geschaffen<br />

werden. <strong>Die</strong> Einführung dieses politischen Rahmens<br />

wäre möglich – Voraussetzung dafür ist die Herstellung eines<br />

151


politischen Willens. Dafür wird ein gesteigerter sozialer Druck<br />

und Mobilisierung durch eine starke Zivilgesellschaft nötig<br />

sein, deren Ambitionen weit über die Erfüllung der aktuellen<br />

MDGs hinausgehen.<br />

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154


FRANZ NUSCHELER<br />

Sinnentleerung des<br />

Prinzips Nachhaltigkeit<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

haben eine ökologische Lücke<br />

<strong>Die</strong> internationale Entwicklungspolitik konzentriert sich seit<br />

Beginn des 21. Jahrhunderts auf drei miteinander verflochtene<br />

Megaprojekte:<br />

erstens die MDG-Agenda zur Reduzierung extremer Armut;<br />

zweitens eine auf der Erfahrung, dass es ohne Frieden und<br />

Rechtssicherheit keine Entwicklung geben kann, aufbauende<br />

Sicherheitsagenda zur Konfliktprävention, zum Konfliktmanagement<br />

und zur politischen Stabilisierung fragiler<br />

Staaten, die zum Sicherheitsproblem ganzer Regionen<br />

werden;<br />

drittens die Rio-Agenda, die auf der Erkenntnis beruht,<br />

dass es enge Wechselwirkungen zwischen Umweltkrisen<br />

und Armut gibt und die Stabilisierung des Weltklimas zu<br />

den vorrangig schutzbedürftigen globalen öffentlichen Gütern<br />

(global public goods) zählt. <strong>Die</strong>se Erkenntnis erforderte<br />

eine stärkere Verzahnung von Entwicklungs- und Umweltpolitik,<br />

die schon im Begriff der nachhaltigen Entwicklung<br />

(sustainable development) angelegt ist.<br />

Der UN-Generalsekretär Kofi Annan betonte in seinem Grundsatzbericht<br />

»In größerer Freiheit«, den er dem im September<br />

2005 veranstalteten <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel vorlegte, die Interdependenz<br />

dieser drei Megaprojekte, für deren Realisierung<br />

er eine besondere Verantwortung der Vereinten Nationen beanspruchte.<br />

155


Das Umweltproblem ist ein Kernproblem<br />

internationaler Entwicklung<br />

<strong>Die</strong> entwicklungspolitische Diskussion über die MDGs übersieht<br />

häufig einen elementaren Zusammenhang: <strong>Die</strong> MDGs<br />

1–6 können nicht erreicht werden, wenn das siebente MDG,<br />

nämlich der Schutz der Umwelt und die nachhaltige Nutzung<br />

der knapper werdenden natürlichen Ressourcen, vernachlässigt<br />

wird. Inzwischen wurde auch eine sicherheitspolitische<br />

Dimension des globalen Klimawandels erkannt. In einem öffentlich<br />

gewordenen Bericht des Pentagon wurden seine Auswirkungen<br />

auf die westliche Sicherheit zum Missfallen der<br />

Pentagon-Führung sogar als bedrohlicher eingeschätzt als<br />

der internationale Terrorismus. Der Bestseller-Autor Jared<br />

Diamond (2005) machte in einem voluminösen Buch über den<br />

»Kollaps« nicht Kriege, sondern den Klimawandel, Umweltschäden<br />

und die Zerstörung der natürlichen Ressourcen für<br />

den Untergang ganzer Völker verantwortlich. <strong>Die</strong>ser Prophet<br />

der Umwelt-Apokalypse mag biblische Horrorszenarien ausmalen,<br />

kann sich aber dabei auf wissenschaftlich fundierte Prognosen<br />

stützen.<br />

Umwelt- und Entwicklungsforscher haben die Gefährdung<br />

der menschlichen Sicherheit (human security) durch Umweltkrisen<br />

erkannt. Viele Menschen und besonders Frauen und<br />

Kinder sind inzwischen existenziell durch Umweltkrisen mehr<br />

betroffen als durch Kriege. <strong>Die</strong> »Feminisierung der Armut«<br />

hat neben Strukturen der Geschlechterungleichheit (vgl. den<br />

Beitrag von Wittmann) auch ökologische Ursachen. <strong>Die</strong> Zahl<br />

der Umweltflüchtlinge, die der Zerstörung ihrer Lebensgrundlagen<br />

zu entfliehen versuchen, übersteigt inzwischen die Zahl<br />

der Kriegsflüchtlinge. Prognosen des UN-Umweltprogramms<br />

(UNEP) sehen in der Umweltflucht den künftig stärksten push-<br />

Faktor von internationalen Migrationsströmen. <strong>Die</strong> United Nations<br />

University prognostiziert schon für das Jahr 2010 rund<br />

50 Mio. Umweltflüchtlinge (UNU-EHS 2005). Ob Umwelt-,<br />

156


Wirtschafts- oder Kriegsflüchtlinge: Alle werden in den potenziellen<br />

Zielländern zunehmend als Sicherheitsproblem perzipiert.<br />

Das Umweltproblem ist also kein Randproblem, sondern<br />

ein Kernproblem internationaler Entwicklung und der internationalen<br />

Politik.<br />

Analyse der Problemlage,<br />

die dem MDG 7 zugrunde liegt<br />

<strong>Die</strong> Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung (UNCED)<br />

von 1992, die bereits Entwicklung mit dem Schutz der Umwelt<br />

in einen unauflösbaren Zusammenhang gebracht hatte, rückte<br />

den Tatbestand der ökologischen Gefährdung des Planeten<br />

und der Zerstörung von natürlichen Lebensgrundlagen ins Bewusstsein<br />

einer breiteren Öffentlichkeit. <strong>Die</strong> wissenschaftlichen<br />

Erkenntnisse von internationalen Expertengruppen, die in die<br />

von UNCED verabschiedete Agenda 21 eingeflossen waren,<br />

wurden durch die Berichte des International Panel on Climate<br />

Change (IPCC), die GEO-Berichte des UN-Umweltprogramms<br />

(UNEP) und durch das <strong>Millennium</strong> Ecosystem Assessment aktualisiert<br />

und dramatisiert.<br />

<strong>Die</strong>se Erkenntnisse lagen auch dem Jahresgutachten 2004<br />

des Wissenschaftlichen Beirats der Bundesregierung Globale<br />

Umweltveränderungen (WBGU) mit dem richtungweisenden<br />

Titel »Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik« zugrunde<br />

(WBGU 2005). Im Hinblick auf die Untergewichtung der Umweltpolitik<br />

im MDG-Zielkatalog ist der Hinweis wichtig, dass<br />

dieses Gutachten der Umweltpolitik eine strategische Schlüsselrolle<br />

bei der Armutsbekämpfung zuwies. Seine Handlungsempfehlungen,<br />

die wesentlich konkreter als die Zielvorgaben<br />

und Indikatoren des MDG 7 sind, beruhten auf einer Analyse<br />

des systemischen Zusammenhangs von Armutsdimensionen<br />

und Umweltveränderungen, den die MDGs ebenfalls nicht erkennen<br />

lassen.<br />

157


<strong>Die</strong> wissenschaftlichen Erkenntnisse sind eindeutig und<br />

können selbst von ökologischen Dinosauriern kaum noch bestritten<br />

werden: <strong>Die</strong> Eingriffe des Menschen in das Ökosystem<br />

gefährden bereits heute in vielen Teilen der Erde die natürlichen<br />

Lebensgrundlagen, vor allem der Armutsgruppen und hier<br />

wiederum der Frauen. Sie sind gegenüber Umweltkrisen (Wassermangel,<br />

Bodendegradation) besonders verwundbar und<br />

existentiellen Risiken (Ernteverlusten, Hunger, Krankheiten)<br />

besonders ausgesetzt; sie leiden besonders unter Naturkatastrophen,<br />

deren Häufigkeit und Intensität nach Berichten von<br />

internationalen Organisationen und Versicherungsunternehmen<br />

zunimmt (Scholz 2006); sie verfügen auch über geringere<br />

Bewältigungs- und Anpassungsfähigkeiten (coping capacities).<br />

Deshalb unterscheidet die natur- und sozialwissenschaftliche<br />

Vulnerabilitätsforschung die soziale Vulnerabilität von der geophysikalischen<br />

Vulnerabilität, die auf die Exposition einer Region<br />

oder Bevölkerungsgruppe gegenüber Naturkatastrophen<br />

abhebt. Allerdings können auch aus Naturkatastrophen – etwa<br />

bei Erdbeben oder bei der Tsunami-Katastrophe – soziale Katastrophen<br />

oder so genannte class-quakes entstehen.<br />

Für die geo- oder biophysikalische Vulnerabilität legte das<br />

International Panel on Climate Change (IPCC) umfassende Analysen<br />

und Prognosen vor. Es untersuchte vor allem Folgen des<br />

globalen Klimawandels, die in der Zunahme von Wetterextremen,<br />

Veränderungen der Wasserkreisläufe und im Ansteigen<br />

des Meeresspiegels liegen und unterschiedliche Auswirkungen<br />

auf einzelne Regionen und Länder haben (<strong>Die</strong>tz 2006).<br />

Das UNDP (2004) veröffentlichte unter dem Titel »Disaster<br />

Risk« einen umfassenden Vulnerabilitätsbericht, der die besondere<br />

Verwundbarkeit von Armutsgruppen und indigenen<br />

Volksgruppen, zu denen immerhin 350 Mio. Menschen gezählt<br />

werden, durch Umweltkrisen belegte. Der Heidelberger Public<br />

Health-Experte Rainer Sauerborn (2006) veranschaulichte die<br />

vielfältigen Auswirkungen des Klimawandels auf die Gesundheitssysteme<br />

der Welt (vgl. Abbildung 1).<br />

158


Abbildung 1:<br />

Wie der Klimawandel die Gesundheit beeinflusst<br />

Auswirkungen<br />

auf Gesundheit<br />

Anpassung<br />

Abmilderung<br />

(Mitigation)<br />

Folgen des<br />

Klimawandels<br />

Folgen von:<br />

Temperaturanstiegen<br />

Mikrobiologische<br />

Veränderungen<br />

Wetterextreme<br />

Wetterextremen<br />

regionale Wetterveränderungen<br />

Luftverschmutzung<br />

Hitzewellen<br />

Wasser- und Nahrungsmittelmangel<br />

Veränderungen<br />

der Hydrologie/<br />

Agrarsysteme<br />

Temperaturanstiege<br />

Klimawandel<br />

Übertragung durch<br />

Vektoren (Infektionskrankheiten)<br />

Ansteigen des<br />

Meeresspiegels<br />

Mentale<br />

Krankheiten<br />

Sozioökonomische<br />

und demographische<br />

Krisen<br />

Quelle: Sauerborn 2006.<br />

159


Allerdings hatten weder die internationale Entwicklungspolitik<br />

noch die internationale Umweltpolitik die Integration<br />

und Kohärenz der beiden Politikbereiche, wie sie die Rio-Konferenz<br />

gefordert und in ihrer Agenda 21 ausgearbeitet hatte,<br />

hinreichend in Strategien und Programme umgesetzt. <strong>Die</strong> Weltbank<br />

lieferte in ihrem Weltentwicklungsbericht 2003 zwar eine<br />

überzeugende Vision von nachhaltiger Entwicklung, konnte<br />

aber selbst nicht verschweigen, dass diese medienwirksame<br />

Rhetorik wenig Einfluss auf ihre operativen Abteilungen hat,<br />

die über Programme und Projekte entscheiden.<br />

Statt gemeinsamer »globaler Verantwortung«<br />

ein Feilschen um Positionsvorteile<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung von 2000 betonte geradezu emphatisch<br />

die »globale Verantwortung« staatlicher und privater Akteure<br />

für das Überleben der Menschheit in einer gesunden Umwelt.<br />

Philosophen und Ethiker beschwören eine planetarische<br />

Verantwortungsethik, aber die internationale Politik, auch die<br />

internationale Umwelt- und Entwicklungspolitik, orientieren<br />

sich nicht an einem wie auch immer definierbaren Weltgemeinwohl,<br />

sondern an je eigenen Interessen der Akteure und<br />

Akteursgruppen. Auch das aufgeklärte Eigeninteresse tut sich<br />

schwer, dem in vielen UN-Dokumenten angemahnten Imperativ<br />

kollektiven Handelns Folge zu leisten.<br />

Warum die Imperative der Nachhaltigkeit im Ranking der<br />

MDGs eher den Stellenwert einer pflichtschuldigen Marginalie<br />

denn eines dem Problem angemessenen Stellenwerts erhielten,<br />

liegt auch an der unterschiedlichen Interessenlage von Industrie-<br />

und Entwicklungsländern. Letztere halten den Umweltschutz<br />

noch immer für einen postmaterialistischen Luxus der<br />

reichen Länder und können mit guten Gründen darauf verweisen,<br />

dass die OECD-Länder für den Klimawandel und für<br />

die Verschwendung knapper Ressourcen hauptverantwortlich<br />

160


sind und dass sie deshalb nach dem in der Rio-Erklärung bekräftigten<br />

Prinzip der Verantwortung mehr für die Abmilderung<br />

der negativen Auswirkungen des Klimawandels auf andere<br />

Weltregionen und künftige Generationen tun müssten.<br />

Während in Rio, damals unter dem Druck der OECD-<br />

Länder, der Umweltschutz im Vordergrund stand, gaben die<br />

Entwicklungsländer auf dem Johannesburger Weltgipfel über<br />

nachhaltige Entwicklung (WSSD) den sozialpolitischen Zielen<br />

und Forderungen der ersten sechs MDGs Priorität. Damit<br />

konnten sich auch die Schwellenländer arrangieren, die zwar<br />

nicht zur Zielgruppe der MDGs gehören, aber ihren stark wachsenden<br />

Energie- und Ressourcenverbrauch hinter sozialpolitischen<br />

Forderungen verstecken konnten. Den vielen anderen<br />

Entwicklungsländern gelang es mit ihrem numerischen Stimmenübergewicht<br />

bei UN-Konferenzen, das im MDG 7 postulierte<br />

Prinzip der Nachhaltigkeit durch Forderungen nach einer<br />

besseren Wasserversorgung und Abwasserentsorgung aufzuweichen.<br />

Sie gewannen auf internationalen Umwelt- und<br />

Entwicklungskonferenzen mehr Einfluss als auf Handelskonferenzen,<br />

weil die OECD-Länder beim Versuch, internationale<br />

Regelwerke zu schaffen, auf ihre Kooperation angewiesen sind<br />

(Biermann 1998). Bei der Bewertung des MDG-Zielkatalogs<br />

müssen also diese unterschiedlichen Interessenlagen und Verhandlungspositionen<br />

im diplomatischen Poker um Problemlösungen<br />

berücksichtigt werden.<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung als Referenzdokument<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-Erklärung zählt den »Schutz der gemeinsamen<br />

Umwelt« zu den vier prioritären Handlungsfeldern der internationalen<br />

Entwicklungspolitik und bekennt sich ausdrücklich<br />

zu den von der Rio-Konferenz über Umwelt und Entwicklung<br />

(UNCED) formulierten Prinzipien einer nachhaltigen Entwicklung<br />

(sustainable development). Sie verengt aber in den nachfol-<br />

161


genden Absichtserklärungen und Handlungsempfehlungen<br />

den diffusen Begriff der Nachhaltigkeit auf den Umweltschutz,<br />

der in der Agenda 21 nur einen, obgleich prioritären Eckpunkt<br />

in der Dreifaltigkeit von wirtschaftlicher Dynamik, sozialer<br />

Gerechtigkeit sowie dem Schutz der Umwelt und schonender<br />

Ressourcennutzung bildet. Unzählige Publikatio nen, Konferenzberichte,<br />

Erklärungen von Regierungen und nationalen<br />

Nachhaltigkeitsräten und zuletzt die Abschlussdokumente<br />

des Johannesburger Weltgipfels über nachhaltige Entwicklung<br />

(WSSD) von 2002 haben diese Mehrdimensionalität von<br />

sustainable development hervorgehoben. Dagegen beschränkt<br />

die <strong>Millennium</strong>-Erklärung die »ersten Schritte« einer »neuen<br />

Ethik« des Naturschutzes (conservation) und der Fürsorge (stewardship)<br />

auf die folgenden umweltpolitischen Schwerpunkte:<br />

die Inkraftsetzung des Kioto-Protokolls zur Reduzierung<br />

der für den globalen Klimawandel hauptverantwortlichen<br />

CO 2 -Emissionen – eine Forderung, die sich allerdings die<br />

USA als größter CO 2 -Emittend nicht zu Eigen machten und<br />

die bei Emissionen von klimaschädigenden Gasen aufholenden<br />

»asiatischen Elefanten« China und Indien noch nicht<br />

verpflichtete;<br />

die nachhaltige Nutzung von Wäldern;<br />

die Umsetzung der Konventionen über die Biodiversität<br />

und die Bekämpfung der Desertifikation (»Wüstenkonvention«)<br />

in Ländern, die besonders unter Dürren und der Degradation<br />

von agrikulturell nutzbaren Böden leiden;<br />

die Beendigung der Wasserverschwendung durch ein besseres<br />

Wassermanagement auf regionaler, nationaler und lokaler<br />

Ebene sowie die Förderung eines für alle erschwinglichen<br />

und gerecht verteilten Wasserangebots;<br />

die Verstärkung der internationalen Kooperation zur Verringerung<br />

natürlicher und vom Menschen gemachter Katastrophen<br />

und zur Abmilderung ihrer Auswirkungen auf<br />

die Menschen;<br />

162


Sicherung des freien Zugangs zu Informationen über die<br />

menschliche Genom-Sequenz.<br />

Wichtiger als diese Einzelforderungen ist die hohe Gewichtung<br />

des »Schutzes der gemeinsamen Umwelt« im Quartett der vier<br />

prioritären entwicklungspolitischen Handlungsfelder. Deshalb<br />

ist es wichtig, den MDG-Zielkatalog im Kontext der Erklärung<br />

zu interpretieren, die mehr Substanz als das quantifizierte<br />

MDG 7 enthält. Sie lässt auch erahnen, warum im Jahr 2004<br />

der Friedensnobelpreis an die kenianische Menschenrechts-<br />

und Umweltaktivistin Wangari Maathai vergeben wurde: weil<br />

Frauen bei der Ernährungssicherung, bei der Versorgung mit<br />

Trinkwasser und Brennholz im Besonderen von lokalen Umweltkrisen<br />

betroffen sind und sich deshalb umso stärker für<br />

den Naturschutz engagieren.<br />

Der diffuse Inhalt des MDG 7: Verflüchtigung des<br />

Leitbildes der globalen nachhaltigen Entwicklung<br />

<strong>Die</strong> in der Erklärung erhobenen Forderungen tauchen nur teilweise<br />

im MDG 7 wieder auf und werden durch einige Zielvorgaben<br />

ergänzt, die nicht gerade zur Präzisierung des Kernziels<br />

beitragen, das lautet: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit<br />

(environmental sustainability). <strong>Die</strong> Zielvorgabe 9 fordert<br />

ganz allgemein die Integration von Prinzipien der nachhaltigen<br />

Entwicklung in Länderprogramme, ohne diese Prinzipien<br />

zu präzisieren, sowie ein Zurückdrehen des Verlusts von natürlichen<br />

Ressourcen. <strong>Die</strong> Zielvorgaben zehn und elf fordern<br />

die Halbierung der Anzahl der Menschen, die keinen Zugang<br />

zu sauberem Trinkwasser und zu elementaren sanitären Einrichtungen<br />

haben sowie eine Verbesserung der Lebensbedingungen<br />

von wenigstens 100 Mio. Slumbewohnern. Als das eigentlich<br />

Neue der MDGs in der Geschichte der internationalen<br />

Umwelt- und Entwicklungspolitik wurde häufig hervorgehoben,<br />

dass die Verwirklichung der Ziele an konkreten Ziel- und<br />

163


Zeitvorgaben orientiert und mit Hilfe von Indikatoren überprüfbar<br />

gemacht wurde. Deshalb ist es aufschlussreich, welche<br />

Zielvorgaben und Indikatoren zur Operationalisierung<br />

und Konkretisierung des Oberziels ausgewählt wurden. Bei<br />

der Auswahl von Indikatoren geht es auch darum, für welche<br />

Messversuche einigermaßen zuverlässige Daten vorliegen. Für<br />

das MDG 7 sammelt das UN Department of Economic and Social<br />

Affairs alle verfügbaren Daten. <strong>Die</strong> UN Statistics Division baute<br />

eine umfassende <strong>Millennium</strong> Indicators Database auf.<br />

Als messbare Indikatoren für den »Schutz der gemeinsamen<br />

Umwelt« dienen der Anteil von Waldflächen und von Schutzflächen<br />

zur Bewahrung der Biodiversität und genetischen Ressourcen<br />

an der Gesamtfläche eines Landes sowie die Pro-Kopf-<br />

Emissionen von Kohlendioxid. <strong>Die</strong>s sind aussagefähige Indikatoren,<br />

obgleich das Messbare nicht immer das Wichtigste<br />

erfasst. Weil die Produktion und der Verbrauch von Energie<br />

die Hauptquelle von Treibhausgasen und damit die Hauptursache<br />

der Erderwärmung mit ihren multiplen Auswirkungen<br />

(Häufung von Wetterextremen, Ansteigen des Meeresspiegels,<br />

Überflutung von tief liegenden Inseln und Siedlungsgebieten)<br />

bildet, wurde das Bruttoinlandsprodukt pro Einheit des Energieverbrauchs<br />

als Maßstab für die Energieeffizienz hinzugefügt.<br />

Hinter solchen statistischen Operationen steht der Sachverstand<br />

von Statistikabteilungen der internationalen Organisationen,<br />

hier des oben erwähnten UN Department of Economic<br />

and Social Affairs.<br />

<strong>Die</strong>se UN-Behörde fügte einen wichtigen Indikator hinzu,<br />

der unter den MDG-Indikatoren nicht auftaucht: nämlich die<br />

Belastungen durch die häusliche Luftverschmutzung, die<br />

durch das Verbrennen von Biomasse (Holz, Dung etc.) zum<br />

Kochen und Heizen entstehen. Nach Schätzungen der WHO<br />

fallen dieser Vergiftung von Innenräumen jährlich 900.000 Kinder<br />

und 700.000 Erwachsene, vorwiegend Frauen, zum Opfer.<br />

Eigentlich hätte dieser Tatbestand von den MDGs 3 + 4 erfasst<br />

werden müssen, wird dort aber nicht aufgegriffen. Es gibt also<br />

164


nicht nur eine Energieverschwendung, die für eine nicht-nachhaltige<br />

Produktions- und Lebensweise steht, sondern auch eine<br />

Energiearmut bzw. einen Mangel an sauberer Energie, der die<br />

Entwicklung behindert, das tägliche Leben erschwert und die<br />

Gesundheit gefährden kann.<br />

Es kommt nicht zusammen, was zusammen gehört<br />

Man kann darüber streiten, ob die Indikatoren zum MDG 7<br />

hinreichend Fort- oder Rückschritte beim Umweltschutz messen<br />

können. Eine Vermehrung und Verfeinerung von Indikatoren<br />

hätte kaum einen größeren Erkenntnisgewinn gebracht.<br />

Unverständlich ist dagegen, warum die zehnte Zielvorgabe,<br />

nämlich die Halbierung des Anteils von Menschen ohne Zugang<br />

zu sauberem Trinkwasser, unter dem MDG 7 und nicht<br />

unter dem zentralen MDG 1 auftaucht, das den Dreh- und Angelpunkt<br />

des MDG-Zielkatalogs bildet. Hier fordert die zweite<br />

Zielvorgabe die Halbierung des Anteils von Menschen, die unter<br />

Hunger leiden.<br />

Hunger und der mangelnde Zugang zu Trinkwasser, der<br />

eine Vielzahl von Syndromen verursacht, welche die MDGs 4<br />

bis 6 aufzählen, sind elementare und zusammenhängende Manifestationen<br />

von Armut. Der Zugang zu Trinkwasser und zu<br />

elementaren sanitären Anlagen ist eine unverzichtbare Komponente<br />

der Gesundheitsfürsorge und des Kampfes gegen Armut.<br />

Wasser ist die Grundlage allen Lebens und deshalb gilt<br />

der Zugang zu ihm als Menschenrecht. Das nachhaltige Wassermanagement<br />

kann zwar dem im MDG 7 geforderten Ressourcenschutz<br />

zugeordnet werden, aber in dessen Systematik,<br />

die den Umweltschutz im MDG-Zielkatalog verankern soll, ist<br />

die zehnte Zielvorgabe ein Fremdkörper.<br />

165


Es kommt zusammen, was nicht zusammen gehört<br />

Noch kritikwürdiger ist die elfte Zielvorgabe, das – wohlgemerkt<br />

unter dem Oberziel der environmental sustainability – die<br />

Verbesserung der Lebensbedingungen von 100 Mio. Slumbewohnern<br />

bis zum Jahr 2020 fordert. Schon jetzt hausen nach<br />

Schätzungen von UN Habitat über 900 Mio. Menschen in Slums<br />

und bis zum Stichjahr 2020 wird diese Zahl im Gefolge der<br />

rasanten Urbanisierung in vielen Entwicklungsländern auf<br />

1,4 Mrd. anwachsen. <strong>Die</strong> Indikatoren 30+31 weisen darauf hin,<br />

dass die Slumbewohner unter völlig unzureichenden sanitären<br />

Anlagen, deren Fehlen Slums in stinkende Kloaken verwandeln,<br />

und unter ungesicherten Besitz- und Nutzungsrechten<br />

leiden. Aber dies gilt nicht nur für die Minderheit von 100 Mio.<br />

Es ist nicht zu erkennen, warum dieses sozialpolitische Ziel im<br />

Kontext des MDG 7 auftaucht, auch wenn die häufig im Dreck<br />

und Gestank versinkenden Slums ein gravierendes Umweltproblem<br />

darstellen, vor allem dann, wenn die Umwelt im umfassenden<br />

Sinne als livelihood verstanden wird.<br />

Das MDG 7 verengt einerseits den Begriff der Nachhaltigkeit<br />

auf den Umweltschutz und überfrachtet es andererseits<br />

mit sozialpolitischen Forderungen, die nicht zu seinen konstitutiven<br />

Begriffsinhalten zählen. <strong>Die</strong> Zielvorgaben zehn und elf<br />

sowie die dazu gehörenden Indikatoren vermitteln den Eindruck,<br />

dass Nachhaltigkeit für die Konstrukteure des MDG-<br />

Zielkatalogs als eine Allerweltsformel ohne spezifische Konturen<br />

herhalten musste. Eine Nachhaltigkeitspolitik ist auch<br />

im engeren Sinne der Umweltpolitik für die nachhaltige Bekämpfung<br />

der Armut so wichtig, dass sie nicht zum konturlosen<br />

Konglomerat von sozialpolitischen Forderungen, für die<br />

andere Ober- und Teilziele zur Verfügung standen, hätte abgewertet<br />

werden dürfen. Auf diese Weise verflüchtigte sich im<br />

MDG-Zielkatalog das Leitbild der globalen nachhaltigen Entwicklung.<br />

166


Vorschläge zur Verkoppelung<br />

von Umwelt- und Entwicklungspolitik<br />

Es war eine Kernthese des WBGU-Gutachtens »Armutsbekämpfung<br />

durch Umweltpolitik«, dass die MDGs 1–6 nicht erreicht<br />

werden können, wenn der Schutz der Umwelt und der<br />

natürlichen Lebensgrundlagen vernachlässigt wird. Deshalb<br />

gehören Umwelt- und Entwicklungspolitik untrennbar zusammen,<br />

müssen zusammen gedacht und in kohärente Strategien<br />

umgesetzt werden. Nur eine integrative und kohärente<br />

Verknüpfung der beiden institutionell noch immer getrennten<br />

Politikbereiche kann dem in Rio entworfenen Leitbild einer<br />

nachhaltigen, das heißt wirtschaftlich zukunftsfähigen, aber<br />

zugleich umwelt- und sozialverträglichen Entwicklung gerecht<br />

werden. Das vom WBGU konstruierte »Rio-Rad« (vgl.<br />

Abb. 2) verdeutlicht die teilweise schon funktionierenden, aber<br />

der Verstärkung bedürftigen Kopplungen zwischen globaler<br />

Umwelt- und Entwicklungspolitik und die Wechselwirkungen<br />

zwischen den beiden Politikbereichen.<br />

Weil der MDG-Zielkatalog das Resultat diplomatischer Verhandlungen<br />

war, die auf einen größtmöglichen Konsens abzielten<br />

und deshalb strittige Punkte ausklammerten, drückt er<br />

sich auch darum, institutionelle Konsequenzen aus dem Imperativ<br />

der Nachhaltigkeit zu ziehen. Dazu gehört die von vielen<br />

europäischen Regierungen geforderte Aufwertung des personell<br />

unterbesetzten und mit einem schwachen Handlungsmandat<br />

ausgestatteten UN-Umweltprogramms (UNEP) zu einer<br />

dem Problemdruck eher angemessen UN-Sonderorganisation.<br />

Weil die Umwelt- und Entwicklungspolitik auf allen Politikebenen<br />

noch von verschiedenen Organisationen und nicht<br />

nur in Deutschland auch von verschiedenen und häufig miteinander<br />

konkurrierenden Ressorts behandelt werden, muss<br />

über ihre institutionelle Verzahnung nachgedacht werden,<br />

die über eine statuarische Aufwertung des UNEP hinausgeht.<br />

Umwelt- und Entwicklungsfragen sind Zukunftsfragen der<br />

167


Abbildung 2:<br />

Das Rio-Rad des WBGU<br />

168<br />

Nachhaltige<br />

Investitionen,<br />

z.B. Energie<br />

Finanzierungs- und<br />

Lenkungsinstrumente<br />

Entschädigungszahlungen<br />

Reduktion von<br />

Vulnerabilität<br />

Schuldenerlass<br />

Bewahrung ökologischer<br />

Integrität und Vielfalt<br />

Nachhaltige<br />

Konsum- und<br />

Produktionsmuster<br />

GLOBALE<br />

UMWELT-<br />

POLITIK<br />

Steigerung der<br />

Funktionsfähigkeit<br />

von Märkten<br />

Vermeidung gefährlicher<br />

Klimaänderungen:<br />

Starkes Post-Kioto-<br />

Regime<br />

Katalysator:<br />

Transfer emissionsarmer<br />

Technologien<br />

Förderung<br />

nachhaltigen<br />

Wirtschaftswachstums<br />

GLOBALE<br />

ENTWICKLUNGS-<br />

Abbau POLITIK<br />

großer<br />

Disparitäten<br />

Katalysator:<br />

Entwicklungszusammenarbeit<br />

Schutz natürlicher<br />

Kohlenstoffspeicher<br />

und -senken:<br />

Waldprotokoll<br />

Krisen- und<br />

Konfliktprävention<br />

Good<br />

governance<br />

Bekämpfung<br />

absoluter Armut<br />

Quelle: WBGU 2005.


Menschheit, deren Bewältigung für die Bewahrung der global<br />

common goods oder für die Vermeidung von global common bads<br />

unverzichtbar ist. Sie sollten deshalb im UN-System ebenso<br />

hoch verankert werden wie Sicherheitsfragen. Der UN-Sicherheitsrat<br />

kümmert sich jedoch nicht um Probleme, die für die<br />

Mehrheit der Menschheit von existenzieller Bedeutung sind,<br />

und der eigentlich zuständige UN-Wirtschafts- und Sozialrat<br />

(ECOSOC) ist ein handlungsunfähiges Diskussionsforum,<br />

das viele Resolu tionen produziert, aber keine relevanten Entscheidungen<br />

treffen kann. Für die Bearbeitung von Entwicklungsfragen<br />

wurde ein Wildwuchs von UN-Organisationen<br />

geschaffen, die mit mehr oder weniger Effizienz spezielle Problemfelder<br />

bearbeiten, dabei aber schwerwiegende Koordinations-<br />

und Kohärenzprobleme schaffen.<br />

Der WBGU (2005) entwarf deshalb die Vision eines Global<br />

Council for Development and Environment, der den moribunden<br />

ECOSOC ablösen und im UN-System institutionell zusammenführen<br />

sollte, was die Rio-Konferenz von 1992 unter dem<br />

Konferenztitel »Environment and Development« bereits programmatisch<br />

angedacht hatte. <strong>Die</strong>se Vision stößt zwar bei Industrie-<br />

und Entwicklungsländern noch auf viele Widerstände,<br />

zumal es im UN-System noch viele andere Baustellen gibt. Visionen<br />

können jedoch langfristigen Überlegungen zu Problemlösungen<br />

eine Orientierung geben. Und die ökologische Gefährdung<br />

des Planeten ist ebenso ein Menschheitsproblem ersten<br />

Ranges wie das Armuts- und Sicherheitsproblem. Sie bilden<br />

zusammen die eingangs erwähnte Triade der Megaprojekte.<br />

Fazit: Wider den Ungeist der<br />

ökologischen Bedenkenlosigkeit<br />

Auf dem im September 2005 im New Yorker UN-Hauptquartier<br />

veranstalteten <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel konnte sich der US-Präsident<br />

George W. Bush nur ein sehr halbherziges Bekenntnis zu<br />

169


den MDGs abringen. Sein UN-Botschafter versuchte sogar, den<br />

respect for nature aus dem Resolutionsentwurf zum Abschluss<br />

des Gipfels zu streichen. Zwar sperrt sich die mit Ölinteressen<br />

verbandelte US-Regierung inzwischen nicht mehr gegen die<br />

Einsicht, dass der globale Klimawandel von menschlichen Produktions-<br />

und Lebensweisen verursacht wird und eine globale<br />

Bedrohung für alle Gesellschaften darstellt, aber der Imperativ<br />

der Nachhaltigkeit wird nur in Sonntagsreden rezitiert. Auch<br />

der Rio+10 genannte Johannesburger Weltgipfel über nachhaltige<br />

Entwicklung von 2002 reanimierte nicht den »Geist von<br />

Rio«, sondern konzentrierte sich unter dem Druck der Entwicklungsländer<br />

auf sozialpolitische Forderungen, vor allem<br />

auf die Versorgung mit Trinkwasser und die Entsorgung von<br />

Abwässern. Allenfalls das starke Plädoyer für die Förderung<br />

erneuerbarer Energien zur Verringerung der Energie armut<br />

und zugleich der weltweiten CO 2 -Emissionen hatte einen starken<br />

umweltpolitischen Bezug.<br />

Das MDG 7 trug nicht dazu bei, der Umweltpolitik einen<br />

höheren Stellenwert in der internationalen Entwicklungspolitik<br />

zu verschaffen und ihren unverzichtbaren Beitrag zur Armutsbekämpfung<br />

zu verdeutlichen. Weil eine zielgerichtete<br />

Politik der Nachhaltigkeit auf allen politischen Handlungsebenen<br />

die Voraussetzung für eine erfolgreiche Bekämpfung der<br />

Armut ist, ist die Untergewichtung der ökologischen Nachhaltigkeit<br />

im Prioritätenkatalog der MDGs inkonsequent und<br />

fällt hinter den Erkenntnisstand der Rio-Konferenz zurück, die<br />

vor nun 14 Jahren stattfand. <strong>Die</strong> relativ positive Bilanz zur Verwirklichung<br />

der sozialpolitischen MDGs (vgl. den Beitrag von<br />

Fues) gilt nicht für das MDG 7, obwohl das UN Department of<br />

Economic and Social Affairs auch hier bei einzelnen Indikatoren –<br />

unter anderem bei der Erweiterung von Schutzflächen zur Bewahrung<br />

der biologischen Diversität – Fortschritte entdeckte.<br />

Es ist deshalb dringend geboten, den von den MDGs verdrängten<br />

»Geist von Rio« zu reanimieren, um dem Ungeist<br />

der ökologischen Bedenkenlosigkeit, wie ihn China in seiner<br />

170


Wachstumsmanie pflegt, zu begegnen. China erzielt zwar große<br />

Erfolge bei der Armutsbekämpfung, die die weltweite Armutsquote<br />

deutlich senkte, ist aber dabei, durch die selbstzerstörerische<br />

ökologische Rücksichtslosigkeit die eigene Zukunftsfähigkeit<br />

zu verspielen. <strong>Die</strong> Kosten der Umweltverschmutzung<br />

verzehren bereits ein rundes Zehntel des chinesischen Bruttosozialprodukts<br />

(Scholz 2006). Weil die Schwellenländer bzw.<br />

»Ankerländer« (nach der Sprachregelung des Deutschen Instituts<br />

für Entwicklungspolitik), allen voran China und Indien,<br />

beim Ressourcenverbrauch und bei CO 2 -Emissionen zu den<br />

OECD-Ländern aufschließen und die meisten von ihnen bald<br />

überholen werden, müssen sie stärker als bisher in die globale<br />

Umweltpolitik einbezogen werden. Der Beitrag Chinas und Indiens<br />

zu den weltweiten CO 2 -Emissionen könnte im Jahr 2030<br />

schon bei etwa 50 % liegen, wenn nicht die Abkoppelung des<br />

Wirtschaftswachstums von CO 2 -Emissionen gelingen sollte.<br />

<strong>Die</strong> ökologische Wende, die eine Energiewende voraussetzt<br />

(WBGU 2003), erfordert allerdings nicht nur viel politische<br />

Weitsicht und Energie, sondern wird auch viel Geld kosten.<br />

Nach Schätzungen des WBGU müssten allein die OECD- Länder<br />

jährlich rund 1 % ihres Bruttosozialprodukts investieren, um<br />

die voranschreitende Zerstörung des globalen Ökosystems<br />

durch eine globale Umwelt- und Entwicklungspolitik aufzuhalten.<br />

Was sie bisher in diese Zukunftssicherung zu investieren<br />

bereit waren, wurde im Sachs-Report sehr kritisch kommentiert.<br />

Weil auch auf die Entwicklungs- und Schwellenländer<br />

große umweltpolitische Herausforderungen zukommen,<br />

ist es offensichtlich, dass neue Finanzierungsinstrumente –<br />

wie die Tobin-Steuer oder eine globale CO 2 -Steuer – geschaffen<br />

werden müssen. Ein weiteres Abwarten und Hinauszögern<br />

würde den ökologischen point of no return vorziehen, der auch<br />

die Armutsbekämpfung in die Sackgasse führen würde.<br />

171


Literatur<br />

Biermann, Frank, 1998: Weltumweltpolitik zwischen Nord und Süd.<br />

Baden-Baden.<br />

Diamond, Jared, 2005: Kollaps. Warum Gesellschaften überleben oder untergehen.<br />

Frankfurt/M.<br />

<strong>Die</strong>tz, Kristina, 2006: Vulnerabilität und Anpassung gegenüber Klimawandel<br />

aus sozial-ökologischer Perspektive (Diskussionspapier 01/06<br />

des Projekts »Global Governance und Klimawandel«). Berlin.<br />

IPCC, 2001: Climate Change 2001: Impacts, Adaptation and Vulnerability.<br />

Cambridge.<br />

Sauerborn, Rainer, 2006: Klimawandel und globale Gesundheitsrisiken,<br />

in: Tobias Debiel, Dirk Messner, Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends<br />

2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung<br />

und Frieden. Frankfurt/M., i. E.<br />

Scholz, Imme, 2006: Globale Umweltkrisen und »asiatische Elefanten«, in:<br />

Tobias Debiel/Dirk Messner/Franz Nuscheler (Hg.), Globale Trends<br />

2007. Frieden – Entwicklung – Umwelt, hg. v. Stiftung Entwicklung<br />

und Frieden. Frankfurt/M., i. E.<br />

UNDP, 2004: Reducing Disaster Risk. A Challenge for Development. New<br />

York.<br />

UNU-EHS, 2005: As Ranks of »Environmental Refugees« Swell Worldwide,<br />

Calls Grow for Better Definition, Recognition, Support, Presseerklärung,<br />

12. Oktober (http://www.ehs.unu.edu/index.php/article:<br />

130?menu=44, 3.8.06).<br />

WBGU, 2003: Welt im Wandel – Energiewende zur Nachhaltigkeit. Berlin.<br />

WBGU, 2005: Welt im Wandel – Armutsbekämpfung durch Umweltpolitik.<br />

Berlin.<br />

Weltbank, 2000: World Development Report 2000/2001: Attacking Poverty.<br />

Washington, D.C.<br />

Weltbank, 2003: World Development Report 2003: Sustainable Development<br />

in a Dynamic World. Washington, D.C.<br />

172


VERONIKA WITTMANN<br />

Gender und die<br />

<strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Empowerment ohne<br />

Veränderung der Machtstrukturen?<br />

<strong>Die</strong> Verabschiedung der <strong>Millennium</strong>-Erklärung im Jahr 2000<br />

durch die Staats- und Regierungschefs aller UN-Mitgliedstaaten<br />

sowie die von ihr abgeleiteten <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

(<strong>Millennium</strong> Development Goals, MDGs) bedeuteten eine<br />

Zäsur in der entwicklungspolitischen Debatte und Praxis. Ob<br />

sie auch im Hinblick auf Gender-Gerechtigkeit eine solche darstellen,<br />

wird jedoch von vielen bezweifelt.<br />

<strong>Die</strong> feministische Kritik an den MDGs<br />

Unter dem Gender-Blickwinkel sticht insbesondere das MDG 3<br />

hervor, das die Gleichstellung zwischen den Geschlechtern<br />

thema tisiert, wobei der Fokus auf die Bildung, den formellen<br />

Arbeitsmarkt und die Gesetzgebung gerichtet ist. Feministen<br />

und Feministinnen erkennen es zwar als Erfolg der internationalen<br />

Frauenbewegung an, dass die Förderung der Gleichstellung<br />

der Geschlechter und das Empowerment von Frauen als<br />

eigenes Ziel und an prominenter Stelle innerhalb der MDGs<br />

positioniert wurde. Sowohl von zahlreichen zu gender-spezifischen<br />

Themen arbeitenden Nichtregierungsorganisationen<br />

(NGOs) als auch von Seiten bekannter Frauenrechtler und<br />

Frauenrechtlerinnen – wie etwa Peggy Antrobus vom internationalen<br />

Frauennetzwerk Development Alternatives for Women of<br />

a New Era (DAWN) – und von feministischen Journalisten und<br />

173


Journalistinnen gab es jedoch auch heftige Kritik an den MDGs.<br />

Sie bezeichnen sie als »(…) dürres Gerüst zielgerichteter Handlungsanweisungen<br />

an die Regierungen«, eine »Schmalspuragenda,<br />

die Frauen auf die stereotypen Rollen als (Schul-)Mädchen<br />

im Zusammenhang mit Bildung, Schwangere und Mütter<br />

im Zusammenhang mit Kinder- und Müttersterblichkeit reduziert«<br />

(Wichterich 2005, 23); die MDGs seien ein »Täuschungsmanöver«<br />

(Neuhold 2005, 6) oder sogar ein »Schwindel« (Antrobus<br />

2004, 14). Zahlreiche kritische Bewertungen weisen darauf<br />

hin, dass politisch kontrovers diskutierte Themen wie die<br />

reproduktiven und sexuellen Rechte von Frauen sich nicht im<br />

Zielkatalog finden und das Massenproblem psychischer und<br />

physischer Gewalt gegen Frauen gänzlich ausgeblendet wird.<br />

Der Gender-Begriff<br />

<strong>Die</strong> Gender-Forschung unterscheidet zwischen dem biologischen<br />

Geschlecht »Sex« und dem soziokulturellen Geschlecht<br />

»Gender«. <strong>Die</strong> analytische Unterscheidung dient<br />

dazu, sozio-historisch entstandene weibliche und männliche<br />

Geschlechtsidentitäten sichtbar zu machen, wobei im<br />

alltäglichen doing gender die Geschlechterdifferenz dadurch<br />

erzeugt wird, dass die Menschen sich kontinuierlich zu<br />

Frauen und Männern machen bzw. machen lassen. Gender<br />

drückt auch aus, dass die Zuweisung von Menschen zum<br />

weiblichen oder männlichen Geschlecht, welche zugleich<br />

eine hierarchische ist, als auch die inhaltliche Festlegung<br />

von Weiblichkeit und Männlichkeit durch gesellschaftliche<br />

Machtmechanismen entstehen. Gender zielt somit auf die<br />

soziale Konstruktion von Rollen und Attributen ab, die als<br />

geschlechtsspezifisch normiert werden. Sowohl Geschlecht<br />

als auch ethnische Zugehörigkeit waren und sind in vielen<br />

Gesellschaften Indikatoren von sozialer Ungleichheit. Es<br />

existieren daher historisch und ethnographisch unterschiedliche<br />

Konfigurationen von Geschlechterverhältnissen.<br />

174


Frauen werden bei den MDGs primär als Zielgruppe für Investitionen<br />

in die sozio-ökonomische Infrastruktur betrachtet.<br />

Problematisch ist hierbei, dass ihre Rolle als Hauptakteurinnen<br />

von Entwicklung – dies ist spätestens seit der UN-Weltfrauendekade<br />

(1975–1985), in der drei Weltfrauenkonferenzen stattfanden,<br />

bekannt – nicht zum Tragen kommt und das im Ziel 3<br />

angeführte Empowerment zu einem unwesentlichen Nebenelement<br />

mutiert. Eine Vielzahl an Entwicklungsorganisationen<br />

richtete in den vergangenen Jahrzehnten eigene Abteilungen<br />

zur Förderung von Frauen ein. Frauen wurden durch diese<br />

Vorgehensweise zu einer speziellen Zielgruppe im Rahmen<br />

der Entwicklungspolitik; finanzielle Unterstützung erhielten<br />

oft Entwicklungsorganisationen, die mit ihren Projekten diese<br />

Zielgruppe adressierten.<br />

Empowerment beschäftigt sich nicht nur mit bestehenden<br />

Machtstrukturen und -verhältnissen zwischen den Geschlechtern,<br />

sondern auch mit jenen, die aufgrund von Ethnizität<br />

und Schichtzugehörigkeit bestehen. In einer Publikation von<br />

DAWN wird Empowerment als die Strategie für eine »strukturelle<br />

Transformation der ökonomischen, politischen und kulturellen<br />

Herrschaftsformen auf internationaler, nationaler, lokaler<br />

und der Ebene des Haushalts« bezeichnet (Neuhold 1994,<br />

18f.). Eine nachhaltige Verbesserung der Situation von Frauen<br />

ist nur dann zu erreichen, wenn damit zugleich eine Veränderung<br />

der bestehenden Machtverhältnisse auf sämtlichen Ebenen<br />

einhergeht. Gerade diese Veränderbarkeit von Hierarchien<br />

und Machtverhältnissen ist für die Analyse von Entwicklungsgesellschaften<br />

wichtig, wird aber vom MDG-Zielkatalog ausgeblendet.<br />

Bei den MDGs werden Frauen – im Kontrast zu den Beschlüssen<br />

der vierten UN-Weltfrauenkonferenz 1995 in<br />

Beijing – nicht primär als Rechtssubjekte angesprochen, sondern<br />

als Unterstützungsbedürftige und Zielgruppe von Investitionen.<br />

<strong>Die</strong> für die MDGs zentrale Grundbedürfnisstrategie,<br />

steht im Widerspruch zur Wahrnehmung von Frauen als<br />

175


jener Hälfte der Menschheit, die einen Anspruch darauf hat,<br />

dass geschlechtsspezifische Diskriminierungen – ob auf politischer,<br />

ökonomischer, rechtlicher oder sozialer Ebene – beendet<br />

werden.<br />

Im Unterschied zu der von der Grundbedürfnisstrategie<br />

den Frauen zugewiesenen Rolle begründet der Gender and Development<br />

(GAD)-Ansatz eine Sichtweise, die Frauen nicht als<br />

passive Rezipientinnen von Entwicklung, sondern deren aktive<br />

Agentinnen sieht. Eine feministische Kritik muss darüber<br />

hinaus die MDGs auch als »alten Wein in neuen Schläuchen«<br />

qualifizieren, denn die meisten der Ziele finden sich bereits<br />

in entwicklungspolitischen Erklärungen der 1970er Jahre, als<br />

die »Dekade der Grundbedürfnisstrategie« mit dem Anspruch<br />

eingeleitet wurde, extreme Armut und Hunger zu beseitigen.<br />

Inhaltlich sind die MDGs also keine neuen Forderungen. Auch<br />

die Erkenntnis, dass das weibliche Geschlecht »Hauptbetroffene«<br />

von Armut ist, stellt keine Neuigkeit dar.<br />

Nicht die Ziele waren das Originelle an den MDGs, sondern<br />

dass sich erstmals alle Mitgliedstaaten der UN zur »globalen<br />

Verantwortung« bekannt und sich dazu verpflichtet haben, die<br />

Zielsetzungen zu verwirklichen. »<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

sind die am breitesten unterstützten, umfassendsten<br />

und konkretesten Vorgaben zur Verringerung der Armut,<br />

die die Welt je aufgestellt hat«, heißt es in dem im Januar 2005<br />

präsentierten Bericht des UN-<strong>Millennium</strong>projektes Investing<br />

in Development unter der Leitung des US-Ökonomen Jeffrey<br />

Sachs (2005, 2). In der internationalen Entwicklungspolitik<br />

gab es bisher kein vergleichbares Momentum, Absichtserklärungen<br />

auch Taten folgen zu lassen. <strong>Die</strong> Einigkeit unter den<br />

verschiedenen Akteuren – von den UN-Organisationen, über<br />

den Internationalen Währungsfonds (IWF) und die Weltbank,<br />

die Triade Europa, Nordamerika und Japan, die Länder des<br />

Südens, die staatlichen Entwicklungsorganisationen bis hin zu<br />

den NGOs – war bei keinem anderen entwicklungspolitischen<br />

Zielkatalog so groß wie bei den MDGs. Viele der Ziele und<br />

176


Forderungen, welche die MDGs zusammenfassen, wurden<br />

bereits in Beschlüssen von Weltkonferenzen der 1990er Jahre<br />

wie auch in zahlreichen Strategiepapieren formuliert. In Bezug<br />

auf die Gender-Gerechtigkeit fallen sie jedoch einige Schritte<br />

zurück. Hier war das Aktionsprogramm der Weltfrauenkonferenz<br />

von Beijing wesentlich konkreter und weit reichender<br />

(Fues/Hamm 2001).<br />

Gender in der <strong>Millennium</strong>-Erklärung:<br />

ein rudimentärer Bereich<br />

Betrachtet man die <strong>Millennium</strong>-Erklärung im Hinblick auf<br />

ihre gender-spezifischen Komponenten und geschlechterblinden<br />

Flecken, ergibt sich folgendes Bild: Sie beginnt mit der<br />

Feststellung, dass die zentrale Herausforderung der Gegenwart<br />

darin liege, die Globalisierung zu einer positiven Kraft<br />

für alle Menschen zu machen. <strong>Die</strong>se eröffne zwar große Chancen,<br />

ihre Vorteile wie auch ihre Kosten seien jedoch sehr ungleich<br />

verteilt. Einleitend wird festgehalten, dass die internationalen<br />

Beziehungen von den Werten und Grundsätzen der<br />

»Freiheit«, »Gleichheit«, »Solidarität«, »Toleranz«, »Achtung<br />

vor der Natur« und einer »gemeinsam getragenen Verantwortung«<br />

geprägt sein sollten. Frauen werden explizit in den<br />

Punkten »Freiheit« und »Gleichheit« erwähnt. Der Grundsatz<br />

der »Gleichheit« beinhaltet die Forderung nach Gleichberechtigung<br />

von Männern und Frauen sowie nach Chancengleichheit<br />

im Entwicklungsprozess. Bei den anderen vier Grundwerten<br />

werden frauenspezifische Themen und Gender-Gerechtigkeit<br />

nicht angesprochen. Frauen finden auch keine eigene Erwähnung<br />

im zweiten Teil der Erklärung zu »Frieden, Sicherheit<br />

und Abrüstung«. <strong>Die</strong> Feststellung, dass Bürgerkriege und<br />

Kriege zwischen Staaten im vergangenen Jahrzehnt über fünf<br />

Millionen Menschenleben gefordert haben, übergeht die Tatsa-<br />

177


che, dass Frauen weltweit am stärksten von kriegerischen Auseinandersetzungen<br />

und Migration betroffen sind.<br />

Der dritte Abschnitt »Entwicklung und Armutsbeseitigung«<br />

behandelt viele der Bereiche, die in den MDGs aufgegriffen<br />

wurden: In der Auflistung der Themen finden sich<br />

gender-spezifische Punkte bei der Grundbildung für alle Mädchen<br />

und Jungen, bei der Senkung der Müttersterblichkeit um<br />

drei Viertel sowie bei der Förderung der Gleichstellung der<br />

Geschlechter. Bei den Aspekten Armut, Verfügbarkeit von sauberem<br />

Trinkwasser und lebenswichtigen Medikamenten, Verbesserung<br />

der Lebensbedingungen von Slumbewohnern und<br />

Slumbewohnerinnen, Aufbau von Partnerschaften mit dem<br />

Privatsektor und den Organisationen der Zivilgesellschaft sowie<br />

der Nutzung der neuen Technologien, insbesondere der<br />

Informations- und Kommunikationstechnologien, nimmt die<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung keine geschlechtsspezifischen Unterscheidungen<br />

vor. Keine explizite Erwähnung finden Frauen<br />

auch im vierten Abschnitt zum »Schutz unserer gemeinsamen<br />

Umwelt«, in dem es hauptsächlich um die Sicherheit der nachfolgenden<br />

Generationen vor der Gefahr einer irreversibel verschmutzten<br />

Natur geht.<br />

Einen gender-sensitiven Teil enthält jedoch Teil fünf der Erklärung<br />

zu »Menschenrechten, Demokratie und Good Governance«,<br />

in dem die Umsetzung des Abkommens zur Beseitigung<br />

jeder Form von Diskriminierung gegen Frauen (CEDAW)<br />

wie auch die Bekämpfung aller Formen von Gewalt gegen<br />

Frauen gefordert wird (VN 2000, Abs. 25). <strong>Die</strong>ser Aspekt wird<br />

in den MDGs nicht angesprochen. Auch Rassismus und Ausländerfeindlichkeit<br />

wird ausgeklammert. Während die <strong>Millennium</strong>-Erklärung<br />

noch Maßnahmen zum Schutz von Migranten<br />

und Migrantinnen, gegen Rassismus und Ausländerfeindlichkeit<br />

sowie zur Förderung der Toleranz in allen Gesellschaften<br />

forderte (VN 2000, Abs. 25), fehlen diese in den MDGs vollständig<br />

(Nazombe/Barton 2004, 40). Der im sechsten Punkt angemahnte<br />

»Schutz der Schwächeren« wird zwar auf Zivilper-<br />

178


sonen in komplexen Notsituationen bezogen, Frauen bleiben<br />

aber als besonders verwundbare Gruppe unerwähnt.<br />

<strong>Die</strong> Entmystifizierung der MDGs<br />

durch den Gender-Blick<br />

Auf den ersten Blick sind die MDGs nicht mehr als quantifizierte<br />

internationale Vorgaben, die an einen konkreten Zeitrahmen<br />

gebunden sind, um die extreme Armut in ihren verschiedenen<br />

Dimensionen (Hunger, Einkommensarmut, Krankheit<br />

etc.) zu reduzieren und die Gleichstellung der Geschlechter,<br />

die Bildung, die ökologische Nachhaltigkeit und die globale<br />

Zusammenarbeit zu fördern. Betrachtet man sie aus einer<br />

gender-sensitiven Perspektive, so ergibt sich jedoch ein anderes<br />

Bild. In den drei wichtigen MDGs 4, 5 und 6 kommen<br />

Frauen lediglich als Mütter bzw. als von Krankheit Betroffene<br />

vor. Für das MDG 2 sollen geschlechterdifferenzierte Datenerhebungen<br />

vorgenommen werden. <strong>Die</strong> MDGs 1, 7 und 8 enthalten<br />

keinerlei Hinweise auf Gender-Themen und Geschlechterverhältnisse.<br />

<strong>Die</strong> Thematik von Gender und Empowerment von<br />

Frauen wird zwar im Ziel 3 – »Förderung der Gleichstellung<br />

der Geschlechter und Stärkung der Rolle der Frauen« – angesprochen,<br />

hier jedoch auf die Bereiche Bildung, formelle Arbeit<br />

und Politik verengt.<br />

Aus feministischer Sicht kommt hinzu, dass die mehrheitlich<br />

quantitativen acht <strong>Entwicklungsziele</strong>, 18 Zielvorgaben<br />

und 48 Indikatoren nichts über die Qualität von Entwicklung<br />

auszusagen vermögen, weil sie lediglich nach deren Mess- und<br />

Überprüfbarkeit fragen. Ein einfaches Beispiel zeigt, dass in<br />

gender-spezifischer Hinsicht eine quantitative Verbesserung<br />

nicht zwangsläufig zu einer qualitativen beiträgt: <strong>Die</strong> Einschulungsrate<br />

von Mädchen sagt etwas über ihre Möglichkeiten<br />

aus, eine Schule besuchen und abzuschließen. Aber geschlechtergerechte<br />

Unterrichtsmethoden und -inhalte sind ebenso<br />

179


wichtig. Selbst wenn ein Mädchen seine Grundschuljahre absolviert<br />

hat – und damit MDG 2 erreicht wird – kann sie in dieser<br />

Zeit geschlechterstereotypen Darstellungen bei den Lehrinhalten<br />

ausgesetzt gewesen sein. Da quantitative Zielvorgaben<br />

allein nicht ausreichen, um Geschlechterungleichheiten zu<br />

reduzieren, fordern Feministen und Feministinnen die Hinzufügung<br />

von qualitativen Messmethoden bei der Überprüfung<br />

der MDGs (UNDP 2003, 24f.).<br />

<strong>Die</strong> »Feminisierung der Armut« hat viele Ursachen und Dimensionen,<br />

die weder im Ziel 1 erwähnt, noch in den anderen<br />

sieben MDGs ausreichend erfasst werden. Ein zentraler Kritikpunkt<br />

ist, dass die Gender-Thematik kein Querschnittsthema<br />

darstellt. Mit Ausnahme von Ziel 3, das sich explizit auf Frauen<br />

und deren Empowerment bezieht, kommen Frauen nicht als besonders<br />

benachteiligte Gruppe vor. Ein derartig geschlechterblindes<br />

Vorgehen geht nicht nur an der Realität vorbei, sondern<br />

zeugt auch von einem geringen Problembewusstsein.<br />

Eine wichtige Innovation enthalten hingegen die Strategiepapiere<br />

zur Armutsminderung (Poverty Reduction Strategy Papers,<br />

PRSP), die ein Instrument zur Umsetzung der MDGs sind.<br />

Ihr Ziel ist unter anderem die gesellschaftliche Partizipation<br />

bei der Verwendung der bei Schuldenerlassen frei werdenden<br />

Mittel. Partizipation ist ein Wert an sich; sie ist dann am wirkungsvollsten,<br />

wenn sich auch Frauen als hauptsächlich von<br />

Armut betroffene Gruppen beteiligen können. So stellte der<br />

UN-Generalsekretär Kofi Annan (2005, 15) fest: »Ermächtigte<br />

Frauen können zu den wirksamsten Antriebskräften der Entwicklung<br />

gehören.«<br />

Für Christa Wichterich (2005, 21) sind die MDGs jedoch<br />

einem anderen Ansatz verpflichtet:<br />

»<strong>Die</strong> Dynamik, die die MDGs in Gang setzen, ist (…) Top-<br />

Down und entspricht nicht einem Empowerment der<br />

Machtlosen. Insofern stellen die MDGs einen Gegenentwurf<br />

zu den entwicklungspolitischen Ansätzen von Partizipation<br />

und Selbsthilfe dar.«<br />

180


Das den MDGs zugrunde liegenden Verständnis von Entwicklung<br />

beruht auf dem »Recht auf Entwicklung« und betont zugleich<br />

wirtschaftspolitische Werte wie Freihandel und Marktöffnung.<br />

<strong>Die</strong>se haben jedoch selten zur Verringerung von Geschlechterungleichheiten<br />

beigetragen. »Armutsbekämpfung<br />

steht ganz im Zeichen neoliberaler Globalisierungspolitik, der<br />

unterstellte Entwicklungsbegriff ist das bisherige lineare, nach<br />

westlichen Wertmaßstäben ausgerichtete Modell.« (Neuhold<br />

2005, 9).<br />

Der Verdacht, dass die MDGs lediglich Symptome der Armut<br />

kurieren, wird durch das Faktum erhärtet, dass sie soziale<br />

Ungleichheit und damit die strukturellen Ursachen von Armut<br />

gänzlich tabuisieren. Armut kann nicht losgelöst von sozialer<br />

Ungleichheit, die geschlechtsspezifische Charakteristika aufweist,<br />

betrachtet werden. Hinzu kommt, dass Armut mit ungerecht<br />

verteilten Ressourcen und Machtpositionen zwischen<br />

den Geschlechtern unmittelbar in Zusammenhang steht. <strong>Die</strong>sen<br />

Punkt vernachlässigen jedoch die MDGs. Caroline Moser<br />

(1999, 144) hat in diesem Zusammenhang die Unterscheidung<br />

zwischen Practical Gender Needs und Strategic Gender Needs entwickelt.<br />

Erstere betreffen alltägliche Bedürfnisse wie den Zugang<br />

zur Gesundheits- und Wasserversorgung, zu Arbeit etc.<br />

Strategic Gender Needs beinhalten den Zugang zu Macht und<br />

Kontrolle über diese Ressourcen und fordern damit die Umgestaltung<br />

bestehender Geschlechterverhältnisse. <strong>Die</strong>se Bedürfnisse<br />

werden bei den MDGs jedoch gravierend unterbelichtet.<br />

<strong>Die</strong> entwicklungspolitischen Anstrengungen der vergangenen<br />

Jahrzehnte haben gezeigt, dass Gender-Gerechtigkeit<br />

die Voraussetzung für eine nachhaltige Reduzierung von Armut<br />

ist. Aus diesem Grund ist die defizitäre Erwähnung der<br />

Geschlechterfrage im Prioritätenkatalog der MDGs nicht nur<br />

inkonsequent, sie geht auch an den Realitäten vorbei. Entwicklungspolitik<br />

und die Gleichstellung der Geschlechter sind untrennbar<br />

miteinander verbunden; sie müssen nicht nur zusam-<br />

181


men gedacht, sondern auch in handlungsorientierte Strategien<br />

umgesetzt werden.<br />

Eine zielgerichtete Politik der Armutsbekämpfung stellt für<br />

eine nationale und internationale Entwicklungspolitik, die an<br />

Legitimation und Glaubwürdigkeit gewinnen möchte, sicherlich<br />

die Probe aufs Exempel dar. Von hoher Relevanz ist dabei,<br />

dass die Mittel der Entwicklungszusammenarbeit tatsächlich<br />

bei den Armutsgruppen in Entwicklungsländern – und dies<br />

sind mehrheitlich Frauen – ankommen. Hierzu bedarf es jedoch<br />

der Anerkennung der simplen Tatsache, dass Armut ein<br />

weibliches Gesicht hat.<br />

<strong>Die</strong> MDGs haben der Reduzierung von Armut eine Priorität<br />

verschafft, die sie bisher in der Entwicklungspolitik nicht<br />

hatte. <strong>Die</strong> MDGs erlangten nicht nur beträchtliche internationale<br />

Aufmerksamkeit, sondern hatten auch zur Folge, dass<br />

zahlreiche andere entwicklungspolitische Zielsetzungen derzeit<br />

hintangestellt werden. So stehen für die Umsetzung der<br />

Aktionsplattform von Beijing nur noch geringe Finanzmittel<br />

zur Verfügung. <strong>Die</strong>s bedeutet einen Rückschlag für die internationale<br />

feministische Bewegung.<br />

Fort- und Rückschritte bei der<br />

Verwirklichung der Geschlechtergerechtigkeit<br />

Bei unerschütterlichen Optimisten und Optimistinnen mögen<br />

die MDGs die Zuversicht geweckt haben, dass die acht Ziele im<br />

anvisierten Zeithorizont tatsächlich erreicht werden können,<br />

dass es also bis 2015 trotz einer wachsenden Weltbevölkerung<br />

eine Halbierung der in extremer Armut lebenden Menschen<br />

geben wird. Doch die Zahl der Skeptiker und Skeptikerinnen<br />

wächst, auch und gerade nach der ernüchternden Zwischenbilanz<br />

auf dem UN-Gipfel im September 2005. Insbesondere<br />

jene Zwischenziele, die geschlechtsspezifische Ungleichheiten<br />

reduzieren sollten, blieben zum großen Teil unerfüllt.<br />

182


2006 stehen wichtige Weichenstellungen an. Quick Impact-<br />

Initiativen (Sachs 2005, 66), die noch 2006 verwirklicht werden<br />

sollen, wurden für die Bereiche beschlossen, in denen sich mit<br />

ausreichender Ressourcenausstattung schnell Erfolge erzielen<br />

lassen. Unter ihnen finden sich auch gender-spezifische Bereiche,<br />

etwa die Durchsetzung von Rechten für Frauen, Kampagnen<br />

zur Verringerung von Gewalt gegen Frauen sowie ihr<br />

Empowerment, insbesondere auf kommunalpolitischer Ebene.<br />

Der Sachs-Bericht geht davon aus, das die MDGs bis zum<br />

Jahr 2015 noch erreichbar sind, wenn bereits 2006 die Ausgaben<br />

für die öffentliche Entwicklungszusammenarbeit (Official Development<br />

Assistance, ODA) verdoppelt werden und verstärkte<br />

Anstrengungen sofort beginnen. Er zählt mehrere im Zeitraum<br />

zwischen 1990 und 2000 erzielte Fortschritte bei den MDGs<br />

auf, die allerdings in den Weltregionen sehr unterschiedlich<br />

ausfallen (vgl. den Beitrag von Fues).<br />

<strong>Die</strong> Geschlechtergleichheit ist eines der unerreichten Ziele.<br />

Betrachtet man die vier Indikatoren von MDG 3 (UNDESA<br />

2004, 3), so ergibt sich ein tristes Bild. In den zehn Weltregionen<br />

Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Ostasien, Südostasien,<br />

Südasien, Westasien, Ozeanien, Lateinamerika und Karibik, in<br />

der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) in Europa sowie<br />

in GUS-Asien wurde nur insgesamt elfmal eine der vier<br />

Vorgaben erreicht – die Umsetzungsquote liegt damit lediglich<br />

bei einem Viertel.<br />

Gender-Gerechtigkeit bei der Bildung<br />

Beim Verhältnis von Mädchen zu Jungen in Primarschulen<br />

wurde die Zielvorgabe der Beseitigung der Ungleichheit nur<br />

in Ostasien und GUS-Europa erreicht, alle anderen Weltregionen<br />

befinden sich auf dem Weg der Zielerreichung oder weisen<br />

schleppende Fortschritte auf. <strong>Die</strong> Geschlechterdiskriminierung<br />

ist vor allem in Süd- und Westasien erheblich, wo 2001/02<br />

183


Tabelle 1<br />

Abschlussrate bei der Primarschulbildung nach Geschlechtern in den Weltregionen<br />

184<br />

Prozentsatz der Schüler und Schülerinnen in Abschlussklassen der Primarschulbildung<br />

1998/99 2001/02<br />

Gesamt Jungen Mädchen Gesamt Jungen Mädchen<br />

Industrieländer 100,0 100,3 99,6 98,8 – –<br />

GUS, Asien 96,3 97,0 95,6 97,9 98,7 97,0<br />

GUS, Europa 93,1 – – 93,9 94,0 93,8<br />

Entwicklungsregionen 80,7 84,0 77,2 83,0 85,9 79,8<br />

Lateinamerika & Karibik 89,0 86,6 91,5 98,0 97,2 98,9<br />

Nordafrika 85,5 89,0 81,8 85,5 87,1 83,9<br />

Afrika südlich der Sahara 49,4 54,4 44,4 52,8 57,0 48,6<br />

Ostasien 104,81 104,21 105,41 104,2 104,1 104,2<br />

Südasien 71,8 78,9 64,3 75,4 81,5 68,9<br />

Süd-Ostasien 87,9 88,8 87,0 92,7 92,8 92,6<br />

Westasien 77,2 82,9 71,1 76,3 81,1 71,3<br />

Ozeanien 62,7 63,4 61,9 63,3 64,5 62,0<br />

Am wenigsten entwickelte Länder 48,5 53,4 43,5 50,1 54,0 46,1<br />

Binnenländer 53,7 59,1 48,1 57,4 63,4 51,3<br />

Kleine Inselstaaten 73,5 73,2 73,8 78,4 77,8 78,9<br />

1. Daten beziehen sich auf 1999/2000.<br />

Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends. <strong>Millennium</strong> Indicators Database<br />

(http://millenniumindicators.un.org, 06.2005); basierend auf Daten der UNESCO.


der Anteil der Jungen um 12 bzw. 10 Prozentpunkte höher als<br />

jener der Mädchen war. Eine große Kluft gibt es auch in Afrika<br />

südlich der Sahara, wo der Anteil der Jungen den der Mädchen<br />

um 7 Prozentpunkte überstieg. In Nordafrika stieg die<br />

Rate von 82 auf 93 Mädchen pro 100 Jungen, und in Südasien<br />

erhöhte sie sich von 76 auf 85. In einigen Ländern beträgt der<br />

Anteil von Schülerinnen in den Grundschulen jedoch lediglich<br />

75 % oder weniger (UN Statistic Division 2005a). <strong>Die</strong> Vorgabe<br />

der gleichen Einschulungsquote in Sekundarschulen weist<br />

Nordafrika, Südostasien und GUS-Europa als jene Weltregionen<br />

aus, in denen das Ziel erfolgreich umgesetzt wurde. Eine<br />

einzige Region – Lateinamerika und die Karibik – befindet sich<br />

auf dem Weg der Zielerreichung, während es in Afrika südlich<br />

der Sahara, Süd- und Westasien sowie Ozeanien nur sehr<br />

schleppende Fortschritte gab (UNDESA 2004, 3).<br />

Geschlechterparität bei der Alphabetisierungsrate<br />

Laut Statistiken der UNESCO für 2000–2004 sind zwei Drittel<br />

der weltweit 800 Mio. Analphabeten Frauen. Von den 137 Mio.<br />

jugendlichen Analphabeten sind 85 Mio. Frauen, also 63 %<br />

(UNESCO 2004). <strong>Die</strong> größte Kluft weist die Region Südasien<br />

auf, wo die Alphabetisierungsrate bei Frauen um 19 Prozentpunkte<br />

geringer ist als bei Männern. In Ländern wie Benin,<br />

Tschad und Liberia beträgt die Differenz über 30 Prozentpunkte<br />

(UN Statistic Division 2005b). Gleichwohl gab es bei<br />

der Angleichung der Alphabetisierung von jungen Frauen und<br />

Männern die größten Fortschritte. Ostasien, Südostasien, Lateinamerika<br />

und die Karibik, GUS-Europa und GUS-Asien erreichten<br />

die gesetzten Vorgaben. Nur sehr schleppend geht die<br />

auf ein ausgewogenes Geschlechterverhältnis bezogene Alphabetisierung<br />

in Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Süd- und<br />

Westasien sowie Ozeanien voran (UNDESA 2004, 3).<br />

185


186<br />

Tabelle 2<br />

Geschlechterdisparitäten bei der Alphabetisierungsrate<br />

(15–24 Jährige) 1990 und 2000/04<br />

1990 2000/04<br />

Alphabetisierungsrate<br />

15–24<br />

Alphabetisierungsrate<br />

15–24<br />

Region Frauen Männer Frauen Männer<br />

Industrieländer 99,6 99,7 99,7 99,7<br />

GUS, Asien 97,7 97,7 98,8 98,8<br />

Entwicklungsregionen 75,8 85,8 80,7 89,0<br />

Nordafrika 55,8 76,3 72,5 84,1<br />

Afrika südlich der Sahara 59,8 74,9 69,3 79,0<br />

Lateinamerika/Karibik 92,7 92,7 95,9 95,2<br />

Ostasien 93,3 97,6 98,6 99,2<br />

Südasien 51,0 71,1 62,8 81,6<br />

Süd-Ostasien 93,1 95,5 95,1 96,4<br />

Westasien 71,5 88,2 80,3 90,7<br />

Ozeanien 68,0 78,5 78,1 84,4<br />

Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends,<br />

<strong>Millennium</strong> Indicators Database (http://millenniumindicators.un.org,<br />

06.2005); basierend auf Daten der UNESCO.<br />

Gender-Gerechtigkeit auf dem Arbeitsmarkt<br />

In der formellen Wirtschaft gibt es noch immer sehr große<br />

Gender-Disparitäten. Trotz geringer Fortschritte haben Frauen<br />

in Süd- und Westasien sowie in Nordafrika weiterhin nur einen<br />

Anteil von etwa 20 % der bezahlten Arbeitsplätze außerhalb<br />

des Agrarsektors. In Lateinamerika und der Karibik liegt<br />

ihr Anteil bei 40 % (UNSTATS 2005). <strong>Die</strong> informelle Wirtschaft<br />

ist für Frauen nach wie vor der wichtigste Bereich, in dem sie<br />

Beschäftigung finden. Ihr prozentualer Anteil in diesem Sektor<br />

ist im Allgemeinen höher als der von Männern. <strong>Die</strong>ser Unter-


schied ist besonders ausgeprägt in Afrika südlich der Sahara,<br />

wo 84 % der Frauen im informellen Sektor arbeiten, verglichen<br />

mit 63 % der Männer. In Nordafrika und im Mittleren Osten<br />

kehrt sich dieses Muster jedoch um; dort ist die Beschäftigung<br />

im informellen Sektor für Männer wichtiger als für Frauen<br />

(UNSTATS 2005). Frauen repräsentieren auch die Mehrheit<br />

der Working Poor: Von 550 Mio. weltweit sind etwa 330 Mio.<br />

Frauen; das entspricht 60 % (ILO 2004, 2).<br />

Gender-Gerechtigkeit in nationalen Parlamenten<br />

Geschlechter-Parität gibt es weltweit in keinem Nationalparlament.<br />

Mit Stand von 1. Januar 2005 haben nur 17 Länder das<br />

vom UN-Wirtschafts- und Sozialrat (ECOSOC) 1990 gesetzte<br />

Ziel von 30 % oder mehr Frauenanteil bei den Abgeordnetensitzen<br />

in Nationalparlamenten erreicht. Frauen sind in den<br />

Parlamenten von Mikronesien, Kuwait und Nauru überhaupt<br />

nicht vertreten. Dagegen wurden bei den ersten Parlamentswahlen<br />

nach dem Krieg in Ruanda 2003 mit 48,8 % überwältigend<br />

viele Frauen gewählt (UN Statistic Division 2005b). In<br />

keinem anderen nationalen Parlament ist der Frauenanteil so<br />

hoch. Ostasien und GUS-Asien weisen sogar rückläufige Tendenzen<br />

auf; in Nordafrika, Afrika südlich der Sahara, Südostasien,<br />

Ozeanien sowie in Lateinamerika und der Karibik gibt es<br />

sehr schleppende Fortschritte. In Westasien ist der Frauenanteil<br />

unverändert gering, und GUS-Europa hat erst in jüngster<br />

Zeit Forschritte gemacht (UNDESA 2004, 3).<br />

187


Tabelle 3<br />

Länder mit einem Anteil von 30 % an weiblichen<br />

Abgeordneten in nationalen Parlamenten (Stand: 1.1.2005)<br />

188<br />

Prozentsatz der<br />

Parlamentssitze<br />

von Frauen<br />

Zahl der Parlamentssitze<br />

von<br />

Frauen<br />

Absolute Zahl<br />

an Parlamentssitzen<br />

Ruanda 48,8 39 80<br />

Schweden 45,3 158 349<br />

Norwegen 38,2 63 165<br />

Dänemark 38,0 68 179<br />

Finnland 37,5 75 200<br />

Niederlande 36,7 55 150<br />

Kuba 36,0 219 609<br />

Spanien 36,0 126 350<br />

Costa Rica 35,1 20 57<br />

Mosambik 34,8 87 250<br />

Belgien 34,7 52 150<br />

Österreich 33,9 62 183<br />

Argentinien 33,7 86 255<br />

Deutschland 32,8 197 601<br />

Südafrika 32,8 131 400<br />

Guyana 30,8 20 65<br />

Island 30,2 19 63<br />

Quelle: United Nations Statistics Division: World and regional trends.<br />

<strong>Millennium</strong> Indicators Database (http://millenniumindicators.un.org,<br />

06.2005); basierend auf Daten der Inter-Parliamentary Union.


Ausblick auf 2015: Ohne Empowerment von Frauen<br />

wird kein MDG-Ziel erreicht werden<br />

In den 1990er Jahren gelang es den UN erstmals, den vielfältigen<br />

Herausforderungen der Entwicklung einen normativen<br />

Rahmen zu geben und gemeinsame Entwicklungsprioritäten<br />

zu setzen. <strong>Die</strong>se bildeten das Fundament für die MDGs, die<br />

weltweit akzeptierte Richtwerte für Entwicklung sind.<br />

Das den MDGs zugrunde liegende Verständnis von Entwicklung<br />

basiert auf der Grundbedürfnisstrategie, das tragende<br />

Konzept ist jenes der geschlechterblinden Reduzierung<br />

von Armut. Der Ansatz »Integration der Frauen in die<br />

Entwicklung« zielt auf die Einbeziehung von Frauen in einen<br />

nicht weiter hinterfragten Entwicklungsprozess ab. »Integration<br />

in Entwicklung« bedeutet jedoch nicht zugleich die Aufhebung<br />

von (anderen) Diskriminierungsverhältnissen. <strong>Die</strong>ser<br />

Umstand, der nach den Resultaten der UN-Frauendekade von<br />

Gender-Aktivisten und -Aktivistinnen artikuliert wurde, wird<br />

auch bei der Analyse der MDGs sichtbar.<br />

Insbesondere die Tatsache, dass die Ziele eher mit dem<br />

trickle down als mit dem bottom up-Ansatz arbeiten, erschwert<br />

Gender Empowerment-Aktivitäten. Wissenschaft und Frauenbewegungen<br />

kritisieren deshalb den Ansatz »Integration der<br />

Frauen in die Entwicklung« nachdrücklich. Es gehe nicht<br />

darum, Frauen in eine (vorgezeichnete) Entwicklung zu integrieren,<br />

sondern darum, die Macht von Frauen zusammen mit<br />

anderen benachteiligten gesellschaftlichen Gruppen in ökonomischen,<br />

politischen und kulturellen Entscheidungsprozessen<br />

zu stärken. Es geht also um eine Neudefinition von Entwicklung,<br />

die die Veränderbarkeit von Machtverhältnissen in den<br />

Blick nimmt, kurz: um Empowerment.<br />

Auch die Ursachen geschlechtsspezifischer Ungleichheit<br />

bleiben ausgeklammert. <strong>Die</strong> Welt erscheint mehr oder weniger<br />

als eine weitgehend geschlechterneutrale Tabula rasa. Fragen<br />

nach der Entstehung und Ausbreitung patriarchaler Herrschaft<br />

189


verweilen in der historischen Dunkelkammer. Unerwähnt bleiben<br />

auch diejenigen, die in Zeiten des Neoliberalismus von<br />

sexistischer Diskriminierung und von ungleich gestalteten Geschlechterverhältnissen<br />

– von der Ausbeutung der Frauen in<br />

den Weltmarktfabriken bis hin zum interkontinentalen Frauenhandel<br />

– profitieren.<br />

Der Sachs-Bericht (2005, 45f.) spricht die in den MDGs systematisch<br />

vernachlässigten Bereiche an. Einer der wichtigsten<br />

ist die Gleichstellung der Geschlechter, im ökonomischen Jargon:<br />

Investitionen in die Überwindung weit verbreiteter geschlechtsspezifischer<br />

Benachteiligungen durch einen gleichberechtigten<br />

Zugang zu Wirtschaftsgütern, Grund und Boden,<br />

Wohnraum, Steigerung der Grundschulabschlussquote, ein<br />

besserer Zugang zu weiterführender Bildung, Chancengleichheit<br />

auf dem Arbeitsmarkt, Freiheit von Gewalt und verstärkte<br />

Vertretung von Frauen auf allen politischen Ebenen. Unabdingbar<br />

ist auch die Mitwirkung der verschiedenen Frauenorganisationen,<br />

die die Bedürfnisse der Menschen (vor allem<br />

auch der Armen) kennen und damit eine effektive Umsetzung<br />

der MDGs gewährleisten können.<br />

<strong>Die</strong> MDGs bilden mittlerweile den Dreh- und Angelpunkt<br />

der internationalen Entwicklungspolitik. Das Erreichen der<br />

Ziele wird von sektorübergreifenden gender-bezogenen Maßnahmen<br />

abhängen. Eine Grundvoraussetzung ist dabei, dass<br />

jede Frau über die Mittel für ein menschenwürdiges Leben<br />

verfügt. Zu diesen gehört der Zugang zu ökonomischen, politischen<br />

und sozialen Ressourcen, Machtpositionen und<br />

Rechten.<br />

Gegenwärtig setzen sich Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen<br />

von UN-Organisationen und nationalen Entwicklungsagenturen<br />

sowie zivilgesellschaftliche Netzwerke dafür ein, die<br />

MDGs nach dem Motto »ein bisschen Gender ziert jedes MDG-<br />

Ziel« geschlechtergerechter zu gestalten. Eine wichtige Forderung<br />

ist hierbei, die MDGs mit der Aktionsplattform von Beijing<br />

und der Frauenrechtskonvention CEDAW zu verbinden. In ei-<br />

190


ner Welt, in der Armut ein weibliches Gesicht hat, wird es keine<br />

Reduzierung von Armut geben können, ohne dass Geschlechterungleichheiten<br />

sichtbar gemacht, beim Namen genannt und<br />

verändert werden. In gender-politischer Hinsicht dürfen die<br />

MDGs kein Ersatz für die Aktionsplattform von Beijing und<br />

CEDAW sein.<br />

<strong>Die</strong> Zwischenberichte der UN deuten nicht darauf hin,<br />

dass die MDGs in ihren gender-spezifischen Punkten erreicht<br />

werden. <strong>Die</strong> Worte des uruguayischen Journalisten Eduardo<br />

Galeano (1973, 197) »Entwicklung ist eine Reise mit mehr<br />

Schiffbrüchigen als Seefahrern« werden aller Voraussicht nach<br />

im Hinblick auf die Ungleichheit zwischen den Geschlechtern<br />

auch 2015 noch ihre Gültigkeit haben.<br />

Zur Erreichung der geschlechterbezogenen MDGs sind<br />

enorme Anstrengungen der von Hunger und Elend betroffenen<br />

Länder sowie grundlegende Reformen auf internationaler<br />

Ebene in den Bereichen Politik, Bildung, Gesetzgebung<br />

und Ökonomie erforderlich. Es geht um gemeinsame Anstrengungen<br />

sowohl von Seiten der politisch Verantwortlichen als<br />

auch um eine unermüdliche Lobbyarbeit von Feministen und<br />

Feministinnen, um die Welt bis 2015 geschlechtergerechter zu<br />

gestalten.<br />

Literatur<br />

Annan, Kofi, 2005: In größerer Freiheit: Auf dem Weg zu Entwicklung, Sicherheit<br />

und Menschenrechte für alle, Vereinte Nationen, Generalversammlung<br />

A/59/2005, Bericht des Generalsekretärs vom 21.03.2005.<br />

New York.<br />

Antrobus, Peggy, 2004: MDGs – The Most Distracting Gimmick, in: Carol<br />

Barton/Laurie Prendergast (Hg.), Seeking Accountability on Women’s<br />

Human Rights: Women Debate the <strong>Millennium</strong> Development Goals.<br />

Mumbai, S. 14–16.<br />

191


Fues, Thomas/Brigitte Hamm (Hg.) 2001: <strong>Die</strong> Weltkonferenzen der 90er<br />

Jahre: Baustellen für Global Governance (Reihe EINE Welt der Stiftung<br />

Entwicklung und Frieden, Bd. 12). Bonn.<br />

Galeano, Eduardo, 1973: <strong>Die</strong> offenen Adern Lateinamerikas. Wuppertal.<br />

ILO (International Labour Organization), 2004: Global Employment<br />

Trends, Januar. Genf.<br />

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Wichterich, Christa, 2005: Ein entwicklungspolitischer Katechismus, in:<br />

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192


Dritter Teil:<br />

Herausforderungen


STEPHAN KLINGEBIEL<br />

Mit einem big push aus der Armutsfalle?<br />

Der Sachs-Bericht ist kein Patentrezept<br />

Vor dem Hintergrund ungenügender bzw. ausbleibender Entwicklungserfolge,<br />

die sich derzeit in der (Nicht-)Erreichung<br />

der <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />

Goals, MDGs) widerspiegeln, findet eine intensive Debatte<br />

über die Strategien der Entwicklungspolitik vor allem im Hinblick<br />

auf den afrikanischen Kontinent statt. <strong>Die</strong> Gründe für die<br />

gestiegene internationale Aufmerksamkeit für Afrika südlich<br />

der Sahara sind vielschichtig und erstrecken sich von geostrategischen<br />

Interessen über Fragen der internationalen Energieversorgung<br />

bis hin zu einer größeren Beachtung der afrikanischen<br />

Konflikte und der afrikanischen Sicherheitsarchitektur<br />

(Klingebiel 2005).<br />

Afrika im Mittelpunkt der Debatte<br />

über eine neue Entwicklungspolitik<br />

Das gestiegene entwicklungspolitische Interesse an Afrika<br />

südlich der Sahara hängt zu einem erheblichen Teil mit den<br />

entwicklungspolitischen »Großereignissen« im Jahr 2005 zusammen.<br />

<strong>Die</strong> wichtigsten waren zum einen der G8-Gipfel in<br />

Gleneagles mit der im Vorfeld von der britischen Regierung<br />

eingesetzten Commission for Africa (CFA), die einen vielbeachteten<br />

Bericht herausgegeben hat, und zum anderen der <strong>Millennium</strong>+5-Gipfel,<br />

der im September 2005 eine Zwischenbilanz<br />

zur Umsetzung der MDGs zog. Grundlage dafür war ein<br />

umfassender Bericht unter der Leitung von Jeffrey Sachs (UN<br />

194


<strong>Millennium</strong> Project), der zu Beginn des Jahres 2005 veröffentlicht<br />

worden war.<br />

In den Debatten rund um diese Großereignisse sind verschiedene<br />

Kontroversen zutage getreten:<br />

Erstens stellt sich die Frage nach Erklärungsansätzen für<br />

die bestehenden Entwicklungsdefizite. Hier kommt es zunehmend<br />

zu einer Polarisierung zwischen Ansätzen, die in<br />

den bestehenden governance-Problemen und solchen, die<br />

in »Armutsfallen« und klassischen Strukturdefiziten (hohe<br />

Transportkosten etc.) die zentralen Ursachen und dementsprechend<br />

die relevanten Handlungsfelder sehen.<br />

Zweitens hat die massive Aufstockung der Mittel für öffentliche<br />

Entwicklungszusammenarbeit (Official Development<br />

Assistance, ODA) – die sich 2004 auf knapp 26 Mrd. US-$<br />

für Afrika südlich der Sahara beliefen – einen prominenten<br />

Platz in den Schlussfolgerungen wichtiger Analysen erhalten.<br />

Gerade der Umfang der ODA für Afrika südlich der Sahara<br />

wird von vielen – nicht zuletzt von Jeffrey Sachs und<br />

der Commission for Africa – als völlig unzureichend erachtet.<br />

Den Plädoyers für eine höhere ODA stehen allerdings Argumente<br />

gegenüber, die auf mögliche Fehlanreize (abnehmende<br />

Notwendigkeit, eigene Ressourcen aufzubringen<br />

etc.), negative Begleitwirkungen und die technisch-administrative<br />

Absorptionsfähigkeit hinweisen.<br />

Drittens betrifft die Debatte grundsätzliche Fragen einer<br />

ODA-Reform mit dem Ziel, ihre Qualität und Wirksamkeit<br />

zu steigern. Hier bildet der im Februar 2005 erreichte Konsens<br />

von Gebern und Partnervertretern in Form der Paris<br />

Declaration on Aid Effectiveness einen internationalen Meilenstein.<br />

<strong>Die</strong> Erklärung übt einen echten Handlungsdruck<br />

aus, weil sie quantifizierte Ziele enthält. Weitere Vorschläge<br />

etwa im Hinblick auf eine Ausweitung der Programmfinanzierung<br />

und eine Reform der Technischen Zusammenarbeit<br />

werden diskutiert.<br />

195


<strong>Die</strong> Ereignisse des Jahres 2005 markierten einen Höhepunkt in<br />

der internationalen Debatte. Verschiedene Hinweise sprechen<br />

dafür, dass diese Aufmerksamkeit auch künftig erhalten bleiben<br />

kann. <strong>Die</strong> britische Regierung, die schon 2005 (politisch<br />

nicht ganz uneigennützig) eine entscheidende treibende Kraft<br />

für die Afrika-Aufmerksamkeit war, will sich weiterhin mit<br />

der Region profilieren. Ein Jahr nach dem G8-Gipfel in Gleneagles<br />

initiierte der britische Premierminister Tony Blair ein<br />

Africa Progress Panel, das jährlich für die G8, die UN und das<br />

so genannte Africa Partnership Forum einen Bericht über Umsetzungsfortschritte<br />

seit 2005 erstellen will. UN-Generalsekretär<br />

Kofi Annan hat sich bereit erklärt, das Panel zu leiten.<br />

Aus entwicklungspolitischer Sicht ist es enorm wichtig, die<br />

bislang einmalige Dynamik für das Thema zu nutzen. <strong>Die</strong> laufende<br />

Debatte bietet die Chance einer Ausweitung der externen<br />

Unterstützung für den Kontinent. Anderseits sollte die politische<br />

Schubkraft für das Thema nicht zu einer Einengung auf<br />

vereinfachende, möglicherweise sogar falsche Erklärungsansätze<br />

und Handlungsoptionen führen, die mit Konzepten wie<br />

der »Armutsfalle«, dem big push oder der Verdoppelung der<br />

ODA verbunden sein könnten. Risiken bestehen auch darin,<br />

dass der potenzielle Einfluss externer Akteure überbewertet<br />

und die mögliche Geschwindigkeit, mit der Erfolge erreicht<br />

werden können, überschätzt werden. Es könnte eine langfristige<br />

Frustration aufgrund von überzogenen Erwartungen<br />

drohen.<br />

Damit die kontroversen Debatten nicht in einen unfruchtbaren<br />

»Schulenstreit« münden, ist es sinnvoll, vorrangig auf<br />

Länderebene die zentralen Problemursachen zu benennen:<br />

Sind es bestimmte Politiken der Länder, die verhindern, dass<br />

sich die gewünschten Wirkungen entfalten? Oder sind konkrete<br />

Finanzierungsengpässe das Kernproblem? In der Summe<br />

wird es wichtig bleiben, dass einerseits die afrikanischen Partner<br />

die zentralen governance-Defizite (kleptokratische Systeme,<br />

gewaltsame Konflikte, mangelhafte Rechtstaatlichkeit etc.)<br />

196


verstärkt bearbeiten, andererseits aber auch die Geber ihre Verpflichtungen<br />

zur ODA-Erhöhung einhalten und zugleich Maßnahmen<br />

zur Steigerung der ODA-Effektivität verstärken.<br />

<strong>Die</strong> »Armutsfalle«:<br />

Ein Erklärungsansatz für Afrika südlich der Sahara?<br />

Afrika südlich der Sahara hinkt den sozialen und ökonomischen<br />

Entwicklungen aller anderen Entwicklungsregionen<br />

deutlich hinterher. Im Hinblick auf die Erreichung der MDGs<br />

ist der Kontinent off track; das heißt, er kann bislang die gesteckten<br />

Ziele nicht erreichen. <strong>Die</strong> durchschnittliche Lebenserwartung<br />

liegt bei nur 46 Jahren (2003). Rund die Hälfte aller<br />

Menschen lebt in absoluter Armut, wobei die Zahl der Armen<br />

von 313 Mio. (2001) bis 2015 auf voraussichtlich 340 Mio. ansteigen<br />

wird.<br />

Allerdings weisen einzelne Länder und Regionen vom<br />

Durchschnitt stark abweichende oder sogar widersprüchliche<br />

Entwicklungen auf. Ökonomische Besonderheiten zeigen das<br />

wirtschaftlich leistungsfähige Südafrika, relativ erfolgreiche<br />

kleinere Länder (wie Mauritius und die Seychellen) sowie die<br />

Erdöl- (Angola, Äquatorialguinea, Nigeria, Tschad etc.) und<br />

Bergbauökonomien (Botswana und andere).<br />

Afrika südlich der Sahara befindet sich derzeit in einer<br />

Phase wirtschaftlichen Aufschwungs. Nachdem die Region<br />

etwa zwei Jahrzehnte lang das geringste Wachstum aller Entwicklungsregionen<br />

aufwies, ist in den vergangenen fünf Jahren<br />

ein vergleichsweise günstiges Pro-Kopf-Wachstum erreicht<br />

worden. Der World Economic Outlook des Internationalen Währungsfonds<br />

geht für das Jahr 2005 von einem realen Wachstum<br />

in Höhe von 5,3 % aus, was einem Wachstum pro Kopf<br />

von rund 3,4 % entspricht (IMF 2006). Darüber hinaus seien die<br />

weiteren wirtschaftlichen Aussichten vergleichsweise günstig.<br />

Allerdings ist zu beachten, dass die derzeitige und zu erwar-<br />

197


tende wirtschaftliche Erholung überdurchschnittlich stark auf<br />

die afrikanischen Erdölökonomien zurückgeht, das Wachstum<br />

in den meisten Fällen von einer geringen wirtschaftlichen Leistungskraft<br />

startet und trotz der positiven Entwicklungen nicht<br />

damit zu rechnen ist, dass die Wachstumsraten ausreichen, die<br />

MDGs zu erfüllen.<br />

In der Debatte darüber, wie sich die Entwicklungsdefizite<br />

der Region erklären lassen und welche Schlussfolgerungen<br />

hieraus zu ziehen sind, bilden sich zunehmend zwei »Lager«<br />

heraus:<br />

1.<br />

<strong>Die</strong> von Jeffrey Sachs identifizierte »Armutsfalle« (poverty<br />

trap) – eine inhaltlich auch von der Commission for Africa<br />

(CFA) geteilte Diagnose (Kielwein 2005) – geht von der Kombination<br />

einer geringen Sparrate mit einem hohen Bevölkerungswachstum<br />

aus, was zu einer Stagnation bei der Kapitalakkumulation<br />

führt, wodurch wiederum das Wirtschaftswachstum<br />

nicht eine sich selbsttragende Dynamik erreicht.<br />

Sachs sieht vorrangig fünf strukturelle Gründe, warum<br />

Afrika südlich der Sahara die verwundbarste Weltregion<br />

ist: (1) Hohe Transportkosten und kleine Märkte, (2) geringe<br />

landwirtschaftliche Produktivität (fehlende »grüne Revolution«),<br />

(3) hohe Belastungen durch Krankheiten (HIV/AIDS,<br />

Malaria etc.), (4) »Geschichte ungünstiger Geopolitik« (unter<br />

anderem durch europäische und arabische Sklaverei, Belastungen<br />

aufgrund des Kalten Krieges etc.) und (5) langsame<br />

Verbreitung von ausländischen Technologien (zur Krankheitsprävention,<br />

Steigerung der Agrarproduktivität etc.).<br />

Der Armutsfallen-Ansatz geht von der Notwendigkeit einer<br />

breit angelegten Gegenstrategie – eines big push – aus.<br />

Bildlich gesprochen: ein Feuerwehrmann reicht nicht aus,<br />

um einen Großbrand unter Kontrolle zu bringen. <strong>Die</strong>ser big<br />

push sei nicht mit den eigenen Ressourcen des Kontinents<br />

möglich. Erforderlich sei daher ein massives Aufstocken<br />

der ODA für die Region.<br />

198


2.<br />

<strong>Die</strong> Kritik am big push-Konzept und an der Forderung nach<br />

einer ODA-Verdoppelung setzte rasch ein. Sie verweist auf<br />

die lange Tradition des big push-Ansatzes und einer außenfinanzierten<br />

Strategie (Asche 2006). Beides habe sich nicht<br />

als sinnvoll erwiesen. Insbesondere aus einer governance-<br />

Perspektive werden Gegenargumente vorgebracht. Demnach<br />

sind es vor allem Schwächen im Regierungshandeln<br />

der betroffenen Länder, die dazu führen, dass Fortschritte<br />

nicht stattfinden. Nicht fehlende finanzielle Ressourcen,<br />

sondern falsche Politiken verhinderten Entwicklungserfolge.<br />

<strong>Die</strong>s treffe unter anderem für Länder mit bewaffneten<br />

Konflikte oder grundlegenden governance-Problemen<br />

zu (etwa Simbabwe). Außerdem verfügt eine Reihe von<br />

Ländern über beträchtliche Einkommen (etwa aufgrund<br />

von Erdöl), die allerdings nicht in allen Fällen sinnvoll verwendet<br />

würden.<br />

Sowohl die Argumente der big push- als auch der governance-<br />

Befürworter werden in aller Regel nicht ohne Berücksichtigung<br />

der jeweils anderen Debatten vorgebracht. So bezieht<br />

der CFA-Bericht vergleichsweise intensiv governance-Fragen<br />

ein und umgekehrt wird ein ausreichendes wirtschaftliches<br />

Wachstum von den meisten governance-Vertretern als eine notwendige<br />

(wenn auch nicht hinreichende Bedingung) für Entwicklungserfolge<br />

anerkannt.<br />

Allerdings sind die inhaltlichen Differenzen von prinzipiellem<br />

Charakter: Zum einen findet in den Debatten vielfach<br />

eine Verengung des governance-Begriffes auf Aspekte der administrativen<br />

governance (effizientes und transparentes Verwaltungssystem<br />

etc.) statt, während der Stellenwert der politischen<br />

governance (Respektierung demokratischer Prinzipien,<br />

Einhaltung politischer Menschenrechte etc.) vernachlässigt<br />

wird (Kielwein 2005). Zum anderen sind die angenommenen<br />

Wirkungsketten grundsätzlich unterschiedlich. So argumentiert<br />

Sachs, dass viele Teile Afrikas südlich der Sahara »besser<br />

regiert« würden als dies die Einkommenssituation vermuten<br />

199


lasse. <strong>Die</strong>sem Argument wird allerdings von einigen Teilnehmern<br />

der Debatte ausdrücklich widersprochen. Empirische<br />

Auswertungen zeigen demnach, dass die unterstellte positive<br />

Wirkung eines höheren Einkommens auf die governance-<br />

Qualität unzulässig ist (vielmehr in umgekehrter Richtung<br />

wirkt) und die governance-Qualität in der Region im Durchschnitt<br />

keinesfalls im Hinblick auf die Einkommenshöhe »relativ<br />

gut« ist (Kraay 2005, 12).<br />

Wie viel Hilfe hilft Afrika südlich der Sahara?<br />

Im Jahr 2004 stellte die internationale Gebergemeinschaft nach<br />

Angaben des Entwicklungsausschusses (DAC) der Organisation<br />

für wirtschaftliche Entwicklung und Zusammenarbeit<br />

(OECD) insgesamt 79,5 Mrd. US-$ ODA zur Verfügung; auf<br />

Afrika südlich der Sahara entfielen hiervon 25,5 Mrd. US-$.<br />

<strong>Die</strong>s entspricht einem Anteil von 32 %, wobei der Anteil Afrikas<br />

südlich der Sahara eine zunehmende Tendenz aufweist (OECD<br />

2006, 212ff.). <strong>Die</strong> wichtigsten bi- bzw. multilateralen Geber in<br />

der Region waren 2003/2004 in dieser Reihenfolge: die USA,<br />

Frankreich, Großbritannien, Deutschland und die Niederlande<br />

bzw. die International Development Association (IDA) der<br />

Weltbank und die EU-Kommission. Einige Geber stellen den<br />

größten Teil ihrer ODA für Afrika südlich der Sahara zur Verfügung,<br />

was sich etwa bei Frankreich mit den kolonialen Beziehungen<br />

erklären lässt, zum Teil aber auch einem armutsbasierten<br />

Ansatz folgt. Der ganz überwiegende Teil der bilateralen<br />

und etwa 40 % der multilateralen ODA wird als nicht-rückzahlbarer<br />

Zuschuss (grant) bereitgestellt.<br />

<strong>Die</strong> ODA-Abhängigkeit der Region ist sehr hoch. <strong>Die</strong>se Abhängigkeit<br />

belegen verschiedene Indikatoren:<br />

ODA ist die wichtigste externe Finanzierungsquelle für<br />

Afrika südlich der Sahara. <strong>Die</strong> Finanzzuflüsse setzen sich<br />

zu 55 % aus ODA, zu 25 % aus ausländischen Direktinvesti-<br />

200


tionen (die sich auf sehr wenige Länder und Sektoren konzentrieren)<br />

und zu rund 15 % aus Überweisungen von Arbeitsmigranten<br />

in die Region (sowie 5 % sonstigen privaten<br />

Zuflüssen) zusammen.<br />

Das Verhältnis der ODA zum Bruttonationaleinkommen<br />

(BNE) ist mit 6,24 % hoch (1,16 % für alle Entwicklungsländer).<br />

Für eine Reihe von Ländern liegt dieser Anteil sogar<br />

deutlich über 20 % (Mosambik 60,3 %; Sierra Leone 47,0 %;<br />

Guinea-Bissau 30,5 %). Der ODA-Anteil an den öffentlichen<br />

Budgets ist nochmals höher und beträgt teilweise deutlich<br />

mehr als 50 %.<br />

Rechnerisch entfällt ein Pro-Kopf-Betrag von 34,5 US-$<br />

(2003) auf Afrika südlich der Sahara (im Durchschnitt für<br />

alle Entwicklungsländer: 14,2 US-$).<br />

<strong>Die</strong> derzeitige internationale Diskussion geht überwiegend<br />

davon aus, dass das ODA-Niveau für Afrika südlich der Sahara<br />

völlig unzureichend ist. Im Hinblick auf die Erreichung<br />

der MDGs wird mehrheitlich eine massive Erhöhung für notwendig<br />

erachtet. Der CFA-Bericht errechnet einen zusätzlichen<br />

jährlichen Bedarf von 25 Mrd. US-$ bis 2010 und weiteren jährlichen<br />

25 Mrd. US-$ bis 2015. Der Sachs-Bericht geht von einem<br />

ODA-Bedarf (für alle Regionen) in Höhe von 135 Mrd. US-$ bis<br />

zum Jahr 2006 und von 195 Mrd. US-$ bis zum Jahr 2015 aus.<br />

Grundsätzlich sind die Argumente der Befürworter einer<br />

ODA-Aufstockung plausibel. Allerdings gilt es, auch die möglichen<br />

Risiken einer solchen Strategie zu beachten. Probleme,<br />

die mit einer hohen ODA-Abhängigkeit bzw. einer massiven<br />

ODA-Erhöhung verbunden sind, können vielfältig sein (Kraay<br />

2005; Bräutigam/Knack 2004; Faust/Leiderer 2006; Asche 2006;<br />

Kielwein 2005):<br />

Ein höherer Ressourcenzufluss von außen kann nationale<br />

Mobilisierungsbemühungen schwächen. Es kann gegebenenfalls<br />

leichter sein, ODA einzuwerben, als eigene Finanzierungssysteme<br />

aufzubauen und zu unterhalten.<br />

201


Mangelnde finanzielle Ressourcen müssen nicht das Kernproblem<br />

eines Landes oder in einem Bereich sein. Erfolgreiche<br />

Politiken und die Funktionsfähigkeit von Institutionen<br />

hängen nicht von den zur Verfügung stehenden materiellen<br />

Ressourcen ab.<br />

Der relative Nutzen von ODA nimmt ab, wenn das Verhältnis<br />

von ODA zum BNE ein bestimmtes Verhältnis erreicht.<br />

<strong>Die</strong>ser Grenznutzen wird bei etwa 25–30 % des BNE gesehen.<br />

Der Sinn solcher Grenzwerte ist allerdings umstritten.<br />

In Ländern mit schlechter governance können massiv höhere<br />

ODA-Zuflüsse dysfunktional wirken (Stützung neopatrimonialer<br />

Strukturen etc.), vergleichbar etwa mit möglichen<br />

negativen Konsequenzen durch hohe Erdöl- oder Diamanteneinnahmen.<br />

Untersuchungen (unter anderem des Internationalen Währungsfonds)<br />

zeigen höhere Schwankungen und eine geringere<br />

Verlässlichkeit von ODA im Vergleich zu anderen Ressourcenzuflüssen.<br />

ODA kann daher tendenziell die Budgetmanagementfähigkeiten<br />

der Partnerländer und ihre<br />

Planungsbemühungen untergraben.<br />

Massive Finanzzuflüsse können die Exportkonkurrenzfähigkeit<br />

mindern, indem sie zu einer Wechselkursaufwertung<br />

beitragen (dutch disease).<br />

Mit höheren ODA-Zuflüssen sind also auch Risiken verbunden.<br />

<strong>Die</strong>se sprechen nicht prinzipiell gegen eine Aufstockung,<br />

wohl aber für eine ausreichende Beachtung der politischen,<br />

institutionellen und technischen Absorptionsfähigkeit.<br />

Wie wichtig ist Governance<br />

in Afrika südlich der Sahara?<br />

Untersuchungen zeigen, dass good governance die wirtschaftliche<br />

Leistungsfähigkeit (Wachstum) positiv beeinflusst und in<br />

einem engen konstruktiven Wechselverhältnis zur Anfälligkeit<br />

202


für Gewaltkonflikte steht. <strong>Die</strong> Bemühungen um Transparenz<br />

der governance performance haben in den vergangenen Jahren<br />

zugenommen. Neben Instrumenten wie dem Country Policy<br />

and Institutional Assessment (CPIA) der Weltbank hat die UN-<br />

Wirtschaftskommission für Afrika (UNECA) 2004 einen ersten<br />

empirischen Governance Report vorgelegt. Der Bericht kommt<br />

– ähnlich wie andere – zu dem Ergebnis, dass im Durchschnitt<br />

Fortschritte erkennbar sind (etwa im Hinblick auf demokratische<br />

Transition, politische Inklusion, Rechenschaftsstrukturen<br />

und öffentliches Budgetmanagement), aber weiterhin unbefriedigende<br />

Bereiche (etwa bei demokratischen governance-<br />

Strukturen, administrativen Kapazitäten, der Unabhängigkeit<br />

der Justiz) existieren.<br />

Eine besondere Rolle hat der so genannte African Peer Review<br />

Mechanism im Rahmen von NEPAD (New Partnership for<br />

Africa’s Development), zu dem sich bislang 26 afrikanische Länder<br />

verpflichtet haben und dessen erste Ergebnisse seit Anfang<br />

2006 vorliegen.<br />

Wirksamere Entwicklungspolitik<br />

Alle relevanten Dokumente, die eine Steigerung der ODA-<br />

Zuflüsse nach Afrika südlich der Sahara empfehlen, betonen<br />

gleichzeitig die Notwendigkeit, ihre Qualität und Wirksamkeit<br />

zu verbessern. Mit der Paris Declaration haben die Geber einen<br />

Konsens in dieser Diskussion erarbeitet. Verschiedene Empfehlungen,<br />

etwa von Jeffrey Sachs und der CFA, gehen über<br />

diesen Konsens hinaus.<br />

Es erweist sich zunehmend eine Doppelstrategie als notwendig:<br />

Länder mit schwierigen Rahmenbedingungen – insbesondere<br />

aufgrund von bewaffneten Konflikten oder besonders<br />

schlechter governance (auto- und kleptokratische Regime) – sind<br />

dabei von solchen Fällen zu unterscheiden, die glaubwürdige<br />

Bemühungen vor allem zur Erreichung der MDGs unterneh-<br />

203


men. Allerdings sind die meisten Länder weder ausschließlich<br />

und eindeutig als »negative« oder »positive« Fälle einzuordnen;<br />

es zeigen sich eine Vielzahl von abgestuften Situationen<br />

und vielfach sogar widersprüchliche Entwicklungen innerhalb<br />

eines Landes (gute Armutspolitik bei gleichzeitigen politischen<br />

Legitimitätsdefiziten etc.).<br />

In Systemen mit schwierigen Rahmenbedingungen können<br />

solche entwicklungspolitischen Ansätze im Vordergrund stehen,<br />

die eine direkte Bereitstellung von sozialen Grunddienstleistungen<br />

verfolgen oder über nationale zivilgesellschaftliche<br />

Akteure (Kirchen etc.) Maßnahmen fördern sowie gleichzeitig<br />

Anreize zur Verbesserung der governance-Qualität etablieren.<br />

Unter günstigen Voraussetzungen ist es dagegen zunehmend<br />

wichtig, die Eigenanstrengungen der Partner direkt zu<br />

unterstützen und damit ein neues Grundverhältnis der Geber-<br />

und Partnerseite zu etablieren. In diesen Fällen können Programmfinanzierungen<br />

eine wichtige Rolle spielen. <strong>Die</strong> bereits<br />

existierenden Strukturen der Partner für Planung (beispielsweise<br />

Budgetplanungsprozesse), Umsetzung (zum Beispiel<br />

Ausschreibungsverfahren) und Monitoring (Evaluierungen<br />

etc.) sollten der Weg sein, über den ODA eingesetzt wird.<br />

Parallel strukturen und projektbezogenes Vorgehen sind vor<br />

diesem Hintergrund nicht sinnvoll, weil die damit verbundenen<br />

Transaktionskosten hoch sind und die Partnerseite in ihrer<br />

Fähigkeit geschwächt wird, die Vielzahl der Akteure und unterschiedlichen<br />

Ansätze sinnvoll zu koordinieren. Empfehlungen<br />

beziehen sich hier unter anderem auf die Notwendigkeit zum<br />

pooling der Mittel verschiedener Geber, zum Abbau der Personalentsendung<br />

aus den Geberländern sowie zur Nutzung von<br />

Mitteln der Technischen Zusammenarbeit für direkte Anreize<br />

der lokalen Lohnstrukturen (salary enhancement programmes).<br />

Entwicklungspolitik ist mit Blick auf viele Länder Afrikas<br />

südlich der Sahara das wichtigste Gestaltungselement für externe<br />

Akteure. ODA ist in den meisten Ländern der Region ein<br />

zentraler Hebel. Sie kann eine wichtige Rolle bei der Überwin-<br />

204


dung der Entwicklungsdefizite und bei der Annäherung an die<br />

MDGs spielen. Insofern ist die Debatte über erhöhte Ressourcenzuflüsse<br />

in die Länder der Region wichtig und grundsätzlich<br />

richtig.<br />

ODA kann einen wichtigen Beitrag leisten, um leistungsfähige<br />

Länder (capable states) in Subsahara-Afrika zu unterstützen.<br />

<strong>Die</strong> zentrale Frage besteht darin, wie durch ODA Anreize<br />

für good governance geschaffen und für bad governance vermieden<br />

werden. Ressourcenzuflüsse allein stellen nicht sicher,<br />

dass Entwicklungsdefizite in einem Land besser gelöst werden<br />

können. Vielmehr besteht die Gefahr falscher Anreize. <strong>Die</strong> derzeitige<br />

Debatte geht dagegen von der Annahme besserer governance<br />

durch Ressourcenzuflüsse aus. <strong>Die</strong>se Argumentationskette<br />

ist irreführend, weil sie die entscheidende Bedeutung des<br />

Einflusses von governance einzugrenzen versucht.<br />

Höhere Leistungen sind damit nicht prinzipiell in Frage gestellt,<br />

sondern die Betonung liegt auf dem »richtigen« und ggf.<br />

schrittweisen Einsatz von mehr ODA. Ein höherer Anteil von<br />

Afrika südlich der Sahara an der gesamten ODA – mindestens<br />

50 % wurde von der G8-Gruppe im Jahr 2002 empfohlen – ist<br />

eine durchaus sinnvolle Vorgabe. Vor diesem Hintergrund hat<br />

die Debatte über eine wirksamere ODA eine große Berechtigung.<br />

In den Ländern, die über verantwortliche governance-<br />

Strukturen verfügen, deren eigene Politiken gefördert werden<br />

können, geht es darum, die jeweiligen Strukturen zu nutzen<br />

und nicht durch eine Vielzahl unterschiedlicher Geber mit eigenen<br />

Ansätzen und Apparaten zu überfordern.<br />

Zukünftig wird es noch wichtiger werden, für Länder mit<br />

schlechter governance und fragilen Strukturen sinnvolle andere<br />

Ansätze für ODA zu finden (Klingebiel 2006). <strong>Die</strong>s gilt zum<br />

einen, weil diese etwa ein Drittel der Länder der Region ausmachen.<br />

Zum anderen sind die Folgen eines Disengagements<br />

für die Länder selbst und für die jeweilige Region kritisch. Hier<br />

sind andere Ansätze und Instrumente erforderlich, etwa die<br />

Nutzung von zivilgesellschaftlichen Akteuren oder die Schaf-<br />

205


fung direkter <strong>Die</strong>nstleistungen für Zielgruppen, um eine wirksame<br />

Entwicklungspolitik zu betreiben.<br />

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OECD, 2006: Development Co-operation Report 2005. Paris.<br />

Sachs, Jeffery et al., 2004: Ending Africa’s Poverty Trap (Brookings Papers<br />

on Economic Activity, Nr. 1/2004). Washington D.C.<br />

UN <strong>Millennium</strong> Project, 2005: Investing in Development. A Practical Plan<br />

to Achieve the <strong>Millennium</strong> Development Goals. Report to the UN Secretary<br />

General, New York.<br />

World Bank, 2005: Capacity Building in Africa. Washington, D.C.<br />

206


ROSS HERBERT<br />

Wachstumsziele statt <strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Afrika braucht eine andere Reformagenda<br />

Mit Begeisterung haben die Vereinten Nationen, Geberländer<br />

und -organisationen, Wissenschaftler, Politiker und Journalisten<br />

die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> (<strong>Millennium</strong> Development<br />

Goals, MDGs) als wichtiges Instrument im weltweiten<br />

Kampf gegen die Armut begrüßt. Doch eine grundlegende<br />

Frage wurde weder gestellt noch beantwortet: Wird die Verfolgung<br />

der MDGs Entwicklung unterstützen oder ihr schaden,<br />

insbesondere in Afrika?<br />

<strong>Die</strong> Begründung für die Festsetzung von Zielen zur Verringerung<br />

von Armut scheint ebenso einfach wie einleuchtend.<br />

<strong>Die</strong> Welt hat eine Vorliebe für große Versprechungen – um<br />

sie dann nicht zu erfüllen. Und ein Großteil der öffentlichen<br />

Entwicklungsgelder nützt den Vertragspartnern aus der entwickelten<br />

Welt, fließt in verschwenderische, nicht nachhaltige<br />

Projekte oder wird von den Empfängerregierungen veruntreut.<br />

Im Ergebnis hat insbesondere Afrika für die mehr als<br />

eine Billion US-$, die es seit der Unabhängigkeit an Hilfe und<br />

Krediten verbraucht hat, wenig vorzuweisen. <strong>Die</strong> Festsetzung<br />

von Zielen und die Bewertung von Ländern nach ihrer Zielerreichung<br />

ist eine Möglichkeit, um die Entwicklungsindustrie<br />

dazu zu bringen, sich auf tatsächliche Ergebnisse und nicht<br />

nur auf Versprechungen und die Höhe vergebener Gelder zu<br />

konzentrieren. Mit diesem Gedanken haben der Internationale<br />

Währungsfonds (IWF), die Weltbank, UN-Organisationen und<br />

die Neue Partnerschaft für Afrikas Entwicklung (NEPAD) die<br />

MDGs als einen Wegweiser für Entwicklungsausgaben und als<br />

Messgröße ihrer Wirksamkeit begrüßt.<br />

207


<strong>Die</strong> positive Konnotation der MDGs in der entwicklungspolitischen<br />

Rhetorik ist als Reaktion auf die als herzlos und<br />

ineffizient empfundenen Strukturanpassungsprogramme des<br />

IWF der 1990er Jahre zu verstehen. Um das bedenkenlose<br />

deficit spending und kleptokratische Gebaren der 1970er und<br />

1980er Jahre zu beenden, hatte der IWF fiskalische Disziplin<br />

verordnet und verlangt, die staatlichen Ausgaben drastisch zu<br />

kürzen, die Inflation nicht durch ungehemmtes Geldmengenwachstum<br />

anzuheizen, staatliche Betriebe zu privatisieren und<br />

die Märkte zu liberalisieren. Auch wenn sie notwendig waren,<br />

hat die abrupte Art der Umsetzung der IWF-Reformen bekanntermaßen<br />

einen Rückschlag für die Armen bewirkt. Der IWF<br />

und andere Geber begannen daraufhin, die Verringerung von<br />

Armut als das Hauptziel zu verkünden. <strong>Die</strong> MDGs waren der<br />

Kulminationspunkt eines Richtungswandels im Denken – weg<br />

von der Korrektur makroökonomischer Größen hin zur Linderung<br />

der Auswirkungen von Armut.<br />

Zweifellos haben die MDGs zu einer konstruktiven globalen<br />

Debatte darüber beigetragen, wie die Entwicklungszusammenarbeit<br />

effektiver gemacht werden kann. <strong>Die</strong> Ära des Kalten<br />

Krieges, als Loyalitäten im Kampf zwischen Ost und West häufig<br />

trotz offensichtlicher Verschwendung und Korruption über<br />

die Vergabe von Entwicklungsgeldern entschieden, ist vorüber.<br />

Dennoch haben die MDGs negative Auswirkungen auf die<br />

Entwicklungsanstrengungen.<br />

<strong>Die</strong> MDGs können Afrikas<br />

wirkliche Probleme nicht lösen<br />

Das übergeordnete Problem ist, dass die MDGs eine Art politische<br />

Tarnung bieten, die die Aufmerksamkeit von der wichtigeren<br />

Frage ablenkt, warum Entwicklungsorganisationen<br />

keine langfristigen Ergebnisse erzielen. Um die Diskussion<br />

und Verfolgung der MDGs ist eine regelrechte Industrie ent-<br />

208


standen. Websites und Bücher widmen sich ihnen. Mitarbeiter<br />

von Hilfsorganisationen sind für sie verantwortlich, Statistiker<br />

messen sie. Eine Google-Suche ergab 7.130.000 Internetseiten<br />

zu diesem Thema. All dies verbindet sich zu einem Nebelvorhang,<br />

hinter dem die realen Fragen von Entwicklungszusammenarbeit<br />

und Entwicklung verschwinden.<br />

Auf politischer Ebene erleichtern es die MDGs Politikern<br />

und Entwicklungsorganisationen, den harten Fragen auszuweichen.<br />

Anstatt zu diskutieren, warum die Organisationen<br />

schlecht konzipierte Projekte auswählen, oder die Anreize für<br />

Mitarbeiter zu überdenken, die zu unangemessenen Projektentscheidungen<br />

führen, bläst die Hilfsindustrie ihre Arbeit mit<br />

immer neuer Armutsbekämpfungsrhetorik auf.<br />

Doch leider konzentrieren sich die MDGs eher auf Symptome<br />

als auf Ursachen; sie halten Regierungen an, Erfolge über<br />

die sichtbaren Zeichen von Armut – niedrige Einkommen,<br />

Hunger, Krankheit – zu messen. <strong>Die</strong> MDGs haben enorme Entwicklungsanstrengungen<br />

ausgelöst. Aber numerische Ziele<br />

führen stets zu unbeabsichtigten Verhaltensweisen. Wenn beispielsweise<br />

ein Händler auf der Grundlage der Anzahl seiner<br />

Verkaufsabschlüsse unabhängig von deren Wert bezahlt wird,<br />

wird er mehr kleine als große Abschlüsse anstreben und so<br />

möglicherweise höhere Gesamterlöse verfehlen. Wird er nur<br />

für seinen Gesamterlös entlohnt, wird er kleine Kunden vielleicht<br />

als Zeitverschwendung ignorieren. Abhängig von der<br />

Branche können sich beide Anreizsysteme als verheerend erweisen.<br />

Genauso ist es mit der Armut.<br />

In schlecht verwalteten Ländern, deren Bürokratien über<br />

Generationen hinweg ihre Leistung niemals bewerten lassen<br />

mussten, erscheint eine solche Messung zunächst als gute Idee.<br />

Doch die MDGs vereinfachen übermäßig. Gelingt es beispielsweise<br />

Ländern, Mädchen in die Schule zu bringen, heißt das,<br />

dass sie die Gleichheit der Geschlechter und die Stärkung von<br />

Frauen erfolgreich gefördert haben? Solch eine Vereinfachung<br />

209


kann dazu führen, dass voreilig Erfolge verkündet werden, es<br />

kann aber auch die Fehlleitung von Ressourcen bedeuten.<br />

Im Fall von Bildung erscheint beispielsweise das Ziel allgemeiner<br />

Grundschulbildung politisch attraktiv, doch führt<br />

es zwangsläufig zu Entwicklung? Könnte Afrika nicht mehr<br />

Wachstum erreichen, wenn einige der Finanzmittel für die<br />

Grundschulbildung in technische Schulen umgeleitet würden,<br />

um jene Maurer, Zimmerleute und Elektriker hervorzubringen,<br />

die auf dem Kontinent chronisch knapp sind? In einer Welt unbegrenzter<br />

Ressourcen ist mehr Bildung besser als weniger.<br />

Sind die Ressourcen aber begrenzt, ist es nötig, die Primärbildung<br />

gegen die sekundäre, berufliche und tertiäre Bildung auszubalancieren.<br />

Durch die Fokussierung auf die Bruttoschülerzahl<br />

vernachlässigt Afrika ein noch wichtigeres Problem: Seine<br />

Schulen weisen bei der Wissensvermittlung an die Schüler<br />

eine ärmliche Bilanz auf. Viele Faktoren tragen hierzu bei, unter<br />

anderem unqualifizierte Lehrer, schlechte Lehreraus- und<br />

-fortbildung, niedrige Gehälter, unfähige Verwaltungen, Versorgungsmangel,<br />

schlechte Bücher und Lehrmittel, Unterricht<br />

in nicht vertrauten Kolonialsprachen sowie Lehrmethoden, die<br />

auf Auswendiglernen beruhen.<br />

Das Beispiel Sambia veranschaulicht das Problem falscher<br />

Schwerpunktsetzung. In der Kolonialzeit wurde an den Eliteschulen<br />

für die Kinder von Kolonialbeamten in Englisch unterrichtet,<br />

während so genannte Eingeborenenschulen sich der<br />

einheimischen Sprachen bedienten. Als Ausdruck politischer<br />

Symbolik verfügte Sambias erste Regierung, dass alle Kinder<br />

in Englisch unterrichtet werden sollten. Niemand wies darauf<br />

hin, dass es zu wenig Lehrer gab und auf dem Lande nur sehr<br />

wenige Familien Englisch sprachen. Dreißig Jahre vergingen,<br />

bevor systematische Bemühungen unternommen wurden, die<br />

Alphabetisierung zu messen. Dann wurde ermittelt, dass drei<br />

Viertel der Grundschulabsolventen funktionale An alphabeten<br />

waren, weil sie den Unterricht in einer Fremdsprache nur über<br />

sich hatten ergehen lassen.<br />

210


Um die Angemessenheit der MDGs zu ermitteln, muss man<br />

zuerst fragen, welches genau die Entwicklungsprobleme sind,<br />

die Afrika aufhalten. Ist der Kontinent weniger konkurrenzfähig,<br />

weil ihm Geld fehlt, oder fehlt ihm Geld, weil es an Produkten<br />

mangelt, die die Leute kaufen wollen, sowie an den<br />

Technologien, die es bräuchte, um mehr aus den natürlichen<br />

Ressourcen zu machen? Unterentwicklung führt zu Müttersterblichkeit,<br />

Tod durch vermeidbare Kinderkrankheiten und<br />

andere Leiden, doch die Heilung dieser Symptome würde<br />

Afrika nicht zwangsläufig das Know-how geben, um als entwickelter<br />

Kontinent dazustehen.<br />

<strong>Die</strong> MDGs werden Afrika nicht entwickeln, weil sie nicht<br />

auf Wachstum und Produktivität gerichtet sind. Ohne Wachstum<br />

wird Afrika der Armut niemals entkommen. Stattdessen<br />

wird es einer ewigen Eindämmung der schlimmsten Auswirkungen<br />

von Armut durch Almosen entgegensehen. Das ist<br />

kein Rezept für erfolgreiche Eigenständigkeit.<br />

Selbst wenn man annimmt, dass alle MDGs bis zum Zieljahr<br />

2015 erreicht werden, ist es möglich und sogar wahrscheinlich,<br />

dass Afrika dann wirtschaftlich weiter zurückliegt als heute.<br />

Selbst wenn Afrika die MDGs übertreffen und sich seinen Konflikten,<br />

Ordnungs- und Bildungsproblemen zuwenden würde,<br />

ist anzunehmen, dass sich die übrige Welt in weit schnellerem<br />

Tempo entwickeln und Afrika auf den wenigen Märkten, die<br />

der Kontinent hat, ausstechen würde. China hat die nötige<br />

Kapazität, niedrige Löhne und eine solide Infrastruktur, um<br />

Afrikas bescheidene verarbeitende Industrie auszulöschen.<br />

Und die konkurrenzfähigen tropischen Landwirtschaftsproduzenten<br />

in Lateinamerika und Südostasien könnten Afrika<br />

die Märkte für Kaffee, Tee, Kakao, Sisal und Gemüse wegnehmen,<br />

auf denen Afrika einen halbwegs festen Stand hat.<br />

<strong>Die</strong> MDGs haben sich des entwicklungspolitischen Denkens<br />

bemächtigt, weil die marktorientierten Strukturreformen<br />

des IWF kein schnelles Wachstum auslösten und in vielen Fällen<br />

die Arbeitslosigkeit erhöhten. Viele Politiker und Analyti-<br />

211


ker folgerten fälschlich, Afrika sei ein Sonderfall und die Konzentration<br />

auf Wachstum könne hier nicht wie überall sonst auf<br />

der Welt funktionieren.<br />

<strong>Die</strong> Ära der strukturellen Anpassung erwies die Wachstumsstrategien<br />

aber nicht als falsch. Vielmehr zeigte sie, dass<br />

strukturelle Anpassung notwendig, aber nicht hinreichend ist.<br />

Sie konzentrierte sich auf die Wiederherstellung finanzwirtschaftlicher<br />

Gesundheit, doch es hätte zusätzlicher Reformen<br />

bedurft, um Verschwendung, Bürokratie, schlechte Infrastruktur,<br />

bad governance und unzureichende Fertigkeiten anzugehen,<br />

die Afrikas Wirtschaft lähmen.<br />

<strong>Die</strong> Ausrichtung der afrikanischen Entwicklungs- und Regierungsaktivitäten<br />

auf die simplifizierenden MDGs wird mit<br />

hohen Opportunitätskosten einhergehen. Der Kontinent wird<br />

das nächste Jahrzehnt und alle verfügbaren Ressourcen aufwenden<br />

– und dennoch nicht mit den Gesundheits-, Hunger-<br />

und Bildungssymptomen der Armut fertig werden. <strong>Die</strong> MDGs<br />

werden die Aufmerksamkeit von Investitionen ablenken, die<br />

das Wachstum und den Arbeitsmarkt direkt ankurbeln und somit<br />

in Zukunft mehr Ressourcen für Sozialprogramme schaffen<br />

könnten.<br />

Kernpunkte für afrikanische<br />

<strong>Millennium</strong>-Wachstumsziele<br />

Wie aber könnten stärker wachstumsorientierte Ziele aussehen?<br />

Um die Debatte anzufachen, folgt hier ein erster Entwurf eines<br />

solchen Sets afrikanischer <strong>Millennium</strong>-Wachstumsziele.<br />

1. Stärkung der gewerblichen Infrastruktur:<br />

Verdoppelung der Zahl schlaglochfreier und dem A-<br />

Standard entsprechender Straßen. Investoren führen<br />

immer wieder die schlechte Qualität und die hohen Kosten<br />

des afrikanischen Transportwesens als ein Haupthin-<br />

212


dernis für die Konkurrenzfähigkeit auf dem Kontinent<br />

und auf den Exportmärkten an.<br />

Investitionen in neue Elektrizitätswerke und die Verteilungsinfrastruktur,<br />

um innerhalb von fünf Jahren<br />

die Lastverteilung zu gewährleisten und alle Stromausfälle<br />

zu beseitigen. Firmen im Allgemeinen und<br />

verarbeitende Betriebe im Besonderen verweisen auf<br />

die häufigen Energieausfälle in afrikanischen Ländern<br />

als ein wirtschaftliches Hindernis. Eine Untersuchung in<br />

Uganda ergab, dass 25 % des Investitionskapitals in den<br />

Kauf privater Generatoren floss, weil die staatlichen Versorger<br />

zu unzuverlässig waren.<br />

Verdoppelung der Hafenkapazitäten und des Tempos<br />

bei der Zollabfertigung bis 2010. Afrikanische Häfen<br />

sind chronisch langsam, ineffizient und haben eine unberechenbare<br />

Zollabfertigung. Eine Erhöhung der Effizienz<br />

würde den Umschlag erhöhen, die Transportkosten<br />

senken, die Wettbewerbsfähigkeit der Exporte steigern<br />

und die Kapitalkosten für die im Transit befindlichen<br />

Güter senken.<br />

2. Investitionen in die ländliche Wirtschaft:<br />

Verdoppelung der operativen Ausgaben und der Reallöhne<br />

in landwirtschaftlichen Forschungseinrichtungen.<br />

Viele Jahre lang hat Afrika die Investitionen in<br />

landwirtschaftliche Forschung und die Aus- und Weiterbildung<br />

von Bauern gekürzt. Angesichts der Tatsache,<br />

dass zwei Drittel aller Afrikaner in ländlichen Gebieten<br />

leben, können Investitionen in Forschung und Entwicklung<br />

von neuen landwirtschaftlichen Verfahren die Nahrungsmittelsicherheit<br />

direkt unterstützen, ländliche Einkommen<br />

steigern und die Exporte erhöhen.<br />

Verdoppelung der Kapazitäten für die Lagerung von<br />

Getreide. Afrika leidet unter chronischer Nahrungsmittelunsicherheit;<br />

wechselweise verderben Rekordernten<br />

213


214<br />

oder es werden hohe Ausgaben für Nahrungsmittel-<br />

Notlieferungen in Dürrezeiten notwendig. Investitionen<br />

in gut organisierte Nahrungsmittellager- und -sicherheitssysteme<br />

könnten die Preise stabilisieren und bäuerliche<br />

Investitionen ermutigen, da die Preise für Bauern<br />

voraussehbarer würden. Verlässlichere Einkommen erlauben<br />

es den Bauern, stärker in produktive Landwirtschaftstechnologien<br />

zu investieren.<br />

Subventionierung des Verkaufs kleiner Bewässerungsanlagen<br />

auf kommerzieller Basis. Indien, Bangladesch,<br />

Malawi und andere Länder haben dramatische<br />

Erhöhungen der Produktivität und Wohlfahrt von Kleinbauern<br />

durch den kommerziellen Verkauf subventionierter<br />

Kleinbewässerungsanlagen erreicht. Sie ermöglichen<br />

auch in trockenen Jahren die Produktion, erlauben<br />

Mehrfachernten und höhere Ernteerträge.<br />

Steuerliche Anreize für Exporteure und verarbeitende<br />

Industrie mithilfe von contract farming. Viele kommerzielle<br />

Agrarerzeugnisse müssen vor dem Export zentral<br />

weiterverarbeitet werden. Während Regierungen sich<br />

damit abmühen, landwirtschaftliche Aus- und Weiterbildung,<br />

Vorleistungen und Kredite bereitzustellen, bieten<br />

kommerzielle Verarbeitungsbetriebe eine effizient<br />

arbeitende zentrale Anlaufstelle, die Kleinbauern beim<br />

Einstieg in die kommerzielle Landwirtschaft hilft. <strong>Die</strong>se<br />

Firmen bilden Bauern aus, sorgen für das richtige Maß<br />

an Vorleistungen und bieten Kredite sowie Marktzugang<br />

zu vereinbarten Preisen. <strong>Die</strong>se Kombination hat<br />

große Zuwächse bei den ländlichen Einkommen gebracht.<br />

Contract farming sollte durch steuerliche Anreize<br />

und infrastrukturelle Unterstützung gefördert werden.<br />

Erfolgreiche Beispiele gibt es in der Tabak-, Kaffee- und<br />

Teeindustrie. South African Breweries bedient sich in<br />

Uganda eines solchen Modells für die Produktion des<br />

für sein Bier benötigten Getreides. Zu anderen erfolg-


eichen Firmen gehören Clark Cotton in Sambia, die Blue<br />

Skies-Fruchtexporteure in Ghana und verschiedene Verarbeitungsbetriebe<br />

in Kenia und Südafrika.<br />

Investitionen in Molkereibetriebe, Kühllager und<br />

Vermarktung, um den Wert von Afrikas großen Viehbeständen<br />

zu erschließen. Afrika verfügt über ein erhebliches<br />

heimisches Wissen beim Management von<br />

Viehbeständen und großen Herden, realisiert bei Milchprodukten<br />

aber nur sehr wenig von ihrem Wert. Investitionen<br />

in Molkereigenossenschaften könnten die ländlichen<br />

Einkommen und die Nahrungsmittelsicherheit<br />

verbessern.<br />

Schaffung oder Ausweitung von Forschungs- und<br />

Zertifizierungseinrichtungen, um Bauern zu unterstützen,<br />

die geforderten Standards bei Agrarexporten<br />

(Pflanzengesundheit, Qualität und Verpackung) zu<br />

erfüllen. Afrikas Klima bietet das Potenzial für erheblich<br />

größere Agrar-, Vieh- und Fischexporte, doch fehlt<br />

Kleinbauern die Möglichkeit, den Nachweis zu führen,<br />

dass ihre Produkte den Standards der Importländer entsprechen.<br />

Investitionen in genossenschaftliche nationale<br />

oder regionale Prüfzentren und von ihren Mitgliedern<br />

getragene Vermarktungsorganisationen könnten Kleinbauern<br />

helfen, sich über lukrative ausländische Märkte<br />

zu informieren und Zugang zu ihnen zu erhalten. Während<br />

sich staatliche Vermarktungs- und Prüfmonopole<br />

als schwerfällig und unflexibel gezeigt haben, können<br />

Bauernorganisationen und Genossenschaften mit staatlicher<br />

Unterstützung bei Prüf- und Forschungszentren<br />

das ungenutzte Potenzial afrikanischer Bauern durchaus<br />

erschließen.<br />

Verdoppelung der Investitionen in ländliche Zubringerwege.<br />

Kleinbauern können den Wert ihrer Erzeugnisse<br />

nur realisieren, wenn sie diese auf den Markt bringen<br />

können. Investitionen in ländliche Zubringerwege<br />

215


216<br />

können den Marktzugang erweitern und die ländliche<br />

Entwicklung vorantreiben.<br />

3. Investitionen in Ausbildung und Forschung: <strong>Die</strong> MDG-<br />

Konzentration auf Grundschulbildung wird wenig dabei<br />

helfen, Afrika wettbewerbsfähig zu machen. Afrika kann<br />

nur zum Rest der Welt aufschließen und die Konkurrenzfähigkeit<br />

seiner Produkte erhöhen, wenn es in technische<br />

Fähigkeiten investiert. Ein konzertiertes Programm zur Ermittlung<br />

und Korrektur des Mangels an Fertigkeiten wird<br />

das Wachstum fördern.<br />

Verdreifachung des jährlichen Ausstoßes an qualifizierten<br />

und angelernten Arbeitskräften. Afrikanische<br />

Firmen berichten von einem großen Mangel an technischen<br />

Arbeitskräften, darunter Elektriker, Zimmerleute,<br />

Maurer, Installateure und Mechaniker, die sie für<br />

den Auf- und Ausbau ihrer Unternehmen bräuchten.<br />

Direktinvestitionen in technische Schulen sowie steuerliche<br />

Anreize zur Ausbildung für Unternehmen können<br />

die Zahl dieser wertvollen Arbeitskräfte steigern.<br />

Verdreifachung der Zahl von Universitätsabsolventen<br />

in Buchhaltungswesen und Projektmanagement. Das<br />

UN-<strong>Millennium</strong>-Projekt und die Commission for Africa<br />

stellten, neben anderen, einen erheblichen Kapazitätsmangel<br />

beim Finanz- und Projektmanagement und im<br />

Buchhaltungswesen fest. <strong>Die</strong>s vermindert Afrikas Fähigkeit,<br />

Entwicklungsgelder nutzbar zu machen, und ist<br />

ein Hindernis für das Wachstum von Unternehmen.<br />

Verabschiedung von Gesetzen zur gemeinsamen Nutzung<br />

von Patenten und Lizenzen, damit Hochschulen<br />

mit der Privatwirtschaft in der industriellen und landwirtschaftlichen<br />

Forschung zusammenarbeiten können.<br />

Der Erfolg der elektronischen, chemischen, pharmazeutischen,<br />

landwirtschaftlichen und anderer Industrien<br />

in den USA, Europa, Brasilien und Asien basierte


auf enger Zusammenarbeit zwischen Universitäten und<br />

der Industrie. Sie wurden durch Gesetze dazu gebracht,<br />

die die gemeinsame Verwendung von Lizenzen und Patenten<br />

sowie Joint Ventures zulassen. Afrika sollte dasselbe<br />

tun.<br />

Halbierung der Studiengebühren für technische, natur-<br />

und ingenieurwissenschaftliche Fächer. Afrika<br />

bringt zu viele Absolventen in den Geistes- und Sozialwissenschaften<br />

hervor, während an technischen und naturwissenschaftlichen<br />

Fähigkeiten Mangel herrscht. Anreize<br />

und differenzierende Studiengebühren könnten<br />

mehr Studenten dazu bringen, für die wirtschaftliche<br />

Entwicklung wichtige Studienfächer zu wählen.<br />

Steigerung der Investitionen in den Mathematik- und<br />

naturwissenschaftlichen Unterricht auf Sekundarschulebene.<br />

Der Mangel an naturwissenschaftlichen<br />

Universitätsabsolventen ist die Folge von mangelndem<br />

und mangelhaftem Unterricht in den Sekundarschulen.<br />

Höhere Investitionen in Mathematik und Naturwissenschaften<br />

auf Sekundarschulebene werden sich für Afrika<br />

auszahlen.<br />

4. Erhöhung von Krediten und Ersparnissen: Schätzungsweise<br />

40 % von Afrikas Einnahmen werden im Ausland<br />

investiert, während es afrikanischen Firmen an Krediten<br />

mangelt. Afrika kann das Wachstum durch Strategien zur<br />

Förderung von Ersparnissen steigern, aus denen Kredite für<br />

produktive Investitionen vergeben werden können.<br />

Zinssenkung auf 15 % oder weniger innerhalb von<br />

fünf Jahren. Überall auf der Welt senken Regierungen<br />

Zinsen, um Investitionen und Wachstum zu steigern.<br />

Doch die afrikanischen Zinsen sind aufgrund von hohen<br />

Inflationsraten, deficit spending und dem Versuch,<br />

den Außenwert der Währungen zu verteidigen, unerschwinglich<br />

hoch. Ein konzertiertes Programm zur Be-<br />

217


218<br />

schränkung von Defiziten, Begrenzung von Inflation<br />

und Zinssenkungen würde das Kreditvolumen für die<br />

industrielle Expansion erhöhen.<br />

Stärkung der Bankenaufsicht, um faule Kredite abzuschreiben,<br />

politische Kreditvergabe zu vermeiden und<br />

das Kreditvolumen für produktive Investitionen zu<br />

erhöhen. Afrikanische Banken sind schwach, schlecht<br />

reguliert und oft wegen uneinbringlicher Forderungen<br />

an politisch mächtige Schuldner vom Zusammenbruch<br />

bedroht. Eine bessere Aufsicht würde die Abschreibung<br />

fauler Kredite erleichtern und eine gesunde Kreditvergabepraxis<br />

gewährleisten.<br />

Schaffung eines computergestützten Erfassungssystems<br />

und Registrierung säumiger Schuldner. Banken<br />

scheuen die Kreditvergabe, weil faule Kredite schwer<br />

einzutreiben und Problemschuldner kaum auffindbar<br />

sind. Helfen kann eine computergestützte Erfassung<br />

und ein Register säumiger Schuldner. Beides kann Kreditverluste<br />

verringern und Banken zur verstärkten Darlehensvergabe<br />

veranlassen.<br />

Investition nationaler Pensionsgelder in Afrika statt<br />

in der entwickelten Welt. Afrikanische Pensionsfonds<br />

investieren Milliarden US-$, die auf dem Kontinent produktiv<br />

investiert werden könnten, außerhalb Afrikas.<br />

Einer Schätzung zufolge verfügen die Pensionsfonds für<br />

Staatsangestellte in 14 afrikanischen Ländern über einen<br />

Gesamtwert von 127 Mrd. US-$.<br />

5. Erhöhung der Inlandseinnahmen: Afrika leidet chronischen<br />

Mangel an Mitteln für die Entwicklungsfinanzierung,<br />

könnte aber viel mehr unternehmen, um Mittel für<br />

Wachstum zu mobilisieren.<br />

Besteuerung von Luxusgütern einschließlich teurer<br />

Autos und Konsumelektronik zur Finanzierung zusätzlicher<br />

Investitionen. Werden Luxusautos, Heimki-


nosysteme und importierte Nahrung sowie alkoholische<br />

Getränke für Gourmets wirklich gebraucht? <strong>Die</strong> Erhebung<br />

hoher Steuern auf solche Waren würde die Einnahmen<br />

erhöhen und helfen, Mittel für produktivere Ausgaben<br />

bereitzustellen.<br />

Halbierung der Regierungsausgaben für die Nutzung<br />

von Mobiltelefonen, für Fahrzeuge und internationale<br />

Reisen. Regierungen verschwenden ungeheure Summen<br />

für Luxus. Hier kann gespart werden.<br />

<strong>Die</strong> politische Reformagenda<br />

1. Förderung von Gerechtigkeit und Rechtsstaatlichkeit: <strong>Die</strong><br />

mangelnde Bereitschaft der Banken, Kredite zu vergeben<br />

und das Zögern ausländischer Firmen, zu investieren ist<br />

auch auf das Versagen afrikanischer Gerichte zurückzuführen,<br />

gerechte und schnelle Urteile zu fällen. Investi tionen<br />

in die Kompetenz und Effizienz der Gerichte könnten auch<br />

das Vertrauen der Bürger in das Gemeinwesen verbessern,<br />

denn derzeit sind sie vielerorts mit Bestechungsforderungen<br />

konfrontiert, wenn sie bei der Polizei oder bei Gericht um<br />

Hilfe nachsuchen.<br />

Verdopplung der Kapazität der Gerichte und Drittelung<br />

der Zeit und Kosten für Urteile in Wirtschaftssachen.<br />

2. Abbau von Bürokratie: <strong>Die</strong> jährliche Übersicht der Weltbank<br />

zu den Auswirkungen von Regulierung auf Unternehmen<br />

weist Afrika als den schwierigsten Kontinent für<br />

unternehmerische Aktivitäten aus. Im Durchschnitt dauert<br />

es 433 Tage und erfordert 35,4 Vorgänge, um in Afrika<br />

südlich der Sahara einen Vertrag durchzusetzen. 1 Ein Un-<br />

1 Für die Zahlen vgl. World Bank Doing Business 2005 Online Database:<br />

http://www.doingbusiness.org/CustomQuery (2.8.2006).<br />

219


220<br />

ternehmen zu eröffnen erfordert durchschnittlich 10,84 Vorgänge<br />

und dauert 62 Tage, wobei die Kosten das Dreifache<br />

des durchschnittlichen Pro-Kopf-Einkommens betragen. 2<br />

Verringerung der für die Unternehmenseröffnung nötigen<br />

Anzahl von Schritten und des Zeitaufwandes um<br />

zwei Drittel.<br />

Verringerung der notwendigen Schritte und des Zeitaufwandes,<br />

um Grundstücke für Wirtschaftsaktivitäten zu<br />

erwerben, um zwei Drittel.<br />

Umwandlung des Grundbesitzes vom gewohnheitsrechtlichen<br />

in freie Rechtstitel bis 2015.<br />

3. Herstellung gleicher Bedingungen für alle wirtschaftlichen<br />

Akteure durch Korruptionsbekämpfung: Korruption<br />

wird regelmäßig als wichtiges Investitionshindernis<br />

in Afrika angeführt. Sie verhindert effiziente unternehmerische<br />

Aktivitäten, verzerrt und verzögert Regierungsentscheidungen<br />

und lenkt Geld aus der produktiven Nutzung<br />

in private Taschen um.<br />

Verdopplung der finanziellen und personellen Ausstattung<br />

von Anti-Korruptions-Behörden, der Rechungshöfe,<br />

Ausschreibungsgremien und Rechnungsprüfungsabteilungen.<br />

2 In China, Afrikas wahrscheinlich größtem Konkurrenten bei Investitionen<br />

und verarbeiteten Produkten, erfordert es nur 13 Vorgänge und 48 Tage,<br />

um ein Unternehmen zu eröffnen, sowie 25 Vorgänge und 241 Tage, um<br />

einen Vertrag durchzusetzen. Der Durchschnitt für die Länder der Organisation<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) liegt<br />

bei 6,5 Vorgängen und 19,5 Tagen für eine Unternehmenseröffnung sowie<br />

19,5 Vorgängen und 225,7 Tagen, einen Vertrag durchzusetzen. In Ost asien<br />

braucht man 8,88 Vorgänge und 34,5 Tage, um ein Unternehmen zu eröffnen,<br />

sowie 26,38 Verfahren und 265,5 Tage, um einen Vertrag durchzusetzen.<br />

(Zu Ostasien zählen hier China, Hongkong, Malaysia, die Philippinen,<br />

Singapur, Thailand, Taiwan und Vietnam.)


Einführung von Ausschreibungsgesetzen, die zu Transparenz<br />

verpflichten.<br />

Verabschiedung von Gesetzen, die Interessenkonflikte<br />

für Staatsangestellte klar benennen und Angehörigen<br />

von Politikern und Staatsdienern die Teilnahme an staatlichen<br />

Ausschreibungen verbieten.<br />

Verabschiedung von Gesetzen, die die vollständige Offenlegung<br />

der Privatvermögen von Parlamentariern,<br />

Ministern, Präsidenten, Richtern und Angehörigen des<br />

höheren öffentlichen <strong>Die</strong>nstes vorschreiben. <strong>Die</strong> Informationen<br />

müssen für die Allgemeinheit und die Medien<br />

zugänglich sein.<br />

Verpflichtung aller Unternehmen, alle direkten oder<br />

über Mittelsmänner vorgenommene Zahlungen an Regierungsbeamte<br />

offen zu legen.<br />

Verabschiedung von Gesetzen, die Bürgern und Medien<br />

den zeitnahen Zugang zu allen Ausschreibungsdokumenten<br />

ermöglichen.<br />

Abschaffung von Zulassungsvoraussetzungen für Journalisten<br />

und Medieneinrichtungen und Entkriminalisierung<br />

von »Ehrverletzungen«.<br />

Zulassung unabhängiger kommerzieller Radio- und<br />

Fernsehanstalten im gesamten Staatsgebiet.<br />

Afrika braucht eine andere Reformagenda<br />

<strong>Die</strong> MDGs sind nicht nur zu einem globalen Leistungsmaß,<br />

sondern zunehmend auch zu einem Wegweiser für Entwicklungsprogramme<br />

geworden. <strong>Die</strong> Ziele werden als politisches<br />

Mantra verwendet, das verhindert, die Fokussierung der Entwicklungszusammenarbeit<br />

zu überprüfen. Afrika hat mehr<br />

Bedürfnisse als es finanzielle Mittel hat – auch angesichts der<br />

jüngsten Versprechungen, die Mittel für Entwicklungszusammenarbeit<br />

zu verdoppeln. Wenn alle neuen Gelder auf die<br />

221


MDGs umgelenkt würden, könnte der Kontinent die schlimmsten<br />

Aspekte seiner Armut mildern – schlechte Gesundheitsversorgung,<br />

unzureichende Bildung und weit verbreiteten Hunger.<br />

Ein solcher Ansatz wird aber nichts dazu beitragen, etwas<br />

an den tiefer liegenden Ursachen der afrikanischen Armut zu<br />

ändern: Der Kontinent ist arm, weil seine Industrien nicht wettbewerbsfähig<br />

und die Kosten zu hoch sind. Steigende Mittel<br />

für die Entwicklungszusammenarbeit stellen eine seltene Gelegenheit<br />

für Afrika dar, in Dinge zu investieren, die seine produktive<br />

Kapazität und Wettbewerbsfähigkeit verbessern. Statt<br />

sich auf Gesundheitsversorgung, Bildung und Hunger zu konzentrieren,<br />

muss Afrika eine alternative Strategie verfolgen,<br />

die auf die Förderung von Wirtschaftswachstum und Wettbewerbsfähigkeit<br />

abzielt. <strong>Die</strong>ses Alternativrezept sollte sich auf<br />

konkrete Verbesserungen der wirtschaftlichen Rahmenbedingungen<br />

konzentrieren, die den Zugang für Investoren erleichtern,<br />

die Kosten senken, grundlegende, von der Wirtschaft benötigte<br />

öffentliche <strong>Die</strong>nstleistungen verbessern, die Korruption<br />

bekämpfen und die Rechtsstaatlichkeit stärken können.<br />

Afrika sollte nicht seine Sozialprogramme kürzen, aber darf<br />

für sie nicht Maßnahmen hintanstellen, die es zu einem besseren<br />

Wirtschaftsstandort mit mehr Arbeitsplätzen machen.<br />

Übersetzung: Henning Boekle<br />

222


EVELINE HERFKENS, MANDEEP BAINS<br />

Damit die <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

nicht nur eine Vision bleiben<br />

Herausforderungen für den Norden<br />

Als sich im September 2000 Staats- und Regierungschefs aus<br />

aller Welt bei den Vereinten Nationen trafen, herrschte Aufbruchstimmung.<br />

<strong>Die</strong> 189 politischen Führer betrachteten es als<br />

dringend, »unsere Mitmenschen – Männer, Frauen und Kinder<br />

– aus den erbärmlichen und entmenschlichenden Lebensbedingungen<br />

der extremen Armut zu befreien«. 1<br />

Dringlich war und ist dieses Anliegen tatsächlich: 1,1 Mrd.<br />

Menschen leiden unter derart extremer Armut, dass sie gezwungen<br />

sind, mit weniger als 1 US-$ am Tag zu überleben.<br />

Millionen Menschen haben nicht genug zu essen, um ein aktives<br />

Leben führen zu können, und mehr als 100 Mio. Kinder<br />

gehen nicht zur Schule. Und obwohl das Recht auf Leben und<br />

Sicherheit zu den grundlegenden Menschenrechten gehört,<br />

wird dieses Recht durch bewaffnete Konflikte in der ganzen<br />

Welt systematisch verletzt.<br />

Vor diesem Hintergrund unterzeichneten die Staats- und<br />

Regierungschefs die <strong>Millennium</strong>-Erklärung, mit der sie sich<br />

verpflichteten, gemeinsam gegen Armut und Hunger, die Ungleichheit<br />

der Geschlechter, Umweltverschmutzung und HIV/<br />

AIDS zu kämpfen. Sie versprachen auch, den Zugang zu Bildung,<br />

Gesundheitsversorgung und sauberem Trinkwasser<br />

deutlich zu verbessern, und dies alles bis zum Jahr 2015. Mit<br />

1 <strong>Millennium</strong>s-Erklärung der Vereinten Nationen, Resolution der Generalversammlung,<br />

UN/DOC/A/RES/55/2. New York 8. September 2000.<br />

223


der Erklärung gaben sie den Bürgern der Welt ein feierliches<br />

Versprechen, das sich insbesondere in den acht <strong>Millennium</strong>-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong>n (<strong>Millennium</strong> Development Goals, MDGs)<br />

manifestierte.<br />

Mit der Einigung auf die MDGs zeigten die politischen Führer<br />

ein enormes Maß an visionärer Kraft: sie entwickelten die<br />

Vision, unsere Welt wahrhaftig zu verändern, und dies innerhalb<br />

einer Generation. Doch Visionen sind ohne ihre Verwirklichung<br />

nur Illusionen. Wo stehen wir also bei der Verwirklichung?<br />

Fortschritte bei der Umsetzung der MDGs<br />

Nach sechs Jahren der 15-jährigen Umsetzungsperiode kann<br />

man nur von einem langsamen und ungleichmäßigen Fortschritt<br />

sprechen. Wenn es weitergeht wie bisher werden wir –<br />

auf globaler Ebene – nur einige der Ziele erreichen. Und selbst<br />

wenn es Erfolge auf globaler Ebene geben sollte, werden die<br />

ärmsten Länder und die verwundbarsten Bevölkerungsteile<br />

zurückbleiben.<br />

Ein Beispiel hierfür ist das medienwirksame Ziel, den Anteil<br />

der Weltbevölkerung, der von weniger als 1 US-$ am Tag leben<br />

muss, bis 2015 zu halbieren. Wir sind auf gutem Wege, dieses<br />

Ziel auf globaler Ebene zu erreichen. Obwohl dies eine bedeutende<br />

Leistung darstellt und nicht unterschätzt werden sollte,<br />

wird dieses Ziel hauptsächlich durch Entwicklungen in den bevölkerungsreichen<br />

Ländern Indien und China erreicht werden.<br />

Viele Länder – vor allem in Afrika südlich der Sahara – sind<br />

vom erforderlichen Fortschritt weit entfernt.<br />

Das Bild erscheint noch weniger rosig, wenn wir die anderen<br />

Ziele betrachten. Keine Region ist auf dem Weg, alle Ziele<br />

zu erreichen, und weder Südasien noch Afrika südlich der Sahara<br />

sind dabei, auch nur eines der auf menschliche Entwicklung<br />

gerichteten Ziele zu erfüllen, also der Ziele 2 bis 6.<br />

224


Dennoch sollten wir nicht die Hoffnung verlieren. Auch<br />

wenn das Gesamtbild keineswegs befriedigend ist, gibt es einige<br />

ermutigende Zeichen. Beispielsweise können Mosambik<br />

und eine Reihe anderer afrikanischen Länder südlich der Sahara<br />

das Armutsziel erreichen, auch wenn es die Region als<br />

Ganzes verfehlen wird. Zehn afrikanische Länder südlich der<br />

Sahara – einschließlich Ruanda, Uganda, Mali, Mosambik und<br />

Tansania – sind auf dem Wege, das Ziel allgemeiner Grundschulbildung<br />

bis 2015 zu erreichen. Hinzu kommen in Ostasien<br />

und Lateinamerika eine Zunahme der Impfraten bei Kindern<br />

und eine steigende Zahl der Geburten, die von ausgebildetem<br />

Personal begleitet werden. <strong>Die</strong>s wird bei der Erreichung der<br />

auf Kinder- und Müttersterblichkeit gerichteten Ziele helfen.<br />

Und schließlich haben einige hauptbetroffene Länder die HIV-<br />

Infektionsrate erfolgreich verringert, obwohl sich HIV/AIDS<br />

weltweit weiterhin ausbreitet.<br />

<strong>Die</strong>se Erfolge zeigen, dass selbst die ärmsten Länder die<br />

Ziele erreichen können. Das Geheimnis hinter diesen Erfolgen<br />

ist, dass sowohl die Empfänger- als auch die Geberregierungen<br />

ihren Teil dazu beitrugen: <strong>Die</strong> Regierungen der Entwicklungsländer<br />

trafen die richtigen Entscheidungen, indem sie der Entwicklung<br />

und den Bedürfnissen der Armen Priorität einräumten,<br />

während die Geber mehr und qualitativ bessere Entwicklungszusammenarbeit<br />

(EZ) sowie Schuldenerlasse gewährten.<br />

Trotz dieser positiven Anzeichen dürfen wir nicht verkennen,<br />

dass das gegenwärtige Fortschrittstempo keinesfalls ausreicht,<br />

um alle MDGs bis 2015 zu erreichen. Keine noch so<br />

große Zahl positiver Beispiele darf verdecken, dass das der<br />

Welt gegebene Versprechen nach gegenwärtigem Stand aller<br />

Voraussicht nach gebrochen werden wird.<br />

Aber wir sollten daraus nicht schließen, dass die MDGs selbst<br />

das Problem sind. Natürlich sind die Ziele nicht perfekt. Und es<br />

gibt auch sicher mehr, was Entwicklung ausmacht, als die acht<br />

MDGs. Trotzdem haben sie gegenüber vorangegangenen internationalen<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong>n zahlreiche Vorteile.<br />

225


Mit den MDGs entstand zum ersten Mal eine gemeinsame<br />

Vision der Entwicklungsgemeinschaft, die über nahezu vier<br />

Jahrzehnte von Meinungsverschiedenheiten geprägt war. Während<br />

der 1990er Jahre entwickelte sich eine bemerkenswerte<br />

Übereinstimmung über die entwicklungspolitischen Erfordernisse.<br />

Auch wenn wir noch keine Antworten auf alle Probleme<br />

der Welt besitzen, so haben wir doch ein ausreichendes Einvernehmen<br />

darüber, was getan werden muss, um direkt und massiv<br />

auf das Leben der Ärmsten einwirken zu können.<br />

<strong>Die</strong> Ziele sind ergebnisorientiert, quantifiziert und zeitgebunden.<br />

Fortschritt lässt sich dadurch direkt verfolgen. Erstmals<br />

benannten die Länder Ziele, über deren Erreichung sie<br />

Rechenschaft ablegen müssen. Anders als in der Vergangenheit<br />

sind die Ziele messbar und können kontrolliert werden.<br />

Dadurch wurden die MDGs zu den zentralen Parametern für<br />

die Messung von Fortschritt bei den globalen Entwicklungsanstrengungen.<br />

<strong>Die</strong> MDGs sind aber nicht nur wichtige Parameter auf globaler<br />

Ebene, sondern auch Richtgrößen für politische Strategien<br />

und Planungen in den Entwicklungsländern. <strong>Die</strong> Ziele<br />

und ihre Indikatoren können an die jeweilige nationale, regionale<br />

und lokale Situation und dortige Prioritäten angepasst<br />

werden. In manchen Fällen wurde bestimmten Zielen gegenüber<br />

anderen Priorität gegeben, in anderen haben Länder oder<br />

Regionen Ziele hinzugefügt oder Zielvorstellungen erweitert.<br />

Auch sind die MDGs sehr umfassend; sie schließen eine<br />

große Zahl verschiedener Aspekte der Armut ein, wie sie von<br />

den verwundbarsten Bevölkerungsteilen in den Entwicklungsländern<br />

erfahren werden. <strong>Die</strong> umfassende Natur der Ziele ermöglicht<br />

wichtige Synergien. Wenn wir etwa in Sambia, wo<br />

Schulen wegen an AIDS erkrankten Lehrern geschlossen wurden,<br />

Fortschritte beim AIDS-Ziel machen, wird dies auch dabei<br />

helfen, die Bildungsziele zu verwirklichen.<br />

Noch wichtiger ist, dass die MDGs auf einem menschenrechtlichen<br />

Ansatz basieren. <strong>Die</strong>ser Ansatz erinnert daran, dass<br />

226


es bei Entwicklung um Freiheit geht: Freiheit von Elend und<br />

Leiden, von Hunger, von Analphabetismus, von Krankheit,<br />

von schlechten Wohnverhältnissen und von Unsicherheit. Er<br />

verweist auch darauf, dass es bei Entwicklungsanstrengungen<br />

nicht um Mildtätigkeit geht, sondern um Rechte und gerechtfertigte<br />

Ansprüche – traditionelle Menschenrechte, aber auch<br />

soziale und wirtschaftliche Rechte – auf der Grundlage der Anerkennung<br />

struktureller Ursachen von Armut.<br />

Doch die Ziele tragen im Kern nicht nur die Rechte der<br />

einzelnen Bürgerinnen und Bürger armer Länder, sondern reflektieren<br />

auch das, wonach sie streben. Und das sind Bestrebungen,<br />

auf die sich Menschen überall auf der Welt beziehen<br />

können – wie etwa Zugang zu Gesundheitsversorgung oder<br />

Bildung. So konnten die Ziele zu einer gemeinsamen Forderung<br />

für verschiedene Gruppen werden. <strong>Die</strong> Einfachheit, Klarheit<br />

und Messbarkeit der MDGs hatte einen katalytischen Effekt<br />

auf die globalen Entwicklungsanstrengungen.<br />

<strong>Die</strong> Einzigartigkeit der Ziele liegt aber vor allem darin, dass<br />

sie – insbesondere durch das achte Ziel – ausdrücklich anerkennen,<br />

dass die Ausrottung der Armut die gemeinsame Verantwortung<br />

sowohl der reichen als auch der armen Welt ist<br />

und dass die Ziele nur durch eine globale Partnerschaft für<br />

Entwicklung erreicht werden können.<br />

<strong>Die</strong> Anerkennung gemeinsamer Verantwortung reifte aus<br />

der Einsicht, dass unsere Nationen voneinander abhängig<br />

sind – sei es durch unsere gemeinsame Umwelt, durch Migrationsströme<br />

oder durch die Ausbreitung von Krankheiten oder<br />

Konflikten. <strong>Die</strong>se globalen Interdependenzen machen Armut<br />

und Ungleichheit zu unseren gemeinsamen Feinden. Heute bezeichnen<br />

wir sie als Globalisierung; Willy Brandt sprach schon<br />

in den 1970er und 1980er Jahren von diesen Interdependenzen<br />

und unterstrich, dass zunehmend offene Volkswirtschaften einer<br />

regelbasierten Global Governance bedürfen.<br />

Auch wenn wir von einer umfassenden und fairen Weltordnung<br />

noch weit entfernt sind, geben uns die MDGs die<br />

227


Möglichkeit, eine inklusivere Weltgemeinschaft zu errichten,<br />

die auf eine sicherere und bessere Welt hinarbeitet. Denn die<br />

Ziele stellen eine Vereinbarung für Entwicklung zwischen reichen<br />

und armen Ländern und einen brauchbaren Handlungsrahmen<br />

dar.<br />

Der von den Zielen skizzierte Rahmen weist armen und reichen<br />

Ländern eine klare Arbeitsteilung zu. <strong>Die</strong> Entwicklungsländer<br />

– sie haben die Hauptarbeit zu verrichten – müssen die<br />

politischen Bedingungen schaffen, damit die ersten sieben Ziele<br />

erreicht werden können. Darüber hinaus haben sie sich verpflichtet,<br />

ihr Regierungshandeln, dessen Transparenz und Verantwortlichkeit<br />

zu verbessern. Damit erhöht sich die Chance,<br />

dass die Regierungen die eingegangenen Verpflichtungen auch<br />

umsetzen, und es wird die Fähigkeit der Zivilgesellschaft und<br />

der Parlamente gestärkt, Fortschritte zu kontrollieren. <strong>Die</strong> reichen<br />

Länder haben sich dagegen verpflichtet, globale Bedingungen<br />

zu schaffen, die den Entwicklungsländern die Erfüllung<br />

ihrer Aufgaben erleichtern.<br />

Obwohl Entwicklung mehr beinhaltet als die MDGs, bieten<br />

sie doch einen auf Arbeitsteilung gründenden globalen Handlungsrahmen<br />

für Entwicklungsfragen. Das ist neu. Selbst wenn<br />

sie nicht perfekt sind, bleibt uns keine Zeit für weitere Reflektionen.<br />

Wir müssen uns schnell ihrer entschlossenen Umsetzung<br />

zuwenden.<br />

Gegenwärtig fehlt es an schnellem Handeln seitens der Regierungen<br />

– und es gibt keinerlei Rechtfertigung dafür. Wir<br />

verfügen über die Technologie, das Wissen und die Ressourcen,<br />

die für die Umsetzung der Ziele nötig sind. Warum also<br />

liegen wir zurück?<br />

Es fehlt an der Aufbruchstimmung, wie man sie im September<br />

2000 in New York spürte. Es fehlt an der Entschlossenheit,<br />

diese Ziele in den Mittelpunkt lokaler, nationaler und internationaler<br />

Politiken zu stellen. Es fehlt der politische Wille, nach<br />

dieser Vision zu handeln. Wir müssen die Aufbruchstimmung<br />

228


wiederherstellen, und wir müssen Regierungen zum Handeln<br />

bringen.<br />

Reiche und prosperierende Länder – etwa in Europa – liegen<br />

genauso weit zurück wie die ärmsten Länder, und dafür gibt<br />

es keine Entschuldigung. <strong>Die</strong> Versprechen der reichen Länder<br />

sind im achten MDG enthalten. <strong>Die</strong>se verpflichten sie zu mehr<br />

und qualitativ besserer EZ, zum Schuldenerlass für die ärmsten<br />

Länder und zur Schaffung eines Welthandelssystems, das<br />

es Produzenten in den Entwicklungsländern erlaubt, sich ihren<br />

eigenen Lebensunterhalt zu erwirtschaften.<br />

Das achte MDG ist genauso erreichbar, wie die übrigen<br />

Ziele: Es bedarf hierzu des Politikwandels und der politischen<br />

Entschlossenheit auf höchster Ebene. Bürger müssen Druck auf<br />

ihre Regierungen ausüben, damit diese ihre Versprechen halten.<br />

Es kommt darauf an, dass normale Bürger zu sagen beginnen:<br />

»Wir müssen unsere Zusagen mit Blick auf die Hilfeleistungen<br />

halten und unsere schädlichen Handelspolitiken ändern,<br />

um die MDGs zu erreichen.« Politischer Wille kann nur<br />

entstehen, wenn Politiker politischen Druck seitens der Bürger<br />

verspüren – die Angst, Wahlen zu verlieren, ist ein machtvoller<br />

Ansporn.<br />

Mehr Mittel für die Entwicklungszusammenarbeit<br />

Im Jahr 2005 beschlossen die Mitgliedsländer der EU-15, bis<br />

2015 endlich gemeinsam ihr 35-jähriges Versprechen umzusetzen,<br />

0,7 % ihres Bruttoinlandseinkommens als Mittel für öffentliche<br />

Entwicklungszusammenarbeit (Official Development Assistance,<br />

ODA) zur Verfügung zu stellen. Obwohl 1970 nahezu<br />

alle reichen Länder dieses Versprechen gegeben hatten, wird es<br />

gegenwärtig gerade von fünf Ländern – allesamt in Europa –<br />

erfüllt (und übererfüllt). Für die übrigen gilt, dass sie nun einen<br />

Zeitplan für die Umsetzung des Versprechens aufstellen und<br />

zügig mehr ODA-Ressourcen bereitstellen müssen. Eine Erhö-<br />

229


hung der ODA-Budgets bedarf nicht nur der Überwindung finanzieller<br />

Hürden, sondern auch erheblicher Anstrengungen<br />

bei Verwaltung und Management. <strong>Die</strong>s kann nicht über Nacht,<br />

sollte aber sobald wie möglich geschehen.<br />

Deutschland ist ein Beispiel für ein Land, das endlich für<br />

die Umsetzung seines 0,7 %-Versprechens tätig werden muss.<br />

2005 entsprach Deutschlands ODA lediglich 0,35 % seines Nationaleinkommens,<br />

doch ergab sich dieser relativ hohe Wert<br />

aus den Schuldenerlassen von 2005. 2004 lag Deutschlands<br />

ODA bei nur 0,28 %; zieht man die Schuldenerlasse ab, so nahm<br />

die ODA von 2004 auf 2005 um nahezu 10 % ab! <strong>Die</strong>s bedeutet,<br />

dass das tatsächliche ODA-Niveau nach wie vor weit von<br />

der 0,7 %-Zielmarke entfernt ist. Und nicht nur das: Anders als<br />

andere Länder hat die deutsche Bundesregierung nicht einmal<br />

einen eigenen Zeitplan für die ODA-Erhöhungen bekannt gegeben<br />

– obwohl Kanzlerin Angela Merkel ihr Bekenntnis zum<br />

0,7 %-Ziel im schweizerischen Davos im Januar 2006 erneuert<br />

hat.<br />

Kanzlerin Merkel betonte, dass 2006 ein wichtiger Zwischenschritt<br />

auf dem Weg zur Zielmarke von 0,7 % sei. Für<br />

dieses Jahr haben Deutschland – und alle anderen Staaten der<br />

EU-15 – beim EU-Gipfel 2002 in Barcelona vereinbart, mindestens<br />

0,33 % ihres Inlandseinkommens für ODA aufzuwenden.<br />

Für die Umsetzung der Mittelzusagen sind neue Finanzierungsquellen<br />

vonnöten. Mittlerweile gibt es darüber in Euro pa<br />

zahlreiche Diskussionen. Doch solche Diskussionen sind Zeitvergeudung,<br />

solange die Regierungen nicht das tun, was sie<br />

aus eigener Kraft zu tun versprochen haben. Das Gerede von<br />

innovativen Finanzierungsmechanismen ist eher geeignet, einen<br />

Nebelvorhang aufzuziehen, hinter dem sich die Regierungen<br />

untätig verstecken können.<br />

Innovative Finanzierungsquellen, die von einem einzelnen<br />

Land umgesetzt werden können, sind letztlich wenig mehr als<br />

eine Zweckbindung bestehender Steuereinnahmen. Es ist nicht<br />

klar, ob sie signifikante zusätzliche Mittel aufbringen können.<br />

230


Und indem spezielle Gruppen von Steuerzahlern – Passagiere<br />

oder andere – herausgegriffen werden, mindern diese Mechanismen<br />

die Zahl der Bürger, die eine höhere ODA befürwortet.<br />

Internationale Arrangements über neue Finanzierungsquellen,<br />

die tatsächlich erhebliche Mittel aufbringen, werden nur<br />

in langwierigen, möglicherweise Jahre andauernden Verhandlungen<br />

vereinbart werden können. Doch dafür haben wir keine<br />

Zeit, wenn wir die MDGs erreichen wollen.<br />

Qualitativ bessere Entwicklungszusammenarbeit<br />

Auch wenn die Quantität der ODA wichtig ist und wir die moralische<br />

Verpflichtung haben, dass unsere Regierungen Versprechen<br />

halten, die sie vor Jahrzehnten gegeben haben, ist die<br />

Qualität der EZ genauso wichtig, möglicherweise sogar noch<br />

wichtiger. <strong>Die</strong>s wurde von Premierminister Tony Blairs Commission<br />

for Africa hervorgehoben, der auch neun Mitglieder<br />

aus Afrika angehörten. 2 Ohne Verbesserungen der EZ-Qualität<br />

kann die Armut nicht beseitiget werden.<br />

Zusammen mit anderen großen Geberländern hat Deutschland<br />

zugesagt, die Erklärung von Rom zur Geberharmonisierung<br />

von 2003 sowie die Erklärung von Paris zur Steigerung<br />

der Wirksamkeit der EZ von 2005 umzusetzen. <strong>Die</strong> Erklärung<br />

von Paris – die umfangreichste ihrer Art – basiert auf fünf Prinzipien.<br />

Um die Art der Veränderungen zu bennen, die die Geberländer<br />

in ihrer EZ vornehmen müssen, seien hier einige erwähnt.<br />

Ownership über Entwicklungspolitiken sollte – erstens – in<br />

den Händen der Entwicklungsländer liegen. <strong>Die</strong> Geberländer<br />

dürfen nicht ihre eigene Entwicklungsprioritäten setzen, sie<br />

müssen sich EZ-Methoden bedienen, die auf lokale ownership<br />

2 »Our Common Interest: Report of the Commission for Africa«. London,<br />

März 2005.<br />

231


abzielen. <strong>Die</strong> Geberländer müssen – zweitens – ihre Unterstützung<br />

in höchstmöglichem Maße in die Strategien, Institutionen<br />

und Verfahren der Empfängerregierung integrieren. <strong>Die</strong> Regierungen<br />

der Entwicklungsländer müssen für die Entwicklung<br />

ihrer Länder verantwortlich gemacht werden – schließlich sind<br />

es nicht die Geber, die die Länder entwickeln, sondern die Länder<br />

selbst. Deshalb müssen die Entwicklungsländer eine wirksame<br />

Kontrolle über und Verantwortung für Ressourcen ausüben<br />

und die Umsetzung ihrer Entwicklungspolitiken und<br />

-programme selbst organisieren.<br />

<strong>Die</strong>s ist von besonderer Bedeutung für das Erreichen der<br />

MDGs, schließlich geht es bei vielen Zielen um die dauerhafte<br />

Sicherstellung öffentlicher <strong>Die</strong>nstleistungen, sei es Gesundheitsversorgung,<br />

Bildung oder Trinkwasser.<br />

Das dritte Prinzip, das der Erklärung von Paris zugrunde<br />

liegt, ist Harmonisierung auf Seiten der Geberländer. Es gibt<br />

viele Wege, auf denen die Geberländer mehr und besser zusammenarbeiten<br />

können, so dass das Management der EZ<br />

für das Empfängerland weniger belastend ist. Zu oft führen<br />

die Geberländer Kleinprojekte durch – oft viele gleichzeitig in<br />

einem Bereich –, ohne sich miteinander zu koordinieren. Sie<br />

alle wollen Monitoring-Berichte, Evaluierungen, Rechnungsprüfungen<br />

sowie ihr Projekt mehrmals im Jahr besuchen, wobei<br />

sie oft genau dieselben Fragen stellen wie andere. Kurz:<br />

unzählige Geberanforderungen absorbieren erhebliche administrative<br />

Kapazität, die für die Erreichung der MDGs besser<br />

eingesetzt wäre. Deshalb ruft die Erklärung von Paris – und<br />

die ihr vorausgehende von Rom – die Geber dazu auf, ihren<br />

Partnern in den Entwicklungsländern weniger Lasten aufzubürden,<br />

etwa indem sie sich gemeinsamer Arrangements bei<br />

der Planung, Finanzierung und Umsetzung der EZ bedienen.<br />

Obwohl die Geberländer die Erklärungen von Paris und<br />

Rom unterzeichnet haben, sind sie bei der Erfüllung ihrer Zusagen<br />

zögerlich. <strong>Die</strong> neue deutsche Bundesregierung hat ihr<br />

Versprechen bekräftigt, die Effektivität ihrer EZ zu erhöhen.<br />

232


Zusätzlich hat Deutschland in den vergangenen Jahren eine<br />

Reihe von Pilotvorhaben durchgeführt, in denen einige – für<br />

Deutschland neue – EZ-Modalitäten getestet werden (vgl. den<br />

Beitrag von Kranz-Plote). <strong>Die</strong> Organisation für wirtschaftliche<br />

Zusammenarbeit und Entwicklung (OECD) hat angeregt, die<br />

deutsche Regierung solle auf diesen Erfahrungen aufbauen<br />

und die neuen Verfahren in das Management der EZ integrieren.<br />

3 <strong>Die</strong>s sollte von einer stärkeren Zusammenarbeit und einer<br />

besseren Arbeitsteilung mit anderen Gebern begleitet werden.<br />

<strong>Die</strong> neue Bundesregierung bekennt sich auch zur stärkeren<br />

Integration von Deutschlands Technischer und Finanzieller<br />

Zusammenarbeit (TZ/FZ). <strong>Die</strong> deutsche EZ war lange<br />

Zeit entlang dieser Unterscheidung institutionell aufgeteilt,<br />

jede Organisation mit getrennten Finanzierungsinstrumenten,<br />

-bedingungen und Berichtspflichten. Für die Regierungen der<br />

Entwicklungsländer bedeutet dies hohe Verwaltungskosten.<br />

Während es bei der Modernisierung und Integration dieser<br />

Organisationen Fortschritte gibt, vermutet die OECD, dass die<br />

Möglichkeiten für weitere Effektivitätsgewinne innerhalb der<br />

existierenden Struktur beschränkt sind und rät der Bundesregierung<br />

deshalb, eine grundlegendere Umstrukturierung in<br />

Betracht zu ziehen.<br />

Außerdem erleichtern die deutschen EZ-Mechanismen<br />

nicht gerade die ownership. Zum einen sind deutsche EZ-<br />

Organisationen vor Ort nur eingeschränkt präsent. Zum anderen<br />

zeigt sich Deutschland bei der Übergabe des finanziellen<br />

Managements an die Empfängerregierungen oder an von<br />

den Geberländern verwaltete Fonds zögerlich. Deutschland<br />

muss die Aktivitäten seiner Durchführungsorganisationen vor<br />

Ort integrieren sowie die Beschäftigung lokaler und regionaler<br />

Kräfte verstärken, insbesondere bei der Technischen Zusammenarbeit.<br />

3 OECD, DAC Peer Review of German Aid. Paris 2005.<br />

233


Der Sündenfall der EZ heißt Lieferbindung. Man mag zunächst<br />

denken, dass sowohl das Empfänger- als auch das Geberland<br />

auf seine Kosten kommen, wenn die EZ-Mittel dazu<br />

verwendet werden, Güter und <strong>Die</strong>nstleistungen aus dem<br />

Geberland zu beziehen. Doch das ist grundfalsch! Nur das Geberland<br />

ist der Gewinner. <strong>Die</strong> Erfahrung zeigt, dass das Empfängerland<br />

in der Regel Güter kaufen muss, die teurer sind,<br />

als wenn sie regional gekauft würden, und es muss obendrein<br />

noch Transportkosten zahlen (die sehr hoch sein können). Und<br />

die gekauften Güter entsprechen durchaus nicht immer den<br />

Bedürfnissen des Empfängerlandes – oft sind sie technologisch<br />

nicht angepasst und verursachen hohe oder gar nicht aufzubringende<br />

Instandhaltungskosten. <strong>Die</strong>s alles kann den Wert<br />

der gewährten Mittel erheblich verringern. Und schließlich<br />

gibt es häufig zusätzlichen Verwaltungsaufwand für das Empfängerland.<br />

<strong>Die</strong> OECD hat festgestellt, dass Lieferbindung das<br />

Potenzial für Korruption erhöht. Dennoch wird sie in der EZ<br />

weiterhin praktiziert.<br />

Deutschland ist eines dieser Länder. Obwohl es in den vergangenen<br />

Jahren den Umfang seiner gebundenen Mittel erheblich<br />

reduziert hat, hat Deutschland die Lieferbindung noch<br />

nicht vollständig aufgegeben. Andere Länder – etwa Großbritannien<br />

– haben den Schritt zur vollständigen Aufhebung bereits<br />

getan. Eines der Kernprobleme ist der hohe Anteil deutscher<br />

EZ, die als Technische Zusammenarbeit geleistet wird<br />

und traditionell an deutsche Experten gebunden ist.<br />

Schuldenerlasse<br />

Das achte MDG verpflichtet die reichen Länder zu mehr und<br />

umfassenderen Schuldenerlassen. Entscheidend ist, dass sie<br />

zusätzlich zu bereits gegebenen ODA-Zusagen gewährt werden.<br />

Gegenwärtig werden Schuldenerlasse – gemäß der offiziellen<br />

ODA-Definition der OECD – in die ODA eingerechnet.<br />

234


<strong>Die</strong>s ermöglicht es Ländern, ihre ODA-Quote in die Höhe zu<br />

treiben und so ihre Zusagen einzuhalten, ohne neue Ressourcen<br />

für den Kampf gegen Armut zur Verfügung zu stellen.<br />

Gleichzeitig können sie sich ihrer Schuldenerlasse rühmen. In<br />

den vergangenen Jahren war dies wiederholt der Fall, so 2005<br />

beim großen Schuldenerlass zugunsten Nigerias.<br />

Deutschlands ODA-Zahlen für 2005 zeigen deutlich, wie<br />

Schuldenerlasse dazu benutzt werden können, Hilfszahlen in<br />

die Höhe zu treiben. Laut OECD entfielen im Jahr 2005 mehr<br />

als 3 der insgesamt 10 Mrd. US-$ deutscher ODA auf Schuldenerlasse.<br />

Gerechtere Handelsregeln<br />

Das vielleicht wichtigste Versprechen, das die reichen Länder<br />

unter dem achten MDG gegeben haben, ist das Welthandelssystem<br />

für die armen Länder und deren Produzenten gerechter<br />

zu machen. Doch die Handelspolitiken reicher Länder<br />

verweigern armen Ländern und Menschen weiterhin einen<br />

gerechten Anteil am globalen Reichtum – und weichen so der<br />

<strong>Millennium</strong>-Erklärung aus. Mehr als EZ hat Handel das Potenzial,<br />

den Anteil der ärmsten Länder und Menschen an der<br />

globalen Wohlfahrt zu erhöhen. <strong>Die</strong> Beschränkung dieses Potenzials<br />

durch ungerechte Handelspolitiken widerspricht dem<br />

Bekenntnis zu den MDGs. Mehr noch, sie ist ungerecht und<br />

verlogen.<br />

Gegenwärtig befindet sich der Welthandel in einer Schieflage<br />

zugunsten der reichen Länder, und die Europäische Union<br />

trägt dafür ebenso Verantwortung wie alle anderen. <strong>Die</strong> größten<br />

Probleme mit dem EU-Handelsregime liegen im Agrarsektor,<br />

und gerade dieser Bereich ist für die Verringerung von Armut<br />

am wichtigsten. Denn nahezu 70 % der Armen in der Welt<br />

leben nach wie vor in ländlichen Gebieten und sind für ihren<br />

235


Lebensunterhalt direkt oder indirekt von der Landwirtschaft<br />

abhängig.<br />

Ende Juli 2006 scheiterten die Gespräche über ein neues<br />

Handelsabkommen bei der Welthandelsorganisation (WTO).<br />

<strong>Die</strong> Verhandlungsrunde wurde »Doha-Entwicklungsrunde«<br />

genannt, weil sie die Ungleichgewichte im globalen Handelssystem<br />

angehen sollte, das sich momentan in einer starken<br />

Schieflage zu Gunsten der reichen Länder auf Kosten der armen<br />

befindet. <strong>Die</strong> Gespräche scheiterten, weil die Verhandlungspartner<br />

in der gegebenen Zeit ihre Differenzen in Schlüsselfragen<br />

nicht überwinden konnten. <strong>Die</strong> Zeit drängte, weil es<br />

für die aktuelle Verhandlungsrunde eine feste Deadline gibt:<br />

ein endgültiges Handelsabkommen muss vom US-Kongress<br />

ratifiziert werden, bevor die Trade Promotion Authority (eine Art<br />

Handelsvollmacht) von US-Präsident George W. Bush im Juli<br />

2007 ausläuft. Nach diesem Datum wird es dem US-Kongress<br />

möglich sein, detaillierte Änderungen als Bedingung für eine<br />

Ratifizierung des verhandelten Abkommens zu verlangen; dies<br />

könnte das Aus für jedes verhandelte Dokument bedeuten.<br />

Während wir dies schreiben – im August 2006 – versuchen<br />

einige Parteien, das Abkommen zu retten. Zwar ist alles möglich<br />

– auch frühere Handelsabkommen wurden erst fünf vor<br />

zwölf geschlossen –, doch wir sind sehr skeptisch, dass diese<br />

Zeilen zum Zeitpunkt ihrer Veröffentlichung überholt sein<br />

werden. Sie könnten sogar noch relevant sein, wenn ein neues<br />

Handelabkommen abgeschlossen wird.<br />

Unsere Skepsis speist sich aus Erfahrung. Seit vielen Jahren<br />

verspricht die EU eine bessere »Kohärenz« zwischen ihren<br />

(löblichen) <strong>Entwicklungsziele</strong>n und anderen EU-Politiken, insbesondere<br />

Handel und Landwirtschaft. Kohärenz ist seit dem<br />

Maastricht-Vertrag von 1991 sogar eine vertragliche Zusage –<br />

trotzdem ist nichts geschehen.<br />

Um die von der europäischen Handels- und Landwirtschaftspolitik<br />

verursachten Probleme zu beheben, bedarf es<br />

erheblicher Anstrengungen. Zunächst muss die EU sämtliche<br />

236


Subventionen für Agrarexporte abschaffen. <strong>Die</strong>se Subventionen<br />

entschädigen die europäischen Bauern für die niedrigen<br />

Preise, die sie auf dem Weltmarkt für Agrarprodukte erhalten,<br />

die sie in Europa nicht verkaufen können. <strong>Die</strong> Preise sind vor<br />

allem deshalb so niedrig, weil die EU ihre Überproduktion<br />

auf dem Weltmarkt zu Dumpingpreisen verkauft! Schlimmer<br />

noch, zur Überproduktion wird überhaupt erst durch andere<br />

Subventionen ermutigt. Wir bezahlen die EU-Bauern dafür, zu<br />

viel zu produzieren, die Produkte auf dem Weltmarkt billig<br />

zu verkaufen und den Preis für alle zu drücken – und so die<br />

eigentlich konkurrenzfähigen armen Bauern in den Entwicklungsländern<br />

um ihren Lebensunterhalt zu bringen. Und dann<br />

bezahlen wir die Bauern ein zweites Mal, um sie für die niedrigen<br />

Preise zu entschädigen, die wir überhaupt erst geschaffen<br />

haben!<br />

Bei den WTO-Verhandlungen hat die EU versprochen, alle<br />

Subventionen für Agrarexporte bis 2013 abzuschaffen. <strong>Die</strong>s ist<br />

kein großes Zugeständnis, denn aufgrund des EU-Budgetabkommens<br />

entfallen die meisten dieser Subventionen zu diesem<br />

Termin ohnehin. <strong>Die</strong> EU muss auch ihre handelsverzerrenden<br />

internen Agrarsubventionen kürzen, also die Subventionen,<br />

die zu Überproduktion ermutigen. Als Handelsblock mit den<br />

höchsten internen Subventionen fördern gerade die EU-Subventionen<br />

jene Art von Großproduktion, die der Umwelt schadet<br />

und das Argument, unsere Agrarpolitik bewahre unsere<br />

Landschaft, ad absurdum führt.<br />

Zusätzlich sollte die EU ihre Agrarmärkte durch die Senkung<br />

von Zöllen auf landwirtschaftliche Produkte für Exporteure<br />

aus den Entwicklungsländern öffnen. Das Zögern der<br />

EU war einer der Gründe, warum die Agrarverhandlungen<br />

und die Verhandlungen in anderen Bereichen ins Stocken gerieten.<br />

<strong>Die</strong> Angebote der EU, die Zölle zu senken, sind völlig<br />

unzureichend. Wir brauchen drastische Senkungen der hohen,<br />

nach dem WTO-Abkommen zulässigen Zoll-Höchstsätze. Andernfalls<br />

wird die EU in der Lage sein, genau dieselben Zölle<br />

237


zu erheben wie zuvor, denn gegenwärtig liegen sie (trotz ihrer<br />

Höhe) in vielen Fällen weit unterhalb der zulässigen Höchstgrenzen!<br />

Darüber hinaus versucht die EU, einen großen Teil<br />

landwirtschaftlicher Produkte von jeder Kürzung auszunehmen<br />

und argumentiert, es handle sich um »sensible« Güter.<br />

<strong>Die</strong>s würde es der EU ermöglichen, weiterhin gerade jene Exporte<br />

zu verhindern, mit denen die Entwicklungsländer konkurrenzfähig<br />

sind.<br />

Weiterhin muss die EU auch ihre nichtlandwirtschaftlichen<br />

Märkte für alle Länder mit geringem Einkommen öffnen. Gegenwärtig<br />

werden Exporte – sogar im Rahmen der Everything<br />

but Arms-Initiative, gemäß der die ärmsten Länder nahezu alles<br />

in die EU zollfrei exportieren können – durch komplizierte<br />

und übermäßig strikte Regeln behindert. <strong>Die</strong>se Regeln betreffen<br />

auch den Bereich der Nahrungsmittelsicherheit, in dem die<br />

EU weit über internationale Standards hinausgeht.<br />

Offensichtlich setzen die notwendigen Veränderungen der<br />

EU-Politik einen starken politischen Willen voraus, doch es ist<br />

nur schwer zu verstehen, weshalb er nicht aufgebracht wird.<br />

Denn von der gegenwärtigen Landwirtschaftspolitik profitieren<br />

nur eine Hand voll großindustrieller Betriebe, wohingegen<br />

die eingeforderten Veränderungen immerhin für jede europäische<br />

Durchschnittsfamilie eine Steuererleichterung von rund<br />

100 € monatlich bedeuten würden.<br />

Zusammengefasst: <strong>Die</strong> EU muss ihre Märkte für Exporte<br />

aus den Entwicklungsländern ohne Einschränkungen öffnen,<br />

ohne dafür Zugeständnisse von den armen Ländern zu fordern.<br />

Der vorige Handelskommissar der EU, Pascal Lamy, versprach<br />

den am wenigsten entwickelten Ländern und Afrika<br />

»gratis« Handelsöffnungen. Doch dieses Versprechen materialisiert<br />

sich nicht. <strong>Die</strong> EU stellt weiterhin aggressive Forderungen<br />

an die Entwicklungsländer und hält sie an, die Bereiche<br />

<strong>Die</strong>nstleistungen und verarbeitendes Gewerbe im Gegenzug<br />

für die lange überfälligen Änderungen beim landwirtschaftlichen<br />

Handelsregime zu öffnen.<br />

238


Auch wenn die EU-Handelspolitik von der Europäischen<br />

Kommission initiiert und umgesetzt wird, ihre Richtung wird<br />

von den Mitgliedstaaten bestimmt. Und hier hat Deutschland<br />

eine Schlüsselrolle. Deutschlands eigene Politik und Haltung<br />

ist richtig, und Deutschland gehört auch nicht zu jenen Ländern,<br />

die von der gegenwärtigen Landwirtschaftspolitik profitieren.<br />

Dennoch gelingt es Deutschland nicht, eine Änderung<br />

der Landwirtschaftspolitik gegenüber jenen Ländern durchzusetzen,<br />

die am gegenwärtigen Modell festhalten wollen.<br />

Deutschland sollte sich mit anderen gleichgesinnten Mitgliedstaaten<br />

zusammentun und sich auch hinter den Kulissen engagieren,<br />

um andere – etwa Frankreich – davon zu überzeugen,<br />

dass die gegenwärtige EU-Landwirtschaftspolitik unhaltbar<br />

und schädlich ist. Wir plädieren nicht dafür, dass die<br />

EU die Unterstützung ihrer Bauern oder ihrer Landwirtschaft<br />

einstellt, sondern dass sie die Art und Weise ändert, in der sie<br />

dies tut. Sie muss sich künftig Mechanismen bedienen, die die<br />

Lebensbedingungen armer Produzenten in den Entwicklungsländern<br />

nicht verschlechtern.<br />

Wie oben skizziert gibt es eine lange Liste von Aufgaben,<br />

die die Regierungen in Europa, insbesondere die deutsche<br />

Bundesregierung, sofort anpacken sollten, um die Umsetzung<br />

der MDGs in den ärmsten Ländern zu erleichtern. Deutschland<br />

hat 2007 zwei wichtige Möglichkeiten, diese Agenda zu<br />

befördern und sein Engagement in Entwicklungsfragen unter<br />

Beweis zu stellen: Deutschland übernimmt die Präsidentschaft<br />

der G8 und die der Europäischen Union. Eine starke Führungsrolle<br />

Deutschlands in Entwicklungsfragen ist gefordert!<br />

Fazit<br />

Wir brauchen keine weiteren Diskussionen und Analysen darüber,<br />

ob die MDGs den idealen Weg für die Entwicklungspolitik<br />

darstellen. Wir müssen dringend zum Handeln kommen.<br />

239


Wir haben zwar nicht die Antwort auf alle Probleme der Welt,<br />

aber ausreichende Analysen und Einvernehmen darüber, was<br />

getan werden muss, um die Lebensbedingungen der Ärmsten<br />

zu verbessern. <strong>Die</strong> MDGs bieten einen idealen Rahmen für koordiniertes<br />

Handeln, um die globale Ungleichheit zu überwinden.<br />

Wir brauchen politische Entschlossenheit. Dafür muss energischer<br />

Druck der Bürger erzeugt werden, der entwicklungspolitisches<br />

Handeln für die Regierungen zu einer politischen<br />

Notwendigkeit macht. Ein erster Schritt ist die Unterrichtung<br />

der Bürger. Aber nur wenn die Bürger aktiv werden – etwa<br />

durch die Teilnahme an Demonstrationen oder durch Briefe an<br />

ihre Abgeordneten –, werden sich Politiker überzeugen lassen,<br />

dass den Wählern Entwicklungsfragen am Herzen liegen. <strong>Die</strong><br />

Angst nicht wiedergewählt zu werden, ist eine wichtige Motivation.<br />

Wir brauchen einen Politikwandel – darauf müssen<br />

sich die gesellschaftlichen Entwicklungsgruppen in Europa<br />

konzentrieren.<br />

Wir sind die erste Generation, die über die Ressourcen verfügt,<br />

die Armut zu beseitigen. <strong>Die</strong> fehlende Schlüsselzutat hierfür<br />

ist der politische Wille, die MDGs und den Kampf gegen<br />

die Armut zum Herzstück politischer Prioritäten zu machen.<br />

Wir müssen den politischen Druck für Wandel erzeugen.<br />

Übersetzung: Henning Boekle<br />

240


Anhang


<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong> mit<br />

Zielvorgaben und Indikatoren<br />

242<br />

<strong>Die</strong> <strong>Millennium</strong>-<strong>Entwicklungsziele</strong><br />

Ziele und Zielvorgaben Indikatoren<br />

Ziel 1: Beseitigung der extremen Armut und des Hungers<br />

Zielvorgabe 1<br />

1. Anteil der Bevölkerung mit weni-<br />

Zwischen 1990 und 2015 ger als 1 US-$ pro Tag<br />

den Anteil der Menschen 2. Armutslückenverhältnis<br />

halbieren, deren Einkom- (poverty ratio gap, Armutsvorkommen<br />

weniger als 1 US-$ pro men x Armutstiefe)<br />

Tag beträgt<br />

3. Anteil des ärmsten Fünftels am<br />

nationalen Konsum<br />

Zielvorgabe 2<br />

4. Verbreitung von Untergewicht bei<br />

Zwischen 1990 und 2015 Kindern unter fünf Jahren<br />

den Anteil der Menschen 5. Anteil der Bevölkerung un-<br />

halbieren, die Hunger ter dem Mindestniveau des<br />

leiden<br />

Nahrungsenergieverbrauchs<br />

Ziel 2: Verwirklichung der allgemeinen Grundschulbildung<br />

Zielvorgabe 3<br />

Bis zum Jahr 2015 sicherstellen,<br />

dass Kinder in der<br />

ganzen Welt, Jungen wie<br />

Mädchen, eine Grundschulbildung<br />

vollständig<br />

abschließen können<br />

6. Nettoeinschulungsquote im<br />

Primarschulbereich<br />

7. Anteil der Erstklässler, die das<br />

fünfte Schuljahr erreichen<br />

8. Alphabetisierungsquote bei den<br />

15- bis 24-Jährigen


Ziel 3: Gleichstellung der Geschlechter und Empowerment der<br />

Frauen<br />

Zielvorgabe 4<br />

Das Geschlechtergefälle in<br />

der Grund- und Sekundarschulbildung<br />

beseitigen,<br />

vorzugsweise bis 2005 und<br />

auf allen Bildungsebenen<br />

bis spätestens 2015<br />

Ziel 4: Senkung der Kindersterblichkeit<br />

Zielvorgabe 5<br />

Zwischen 1990 und 2015<br />

die Sterblichkeitsrate von<br />

Kindern unter fünf Jahren<br />

um zwei Drittel senken<br />

9. Verhältnis Mädchen/Jungen<br />

in der Primar-, Sekundar- und<br />

Tertiärausbildung<br />

10. Verhältnis weibliche/männliche<br />

Alphabeten (15- bis 24-Jährige)<br />

11. Anteil der Frauen an den nichtselbständig<br />

Erwerbstätigen im<br />

Nicht-Agrarsektor<br />

12. Sitzanteil der Frauen in nationalen<br />

Parlamenten<br />

13. Sterblichkeitsrate von Kindern<br />

unter fünf Jahren<br />

14. Säuglingssterblichkeitsrate<br />

15. Anteil der Einjährigen, die gegen<br />

Masern geimpft wurden<br />

Ziel 5: Verbesserung der Gesundheit von Müttern<br />

Zielvorgabe 6<br />

Zwischen 1990 und 2015<br />

die Müttersterblichkeitsrate<br />

um drei Viertel senken<br />

16. Müttersterblichkeitsrate<br />

17. Anteil der von medizinischem<br />

Fachpersonal begleiteten<br />

Geburten<br />

243


Ziel 6: Bekämpfung von HIV/Aids, Malaria und anderen<br />

Krankheiten<br />

Zielvorgabe 7<br />

Bis 2015 die Ausbreitung<br />

von HIV/Aids zum Stillstand<br />

bringen und eine<br />

Trendumkehr bewirken<br />

Zielvorgabe 8<br />

Bis 2015 die Ausbreitung<br />

von Malaria und anderen<br />

schweren Krankheiten zum<br />

Stillstand bringen und eine<br />

Trendumkehr bewirken<br />

244<br />

18. Verbreitung von HIV bei<br />

Schwangeren (15- bis 24-Jährige)<br />

19. Anteil der Kondombenutzung<br />

bei der Empfängnisverhütung<br />

a. Kondombenutzung beim<br />

letzten risikoreichen<br />

Geschlechtsverkehr<br />

b. Prozentsatz der 15- bis 24-<br />

Jährigen mit umfassenden<br />

korrekten Kenntnissen über<br />

HIV/Aids<br />

c. Empfängnisverhütungsrate<br />

20. Schulbesuchsquote von Waisen<br />

im Verhältnis zu Nichtwaisen<br />

(10- bis 14-Jährige)<br />

21. Malariaverbreitung und Sterblichkeitsraten<br />

im Zusammenhang<br />

mit Malaria<br />

22. Anteil der Bevölkerung in malariagefährdeten<br />

Gebieten, der<br />

wirksame Malariaverhütungs-<br />

und -bekämpfungsmaßnahmen<br />

ergreift<br />

a. Anteil der Kinder unter 5 Jahren,<br />

die unter Moskitonetzen<br />

schlafen<br />

23. Tuberkuloseverbreitung und<br />

Sterblichkeitsraten im Zusammenhang<br />

mit Tuberkulose<br />

24. Anteil der diagnostizierten und<br />

mit Hilfe der direkt überwachten<br />

Kurzzeittherapie DOTS (Directly<br />

Observed Treatment Short Course)<br />

geheilten Tuberkulo<strong>sef</strong>älle


Ziel 7: Sicherung der ökologischen Nachhaltigkeit<br />

Zielvorgabe 9<br />

<strong>Die</strong> Grundsätze nachhaltiger<br />

Entwicklung in einzelstaatliche<br />

Politiken und<br />

Programme überführen<br />

und dem Verlust von Umweltressourcen<br />

Einhalt<br />

gebieten<br />

Zielvorgabe 10<br />

Bis 2015 den Anteil der<br />

Menschen halbieren, die<br />

keinen dauerhaften Zugang<br />

zu einwandfreiem Trinkwasser<br />

und zu elementaren<br />

sanitären Einrichtungen<br />

haben<br />

Zielvorgabe 11<br />

Bis 2020 die Lebensbedingungen<br />

von mindestens<br />

100 Mio. Slumbewohnern<br />

deutlich verbessern<br />

25. Anteil der Flächen mit<br />

Waldbedeckung<br />

26. Verhältnis der geschützten Flächen<br />

zur Erhaltung der biologischen<br />

Vielfalt zur Gesamtfläche<br />

27. Energieverbrauch (Kilogramm<br />

Erdöläquivalent) pro<br />

US-$ Bruttoinlandsprodukt in<br />

Kaufkraftparitäten<br />

28. CO2 -Ausstoß pro Kopf und Verbrauch<br />

von ozonabbauenden<br />

FCKW<br />

29. Anteil der feste Brennstoffe nutzenden<br />

Bevölkerung<br />

30. Anteil der städtischen und ländlichen<br />

Bevölkerung mit dauerhaftem<br />

Zugang zu einer verbesserten<br />

Wasserquelle<br />

31. Anteil der städtischen und ländlichen<br />

Bevölkerung mit Zugang<br />

zu Sanitärversorgung<br />

32. Anteil der Haushalte mit<br />

sicheren Nutzungs- und<br />

Besitzrechten<br />

245


Ziel 8: Aufbau einer globalen Entwicklungspartnerschaft<br />

Zielvorgabe 12<br />

Öffentliche Entwicklungshilfe<br />

Ein offenes, regelgestütztes, (ODA)<br />

berechenbares und nicht- 33. Netto-ODA, insgesamt und für<br />

diskriminierendesHan- die am wenigsten entwickelten<br />

dels- und Finanzsystem Länder (LDCs), als prozentualer<br />

weiterentwickeln;<br />

Anteil am Bruttonationaleinkom-<br />

dies umfasst die Verpflichmen (BNE) der Geber, die dem<br />

tung zu guter Regierungs- OECD-Entwicklungsausschuss<br />

und Verwaltungsführung (DAC) angehören<br />

(good governance), Entwick- 34. Anteil der gesamten bilateralen,<br />

lung und Armutsreduzie- sektoral aufschlüsselbaren ODA<br />

rung auf nationaler und der DAC-Geber für die soziale<br />

internationaler Ebene<br />

Grundversorgung (Grundbildung,Basisgesundheitsversorgung,<br />

Ernährung, sauberes Wasser<br />

und Sanitärversorgung)<br />

35. Anteil der ungebundenen bilateralen<br />

ODA der DAC-Geber<br />

36. Von Binnenländern empfangene<br />

ODA als Anteil an ihrem BNE<br />

37. Von kleinen Inselentwicklungsländern<br />

empfangene ODA als<br />

Anteil an ihrem BNE<br />

Zielvorgabe 13<br />

Den besonderen Bedürfnissen<br />

der am wenigsten entwickelten<br />

Länder (LDCs)<br />

Rechnung tragen;<br />

dies umfasst einen zollund<br />

quotenfreien Zugang<br />

für die Exportgüter der<br />

LDCs, erweiterte Schuldenerleichterung<br />

für die hochverschuldeten<br />

armen Länder<br />

(HIPCs), die Streichung<br />

von bilateralen Schulden<br />

sowie die Gewährung<br />

großzügiger öffentlicher<br />

Entwicklungshilfe (Official<br />

Development Assistance,<br />

ODA) für Länder, die sich<br />

zur Armutsbekämpfung<br />

verpflichten<br />

246<br />

Marktzugang<br />

38. Anteil der zollfreien Gesamtimporte<br />

der entwickelten Länder<br />

(nach Wert und unter Ausschluss<br />

von Waffen) aus den Entwicklungsländern<br />

und den LDCs<br />

39. Von den entwickelten Ländern<br />

erhobene Durchschnittszölle<br />

für Agrarprodukte, Textilien<br />

und Kleidung aus den<br />

Entwicklungsländern


Zielvorgabe 14<br />

Den besonderen Bedürfnissen<br />

der Binnen- und<br />

kleinen Inselentwicklungsländer<br />

Rechnung tragen<br />

(durch das Aktionsprogramm<br />

für nachhaltige<br />

Entwicklung der kleinen<br />

Inselstaaten unter den Entwicklungsländern<br />

und auf<br />

der Grundlage der Ergebnisse<br />

der 22. Sondertagung<br />

der Generalversammlung)<br />

Zielvorgabe 15<br />

<strong>Die</strong> Schuldenprobleme der<br />

Entwicklungsländer durch<br />

Maßnahmen auf nationaler<br />

und internationaler Ebene<br />

umfassend angehen und<br />

so die Schulden langfristig<br />

tragbar gestalten<br />

Zielvorgabe 16<br />

In Zusammenarbeit mit<br />

den Entwicklungsländern<br />

Strategien zur Schaffung<br />

menschenwürdiger und<br />

produktiver Arbeitsplätze<br />

für junge Menschen erarbeiten<br />

und umsetzen<br />

40. Geschätzte Agrarsubventionen in<br />

den OECD-Ländern als prozentualer<br />

Anteil an ihrem BIP<br />

41. Anteil der ODA, die für den Aufbau<br />

von Handelskapazität gewährt<br />

wird<br />

Schuldentragfähigkeit<br />

42. Gesamtzahl der Länder, die den<br />

Entscheidungs- und Erfüllungszeitpunkt<br />

im Rahmen der HIPC-<br />

Schuldeninitiative erreicht haben<br />

(kumulativ)<br />

43. Schuldenerleichterung im Rahmen<br />

der HIPC-Schuldeninitiative<br />

44. Schuldendienst als Prozentwert<br />

der Güter- und<br />

<strong>Die</strong>nstleistungsexporte<br />

45. Arbeitslosenquote bei den 15- bis<br />

24-Jährigen nach Geschlecht und<br />

insgesamt<br />

247


Zielvorgabe 17<br />

In Zusammenarbeit mit<br />

den Pharmaunternehmen<br />

unentbehrliche Arzneimittel<br />

zu erschwinglichen Preisen<br />

in den Entwicklungsländern<br />

verfügbar machen<br />

Zielvorgabe 18<br />

In Zusammenarbeit mit<br />

dem Privatsektor dafür<br />

sorgen, dass die Vorteile<br />

neuer Technologien, insbesondere<br />

der InformationsundKommunikationstechnologien,<br />

genutzt werden<br />

können<br />

248<br />

46. Anteil der Bevölkerung mit<br />

dauerhaftem Zugang zu erschwinglichen<br />

unentbehrlichen<br />

Arzneimitteln<br />

47. Telefonanschlüsse (Fest- und<br />

Mobilnetz) je 100 Personen<br />

48. Genutzte Personalcomputer<br />

und Internetnutzer jeweils je<br />

100 Personen<br />

Quelle: United Nations Statistic Division: <strong>Millennium</strong> Development Goals<br />

Indicators, Effective 8 September 2003 (http://mdgs.un.org/unsd/mdg/<br />

Host.aspx?Content=Indicators/OfficialList.htm, 18.8.2006).<br />

<strong>Die</strong> deutsche Übersetzung ist weitgehend übernommen aus: Bundesministerium<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung (BMZ), 2005:<br />

<strong>Millennium</strong>s-<strong>Entwicklungsziele</strong>. Herausforderungen zu Beginn des dritten<br />

Jahrtausends. Bonn, S. 4–5 (www.bmz.de/de/service/infothek/buerger/<br />

beihefter_MDG.pdf, 18.8.2006).


Autorinnen, Autoren und Herausgeber<br />

MANDEEP BAINS<br />

Politikberaterin bei der <strong>Millennium</strong> Campaign der Vereinten Nationen<br />

in New York. Zuvor unter anderem Management von<br />

Hilfsprogrammen sowie wirtschaftspolitische Beratung von<br />

Entwicklungsländern im Auftrag der Europäischen Kommission<br />

und des britischen Department for International Development<br />

(DFID).<br />

RICHARD BRAND<br />

Entwicklungspolitischer Referent mit Schwerpunkt <strong>Millennium</strong>-<br />

<strong>Entwicklungsziele</strong> und Armutsbekämpfung auf einer gemeinsamen<br />

Stelle von Brot für die Welt und des Evangelischen Entwicklungsdienstes<br />

(EED), Bonn.<br />

THOMAS FUES<br />

Dr., Dipl.-Volkswirt, Wissenschaftlicher Mitarbeiter am Deutschen<br />

Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; aktueller<br />

Forschungsschwerpunkt: Vereinte Nationen und Global Governance<br />

aus entwicklungspolitischer Perspektive.<br />

ROSS HERBERT<br />

Wissenschaftlicher Mitarbeiter zu Afrika und Manager des<br />

NEPAD- und Governance-Projektes am South African Institute<br />

of International Affairs (SAIIA), Johannesburg; aktuelle Forschungsschwerpunkte:<br />

NEPAD, Afrikanische Union, Wirksamkeit<br />

von Entwicklungshilfe, Korruption und Konditionalität.<br />

249


EVELINE HERFKENS<br />

Sonderbeauftragte des UN-Generalsekretärs für die <strong>Millennium</strong><br />

Campaign, New York. Zuvor unter anderem niederländische Ministerin<br />

für Entwicklungszusammenarbeit, Botschafterin der<br />

Niederlande bei den Vereinten Nationen und der Welthandelsorganisation<br />

in Genf sowie Exekutivdirektorin der Weltbank.<br />

UWE HOLTZ<br />

Prof. Dr., Hochschullehrer am Institut für Politische Wissenschaft<br />

und Soziologie der Universität Bonn und Senior Fellow am Bonner<br />

Zentrum für Entwicklungsforschung; freiberuflicher Development<br />

Consultant. Von 1974–1994 Vorsitzender des entwicklungspolitischen<br />

Ausschusses des Deutschen Bundestages.<br />

STEPHAN KLINGEBIEL<br />

Dr., Leiter der Abteilung »Governance, Staatlichkeit, Sicherheit«<br />

am Deutschen Institut für Entwicklungspolitik (DIE), Bonn; aktuelle<br />

Forschungsschwerpunkte: bilaterale und multilaterale<br />

Entwicklungszusammenarbeit, insbesondere mit Afrika südlich<br />

der Sahara; Krisenprävention.<br />

JUTTA KRANZ-PLOTE<br />

Referentin im Referat 310 »Armutsbekämpfung; Aktionsprogramm<br />

2015; Sektorale und thematische Grundsätze« des Bundesministeriums<br />

für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung<br />

(BMZ) in Bonn. Zuvor von Oktober 2004 bis Juni 2006<br />

Referentin in der MDG-Stabsstelle des BMZ.<br />

KARIN KÜBLBÖCK<br />

Wissenschaftliche Referentin für Internationale Entwicklungspolitik<br />

und Weltwirtschaft bei der Österreichischen Forschungs-<br />

250


stiftung für Entwicklungshilfe (ÖFSE) und Lektorin am Institut<br />

für Internationale Entwicklung der Universität Wien.<br />

FRANZ NUSCHELER<br />

Prof. em., Dr., Stv. Vorstandsvorsitzender der Stiftung Entwicklung<br />

und Frieden (SEF) und Senior Fellow am Institut für Entwicklung<br />

und Frieden (INEF), Duisburg. Von 1974–2003 Professor<br />

für Internationale und Vergleichende Politik an der Universität<br />

Duisburg-Essen und von 1990–2006 Direktor des INEF.<br />

MICHÈLE ROTH<br />

Dr., Geschäftsführerin der Stiftung Entwicklung und Frieden<br />

(SEF), Bonn, und Mitglied im Vorstand des Global Policy Forum<br />

Europe.<br />

VERONIKA WITTMANN<br />

Dr., Universitätsassistentin am Institut für Soziologie /Abteilung<br />

für Politik- und Entwicklungsforschung an der Johannes Kepler<br />

Universität Linz.<br />

251


Jochen Hippler (Hg.)<br />

Nation-Building<br />

Ein Schlüsselkonzept für<br />

friedliche Konfliktbearbeitung?<br />

Reihe EINE WELT<br />

Texte der Stiftung Entwicklung und Frieden, Bd. 20<br />

276 Seiten | Broschur<br />

Euro 12,70 | ISBN 3-8012-0338-7<br />

<strong>Die</strong> Eroberungen Afghanistans und des Irak verbunden mit<br />

dem Versuch, dort neue Staaten zu etablieren, haben den Begriff<br />

»Nation-Building« (Nationenbildung) so populär werden lassen,<br />

dass er heute selbst von Ministern und dem Bundeskanzler<br />

verwendet wird. In einer Zeit, die von ökonomisch-politischer<br />

Globalisierung, zahlreichen ethnischen Konflikten und drohenden<br />

oder akuten staatlichen Zusammenbrüchen gekennzeichnet<br />

ist, gewinnt die Frage der Bildung neuer Nationalstaaten eine<br />

herausragende Bedeutung.<br />

<strong>Die</strong>ses Buch erweitert und systematisiert, das Verständnis von<br />

Prozessen der Nationenbildung. Fallstudien aus Afrika, dem<br />

Nahen und Mittleren Osten und dem Balkan illustrieren wie viele<br />

Aspekte dieses Themas hat. Als Ausblick entwickeln Praktiker und<br />

Wissenschaftler konkrete Strategien, wie Nation-Building-Prozesse<br />

durch kluge und behutsame politische Strategien externer Akteure<br />

unterstützt werden können.<br />

Verlag J. H. W. <strong>Die</strong>tz Nachf.<br />

Dreizehnmorgenweg 24 – 53175 Bonn<br />

www.dietz-verlag.de<br />

E-Mail: info@dietz-verlag.de


Franz Nuscheler<br />

Lern- und Arbeitsbuch<br />

Entwicklungspolitik<br />

656 Seiten | Broschur<br />

Euro 16,80 | ISBN 3-8012-3050-6<br />

Was ist Unterentwicklung? Wird sie durch Entwicklungshilfe<br />

verstärkt? Kann die Verelendung der Dritten Welt aufgehalten<br />

werden oder bleibt am Ende nur Resignation? Welche Folgen<br />

haben die Terroranschläge vom 11. September für die Nord-<br />

Süd-Beziehungen? Was bedeutet »nachhaltige Entwicklung«,<br />

»Feminisierung der Armut« oder »globale Strukturpolitik«?<br />

Ist die Globalisierung für die Dritte Welt Heilsversprechen<br />

oder Teufelswerk?<br />

Antworten gibt Franz Nuscheler in seinem völlig neu<br />

bearbeiteten »Lern- und Arbeitsbuch Entwicklungspolitik«.<br />

Er verbindet nüchterne Analyse mit engagierter Kritik und<br />

bringt die Unmenge von Zahlen, Begriffen und Theorien in<br />

eine ordnende Zusammenschau.<br />

Eine gut verständliche Einführung in die Entwicklungspolitik<br />

– auch für interessierte Laien.<br />

Verlag J. H. W. <strong>Die</strong>tz Nachf.<br />

Dreizehnmorgenweg 24 – 53175 Bonn<br />

www.dietz-verlag.de<br />

E-Mail: info@dietz-verlag.de

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