TB 1 - Landesfilmdienst Nordrhein-Westfalen eV
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Begleitmaterialien zum Film für den Unterricht<br />
Versöhnung über Grenzen -<br />
Die Geschichte der Russlanddeutschen<br />
KdL<br />
Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e<br />
in der Bundesrepublik Deutschland e. V.<br />
Heft IV<br />
Textblätter/<br />
Kopiervorlagen
2<br />
Herausgeber:<br />
Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e<br />
in der Bundesrepublik Deutschland e. V.<br />
v.i.S.d.P. Heinz-Joachim Herrmann<br />
Pädagogischer Arbeitskreis der<br />
Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e e. V.
Inhaltsverzeichnis<br />
Heft 4 Textblätter/Kopiervorlagen für den Unterricht<br />
Zum Umgang mit Heft 4<br />
Im vierten Heft sind schließlich Materialien (Texte, Karten, Kopiervorlagen u.ä.) für die Filmarbeit zusammen gefasst. Die Nummerierung stellt den<br />
Bezug zu den einzelnen „Bausteinen für den Unterricht“ her. Bei den Materialien wird sowohl auf die „Bausteine“ (Heft 2) als auch auf die „Arbeitsblätter“<br />
(Heft 3) verwiesen. Der Einsatz dieser Printmaterialien empfiehlt sich insbesondere dann, wenn den Schülern/Teilnehmern zur Bearbeitung<br />
der Filminhalte kein Internet-Zugang zur Verfügung steht.<br />
Inhaltsverzeichnis<br />
<strong>TB</strong> 01 AUSZÜGE AUS EINER REDE VON BUNDESMINISTER DR. WOLFGANG SCHÄUBLE - BS 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />
<strong>TB</strong> 02 BERICHT DER UNABHÄNGIGEN KOMMISSION ZUWANDERUNG - BS 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />
<strong>TB</strong> 03 MANIFEST DER ZARIN KATHARINA II. VOM JULI 1763 - BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />
<strong>TB</strong> 04 INFOS ZUR GESCHICHTLICHEN SITUATION UM 1763 - BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />
<strong>TB</strong> 05 GRÜNDE ZUR AUSWANDERUNG - BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />
<strong>TB</strong> 06 HESSEN ZIEHEN AN DIE WOLGA – ZEITUNGSAUSSCHNITT – BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />
<strong>TB</strong> 07 WANDERWEGE - BS 4 ......................................................................11<br />
<strong>TB</strong> 08 DAS „KOLONISTENGESETZ“ – BS 4 ............................................................13<br />
<strong>TB</strong> 09 DER HANDWERKER „ZÜGE“ - BS 4 ............................................................14<br />
<strong>TB</strong> 10 REISE UND ANSIEDLUNG AN DER WOLGA – PROBLEME – BS 4 .......................................15<br />
<strong>TB</strong> 11 BESIEDLUNG DES WOLGAGEBIETS – BS 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />
<strong>TB</strong> 12 ANSIEDLUNG AM SCHWARZEN MEER – BS 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />
<strong>TB</strong> 13 ALLGEMEINE GESAMTE SIEDLUNGSZEIT – BS 4,5,6,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />
<strong>TB</strong> 14 DIE WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6 . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />
<strong>TB</strong> 15 DIE KULTURELLE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />
<strong>TB</strong> 16 VOM ABBAU DER PRIVILEGIEN BIS ZUR DEUTSCHENHETZE – BS 7 .....................................22<br />
<strong>TB</strong> 17 100 GUTEN JAHREN FOLGEN LEID UND DEPORTATION – BS 8,9,10,11,12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />
<strong>TB</strong> 18 WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR – BS 8 ....................................25<br />
<strong>TB</strong> 19 ALLGEMEINE TEXTE ZU WELTKRIEG UND REVOLUTION – BS 8 ........................................28<br />
<strong>TB</strong> 20 NEP – NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK – BS 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />
<strong>TB</strong> 21 ZWANGSKOLLEKTIVIERUNG AB 1928 – BS 10 ....................................................32<br />
<strong>TB</strong> 22 STALIN – DER GROßE TERROR – BS 11 ..........................................................33<br />
<strong>TB</strong> 23 INTEGRATION IN DEUTSCHLAND – BS 12, 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />
<strong>TB</strong> 24 DEPORTATIONSWEGE – BS 12 ................................................................35<br />
<strong>TB</strong> 25 GESCHICHTE DER VOLKSGRUPPE – TSCHELJABMETALLURGSTROJ DES NKWD DER UDSSR – BS 13 ............36<br />
<strong>TB</strong> 26 LEBEN IM ARBEITSLAGER – DIE TRUDARMEE – BS 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />
<strong>TB</strong> 27 RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE? -<br />
DIE AUSWIRKUNGEN DER DEUTSCHEN BESATZUNG AUF DIE RUSSLANDDEUTSCHEN – BS 14 . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />
<strong>TB</strong> 28 RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE? – DER SO GENANNTE SÜD-TRECK – BS 14 .....................41<br />
<strong>TB</strong> 29 ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – NACHKRIEGSZEIT – BS 15 .......................................42<br />
<strong>TB</strong> 30 ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – ZEITSCHRIFT „VOLK AUF DEM WEG“ – BS 15 ........................43<br />
<strong>TB</strong> 31 FORDERUNG NACH REHABILITATION – SONDERSIEDLUNGEN UND ARBEITSARMEE – BS 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />
<strong>TB</strong> 32 FORDERUNG NACH REHABILITATION – TREIBGUT DES ZWEITEN WELTKRIEGS – BS 16 ......................45<br />
<strong>TB</strong> 33 FORDERUNG NACH REHABILITATION – REHABILITATION UND FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG - ZU BS 16 . . . . . . 47<br />
<strong>TB</strong> 34 NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT – UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22 .................48<br />
<strong>TB</strong> 35 GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />
<strong>TB</strong> 36 HEIMAT IN RELIGION UND KUNST - RELIGION UND KIRCHE – BS 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />
<strong>TB</strong> 37 AUTONOMIEBEWEGUNG – AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58<br />
<strong>TB</strong> 38 AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER^GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19 ...61<br />
<strong>TB</strong> 39 DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20 .......................................................66<br />
<strong>TB</strong> 40 HEIMAT, WO BIST DU? – BS 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />
<strong>TB</strong> 41 MUTTERSPRACHE – BS 23 ...................................................................72<br />
<strong>TB</strong> 42 SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG IST DIE SPRACHE – ZEITUNGSARTIKEL LAHNDILL – BS 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />
<strong>TB</strong> 43 FÜR UNS FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK – MUSTER-ARTIKEL LAHNDILL – BS 25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />
KV DEUTSCHE AUSWANDERUNG NACH RUSSLAND IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT .........................78<br />
QUELLENVERZEICHNIS - LINKLISTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />
3
<strong>TB</strong> 1<br />
4<br />
„DIE RUSSLANDDEUTSCHEN BAUEN UNS EINE BRÜCKE…“ -<br />
AUSZÜGE AUS EINER REDE VON BUNDESMINISTER DR. WOLFGANG SCHÄUBLE - BS1<br />
Stuttgart - So 27. Aug 06<br />
Die Russlanddeutschen bauen uns eine Brücke zwischen Russland, Deutschland und Europa<br />
Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Gedenkfeier der Landsmannschaft der Deutschen<br />
aus Russland zum 65. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen am 27. August 2006 in Stuttgart<br />
Leiden schafft neben Schmerz und Verbitterung auch Erkenntnis. Und so haben die Russlanddeutschen<br />
früher und konkreter als andere erfahren, was es heißt, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein. Ablehnung<br />
und Verfolgung durch eine feindliche Umwelt haben die Russlanddeutschen dazu gezwungen,<br />
sich die Frage vorzulegen, was das eigentlich sein könnte: Deutscher zu sein.<br />
Und obwohl sie am weitesten von Deutschland entfernt lebten, waren die Deutschen in der Sowjetunion<br />
am längsten – und alles im allen auch am härtesten – von den Folgen des Zweiten Weltkriegs betroffen.<br />
Die über viele Jahre erheblich eingeschränkte Bewegungsfreiheit in den Deportationsgebieten,<br />
Repressalien im täglichen Leben, in der Ausbildung und im Beruf waren die Ursache von fortdauerndem<br />
Leid und Not. So blieb an den Wolgadeutschen jahrzehntelang haften, was im Zweiten Weltkrieg auch<br />
vielen Millionen Russen widerfahren war.<br />
Verständnis setzt immer auch Geschichtskenntnis voraus. Man muss vom Schicksal des Anderen wissen,<br />
um ihn zu verstehen. Und wer den hoffnungsvollen Aufbruch der Deutschen nach Russland und ihr späteres<br />
Schicksal kennt, der muss eben auch großes Verständnis für den Wunsch haben, nach Deutschland<br />
zurückzukehren, um hier noch einmal von vorne beginnen zu können.<br />
Deswegen ist es so wichtig, an die Ereignisse während und nach dem Zweiten Weltkrieg, an die Entrechtung<br />
und Verfolgung der Russlanddeutschen unter Stalin zu erinnern. Denjenigen, denen dieses<br />
Schicksal erspart blieb, ist davon heute oft nur wenig bekannt. Manche aktuelle Debatte erinnert einen<br />
gelegentlich auch daran, dass die Leute nicht mehr genügend wissen, was damals eigentlich geschehen<br />
ist. Schon deswegen müssen solche Tage des Gedenkens sein.<br />
Wir müssen die Erinnerung an das schwere Schicksal der Russlanddeutschen bewahren. Wir müssen<br />
auch die Erinnerung bewahren an die gesamte, reiche, jahrhundertealte Geschichte, ihre wirtschaftlichen<br />
Erfolge und ihre vielen kulturellen Errungenschaften. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland<br />
leistet dazu einen besonderen und wertvollen Beitrag, für den ich bei dieser Gelegenheit persönlich und<br />
im Namen der ganzen Bundesregierung noch einmal herzlich danken möchte.<br />
Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, kann letzten Endes Zukunft begründen und gestalten. Das<br />
Schicksal der Russlanddeutschen gehört eben zu unserer deutschen Schicksalsgemeinschaft, der wir uns<br />
stellen müssen, um sehen zu können, wo unsere Nation heute steht und in welche Richtung sie sich<br />
entwickeln soll.<br />
Aber auch unser freiheitlich verfasstes Gemeinwesen hält uns dazu an, das Schicksal der Russlanddeutschen<br />
zu erinnern. Denn wirkliche Freiheit kann sich niemals ohne Solidarität und ohne Verantwortung<br />
für den Nächsten bewähren. Jede Gemeinschaft muss immer eine Verantwortungsgemeinschaft sein.<br />
Hitler und Stalin sind passiert, das Rad der Geschichte kann man nicht zurückdrehen. Aber man kann<br />
aus der Geschichte lernen. Fast genau vor 56 Jahren, am 5. August 1950, ist hier in Bad Cannstatt die<br />
Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet worden. Und diese Charta war damals und ist<br />
heute noch ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus,<br />
nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum,<br />
christliche Humanität.<br />
Und so können wir auch heute von den Russlanddeutschen lernen. Sie bilden eine wertvolle Brücke zum<br />
Verständnis der Anderen. Ob sie nun hier leben oder dort: Sie bauen uns eine Brücke zwischen Russland,<br />
Deutschland und Europa... .<br />
Quelle:<br />
http://www.bmi.bund.de/nn_172160/Internet/Content/Nachrichten/Reden/2006/08/BM__Russlanddeutsche,templateId=renderPr<br />
int.html?realTID=renderPrint
BERICHT DER UNABHÄNGIGEN KOMMISSION ZUWANDERUNG<br />
- BS1<br />
Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung vom Sommer 2001 (Auszüge)<br />
Die Aussiedleraufnahme wird seit dem 19. Mai 1953 durch das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) geregelt.<br />
Als Reaktion auf den 1987 einsetzenden sprunghaften Anstieg der Zuzüge wurde mit dem Aussiedleraufnahme-<br />
gesetz (AAG) vom 28. Juni 1990 eine Grundlage geschaffen, um steuernd in das Einreiseverhalten einzugreifen.<br />
Danach muss bereits im Aussiedlungsgebiet in einem schriftlichen Aufnahmeverfahren die Spätaussiedlereigenschaft<br />
vorläufig geprüft werden. Die Einreise in die Bundesrepublik kann erst nach Erteilung eines Aufnahmebescheides<br />
erfolgen.<br />
Durch das zum 1. Januar 1993 in Kraft getretene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) wurde das BVFG erneut<br />
novelliert. Mit dem durch das KfbG neu gefassten § 4 BVFG wurde der Begriff des "Spätaussiedlers" festgeschrie-<br />
ben: Diesen Status können nur Personen erwerben, die deutsche Volkszugehörige sind. Deutscher Volkszugehöriger<br />
wiederum ist derjenige, der sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat und bei dem dieses Bekennt-<br />
nis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Alle nach Inkrafttreten<br />
des KfbG, also ab dem 1. Januar 1993 Geborenen, können die Rechtsstellung eines Spätaussiedlers jedoch nicht<br />
mehr erwerben.<br />
Eine weitere durch das KfbG bewirkte wesentliche Rechtsänderung betraf die Feststellung des Kriegsfolgenschicksals.<br />
Seit dem 1. Januar 1993 müssen Antragsteller aus allen Herkunftsstaaten - mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der<br />
ehemaligen Sowjetunion - glaubhaft machen, dass sie als deutsche Volkszugehörige noch am 31. Dezember 1992<br />
oder danach persönlich Benachteiligungen erlitten haben. Da dies aufgrund der Liberalisierung in den Herkunfts-<br />
gebieten und des mangelnden Vertreibungsdrucks nur noch in wenigen Fällen gelingt, ist die Zahl der Antragsteller<br />
aus Polen, Rumänien, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn und dem ehemaligen Jugoslawien beträchtlich<br />
gesunken und beträgt heute nur noch ca. zwei Prozent.<br />
Antragsteller aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sind wegen ihres besonderen Vertreibungs-<br />
schicksals von dieser Regelung ausgenommen. Bei ihnen wird nicht individuell geprüft, ob sie als deutsche Volks-<br />
zugehörige Benachteiligungen ausgesetzt waren, sondern die Fortwirkung der Benachteiligungen wird weiterhin<br />
unterstellt.<br />
Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern, die nicht selbst als Spätaussiedler eingestuft werden, haben die<br />
Möglichkeit, auf Antrag in den Aufnahmebescheid einbezogen zu werden. Die Einreise und der Aufenthalt sonstiger<br />
Verwandter von Spätaussiedlern (Ehegatten von Kindern, unverheiratete minderjährige Stiefkinder sowie unverhei-<br />
ratete Stiefkinder von Abkömmlingen) werden demgegenüber ausschließlich nach Ausländerrecht beurteilt. Um<br />
Familien bei der Übersiedlung nicht auseinander zu reißen, können diese jedoch aufgrund einer generell erteilten<br />
ausländerrechtlichen Zustimmung gemeinsam mit dem Spätaussiedler einreisen.<br />
Quelle:<br />
http://www.bmi.bund.de<br />
Das neue Zuwanderungsgesetz vom Januar 2005<br />
brachte Änderungen der Rechtslage. Hierüber können Sie sich informieren unter: www.bva.bund.de/cln_108/<br />
nn_372242/DE/Aufgaben<br />
<strong>TB</strong> 2<br />
5
<strong>TB</strong> 3,1<br />
6<br />
MANIFEST DER ZARIN KATHARINA II. VOM JULI 1763 - BS3<br />
Manifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 - Von Gottes Gnaden (Auszüge)<br />
Wir Catharina die Zweite, Zarin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zarin<br />
zu Casan, Zarin zu Astrachan, Zarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Smolensko, Fürstin zu Esth-<br />
land und Lifland, Carelien, Twer, Jugorien, Permien, …. Und Gorischen Fürsten und mehr anderen Erb-Frau und<br />
Beherrscherin.<br />
Das Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr,<br />
daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölke-<br />
rung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die<br />
meisten Ländereyen in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen<br />
verborgen halten; …<br />
1.<br />
Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden<br />
gefällig, häuslich niederzulassen.<br />
2.<br />
Dergleichen Fremde können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Unsere Residenz bey der zu solchem Ende für die<br />
Ausländer besonders errichteten Tütel-Canzley, sondern auch in den anderweitigen Gränz-Städten Unseres Reiches<br />
nach eines jeden Bequemlichkeit bey denen Gouverneure, der wodergleichen nicht vorhanden, bey den vornehms-<br />
ten Stadts-Befehlshabern zu melden.<br />
3.<br />
Da unter denen sich in Rußland niederzulassen Verlangen tragenden Ausländern sich auch solche finden würden,<br />
die nicht Vermögen genug zu Bestreitung der erforderlichen Reisekosten besitzen: so können sich dergleichen bey<br />
Unseren Ministern und an auswärtigen Höfen melden, welche sie nicht nur auf Unsere Kosten ohne Anstand nach<br />
Rußland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen.<br />
4.<br />
Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Gränz-Stadt<br />
gemeldet haben werden; so sollen dieselben gehalten sein, ihren wahren Ent-schluß zu eröffnen, worinn nehmlich<br />
ihr eigentliches Verlangen bestehe, und ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben lassen<br />
und Bürger werden wollen, und zwar nah-mentlich, in welcher Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freyem<br />
und nutzbarem Grunde und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder zu allerley nützlichen<br />
Gewerben sich niederlassen; da sodann alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen ihre<br />
Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifolgendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen<br />
Gegenden Unseres Reiches nahmentlich freye und zur häuslichen Niederlassung bequeme Ländereyen vorhanden<br />
sind; wiewohl sich außer der in bemeldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige Gegenden<br />
und allerley Ländereyen finden, allwo Wir gleichergestalt verstatten sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder<br />
am nützlichsten selbst wählen wird.<br />
…….<br />
5.<br />
6.<br />
Damit aber die Ausländer, welche sich in Unserem Reiche niederzulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie<br />
weit sich Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser Unser Wille:<br />
1. Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern unverhindert die freie Religions-Übung nach<br />
ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen; denen aber, welche nicht in Städten, sondern auf unbewohnten Lände-<br />
reyen sich besonders in Colonien oder Landflecken nieder zu lassen gesonnen sind, erteilen Wir die Freyheit, Kirchen<br />
und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten, nur einzig den<br />
Klosterbau ausgenommen. Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Rußland wohnhaften christlichen
MANIFEST DER ZARIN KATHARINA II. VOM JULI 1763 - BS3<br />
Glaubensgenossen, unter gar keinem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens und seiner<br />
Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze<br />
auszusetzen gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende dem Mahometanischen Glauben<br />
zugethane Nationen ausgeschlossen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen Religion zu-<br />
neigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, einem jeden erlauben und gestatten.<br />
2. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa<br />
die geringsten Abgaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten gezwun-<br />
gen, noch Einquartierung zu tragen verbunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer und<br />
Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, welche in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher<br />
noch unbekannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre;…<br />
3. Allen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommenen Ausländern, die entweder zum Kornbau und<br />
anderer Handarbeit, oder aber Manufacturen, Fabriken und Anlagen zu errichten geneigt sind, wird alle hülfliche<br />
Hand und Vorsorge dargeboten und nicht allein hinlanglich und nach eines jeden, erforderlichen Vorschub gereichet<br />
werden, je nachdem es die Notwendigkeit und der künftige Nutzen von solchen zu errichtenden Fabriken und An-<br />
lagen erheischet, besonders aber von solchen, die bis jetzo in Rußland noch nicht errichtet gewesen.<br />
4. Zum Häuser-Bau, zu Anschaffung verschiedener Gattung im Hauswesen benöthigten Viehes, und zu allerley<br />
wie beym Ackerbau, also auch bey Handwerken, erforderlichen Instrumenten, Zubehöre und Materialien, soll einem<br />
jeden aus unserer Cassa das nöthige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen, sondern lediglich das Kapital, und zwar<br />
nicht eher als nach Verfließung von zehn Jahren zu gleichen Theilen gerechnet, zurück gezahlt werden.<br />
5. Wir überlassen denen sich etablirten ganzen Colonien oder Landflecken die innere Verfassung der Jurisdiction<br />
ihrem eigenen Gutdünken, solcher-gestalt, daß die von Uns verordneten obrigkeitlichen Personen an ihren inneren<br />
Einrichtungen gar keinen Antheil nehmen werden, im übrigen aber sind solche Colonisten verpflichtet, sich Unserem<br />
Civil-Recht zu unterwerfen. …<br />
7. Solche in Rußland sich niederlassende Ausländer sollen während der ganzen Zeit ihres Hierseins, außer dem ge-<br />
wöhnlichen Land-Dienste, wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen werden; ja auch zur Leistung<br />
dieses Land-Dienstes soll keines eher als nach Verfließung obangesetzter Freyjahre verbunden seyen: ….<br />
8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tütel-Canzley oder sonst in Unsern Gränz-Städten gemeldet<br />
und ihren Entschluß eröffnet haben, in das Innerste des Reiches zu reisen, und sich daselbst häuslich niederzulassen,<br />
so bald werden selbige auch Kostgeld, nebst freyer Schieße an den Ort ihrer Bestimmung bekommen.<br />
… 7.<br />
Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich ge-<br />
kommen sind, sich häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassene Kinder und Nachkommenschaft, wenn<br />
sie auch gleich in Rußland geboren, solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in<br />
Rußland zu berechnen sind.<br />
10. Wenn übrigens einige zur häuslichen Niederlassung nach Rußland Verlangen tragenden Aus-länder aus einem<br />
oder anderen besonderen Bewegungsgründen, außer obigen noch andere Conditiones und Privilegien zu gewinnen<br />
wünschen würden; solche haben sich deshalb an Unsere für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley, welche uns alles<br />
umständlich vortragen wird, schriftlich oder persönlich zu wenden: worauf Wir alsdann nach Befinden der Umstände<br />
nicht anstehen werden, um so viel mehr geneigte Allerhöchste Resolution ertheilen, als sich ein jeder von Unserer<br />
Gerechtigkeitshiebe zuversichtlich versprechen kann.<br />
Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli, im Zweyten Jahre Unserer Regierung - Das Original haben<br />
Ihre Kayserliche MajestätAllerhöchst eigenhändig folgendergestalt unterschrieben: Gedruckt beym Senate den 25.<br />
Juli 1763.“<br />
Zit. nach: Karl Stumpp: Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland 1763-1862, Tübingen (1972), S. 14-18<br />
<strong>TB</strong> 3,2<br />
7
<strong>TB</strong> 4<br />
8<br />
INFOS ZUR GESCHICHTLICHEN SITUATION UM 1763 - BS3<br />
Missstände in Deutschland – Politik Katharinas II. – Territorialzuwachs<br />
„Nutzbarmachung“ dünn besiedelter Gebiete und Grenzsicherung<br />
Gestützt auf den Adel und leitende Minister, leitete Katharina II. im Inneren im Sinn des aufgeklärten<br />
Absolutismus zahlreiche Reformen zur Stärkung von Verwaltung, Wirtschaft und Militär ein; die bestehende<br />
Gesellschaftsordnung jedoch wurde aufrechterhalten, die Lage der Bauern sogar noch verschärft:<br />
Der Adel erfuhr weitere Privilegien (z. B. im „Gnadenbrief für den Adel” von 1785); die Leibeigenen<br />
wurden nun vollends dem Grund besitzenden Adel ausgeliefert, und ihr Status näherte sich dem der<br />
Sklaverei. An der Wolga und den neu gewonnenen Gebieten im Süden Russlands ließ sie durch Potemkin<br />
in großem Umfang Kolonisten aus Mittel- und Südosteuropa, u. a. Deutsche, ansiedeln, das Land<br />
kultivieren und Städte und Häfen anlegen.<br />
Mit ihrer erfolgreichen Machtpolitik nach außen etablierte Katharina Russland endgültig als europäische<br />
Großmacht. Durch zwei Kriege gegen das Osmanische Reich, Russisch-Türkische Kriege, konnte Russland<br />
seine Grenzen bis zum Dnjestr vorschieben und erhielt außerdem einen breiten Zugang zum Schwarzen<br />
Meer, und 1783 gewann Russland durch die Annexion des Khanats der Krimtataren die Krim.<br />
Unter Katharina II. und Alexander I. erfuhr Russland eine gewaltige Ausweitung seines Territoriums.<br />
Es galt nun, die den Türken und Krimtataren abgenommenen, kaum besiedelten Gebiete im<br />
Süden des Landes der Gesamtwirtschaft nutzbar zu machen, sie zu kultivieren und die Grenzen gegen<br />
nomadisierende Stämme zu sichern.<br />
Deshalb erließ Katharina II. am 22. Juli 1763 ein Manifest, in dem Ausländer aufgefordert wurden,<br />
sich in Russland niederzulassen. Die wichtigsten Punkte dieses Manifestes lauteten:"Gestatten wir allen<br />
Ausländern, in unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jedem gefällig,<br />
häuslich niederzulassen. ..Gestatten wir ... die freie Religionsausübung nach ihren kirchlichen Satzungen.<br />
. . Soll keiner, der nach Russland gekommenen Ausländer, an unsere Cassa die geringsten Abgaben<br />
entrichten. . . " Es wurde Freiheit vom Militär- und Zivildienst versprochen. Das Land wurde den Kolonisten<br />
als Gemeingut auf ewige Zeiten überlassen. Es durfte ohne Genehmigung weder verkauft noch<br />
abgetreten werden. Die Siedler durften aber zusätzlich Grundstücke von Privatpersonen kaufen. Den<br />
Kolonisten wurde ferner das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung gewährt; sie unterstanden direkt<br />
der Krone und nicht der inneren Verwaltung des Zarenreichs.<br />
Diese Einladung zur Einreise nach Russland wurde durch russische Residenten (in Russland engagierte<br />
Werber) bei allen europäischen Höfen verbreitet und hatte den gewünschten Erfolg. Daneben sorgten<br />
auch sog. „Privat-Werber für die Verbreitung des Manifests. Sie bekamen von der russischen Regierung<br />
Prämien für ihre Tätigkeit zugesagt sowie das Recht, mit den von ihnen Angeworbenen Sonderverträge<br />
abzuschließen. Besonders aktiv waren die Gesandten in Deutschland. Im Laufe des Siebenjährigen<br />
Krieges von 1756 bis 1763 waren viele Landesteile Deutschlands stark zerrüttet, die Einwohner in ihrer<br />
wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit so stark geschwächt, dass Tausende kein Auskommen mehr hatten.<br />
Deshalb hatten die Werber im Auftrage der Zarin einen großen Erfolg, besonders in Hessen, in Nordbayern,<br />
Nordbaden, der bayerischen Rheinpfalz und anderen Gebieten. Weiterhin wurden kleinere Kontingente<br />
Franzosen, Holländer, Schweizer und andere angeworben.<br />
Folgen des Siebenjährigen Krieges in deutschen Provinzen:<br />
Die Privilegien erschienen besonders verlockend angesichts der Not und Missstände,<br />
vor allem in Hessen und Südwestdeutschland: Siebenjähriger Krieg, später napole-<br />
onische Kriege, Abgaben an Grundherrn, Lebensmittelteuerungen,<br />
- Fremde Besatzung, Zwangsrekrutierungen<br />
- Heeres- und Frondienste, wirtschaftliche Not<br />
- Missernten, Plünderungen, Hungerjahre<br />
- Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit<br />
(in: Deutsche in Russland, hrsg. v. Rothe, S. 1-31)<br />
Das bettelnde Soldatenweib. Kupferstich von Daniel<br />
Chodowiecki, 1764. Das Bild führt die Folgen<br />
des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) für die<br />
einfache Bevölkerung in den betroffenen Gebieten<br />
vor Augen.
GRÜNDE ZUR AUSWANDERUNG - BS3 <strong>TB</strong> 5<br />
Im Siebenjährigen Krieg schlug sich Friedrich von Hessen-Kassel auf die Seite Preußens und kämpfte in<br />
der preußischen Armee bis zum Ende des Krieges mit. 1760 wurde Friedrich Landgraf von Hessen-Kassel<br />
und unternahm einige erfolglose Versuche, die Grafschaft Hanau wieder mit Hessen-Cassel zu vereinigen,<br />
die aber am Widerstand Großbritanniens und den evangelischen Ständen scheiterten. Nach dem<br />
Krieg begann in Kassel eine rege Bautätigkeit, die der Landgraf unterstützte und förderte. Er siedelte<br />
Industrie und Manufakturen in Hessen an, er holte Künstler und Gelehrte nach Kassel. Das erste frei<br />
zugängliche Museum des europäischen Festland, das Fridericianum entstand 1779. Er gründete 1777<br />
auch die Akademie der Künste.<br />
Soldatenhandel<br />
Die Finanzmittel für diese Vorhaben kamen aus dem in dieser Zeit geläufigen Vermietung von Soldaten<br />
an andere Staaten, vorrangig an Großbritannien. England benötigte Truppen für den Amerikanischen<br />
Unabhängigkeitskrieg und Friedrich und andere deutsche Fürsten stellten König Georg III. über 20.000<br />
Soldaten für den Krieg in Amerika. Hierfür schloss Friedrichs Minister von Schlieffen mit England Verträge<br />
ab, die Friedrich zu einem der reichsten Fürsten Europas machten.<br />
Der so genannte Soldatenhandel unter Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel macht<br />
den Fürsten bis in die Gegenwart hinein zur Zielscheibe von Kritik. Tatsächlich war der<br />
„Soldatenhandel“ wirtschaftlichen und militärischen Zwängen geschuldet. Hessen war<br />
in Folge seiner Zentrallage auf ein starkes Heer angewiesen, konnte jedoch wegen<br />
der nicht überwundenen Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges, der gerade auf<br />
hessischem Territorium tief greifende Schädigungen des Wirtschaftslebens gezeitigt<br />
hatte, aus eigenen Mitteln nur schwerlich die benötigte Truppenstärke unterhalten.<br />
Die Anwerbung der Truppen durfte auf Friedrichs Befehl hin nicht unter Zwang oder<br />
Gewaltanwendung erfolgen und versprach für viele hessische Freiwillige ein sicheres<br />
Auskommen.<br />
Die Kritik an der Bereitstellung von Truppen beschränkt sich meist auf Friedrich II., obwohl andere<br />
Feudalherren der Zeit, aber auch die demokratisch regierte Schweiz vergleichbar vorgingen. Die<br />
nähere Betrachtung der finanziellen Konditionen, unter denen die hessischen Truppen in Nord-<br />
amerika eingesetzt wurden, belegt, dass für dauerhaft beschädigte, gefallene oder gestorbene<br />
Soldaten Zahlungen an Hessen fällig wurden, die zum Teil in mildtätige Stiftungen liefen, welche<br />
bis zur Inflation der 1920er Jahre Bestand hatten.<br />
Wegen des großen Anteils hessischer Soldaten an den britischen Hilfstruppen, ist in den USA bis heute die Bezeich-<br />
nung Hessians für alle deutschen Hilfstruppen des Unabhängigkeitskriegs gebräuchlich.<br />
Im Jahre 1785 starb Friedrich überraschend an einem Schlaganfall und hinterließ seinem Nachfolger Wilhelm IX.<br />
nach 25-jähriger Regentschaft ein gefülltes Staatssäckel. Er wurde in der von ihm begründeten katholischen Sankt-<br />
Elisabeth-Kirche beigesetzt und nach dem Zweiten Weltkrieg in das Treppenhaus des Neubaus der Kirche umgebet-<br />
tet. Somit ist er der einzige Landgraf der Neuzeit, der nicht in der Kasseler Martinskirche beigesetzt ist.<br />
Denkmal Friedrichs II. auf dem<br />
Friedrichsplatz in Kassel<br />
9
<strong>TB</strong> 6<br />
10<br />
HESSEN ZIEHEN AN DIE WOLGA – ZEITUNGSAUSSCHNITT –<br />
BS3<br />
Hessen ziehen an die Wolga<br />
Vorfahren der Russlanddeutschen folgen 1763 dem Ruf der Zarin<br />
Von Klaus P. Andrießen<br />
(06441)959184<br />
k.andriessen@mittelhessen.de<br />
Wetzlar. Als Michael Hechler mit seiner Fami-<br />
lie 1989 aus Kasachstan nach Hessen kommt,<br />
da erinnert ihn die Mundart in Wetzlar an seine<br />
Schwiegermutter. ,Die hat hessisch gesprochen",<br />
sagt der niedergelassene Chirurg. Die Wurzeln<br />
der Flechters aus der ehemaligen Sowjetrepublik<br />
Kasachstan liegen In der Pfalz. „Das Wissen da-<br />
rüber gehört natürlich zur Überlieferung unserer<br />
Familie."<br />
Vor rund 240 Jahren waren gut 100 000 Men-<br />
schen einem Aufruf der russischen Zarin Katha-<br />
rina II. gefolgt, die mit deutschen Bauern und<br />
Handwerkern den Aufschwung ihres Landes<br />
fördern wollte. Genaugenommen ging es der<br />
Monarchin um die Bevölkerung des brachliegen-<br />
den Landes und die Sicherung ihres politischen<br />
Grenzlandes im Westen. Sie versprach den Kolo-<br />
nisten kostenloses Land, 30 Jahre Steuerfreiheit,<br />
Befreiung vom Militärdienst, freie Religionsaus-<br />
übung, kulturelle Autonomie und einiges mehr.<br />
Es war eine Verlockung für die Menschen, die<br />
wegen der Folgen des siebenjährigen Krieges,<br />
Landmangel und der drückenden Steuerlast der<br />
feudalen Kleinstaaten keine Zukunft für sich in<br />
Deutschland sahen. -Sie kamen vorwiegend aus<br />
Hessen und dem Südwesten Deutschlands - aus<br />
Baden, Württemberg, der Rheinpfalz und dem<br />
Elsass - aber auch aus Danzig-Westpreußen<br />
Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Meinung und Analyse“ vom 22. Mai 2006, Seite 3<br />
und der Oberlausitz“, heißt es im Katalog der<br />
Ausstellung „Volk auf dem Weg“ der Lands-<br />
mannschaft der Deutschen aus Russland.<br />
Hessen bestand damals aus einer Fülle von<br />
Klein- und Kleinststaaten. Karl Stumpp, eh-<br />
renamtlicher Chronist der Russlanddeutschen,<br />
hat sich die Mühe gemacht, auf einer Karte<br />
alle Orte einzutragen, von denen Auswande-<br />
rungen in alten Archiven und Kirchenbüchern<br />
bezeugt sind. Daraus geht hervor, dass Mit-<br />
telhessen, der Vogelsberg und der Odenwald<br />
zu den wichtigsten Herkunftsgebieten derer<br />
gehören, die sich nach Russland auf den Weg<br />
machten. Aus den Kirchenbüchern geht her-<br />
vor, dass allein in Büdingen 400 Paare vor<br />
ihrer Auswanderung im Jahr 1776 heirateten.<br />
Der Weg nach Russland - tausende von Kilo-<br />
metern und nicht selten zu Fuß - war beschwer-<br />
lich und gefährlich. Und die Ankunft im Ziel-<br />
gebiet oft eine Enttäuschung. Ein Kolonist hat<br />
darüber geschrieben: ,Der Weg führte durch<br />
eine Steppe, die uns eben keine günstige Mei-<br />
nung von dem geträumten Paradiese, das wir<br />
bevölkern sollten, beibrachte. Auf dem ganzen<br />
Weg landen wir kein Dorf, außer einigen deut-<br />
schen Kolonien, welche unsere Hoffnung von<br />
der Zukunft noch mehr herabstimmten, weil<br />
wir sahen, dass bei diesen verpflanzten Lands-<br />
leuten die äußerste Dürftigkeit herrschte.‘<br />
Hessen, vor allem aus Oberhessen und Hes-<br />
sen-Darmstadt, waren beim ersten Kolonisa-<br />
tionsprojekt an der Wolga so zahlreich ver-<br />
treten, dass die Sprache der Wolgadeutschen noch<br />
heute dem Hessischen nahesteht“, schreibt die<br />
Historikerin Inge Auerbach 1984 im Katalog zur<br />
Hessentagsausstellung . "Auswanderung aus Hes-<br />
sen". Auf dem Weg an die Wolga hätten sich bei<br />
der ersten Wanderungswelle 1763 allerdings einige<br />
Handwerker auch bei St. Petersburg angesiedelt.<br />
Katharinas Nachfolger will nur noch begüterte<br />
Siedler<br />
In einer zweiten Siedlerwelle kommen nach 1803<br />
Südhessen in die Ukraine. Katharinas Nachfolger<br />
Alexander I. hatte sie gerufen. wollte aber nur<br />
solche, die pro erwachsenem Mann 300 Gulden<br />
Kapital hatten und beschränkte den jährlichen<br />
Zuzug auf 200 Familien. Diese begüterten Sied-<br />
ler erwiesen sich als Innovativ und erfolgreich.<br />
Sie wurden nach Inge Auerbach auch den Wol-<br />
gadeutschen zum Vorbild. 1819 stoppte Russland<br />
die Einwanderung. Heute sind über 2,2 Millionen<br />
Russlanddeutsche als Aussiedler in der Bundes-<br />
republik aufgenommen worden. Nach einem ge-<br />
setzlich festgelegten Schlüssel werden sie auf die<br />
Bundesländer verteilt. So sind in Hessen 1992<br />
noch 20 119 Russlanddeutsche aufgenommen wor-<br />
den, im Jahr 2005 waren es nur noch 2571. Was<br />
die Russlanddeutschen im 19. und 20. Jahrhundert<br />
erlebten und warum und ihre Nachfahren als Aus-<br />
siedler wieder nach Deutschland kommen, das le-<br />
sen sie auf der Sonderseite "Deutsche in Russland“
WANDERWEGE - BS4 <strong>TB</strong> 7,1<br />
Verbreitung des Manifests in deutschen Ländern<br />
Die Werber<br />
Verbreitung fand das Manifest Katharinas durch russische Kommissare, die es in europäischen Häfen<br />
bekannt machten. Daneben wurden seitens der russischen Regierung ausländische Werber engagiert,<br />
denen für ihre Dienste hohe Prämien versprochen wurden:<br />
Außer einer Prämie von fünf bis zehn Rubeln für jede geworbene Familie erhielten die Werber für jeweils<br />
100 Familien drei Parzellen in den Ansiedlungsgebieten. Als finanzielle Starthilfe kam ein zinsloser Zehnjahreskredit<br />
in Höhe von 4.000 Rubeln dazu. Die Werber erhielten zudem das Recht, mit den Auswanderern<br />
Sonderrechte und -leistungen zu vereinbaren. Welche Sonderrechte und -leistungen dem Werber<br />
dabei eingeräumt wurden, zeigt der Entwurf eines derartigen Ansiedlungsvertrages. Darin wurde dem<br />
Werber das Vorkaufsrecht auf alle Produkte eingeräumt, die der Siedler verkaufen wollte. Gleichzeitig<br />
konnte er aber den Preis nicht frei aushandeln. Dieser durfte nur so hoch sein, wie er allgemein von<br />
Dritten verlangt wurde. Der Siedler verpflichtete sich auch zur Zahlung des Zehnten, also des zehnten Teils<br />
von allen Getreideprodukten und dem Geflügel an den Leiter der Kolonie - den ehemaligen Werber.<br />
1764 unterstanden 63 der insgesamt 104 Dörfer auf beiden Seiten der Wolga ehemaligen Werbern,<br />
die jetzt als Direktoren fungierten und sich an die Stelle einer autonomen Gemeindeverwaltung setzten.<br />
Diese Gemeinden hatten zunächst den Status der „Privatkolonien“ inne, wohingegen die autonomen<br />
Kolonien den Status der nur der Krone unterstellten "Kronkolonien" besaßen. Gegen deren Ansprüche<br />
wehrten sich die Kolonisten. 1779 kam es durch eine Verfügung der Zarin zur Gleichstellung von Privat-<br />
und Kronskolonien.<br />
Den Werbern wurde für jede von ihnen gewonnene Familie eine Prämie gezahlt. Auch hier ist Christian<br />
Gottlieb Züge ein gutes Beispiel. Als Handwerksgeselle dürfte er kaum die notwendige Qualifikation<br />
besessen haben, um sich in Russland als Bauernkolonist eine neue Lebensgrundlage aufzubauen.<br />
Er war kein Einzelfall, wie die Ergebnisse einer 1769 von Katharina II. verfügten Inspektion der Wolgakolonien<br />
zeigten. Damals wurde festgestellt, dass rund 9 Prozent aller Kolonistenfamilien nicht für die<br />
Landwirtschaft geeignet waren. Von den 6.433 dort lebenden Familien waren es 579. Bei einer zweiten<br />
Inspektion 1774 stieg dieser Anteil sogar auf 10 Prozent. Dieser Zustand war aber nicht allein den<br />
Werbern anzulasten, sondern auch der russischen Regierung. Sie ließ sich zunächst von dem Gedanken<br />
leiten, allein eine hinreichend hohe Zahl von Menschen würde die Kolonisation erfolgreich gestalten.<br />
Wanderwege<br />
Die große planmäßige Ansiedlung deutscher Bauern in Russland begann 1763 und dauerte bis 1842. Einzelne<br />
Kolonien wurden noch bis 1862 angelegt. Auf Grund des Manifestes der Zarin Katharina II. begann<br />
nach dem Siebenjährigen Krieg eine Massenauswanderung nach Russland, vor allem aus Hessen, aber<br />
auch aus den Rheinlanden und Württemberg. Der beschwerliche Weg - damals gab es noch keine Eisenbahnen<br />
und Dampfschiffe - führte zu Lande bis Lübeck und von hier auf dem Wasser nach Petersburg.<br />
Von dort verlief die Weiterreise auf dem Landweg über Moskau oder auf dem Wasserwege auf der Wolga<br />
bis Saratow, wo auf einer geschlossenen Landfläche 104 deutsche Siedlungen angelegt wurden.<br />
11
<strong>TB</strong> 7,2<br />
12<br />
WANDERWEGE - BS 4<br />
Die zweite größere Auswanderung war die der Mennoniten aus Danzig-Westpreußen in den Jahren 1789<br />
und dann nochmals ab 1803. Der Weg ging diesmal über Riga ins Schwarzmeergebiet nach Chortitza<br />
und an die Molotschna. In den Jahren 1804 und 1816/17 bis 1842 fand die stärkste Auswanderung aus<br />
Württemberg statt. Der Weg führte von Ulm donauabwärts oder zu Land über Podolien in die Gegend<br />
bei Odessa, nach Bessarabien, auf die Krim und in den Südkaukasus.<br />
Die Siedler aus der Pfalz, dem Elsass und Nordbaden kamen in den Jahren 1809/10. Der Reiseweg ging<br />
meist über Polen und Podolien vorwiegend in das Gebiet Odessa, wo viele große katholische Dörfer<br />
entstanden. Die Siedler gaben ihren Kolonien oft die Namen ihrer in der alten Heimat zurückgelassenen<br />
Dörfer und Städte (z.B. Basel, Darmstadt, Mariental, Rosenberg, Rheinhardt; Stuttgart, Karlsruhe, Mannheim,<br />
Selz, Straßburg; Tiege, Tiegenhagen, Altonau, Lichtenau, Orloff). Insgesamt wurden im Schwarzmeergebiet,<br />
in Bessarabien und im Südkaukasus 181 Mutterkolonien gegründet.<br />
Quelle: Deutsche Jugend aus Russland e.V., http://www.djrbund.de/pagefotos/auswanderungswege.jpg
DAS „KOLONISTENGESETZ“ – BS 4 <strong>TB</strong> 8<br />
Anreise und Niederlassung im Wolgagebiet – Das sog. „Kolonistengesetz“<br />
Das sog. „Kolonistengesetz“ 19. März 1764<br />
Nur kurze Zeit nach Veröffentlichung des Manifests in Europa beschließt Katharina die vorrangige Besiedlung<br />
des Wolgagebiets. Von den 30.000 eingereisten Deutschen werden 26.000 auf die Weiterreise<br />
ins Wolgagebiet geschickt; einige wenige Tausend siedeln in der Umgebung Petersburgs. Mehr als 3000<br />
Menschen überleben die Strapazen der Reise nicht. Es zeichnet sich ab, dass das Versprechen der freien<br />
Landwahl und auch das der freien Berufswahl nicht eingehalten wird. Handwerkern und Kaufleuten<br />
wird zwangsweise Land zugeteilt, dessen Bebauung sie später nicht leisten können, da ihnen jegliche<br />
Erfahrung fehlt.<br />
Zuständig für die Belange der Kolonisten ist die Niederlassung der obersten Vormundschaftsbehörde der<br />
Ausländer (Tutelkanzlei, Petersburg) in Saratow.<br />
Hier erhalten die Kolonisten ihre Landzuteilung und Kredite für Hausbau, Anschaffung landwirtschaftlicher<br />
Geräte, Saatgut, Vieh.<br />
Als sich 1764 der unerwartet hohe Zustrom von Kolonisten aus dem Ausland abzeichnet, werden die<br />
Versprechungen des Manifestes konkretisiert (Landverteilung) und Regelungen zum rechtlichen Status<br />
der Einwanderer, Landverteilungsfragen, Erbrecht… in einem sog. „Kolonistengesetz“ vom 19. März<br />
1764 zusammengefasst.<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch1/kolonialgesetzgebung.htm<br />
Die Kolonisierung der frei stehenden Gebiete wird darin geregelt.<br />
Regelungen:<br />
•<br />
•<br />
•<br />
•<br />
•<br />
•<br />
Die Einteilung des Siedlungsgebietes an der Wolga in kreisförmige Gebiete mit einem Durchmesser<br />
von ca. 70 Werst (1 Werst = 1,067 km). Diese Gebiete (volost) durften jeweils mit ca. 1000 Familien<br />
besiedelt werden.<br />
Die Anzahl der zu gründenden Kolonien: 52 auf der „Bergseite“ der Wolga, 52 auf der „Wiesenseite“<br />
der Wolga (links steil abfallend, rechts fruchtbares Flachland)<br />
Die Zuteilung des Landes zur Erbleihe – 30 Desjatinen. Das Land bleibt Eigentum der Krone (nicht,<br />
wie zugesagt, Eigentum des einzelnen Kolonisten). Es soll nicht geteilt, verpfändet oder verkauft<br />
werden, die Gemeindeverwaltung vertritt den Anspruch der Krone.<br />
Die Selbstverwaltung der Gemeinden<br />
Die Aufteilung der Kolonien nach Konfession getrennt<br />
Das Anerbrecht – einzelne Höfe sollen nicht aufgeteilt werden ( dies wird später in den Kolonien des<br />
Wolgagebiets nicht eingehalten)<br />
Viele der im Manifest zugesagten Versprechungen werden mit dem Kolonistengesetz relativiert, z.B. die<br />
freie Landwahl , freie Berufswahl, Erlangung des Grundbesitzes als Erbeigentum. Zudem wird mit dem<br />
Kolonisteneid der Status als Untertan der russischen Krone fixiert, so dass eine beliebige Rückreise nahezu<br />
unmöglich gemacht wird.<br />
13
<strong>TB</strong> 9<br />
14<br />
DER HANDWERKER „ZÜGE“ - BS 4<br />
Der Geraer Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge vermittelt auch heute noch einen lebendigen<br />
Eindruck über die Enttäuschung, die sich unter den Kolonisten bei der Ankunft in den Siedlungsgebieten<br />
breit machte.<br />
Der 1746 als Sohn eines Zeugmachers in Gera geborene Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge gelangte<br />
1764 auf seiner Wanderschaft nach Lübeck. Hier schloss er sich einem Zug von Auswanderern<br />
an. In seinem 1802 erschienenen Buch "Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge´s Leben in<br />
Russland. Nebst einer Schilderung der Sitten und Gebräuche der Russen, vornehmlich in den asiatischen<br />
Provinzen" gibt er nicht nur eine wenig schmeichelhafte Charakteristik der nach Russland auswandernden<br />
Menschen, sondern er beschreibt auch seine Eindrücke von der Reise in die Siedlungsgebiete und<br />
von den Schwierigkeiten nach der Ankunft. Nach der Ankunft im Siedlungsgebiet zog er bald nach Saratow,<br />
wo er zunächst in einer Manufaktur arbeitete. Danach war er Mitglied einer Schauspielertruppe.<br />
Nachdem ihm mit Hilfe eines falschen Passes die Flucht aus Russland gelungen war, kehrte er 1774 in<br />
seine Geburtsstadt zurück.<br />
In seinem Buch "Der russische Colonist" lesen wir:<br />
"Unser Führer rief halt! Worüber wir uns sehr wunderten, weil es zum Nachtlager noch zu früh war;<br />
unsere Verwunderung gieng aber bald in Staunen und Schrecken über, als man uns sagte, daß wir hier<br />
am Ziel unserer Reise wären. Erschrocken blickten wir einander an, uns hier in einer Wildniß zu sehen,<br />
welche, so weit das Auge reichte, außer einem kleinen Walde, nichts als fast drei Schuh [entspricht<br />
etwa einem Meter] hohes Gras zeigte. Keins von uns machte Anstalt von seinem Roße oder Wagen<br />
herabzusteigen, und als das erste allgemeine Schrecken sich ein wenig verloren hatte, las man auf allen<br />
Gesichtern den Wunsch, wieder umlenken zu können ... Das ist also das Paradies, das uns die russischen<br />
Werber in Lübeck verhießen, sagte einer meiner Leidensgefährten mit einer traurigen Miene! ... Es war<br />
freilich eine Thorheit von uns gewesen, daß wir uns in Russlands unbewohnten Gegenden einen Garten<br />
Eden dachten; die Täuschung war aber dagegen auch allzu groß, dafür eine Steppe zu finden, die auch<br />
nicht einmal den mäßigsten Forderungen entsprach. Wir bemerkten in dieser unwirthbaren Gegend<br />
nicht die geringsten Anstalt zu unserer Aufnahme, sahen auch im Verlauf mehrerer Tage keine machen,<br />
und doch schien, bei dem nicht mehr fernen Winter Eile nöthig zu sein."<br />
Auch wenn die Siedler, wie Züge bemerkt, nach einer näheren Untersuchung<br />
der Umgebung feststellten, dass sie anscheinend doch<br />
nicht ganz so unfruchtbar zu sein schien wie anfänglich befürchtet,<br />
so fanden sie dennoch nicht die ihnen versprochenen Bedingungen<br />
vor. Das für den Bau der Häuser notwendige Material lag nicht in ausreichender<br />
Menge vor und der Bau der Häuser verzögerte sich. Einige<br />
Kolonisten mussten deshalb mehrere Monate in Erdhütten Schutz vor<br />
den Unbilden der Witterung suchen.
REISE UND ANSIEDLUNG AN DER WOLGA – PROBLEME – BS 4 <strong>TB</strong> 10<br />
Fast zwei Jahre dauerte die Reise der ersten Gruppe. Wie viele Einwanderer im Wolgagebiet in den ersten<br />
zehn Jahren nach Verbreitung des Manifests eintrafen, ist ungewiss: Die Angaben schwanken zwischen 23.000<br />
und 29.000 Personen. Nach der Ankunft stellte sich heraus, dass eine ganze Reihe von Versprechungen des<br />
Manifestes der Zarin nicht erfüllt wurden. So war das Land für die Kolonie noch nicht vermessen, von den<br />
versprochenen Häusern und Nebengebäuden stand noch kein einziges, an Baumaterial fehlte es ebenfalls.<br />
1764 waren nur Balken und Bretter für die Einrichtung von Häfen angeliefert worden. Die meisten Ankömmlinge<br />
mussten deshalb den ersten Winter in Saratow, in nahegelegenen Dörfern und zum Teil in primitiven<br />
Erdlöchern verbringen. Die erste deutsche Kolonie, „Nischnjaja Dobrynka“, wurde am 12. Juni 1764 auf einem<br />
Kronsland nördlich der heutigen Stadt Kamyschin gegründet.<br />
In den Jahren 1764 bis 1767 folgten auf dem Westufer der Wolga (Bergseite) insgesamt 33 Kolonien und auf<br />
dem Ostufer (Wiesenseite) 41 Kolonien, alles ebenfalls auf „Kronland“. Die neuen Siedlungen hatten bei ihrer<br />
Gründung noch keine amtlichen Namen, deshalb nannte man sie meistens nach dem ersten Vorsteher oder<br />
Schulzen, z. B. Kraft, Bähr, Pfeifer, Müller, Anton usw. Amtliche Ortsnamen wurden erst im Jahre 1768 vergeben.<br />
Verschont blieben nur wenige Orte, die meisten bekamen russische oder tatarische Ortsbezeichnungen.<br />
Jede Familie bekam bis zu 30 Desjatinen Land, davon 15 für Ackerbau, fünf für Wiesen, 5 für Wald, 1,5 für Gehöft<br />
und Garten und 3,5 für die Hutweide. Das Land wurde den Kolonisten zum erblichen Besitz der gesamten<br />
Kolonien überlassen. Die Entwicklung der Kolonien an der Wolga verlief in den ersten Jahrzehnten nach ihrer<br />
Gründung weniger günstig, als es die Regierung erwartet hatte. Man hatte es versäumt, die Voraussetzungen<br />
für eine erfolgreiche Ansiedlung zu schaffen. Diese Unzulänglichkeiten führten dazu, dass die Kolonisten in<br />
den ersten Jahren häufig in Erdlöchern hausten. Viele von ihnen wurden daher krank und starben. Die Erträge<br />
waren anfangs sehr mäßig und reichten vielfach nicht für die eigene Ernährung.<br />
Mit der Besiedlung des Wolgagebietes verfolgte die russische Regierung nicht nur wirtschaftliche Ziele. Die<br />
neu angelegten Dörfer sollten die inneren Gouvernements vor Raubzügen nomadisierender Kalmücken und<br />
Kasachen, die man damals Kirgisen nannte, schützen. Die für die Kolonisation verwendeten Ländereien waren<br />
damals das Weideland nomadisierender Viehhirten, die sich erst 1740 scheinbar der russischen Krone unterworfen<br />
hatten. Sie fühlten sich durch die Anlage der Kolonien und die Ausweitung des Ackerbaus bedrängt<br />
und griffen wiederholt einzelne Siedlungen an. In den Jahren 1771 und 74 wurden 17 Kolonien von Nomaden<br />
überfallen. Die Orte Chasselois, Cäsarsfeld, Keller und Leitzinger hatten darunter so schwer gelitten, dass sie<br />
nicht wieder aufgebaut wurden.<br />
Ca. 3000 Siedler sollen bis 1775 bei Überfällen ums Leben gekommen sein, 1200 bis 1500 wurden angeblich<br />
auf den Märkten von Chiwa und Buchara in die Sklaverei verkauft, von denen nur wenige wieder an die Wolga<br />
zurückkamen. Der Bauernaufstand unter der Führung von Emeljan Pugačev verschonte auch die Kolonien<br />
nicht. Nach der Einnahme der Stadt Saratow zogen Scharen plündernd durch das Land. Es wurden nicht nur<br />
Vieh und Getreide mitgenommen, sondern auch Männer. Manch einer nutzte diese Gelegenheit aber auch,<br />
um aus der Kolonie zu entkommen. Diese Erschwernisse und Rückschläge führten dazu, dass die Regierung<br />
erst im Jahre 1786 und nicht schon zehn Jahre nach der Ansiedlung, das heißt ab 1774, versuchte, die Auslagen<br />
für die Kolonisation von Siedlern einzutreiben. Es stellte sich aber heraus, dass die Kolonisten noch<br />
immer nicht im Stande waren, die Schulden zu bezahlen. Die erwarteten wirtschaftlichen Erfolge waren nicht<br />
eingetreten.<br />
Quelle (mit geringfügigen Änderungen):<br />
http://kommentare.zeit.de/user/rowisch/beitrag/2007/10/26/die-geschichte-der-deutschen-russland<br />
15
<strong>TB</strong> 11<br />
16<br />
BESIEDLUNG DES WOLGAGEBIETS – BS 4<br />
Schwierige Anfangsjahre an der Wolga<br />
Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ansiedlung waren nicht geschaffen worden. So gestalteten<br />
sich die ersten Jahre für die Siedler recht schwierig. Viele hausten zunächst in Erdlöchern, weil das notwendige<br />
Baumaterial für Häuser fehlte. Nicht wenige wurden krank und viele starben. Die Erträge waren<br />
anfangs nur mäßig und reichten kaum für die eigene Ernährung.<br />
Mit der Besiedlung des Wolgagebietes verfolgte die russische Regierung nicht nur wirtschaftliche Ziele.<br />
Die neu angelegten Dörfer sollten die inneren Gouvernements vor Raubzügen nomadisierender Kalmücken<br />
und Kasachen, die man damals Kirgisen nannte, schützen. Die für die Kolonisation verwendeten<br />
Ländereien waren damals das Weideland nomadisierender Viehhirten, die sich erst 1740 scheinbar der<br />
russischen Krone unterworfen hatten. Sie fühlten sich durch die Anlage der Kolonien und die Ausweitung<br />
des Ackerbaus bedrängt und griffen wiederholt einzelne Siedlungen an. In den Jahren 1771 und<br />
74 wurden 17 Kolonien von Nomaden überfallen. Viele Orte wurden dauerhaft vernichtet.<br />
Rund 3000 Siedler sollen bis 1775 bei Überfällen ums Leben gekommen sein, 1200 bis 1500 wurden<br />
angeblich auf den Märkten von Chiwa und Buchara in die Sklaverei verkauft, von denen nur wenige<br />
wieder an die Wolga zurückkam. Der Bauernaufstand unter der Führung von Emeljan Pugaèev verschonte<br />
auch die Kolonien nicht. Nach der Einnahme der Stadt Saratow zogen Scharen plündernd durch das<br />
Land. Es wurden nicht nur Vieh und Getreide mitgenommen, sondern auch Männer. Manch einer nutzte<br />
diese Gelegenheit aber auch, um aus der Kolonie zu entkommen. Diese Erschwernisse und Rückschläge<br />
führten dazu, dass die Regierung erst im Jahre 1786 und nicht schon zehn Jahre nach der Ansiedlung,<br />
das heißt ab 1774, versuchte, die Auslagen für die Kolonisation von Siedlern einzutreiben. Es stellte sich<br />
aber heraus, dass die Kolonisten noch immer nicht im Stande waren, die Schulden zu bezahlen. Die<br />
erwarteten wirtschaftlichen Erfolge waren nicht eingetreten. Die Regierung sah sich daher gezwungen,<br />
Revisionen durchführen zu lassen.<br />
Im Zuge dieser Revisionen wurde so manche Ungerechtigkeit aufgedeckt und auch abgestellt. Unter anderem<br />
wurde auch die Selbstverwaltung wiederhergestellt. Amtssprache der Kolonieverwaltung war bis<br />
hinauf zur obersten Instanz Deutsch. Die Wiederherstellung der Selbstverwaltung verlieh den Kolonisten<br />
den ursprünglich gewährten Sonderstatus wieder.
ANSIEDLUNG AM SCHWARZEN MEER – BS 5<br />
Die Kolonisation Neurusslands unter Katharina II. und Paul I.<br />
Ein neuer Versuch der Kolonisation durch Auswanderer aus deutschen Ländern wird durch die Veröffentlichung<br />
eines Einladungsmanifestes der Zarin im Juli 1785 eingeleitet. Man beginnt, bei den Mennoniten des<br />
Danziger Werders und bei den Bürgern der Stadt Danzig für die Auswanderung nach Neurußland zu werben.<br />
Mit der Durchführung wurde Kollegienrat Georg von Trappe beauftragt.<br />
Seine Mission ist trotz des Widerwillens der preußischen Regierung und des Danziger Magistrats durchaus<br />
erfolgreich. Ihm gelingt es im Jahre 1789, 755 Personen anzuwerben. Vierzehn Familien aus dieser Gruppe<br />
werden in der sehr stark geschwächten Kolonie Alt-Schwedendorf angesiedelt, 21 Familien gründen die<br />
Kolonie Danzig im Bezirk Jelisawetgrad. Der andere Teil dieser Einwanderer lässt sich in den verschiedenen<br />
Städten des Gebiets als Handwerker nieder. Eine weitere Kolonistengruppe kann Georg Trappe im Jahre 1790<br />
nach Jekaterinoslaw bringen.<br />
Gleichzeitig mit den Danzigern kommen auch Mennoniten aus Westpreußen als Kundschafter nach Neurußland.<br />
Sie handelten mit dem Gouverneur Fürst Potjomkin die Bedingungen ihrer Ansiedlung aus, die sich nach<br />
den Bestimmungen des Einladungsmanifestes richteten.<br />
Die Landzuteilung ist nun viel großzügiger als 1763: sie bekommen 65 Desjatinen pro Familie. 1789 wandern<br />
228 Familien westpreußischer Mennoniten ein. Sie gründen in der Nähe der heutigen Stadt Zaporoschje zehn<br />
Kolonien: Chortiza, Einlage, Insel Chortiza, Kronsweide, Neuburg, Neudorf, Blumgart, Rosengard, Rosental und<br />
Schönhorst. Neben diesen, von der Regierung umgesiedelten oder angeworbenen Kolonisten verschiedener<br />
Nationalität und Herkunft, kamen im Jahre 1803 auch erste Kundschafter aus Württemberg in das Neurussisches<br />
Gebiet. Auch in diesem Fall wurde die Ansiedlung entsprechend dem Einladungsmanifest von 1763,<br />
jedoch mit größerer Landzuteilung, gestattet.<br />
Die Kolonisation unter Alexander I.<br />
Der Gedanke, deutsche Bauern zwischen den Bauern anderer Volkszugehörigkeit als Musterlandwirte anzusiedeln,<br />
führte dazu, dass durch einen Ukas vom 17. August 1793 einer Gruppe von 273 Kolonisten aus der<br />
Umgebung von Jamburg im Ingermannland die Umsiedlung nach Neurussland gestattet wurde.<br />
Sie gründen die Kolonie Jamburg in der Nähe von Jekaterinoslaw. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde<br />
dieser Gedanke weiterentwickelt und als Bericht des Innenministers Kotschubej dem Zaren Alexander I. vorgelegt.<br />
Der Minister stellt fest, „die Einladung aufgrund des Manifestes von 1763 enthält keine Beschränkung<br />
darüber, welche Leute anzunehmen sind, sondern bezieht sich im allgemeinen auf jeden Beruf und Stand;<br />
deshalb kamen anfangs auch viele schlechte und größtenteils sehr arme Wirte, welche dem Staate bis jetzt<br />
wenig Nutzen gebracht haben“.<br />
Mit Rücksicht auf die Vermehrung der eigenen Bevölkerung und die damit verbundene Umsiedlung eines Teiles<br />
davon nach Neurußland schlägt er die Ansiedlung „einer beschränkten Zahl solcher Einwanderer, welche<br />
in ländlichen Beschäftigungen und Handwerken als Beispiel dienen können“, vor. Vor allem sollten Bauern<br />
aufgenommen werden, die Erfahrungen im Weinbau, in der Anpflanzung von Obst- und Maulbeerbäumen, in<br />
der Viehzucht, insbesondere in der Schafzucht, hatten. Von den handwerklichen Berufen wurden Schneider,<br />
Schuster, Zimmerleute, Schmiede, Töpfer, Müller, Weber und Maurer ausdrücklich, andere Berufe nur nach<br />
Bedarf zur Einwanderung zugelassen.<br />
Während für die Gewinnung von Kolonisten für das Wolgagebiet den „Werbern“ Kopfprämien gezahlt wurden,<br />
ist für die Kolonisation Neurußlands nicht geworben worden. Einreisewillige sollten sich selbst bei russischen<br />
Gesandten melden. Sie müssen dabei „Pässe, Zeugnisse oder andere Scheine, die von Magistraten<br />
oder Gemeinden ausgestellt, die Bescheinigung eines guten Lebenswandels des Vorzeigers enthalten sollten“,<br />
vorlegen. Für die Einwanderung kommt nur in Frage, wer seiner Regierung gegenüber keine Verbindlichkeiten<br />
hatte, verheiratet ist und Bargeld oder Waren im Wert von mindestens 300 Gulden als Eigenbesitz nachweisen<br />
konnte. Diese Vorschriften werden von Alexander dem Ersten am 20. Februar 1804 bestätigt und bilden die<br />
Grundlage der deutschen Kolonisation Neurußlands.<br />
<strong>TB</strong><br />
12,1<br />
17
<strong>TB</strong><br />
12,2<br />
18<br />
ANSIEDLUNG AM SCHWARZEN MEER – BS 5<br />
Auswanderungswillige können sich nun in den eigens dafür eingerichteten Sammelstellen in Frankfurt, Rothenburg,<br />
Regensburg, Ulm und Lauingen an der Donau melden. Die Regierungen versuchten Bevölkerungsverluste<br />
zu verhindern; in Baden etwa verschlingen die verschiedenen, bei den Auswanderungen fälligen Abgaben<br />
bis zu einem Viertel des Vermögens. Als das nicht wirkt, beschließt die Regierung, dass Rückkehrern die<br />
Aufnahme in den badischen Untertanenverband verweigert werden sollte. Gleichzeitig wurde die russische<br />
Regierung ersucht, Einwanderern aus Baden die Rückreise nicht zu gestatten.<br />
Der Auswandererstrom kommt aber seit 1804, trotz der Behinderung durch die Regierung und den Feldzug<br />
Napoleons gegen Preußen und dessen Verbündeten Russland in Gang und hält über mehrere Jahre an. Die<br />
Auswanderer aus dem Südwesten Deutschlands werden durch die „Russisch-Kaiserliche Colonie Transport<br />
Station“ ab Ulm und Lauingen mit etwa 30 Meter langen sogenannten „Ulmer Schachteln“ bis Wien gebracht.<br />
Von hier aus fuhr ein Teil Donauabwärts bis Ismail und dann auf dem Landweg weiter über die Grenzstadt<br />
Dubosary nach Odessa. Der größere Teil aber reiste ab Wien oder Budapest auf dem Landweg durch die<br />
Karpaten und Galizien nach Russland. Im Jahre 1809 reisten Auswanderer aus der Pfalz, aus Hessen Baden,<br />
Württemberg und aus dem Elsass von einem Sammellager in der Nähe von Frankfurt am Main über Schlesien,<br />
Warschau und Grodno nach Ekaterinoslaw und wurden dort auf die vorgesehenen Kolonien verteilt. Für<br />
die Anlage der Siedlungen stellte die Regierung insgesamt 532.000 Desjatinen( 1 Desj. = 1,09 ha) Land zur<br />
Verfügung.<br />
Dieses bildet keine zusammenhängende Fläche, sondern wird entsprechend dem Ziel, Musterlandwirte anzusiedeln,<br />
an mehreren Stellen zugeteilt. Die darauf gegründeten Dörfer werden in der Folge zu Kolonistengebieten<br />
zusammengefasst. Das Großliebentaler Gebiet entsteht westlich von Odessa in der waldlosen Steppe<br />
zwischen der Küste und den Flüßchen Dalnik, Klein- und Groß-Akerscha und Baraboj. Die Landfläche beträgt<br />
34.212 Desjatinen.<br />
Die älteste Siedlung ist Großliebental. In den Jahren 1804 bis 1806 entstehen weitere neun Kolonien; von den<br />
ersten waren sechs evangelisch und vier katholisch. Die meisten der Einwanderer stammten aus dem Elsaß,<br />
aus Baden und aus der Pfalz.<br />
Die ersten Kolonisten des Glückstaler Gebietes werden 1803 in dem armenischen Städtchen Grigoriopol angesiedelt.<br />
In den Jahren 1808 bis 1810 gründen sie Bergdorf, Glückstal, Neudorf und Kassel. Die weitaus meisten<br />
Siedler dieses Gebietes kommen aus Württemberg. Sie sind Protestanten. Ein weiteres Kolonisationsgebiet,<br />
das Beresaner Gebiet, wird in den Jahren 1809 und 1810 im Tal des Steppenflüßchens Beresan angelegt. Von<br />
den ersten sieben Kolonien sind die Bewohner von Landau, München, Rastatt, Speyer und Sulz katholisch, die<br />
von Rohrbach und Worms evangelisch.<br />
Die meisten Siedler stammten aus Baden, aus dem Elsass und der Pfalz. Im Schwedengebiet entstanden 1806<br />
die katholische Kolonie Klosterdorf und die evangelischen Kolonien Schlangendorf und Mühlhausendorf. In<br />
den Jahren 1804 bis 1810 wird an dem Flüsschen Molotschna das Molotschnaer Kolonistengebiet gegründet.<br />
Es bestand aus insgesamt 16 Kolonien. Die Zahl der Kolonien auf der Krim wuchs bis zum Jahre 1810 auf zehn<br />
an. Die Einwanderung größeren Ausmaßes fand im Jahre 1810 ein vorläufiges Ende.<br />
Nach der Beendigung der Napoleonischen Kriege setzte der Nachzug kleinerer Auswanderergruppen aus verschiedenen<br />
deutschen Fürstentümern in bereits bestehende Kolonien wieder ein. Die hohen Verluste während<br />
der Einwanderung dürften, neben der durch den Krieg gegen Napoleon eingetretenen Erschöpfung der<br />
Staatsfinanzen, die Hauptursache dafür gewesen sein, dass die Werbung für Neurussland durch den Erlass des<br />
russischen Außenministers vom Februar 1820 eingestellt wurde.<br />
Kleinere Einwanderergruppen kommen aber immer wieder mit Sondergenehmigungen in das Land. Sie werden<br />
vor allem in den, in den Jahren 1823 bis 1842 gegründeten „Planer Kolonien“ in der Nähe der Hafenstadt<br />
Mariupol, angesiedelt. Ferner setzt seit 1816 eine Einwanderung aus Polen nach Wolhynien ein. Sie erfolgt<br />
auf Privatinitiative ohne staatliche Unterstützung und hatte ihre Höhepunkte in den Jahren der polnischen<br />
Aufstände von 1831 und 1863. Die Gesamtzahl der Deutschen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
als Bauern und Handwerker in den Kolonien und Städten Neurußlands niederließen, beläuft sich auf<br />
insgesamt etwa 10.000 Familien mit ungefähr 55.000 Personen.
ALLGEMEINE GESAMTE SIEDLUNGSZEIT – BS 4,5,6,7 <strong>TB</strong> 13<br />
Ansiedlung an der Wolga, Schwarzmeer, Wolhynien (Ukraine, westl.)<br />
1763-1767 Die erste große planmäßige Ansiedlung deutscher Bauern in Russland beginnt 1763 und dauerte<br />
bis Ende der 1860er Jahre, d.h. ca. 100 Jahre. Es wandern vor allem Hessen, aber auch Rheinländer<br />
und Süddeutsche ins Wolga- (und später ins Schwarzmeergebiet) aus. Der beschwerliche Weg führt bis<br />
Saratow an der Wolga, wo auf einer geschlossenen Landfläche 104 deutsche Siedlungen (Mutterkolonien)<br />
gegründet werden. Dobrinka, die älteste Wolgadeutsche Kolonie wird am 29. 06.1764 gegründet.<br />
Die ersten 30 bis 40 Jahre nach der Einwanderung sind für die deutschen Siedlungen eine schwierige<br />
Zeit, denn es fehlt an allem: an landwirtschaftlichen Geräten, an Getreide-, Gemüse- und Obstsorten, die<br />
den örtlichen Gegebenheiten entsprochen hätten. Doch mit der Zeit passt man sich den Gegebenheiten<br />
an. Bereits in den 1830er Jahren beginnt man in kleineren Fabrikanlagen und Werkstätten Putzmaschinen,<br />
zwei-, dann drei- und später sogar sechsschürige Pflüge sowie Mähmaschinen zu entwickeln und<br />
zu produzieren.<br />
1789-1863 Die zweite große Auswanderergruppe, vorwiegend Mennoniten, stammt aus Danzig/Westpreußen.<br />
Chortitza, die erste mennonitische Kolonie, wurde im Juli 1789 gegründet.<br />
20. 02.1804 Alexander I. wünscht die Ansiedlung Deutscher ins Schwarzmeergebiet.<br />
25.10.1819 Generalkonsistorium für die evangelischen Kirchen in Saratow/Wolga gegründet. Das religiöse<br />
Leben war bei den Deutschen in Russland immer stark ausgeprägt, schließlich waren viele aus religiösen<br />
Gründen ausgewandert. Die Kirchen und Schulen (letztere bis 1917) werden immer aus eigenen Mitteln<br />
erbaut und unterhalten werden. Da von der russischen Regierung bis 1914 Glaubensfreiheit gewährt<br />
wurde, war man in der Lage und auch bereit, für die Kirchen und Schulen große Opfer zu bringen.<br />
1804-1842 Fand die stärkste Auswanderung aus Süd- und Südwestdeutschland bis in die Gegend von<br />
Odessa, nach Bessarabien, in die Krim und in den Südkaukasus statt. Insgesamt wurden in diesen Gebieten<br />
181 Dörfer (Mutterkolonien) gegründet. Beachtliche Erfolge hatten die Deutschen zu verzeichnen<br />
mit dem Anbau von Weintrauben auf der Krim und im Transkaukasus zu verzeichnen. Außerdem waren<br />
sie bei der Schafzucht, bei der Produktion von Käse und Butter federführend. Der deutsche Anteil an<br />
Getreide und besonders Mehl, welches zum Verkauf ins Ausland gelangte, war besonders groß. Zuerst<br />
baute man hauptsächlich Wind-, dann Wasser- und Pferdemühlen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />
wurden aber auch einige hundert große Dampfmühlen errichtet und das in einem Gebiet von<br />
der Ukraine bis zur Wolga und bis nach Sibirien. Nikolaus I. bestätigte am 09.11.1838 die Privilegien der<br />
Kolonisten und 1842 wurden alle Freiheiten, Pflichten und Privilegien der Kolonisten im ganzen Zarenreich<br />
kodifiziert.<br />
4.06.1871 Die Zarenregierung hebt die Kolonistengesetze auf. 7.10.1879 Nachdem das Deutsch-österreichisches<br />
Bündnis (Zweibund) geschlossen wurde, verschlechterte sich das Ansehen der Deutschen in<br />
Russland.<br />
13.03.1881 Nach der Thronbesteigung Alexanders III. beginnt die Russifizierung von ethnischen Minderheiten.<br />
Aus 100.000 Einwanderern und einigen zigtausend "Alteingesessenen" wurde in 135 Jahren<br />
eine Volksgruppe von 1,7 Millionen (Volkszählung 1897) , ungeachtet dessen, dass die Einwanderung<br />
insgesamt 100 Jahre andauerte und in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts nach der Aufhebung der Privilegien<br />
und der Einführung von Beschränkungen eine größere Auswanderbewegung eingesetzt hatte.<br />
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<strong>TB</strong> 14<br />
20<br />
DIE WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN<br />
NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6<br />
Wirtschaftliche Entwicklung<br />
Die wirtschaftliche Entwicklung der Wolgakolonien verläuft nach deren Stabilisierung gegen Ende des<br />
18. Jahrhunderts relativ erfolgreich. Durch die Nähe zur Wolga war der Getreideabsatz nicht nur nach<br />
Saratow, sondern weit darüber hinaus gesichert. Zu dieser Zeit haben eine Reihe von Kolonisten ihre<br />
Bauernhöfe aufgegeben und ließen sich in die Kaufmannsgilden eintragen. Sie bauten eine Vielzahl von<br />
Wind und Wassermühlen und gingen vom Getreidehandel zum einträglicheren Mehlhandel über. Der<br />
Anbau von Sonnenblumen, Obst und Gemüse diente zur Deckung des Eigenbedarfs. Die bis dahin in<br />
dieser Gegend nicht bekannte Kartoffel wurde rund 50 Jahre nach der Ansiedlung der ersten Kolonisten<br />
auch von den benachbarten russischen Bauern übernommen.<br />
Erfolgreich waren die Versuche mit dem Anbau von Tabak, 13 Tabakfabriken wurden errichtet. Im Laufe<br />
der Zeit gewann auch das Handwerk zunehmend an Bedeutung. In den letzten 30 Jahren des 19.<br />
Jahrhunderts ist ein Aufschwung in den deutschen Kolonien Neurußlands zu verzeichnen, der bis zum<br />
Ersten Weltkrieg anhielt. Er wurde in hohen Maßen durch den Ausbau der Verkehrswege ermöglicht.<br />
Der Anschluss an die Verkehrswege verbesserte den Getreideabsatz ganz erheblich und führte zur intensiveren<br />
Bodenbearbeitung und zum Aufbau einer leistungsfähigen Mühlenindustrie. Die Intensivierung<br />
der Bodenbearbeitung wurde durch den Einsatz von immer mehr und besseren landwirtschaftlichen<br />
Maschinen ermöglicht.<br />
Hier soll auf die größte deutsche Landmaschinenfabrik in Russland hingewiesen werden. Die im Jahre<br />
1856 in Odessa gegründete Firma von Johann Hoehn beschäftigte 1912 in zwei Betrieben 1200 Arbeiter<br />
und baute in diesem Jahr 80.000 Pflüge, 30.000 Eggen, 6000 Mähmaschinen, 3000 Drillmaschinen<br />
(Sämaschinen), 2000 Bugger (Bodenauflockerungsgeräte), 1500 Goeppel-Dreschmaschinen und 1600<br />
Breitsähmaschinen. Das Unternehmen gründete 1913 eine Verkaufsgemeinschaft mit zwei anderen<br />
deutschen Landmaschinenfabriken, dies ermöglichte die Spezialisierung der Produktion und den Vertrieb<br />
im ganzen Russischen Reich. An diesem wirtschaftlichen Aufschwung konnten jedoch nicht alle Kolonien<br />
gleichermaßen teilhaben.<br />
Der sehr rasche Bevölkerungszuwachs führte insbesondere in den Wolgakolonien zu einer starken Bevölkerung.<br />
Im Jahre 1912 gab es auf dem Gebiet der späteren Wolgarepublik 227 Kolonien und Streusiedlungen<br />
mit einer Bevölkerung von 427.400 Personen. 81% der Siedlungen hatten über 1000 Einwohner.<br />
Ein Weggang aus den Kolonien war aber wegen des „Mir-Systems“ mit dem Verlust des Eigentums- bzw.<br />
des Nutzungsrechtes verbunden und behinderte so das Absiedeln der überschüssigen Bevölkerung. Eine<br />
Änderung trat erst durch die Agrarreform des Stolypin ein, die in den Jahren 1906 und 1910 durchgeführt<br />
wurde. Sie hatte die Überführung von Grund und Boden aus dem Gemeinschafts- in den Privatbesitz zum<br />
Ziel. Zu dieser Zeit wurden in Sibirien Ländereien für eine Kolonisation zur Verfügung gestellt. Dadurch<br />
verstärkte sich der bereits in den 1890er Jahren eingesetzte Zustrom von Deutschen nach Sibirien und<br />
Nordkasachstan. Die Mennonitengemeinden bei Orenburg bekamen Zuwachs durch Einwanderer.<br />
Es entstanden auch neue Kolonien bei Kustanaj, Semipalatinsk, Omsk und im Altaigebiet. Kleinere Kolonien<br />
entstanden in Mittelasien, in Ostsibirien und sogar im Amurgebiet. Gleichzeitig mit der wirtschaftlichen<br />
Expansion war auch ein wachsendes Ansehen der Repräsentanten der Kolonien zu verzeichnen.
DIE KULTURELLE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN<br />
NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6<br />
Kirche und Schule<br />
Für viele Kolonisten war die Einwanderung nach Russland erst durch die Zusage der Religionsfreiheit erstrebenswert<br />
gewesen. Bei den Mennoniten und Separatisten aus Südwestdeutschland war dies sogar der Ausschlag gebende<br />
Grund. Die ersten Geistlichen, ein lutherischer und ein calvinistischer Pastor sowie ein katholischer Pater und je ein<br />
Küster, wurden auf Beschluss der russischen Regierung vom 3. November 1763 in die Wolgakolonien entsandt. Ihr<br />
Gehalt zahlt die Regierung zwei Jahre lang. Danach sollen die Kolonisten die Besoldung der Geistlichen selbst übernehmen<br />
und die Auslagen der ersten zwei Jahre nach Ablauf von zehn Jahren dem Staat in Raten zurückerstatten.<br />
Die Gehälter für die Geistlichen werden wegen der anfänglichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und aus diversen<br />
anderen Gründen vom Saratower Tutelkontor übernommen.<br />
Auch die Kosten für den Bau von Kirchen und Bethäusern werden von diesem Kontor übernommen, alle diese Auslagen<br />
sollen nach Ablauf der Freijahre an die Krone zurückerstattet werden.<br />
Im Januar 1765 wird die Errichtung von Gotteshäusern in jedem Kreis gestattet und bereits 1768 die ersten beiden<br />
Kirchen mit Pastorat und Schule gebaut. Bis Ende des Jahres 1771 hat jeder Kreis der Wolgakolonien eine Kirche<br />
und die dazugehörige Schule.<br />
Die Geistlichen sollten aber nicht nur als Seelsorger im kirchlichen Rahmen wirken, sondern auch zur Stärkung von<br />
Sitte und Moral beitragen und durch Ermahnung zu besserer Arbeitshaltung die wirtschaftliche Entwicklung der<br />
Kolonien fördern. Die Seelsorge ist aber, abgesehen von den materiellen Problemen der Geistlichen, unbefriedigend<br />
geregelt. Nicht alle Pfarrstellen können besetzt werden, und daher werden zunächst Seelsorger aus dem Ausland<br />
eingeladen.<br />
Eine evangelisch-theologische Fakultät gibt es in Russland erst mit der Gründung der Universität zu Dorpat (heute<br />
Tartu) im Jahre 1802. Sie hat aber vor allem für den Priesternachwuchs der baltischen Provinzen und der Hauptstädte<br />
zu sorgen. Der erste Absolvent dieser Universität kommt 1854 in die Kolonien von Transkaukasien. Kolonistensöhne<br />
haben erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in größerer Zahl in Dorpat studiert.<br />
Die Schulfrage ist eng mit der Kirchenfrage verbunden. Sowohl die Protestanten als auch Katholiken legen großen<br />
Wert auf eine sorgfältige Ausbildung der Geistlichkeit und auf die Verbreitung von Elementarkenntnissen im Volk.<br />
Da die Einwanderer aus ihrer Heimat die Volksschule kennen, ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht nur während<br />
der Anreise „Schule hielten“, sondern sogleich nach der Ansiedlung bestrebt sind, Schulen für ihre Kinder zu schaffen.<br />
In der ersten Zeit nach der Einwanderung gibt es noch genügend Gebildete, die das Lehramt ausüben können. Im<br />
Jahre 1782 aber entfällt die Besoldung der Lehrer durch das Tutelkontor, und man geht zur Unsitte über, das Lehramt<br />
demjenigen zu übertragen, der dafür das geringste Entgelt fordert.<br />
Im Jahre 1865 gibt es in den Wolgakolonien 175 kirchliche Schulen, in denen 22.046 Knaben und 21.223 Mädchen<br />
von 214 Lehrern unterrichtet werden. Das sind 247 Kinder pro Schule oder 202 Kinder pro Lehrer. Wohlhabende<br />
Kolonisten schickten ihre Kinder auf höhere russische Schulen oder lassen sie von Privatlehrern unterrichten.<br />
Die Situation in den Kolonien Südrusslands unterscheidet sich von der an der Wolga recht deutlich. Das liberale<br />
Schulgesetz für Wolhynien, Kiew und Polodien findet auch in den Kolonien Neurusslands Anwendung. Hier sind<br />
Geldsammlungen für schulische Zwecke erlaubt. Zudem ist es angesichts des Wohlstandes der Kolonien leichter,<br />
zusätzliche Gelder zu sammeln. Das beste Beispiel für Wohltätigkeit durch Privatinitiative gibt es in der deutschen<br />
Gemeinde zu Odessa.<br />
Auf Veranlassung von Pfarrer Fletnizer wird 1829 eine Sammlung für eine Schule durchgeführt. In dieser Schule<br />
werden die Fächer Deutsch, Russisch, Französisch, Arithmetik, Rechtschreiben, Geographie, Geometrie, Geschichte,<br />
Naturkunde, Technologie, Gesang und Malen unterrichtet. Neben dieser Schule wird in Odessa durch die Initiative<br />
der Geistlichkeit bereits 1823 eine Armenkasse und 1831 ein Altersheim gegründet; später kommen ein Hospital<br />
und ein Waisenhaus dazu. In der Mitte des Jahrhunderts folgt eine Realschule, eine Handelsschule und Kurse für<br />
Mädchen.<br />
Alle diese Einrichtungen werden jahrzehntelang durch die Spenden der Gemeindemitglieder finanziert. Zu Beginn<br />
des 20. Jahrhunderts hat jedes Kolonistengebiet Neurusslands eine Zentralbildungsanstalt zur Ausbildung von Lehrern<br />
und Schreibern. Zur selben Zeit werden in Georgien Ackerbauschulen und Progymnasien, in Tiflis ein Realgymnasium,<br />
in Helenendorf eine Oberrealschule gegründet, um nur einige zu nennen.<br />
<strong>TB</strong> 15<br />
21
<strong>TB</strong> 16<br />
22<br />
VOM ABBAU DER PRIVILEGIEN BIS ZUR DEUTSCHENHETZE<br />
– BS 7<br />
Die Entwicklung der deutschen Kolonien in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird zunehmend<br />
durch innen- und außenpolitische Entwicklungen bestimmt.<br />
Die Niederlage im Krimkrieg (1853 bis 1856) wird in Russland als nationale Demütigung empfunden und gibt den<br />
Panslawisten Auftrieb. Ihre politischen Aktivitäten, die auf die Einigung aller Slawen unter russischer Führung gerichtet<br />
sind, bleiben auch für die innere Entwicklung des Landes nicht ohne Wirkung. Im Zusammenhang mit der Bauernbefreiung<br />
etwa, werden nun alte Vorbehalte gegen die Besserstellung der Kolonien wieder laut vorgetragen.<br />
Dabei forderte man den Abbau der Privilegien und die Angleichung der Rechte der Kolonisten an die der wesentlich<br />
schlechter gestellten russischen Bauern, statt einer weitgehender Befreiung und Angleichung der Bauern an den<br />
rechtlichen und wirtschaftlichen Stand der Kolonisten.<br />
Als erstes wurde in Saratow 1866 das Tutelkontor in seinen Rechten beschnitten. Es war jetzt nur noch mit Kirchen<br />
und Schulangelegenheiten befasst, aber gerade diese Gebiete zählten schon bisher nicht zu seinen Stärken. Eine<br />
entscheidende Verschlechterung brachte das Jahr 1871 (Gründung des Deutschen Reichs). Das Kolonistengesetz<br />
wurde aufgehoben und die bei der Einwanderung gewährten Privilegien widerrufen.<br />
Die Kompetenzen der Verwaltungskörperschaften und der gewählten Beamten wurden wesentlich vermindert.<br />
Nach dem neuen Gesetz war der Schulze (Starosta) jetzt nur noch ausführendes Organ der Staatsgewalt, die ihn vor<br />
allem für die Eintreibung der Steuern verantwortlich machte. Als weitere verhängnisvolle Folge der Angleichung der<br />
Rechte der Kolonisten an die der russischen Bauern wurde auch die Befreiung von dem Militärdienst widerrufen.<br />
Das war für die Kolonisten ein Schock, denn der Militärdienst dauerte in Russland zu dieser Zeit 15 bis 20 Jahre.<br />
Am härtesten traf die neue Einführung die Mennoniten, für die der Dienst mit der Waffe mit ihrem Glauben nicht<br />
zu vereinbaren ist.<br />
Sie selbst und ihre Vorfahren waren bekanntlich aus Preußen nach Russland gekommen, um dem Dienst mit der<br />
Waffe zu entgehen. Ein beträchtlicher Teil der Mennoniten lehnte jeglichen Dienst ab und bereitete sich zur Auswanderung<br />
in ein geeignetes Land vor. Sehr viele von ihnen wandern nach Kanada, in die USA und in die anderen<br />
Staaten des amerikanischen Kontinents aus.<br />
Zur gleichen Zeit kommt auch die Auswanderung katholischer und protestantischer Kolonisten aus dem Wolgagebiet,<br />
Bessarabien und Neurussland in Gang. Sie schicken, wie die Mennoniten, ebenfalls Kundschafter nach Übersee.<br />
Insgesamt wandern mehr als 100.000 deutsche Kolonisten nach Übersee aus.<br />
Zeitgleich mit dem Abbau der Privilegien der Kolonisten in Russland kommt in Wolhynien eine Entwicklung in Gang,<br />
deren Tragweite erst zu Beginn des Ersten Weltkrieges deutlich wird. Nach der Niederwerfung des Aufstandes in<br />
Polen von 1863 verschlechtert sich die Lage der deutschen Bauern in diesem Lande, weil sie sich an der Revolte<br />
nicht beteiligt hatten. Außerdem machte sich eine zunehmende Landknappheit bei steigenden Bodenpreisen stark<br />
bemerkbar.<br />
Zur gleichen Zeit gab es aber weiter östlich, in Wolhynien, preiswertes Land zu pachten und zu kaufen. Den dortigen<br />
Gutsbesitzern fehlten nach der Bauernbefreiung die billigen Arbeitskräfte und den Bauern die Mittel und Erfahrungen<br />
zur Trockenlegung der Sümpfe. Die deutschen Zuwanderer aus dem Gouvernements Warschau brachten beides<br />
mit. Sie verwandelten Sumpfgebiete in Ackerland, pachteten oder kauften neue Grundstücke und machten auch<br />
diese urbar.<br />
Es gab für Ausländer keine Beschränkungen beim Grunderwerb. Dieses Einsickern deutscher Bauern stieß bei den<br />
Slawophilen auf wenig Gegenliebe. Bereits 1874 schrieb der damalige Generalgouverneur von Kiew, Podolien und<br />
Wolhynien, Fürst Dondukow-Korsakow: „Wenn diese Kolonisten auch des starken Arbeitermangels wegen dem<br />
Lande, wirtschaftlich betrachtet, nützlich sind, so rufen sie doch politisch die Befürchtung hervor, ob nicht die immer<br />
mehr zunehmende Einwanderung der Deutschen eine Änderung des Charakters der Landbevölkerung an der<br />
Grenze nach sich ziehe, ob nicht statt der Russifizierung des Gebietes eine Germanisierung sich ergäbe“.<br />
Mit dem Regierungsantritt Alexander des III. gewinnen die Slawophilen an Einfluss. Das Motto des Zaren „Russland<br />
muss den Russen gehören“ erhebt die Ausländerfeindlichkeit zur Staatspolitik und wirkt sich auf das Verhältnis zu<br />
deutschen Kolonisten negativ aus. In der öffentlichen Diskussion ergreifen neben der deutschen „Sankt-Petersburger<br />
Zeitung“ auch die russischen Großgrundbesitzer und das ihnen nahestehende Blatt „Kiewljanin“ Partei für die<br />
Kolonisten, indem sie auf den durch diese erbrachten wirtschaftlichen Nutzen hinwiesen.<br />
Der Druck der Slawischen Komitees in Kiew auf die öffentliche Meinung und die örtlichen Verwaltungen verstärken<br />
den öffentlichen Druck auf deutsche Kolonisten. Die deutschfeindliche Atmosphäre und die stark gestiegenen<br />
Pachtzinsen führen allein im Jahre 1890, zur Auswanderung von etwa 10.000 Siedlern aus den Wolhynischen<br />
Bezirken Lutzk, Kowel und Wladimir-Wolynsk nach Brasilien.
100 GUTEN JAHREN FOLGEN LEID UND DEPORTATION –<br />
BS 8,9,10,11,12<br />
100 guten Jahren folgen Leid und Deportation<br />
Russlanddeutsche werden für Hitler-Deutschlands Krieg verantwortlich gemacht/Exodus seit den 80er Jahren<br />
Von Klaus P. Andrießen (0 64 41) 95 91 84<br />
k.andriessen@mittelhessen.de<br />
Wetzlar. In den ersten hundert Jahren der Kolonisation – also bis etwa 1870 – entfalten die Deutschen in Russland eine rege Siedlungstätigkeit. Sie verlassen sich dabei auf die ihnen<br />
von Zarin Katharina II. für immer gewährten Vorrechte. Zu den ursprünglich 304 Mutterkolonien in der Ukraine, am Schwarzen Meer, an der Wolga und in Kasachstan kommen 322<br />
Tochterkolonien hinzu. Doch dann müssen sie auf ihre Privilegien - insbesondere die Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie – verzichten, 1891 wird Deutsch als Unterrichtssprache<br />
in den deutschen Schulen verboten.<br />
Russlanddeutsche<br />
wandern nach Nord-<br />
Amerika aus. Als 1914<br />
der erste Weltkrieg<br />
ausbricht, leben 1,7<br />
Millionen Deutsche<br />
in Zentralrussland. Sie<br />
verfügen mit 13,4 Millionen<br />
Hektar Land<br />
über eine Fläche, die<br />
etwa den fünf neuen<br />
Bundesländern entspricht.<br />
„Die Region<br />
liegt an der westlichen<br />
Grenze des heutigen<br />
Russlands. Historisch<br />
jedoch bildet sie die<br />
Keimzelle des Landes<br />
und stellte bis zur Oktoberrevolution<br />
1917<br />
tatsächlich den zentralen<br />
Teil des Landes<br />
dar“, beschreibt die<br />
Internet-Enzyklopädie<br />
Wikipedia die geografische<br />
Lage.<br />
Das Zarenreich erklärt<br />
1914 das Deutsche<br />
Reich zu seinem<br />
Feind, die deutschen<br />
Ortsnamen werden<br />
durch russische ersetzt.<br />
Mit dem so genanntenLiquidationsgesetz<br />
enteignet der<br />
russische Staat 150<br />
000 Deutsche in Wolhynien<br />
(Ukraine) und<br />
lässt sie nach Sibirien<br />
verschleppen. Dasselbe<br />
Schicksal hatte<br />
Zar Nikolaus II. allen<br />
Deutschen westlich<br />
des Ural zugedacht,<br />
doch die bürgerliche<br />
„Februarrevolution“<br />
1917 vereitelt den<br />
Plan.<br />
Mit Lenins kommunistischer<br />
Revolution<br />
verschärft sich nur<br />
wenige Monate später<br />
der Druck auf die<br />
Deutschen. Enteignungen<br />
und Verfolgungen<br />
stehen auf der<br />
Tagesordnung, bis die<br />
„Neue Ökonomische<br />
Politik“ 1921 bis 1928<br />
Erleichterung bringt.<br />
An den deutschen<br />
Schulen wird die deutsche<br />
Sprache wieder<br />
erlaubt, 1924 wird<br />
die „Autonome Sozialistische<br />
Republik<br />
der Wolgadeutschen“<br />
gegründet. Außerdem<br />
werden 16 deutsche<br />
Landkreise und 3000<br />
Gemeinden mit deutscher<br />
Amtssprache in<br />
der Ukraine, auf der<br />
Krim, im Kaukasus,<br />
im Südural (Orenburg),<br />
in Westsibirien<br />
(Altai), Kasachstan,<br />
Bessarabien und Kir-<br />
gisien gebildet.<br />
Bereits 1928 (bis<br />
1932) führt die „Entkulakisierung<br />
und<br />
K o l l e k t i v i e r u n g “<br />
dann aber zu Enteignungen<br />
und Vertreibungen,<br />
unter denen<br />
die deutschen Bauern<br />
besonders zu leiden<br />
hatten. Allein aus dem<br />
Wolgagebiet werden<br />
50 000 von ihnen<br />
nach Zentralasien<br />
deportiert. Das ist ein<br />
Gebiet mit Kasachstan<br />
im Norden, dem<br />
Kaspischen Meer im<br />
Westen und Tadschikistan<br />
imSüden.<br />
Die Machtergreifung<br />
Hitlers 1933<br />
in Deutschland löst<br />
eine weitere Verschlimmerung<br />
der<br />
Lage der Deutschen<br />
in der Sowjetunion<br />
aus. Sie gelten nun<br />
als Kollaborateure<br />
und Volksfeinde und<br />
haben unter Stalins<br />
Vernichtungsmaßnahmen<br />
– schönfärberisch<br />
„Säuberungen“<br />
genannt – zu leiden.<br />
„In manchen Dörfern<br />
gab es kaum noch<br />
arbeitsfähige Männer.<br />
Diesen Repressalien<br />
sind nach zuverlässigen<br />
Schätzungen<br />
mehr als 55 000 Deutsche<br />
zum Opfer gefallen“,<br />
heißt es im Katalog<br />
zur Ausstellung<br />
„Volk auf dem Weg“<br />
der Landsmannschaft<br />
der Deutschen aus<br />
Russland. Der Ausbruch<br />
des zweiten<br />
Weltkriegs 1939 und<br />
der Einmarsch deutscher<br />
Truppen in die<br />
Sowjetunion 1941<br />
sollten die Lage der<br />
1,4 Millionen Deutschen<br />
allerdings noch<br />
weit darüber hinaus<br />
verschärfen.<br />
Ein Erlass des Obersten<br />
Sowjets löst die<br />
Republik der Wolgadeutschen<br />
auf und<br />
verfügt die Deportation<br />
der Bevölkerung<br />
nach Sibirien<br />
und Mittelasien in<br />
Arbeitslager (so genannte<br />
Trudarmee).<br />
Innerhalb von zehn<br />
Tagen werden rund<br />
350 000 Wolgadeutsche<br />
verschleppt.<br />
Bis 1946 sind knapp<br />
eine Million Russlanddeutsche<br />
von<br />
den Deportationen<br />
betroffen, ungezählte<br />
Menschen sterben<br />
durch Unterernährung,<br />
Krankheiten<br />
und schwere Arbeit,<br />
Familien werden auseinandergerissen.<br />
■ Der Flucht nach<br />
Westen schließt sich<br />
der Rücktransport<br />
nach Sibirien an<br />
Hitlers Truppen siedeln<br />
1944 während<br />
des Rückzugs aus der<br />
Sowjetunion 350 000<br />
Russlanddeutsche<br />
imWarthegau (heute<br />
wieder Polen) und im<br />
Sudetenland (heute<br />
Tschechien) an. Vor<br />
der sowjetischenWinteroffensive<br />
im Januar<br />
1945 fliehen ungezählteRusslanddeutsche<br />
nach Westen,<br />
werden aber bereits<br />
im Sommer 1945 aus<br />
der russischen Besatzungszone<br />
zurück<br />
nach Sibirien und<br />
Mittelasien gebracht.<br />
1948 schreibt der<br />
Oberste Sowjet die<br />
Verbannung der Russlanddeutschen<br />
auf<br />
„ewige Zeiten“ fest,<br />
ein Verlassen ihrer<br />
Ansiedlungsorte wird<br />
mit Zwangsarbeit bis<br />
zu 20 Jahren bedroht.<br />
Erst Ende 1955 wird<br />
diese so genannte<br />
Kommandantur aufgehoben,<br />
die Rückkehr<br />
in die ursprünglichen<br />
Heimatorte im<br />
europäischen Teil der<br />
Sowjetunion bleibt allerdings<br />
verboten. 200<br />
000 Russlanddeutsche<br />
möchten nun nach<br />
Deutschland auswandern,<br />
doch das wird<br />
ihnen verwehrt.<br />
<strong>TB</strong><br />
17,1<br />
23
<strong>TB</strong><br />
17,2<br />
24<br />
100 GUTEN JAHREN FOLGEN LEID UND DEPORTATION –<br />
BS 8,9,10,11,12<br />
Immerhin erleichtert<br />
die Bewegungsfreiheit<br />
innerhalb der Sowjetunion<br />
das Los der<br />
Russlanddeutschen.<br />
„Bei den Massenvertreibungen<br />
nach Zentralasien<br />
im Jahre 1941<br />
beherrschte die Mehrheit<br />
der Russlanddeutschen<br />
kein Russisch.<br />
In den ehemaligen<br />
Internierungs- und<br />
Zwangsarbeitslagern<br />
im Osten der Sowjetunion<br />
war den Deutschen<br />
die Pflege ihrer<br />
Muttersprache und<br />
der deutschen Kultur<br />
strengstens untersagt“,<br />
steht im Ausstellungskatalog<br />
„Volk auf dem<br />
Weg“. Dies sei der<br />
Grund für die mangelhafte<br />
Beherrschung<br />
der deutschen Sprache<br />
insbesondere bei<br />
der jungen Generation<br />
der Russlanddeutschen,<br />
die seit Ende<br />
der 50er Jahre in zunehmendem<br />
Maße<br />
als Aussiedler nach<br />
Deutschland kommen.<br />
Nachdem die Bundesrepublik<br />
Deutschland<br />
1958/59 mit der Sowjetunion<br />
ein Abkommen<br />
über die Familienzusammenführung<br />
mit in Deutschland<br />
lebenden Verwandten<br />
geschlossen hat,<br />
dürfen bis 1970 etwa<br />
15 000 Menschen in<br />
den Westen ausreisen.<br />
Das „Tauwetter“<br />
in den Ost-West-<br />
Beziehungen der<br />
60er Jahre bringt den<br />
Russlanddeutschen<br />
schließlich Ende<br />
1964 den offiziellen<br />
Freispruch vom pauschalen<br />
Vorwurf des<br />
Verrats. Eine Wiedergutmachung<br />
für<br />
Enteignungen und<br />
Vertreibungen findet<br />
gleichwohl nicht statt.<br />
Auch die Möglichkeiten<br />
zur Ausreise<br />
nach Deutschland bewegen<br />
sich in engen<br />
Grenzen, bis 1987 ein<br />
neues Gesetz „eine<br />
bisher nicht denkbare<br />
Liberalisierung der<br />
Ausreisepraxis für die<br />
Russlanddeutschen“<br />
bringt, wie es im<br />
Ausstellungskatalog<br />
„Volk auf dem Weg“<br />
heißt. Grund dafür<br />
ist die Politik von<br />
Staats- und Parteichef<br />
Michail Gorbatschow<br />
(von 1985 bis August<br />
1991 Generalsekretär<br />
des Zentralkomitees<br />
der Kommunistischen<br />
Partei der Sowjetunion<br />
und von 1990<br />
bis Dezember 1991<br />
Präsident der Sowjetunion),<br />
die auch der<br />
Forderung der Rus-<br />
slanddeutschen nach<br />
Autonomie in der<br />
Sowjetunionwieder-<br />
Auftrieb verleiht.<br />
■ Länder müssen je<br />
nach Größe unterschiedlich<br />
viele Aussiedler<br />
aufnehmen<br />
Doch obwohl seit<br />
1989 sogar wieder<br />
freie Organisationen<br />
der Russlanddeutschen<br />
in der Sowjetunion<br />
gegründet<br />
werden, steigt die<br />
Zahl der Aussiedler<br />
nach Deutschland<br />
auch in den folgenden<br />
Jahren stetig<br />
an. Zu den Gründen<br />
schreibt 1999 der Politikwissenschaftler<br />
Götz-Achim Riek:<br />
„Von einer Verbesserung<br />
der Lage für die<br />
Russlanddeutschen in<br />
der Russischen Föderation<br />
kann Ende<br />
der 90er Jahre nicht<br />
gesprochen werden.“<br />
Da die deutsche<br />
Gesetzgebung<br />
die Einwanderung<br />
ermögliche, werde<br />
davon auch Gebrauch<br />
gemacht. Die Gründe<br />
lägen sowohl in der<br />
wirtschaftlichen wie<br />
auch in der gesellschaftlichen<br />
und politischen<br />
Situation der<br />
Russlanddeutschen,<br />
sagt Riek aufgrund<br />
seiner Untersuchung<br />
von Meinungsumfragen.<br />
Auch die<br />
ökologischen Krisen<br />
in der Russischen Föderation<br />
würden den<br />
Wunsch nach Aussiedlung<br />
fördern.<br />
Russlanddeutsche,<br />
die nach Deutschland<br />
ausreisen wollen,<br />
müssen:<br />
■ deutsche Volksangehörige<br />
im Sinne<br />
des Bundesvertriebenengesetzes<br />
oder deren<br />
Ehegatte sein (das<br />
heißt, sich in der Heimat<br />
zum deutschen<br />
Volkstum bekannt<br />
zu haben und dieses<br />
Bekenntnis durch<br />
Merkmale wie Abstammung,<br />
Sprache,<br />
Erziehung und Kultur<br />
zu bestätigen),<br />
■ den deutschen<br />
Sprachtest bestehen<br />
und<br />
■ einen Aufnahmebescheid<br />
des Bundesverwaltungsamtes<br />
in<br />
Köln erhalten haben.<br />
Russlanddeutsche<br />
Spätaussiedler werden<br />
zunächst in der<br />
Bundesaufnahmestelle<br />
im niedersächsischen<br />
Friedland<br />
registriert und anschließend<br />
einem bestimmten<br />
Bundesland<br />
zugewiesen. (Im Bundesvertriebenengesetz<br />
sind die Prozentsätze<br />
festgelegt, nach denen<br />
Bundesländer Aussiedler<br />
aufnehmen<br />
müssen. Für Hessen<br />
beträgt dieser Satz<br />
7,2 Prozent, für <strong>Nordrhein</strong>-<strong>Westfalen</strong><br />
21,8<br />
Prozent.)<br />
Über die zuständige<br />
Landesaufnahmestelle<br />
gelangen die<br />
Aussiedler in ein<br />
staatliches Übergangswohnheim<br />
eines<br />
bestimmten Wohnortes.<br />
Nur wer einen<br />
Arbeitsplatz hat oder<br />
seinen Lebensunterhalt<br />
auf andere Art sichern<br />
kann, darf sich<br />
selbst einen Wohnort<br />
suchen.<br />
Im ersten halben<br />
Jahr in Deutschland<br />
erhalten die Aussiedler<br />
eine finanzielle<br />
Eingliederungshilfe,<br />
Krankenversicherung,<br />
Sprachkurse sowie<br />
Schul- und Ausbildungsförderung.<br />
Doch<br />
damit ist die Integration<br />
in der Bundesrepublik<br />
bei weitem nicht<br />
abgeschlossen. Zu<br />
den üblichen Proble-<br />
Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche aus Russland – Russen in Deutschland“ vom 22. Mai 2006, Seite 23<br />
men gehören knappe<br />
Mittel für den Lebensunterhalt,<br />
erhebliche<br />
Sprachschwierigkeiten,<br />
das Ringen um<br />
einen Arbeits- oder<br />
Ausbildungsplatz sowie<br />
die Anpassung an<br />
andere Werte und Lebensformen<br />
in Gesellschaft<br />
und Familie.<br />
Nicht zu unterschätzen<br />
ist auch die Auseinandersetzung<br />
mit<br />
Vorurteilen in der<br />
einheimischen Bevölkerung,<br />
denen die<br />
Russlanddeutschen in<br />
höhere Maße ausgesetzt<br />
sind als die Heimatvertriebenen.
WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR –<br />
BS 8<br />
Wolgarepublik - Hungerjahre<br />
Die zunehmende Verschlechterung der Lage der Kolonisten, vor allem in Wolhynien, gipfelt nach Beginn des Ersten<br />
Weltkrieges (Herbst 1914) in den sogenannten „Liquidationsgesetzen“, der ersten staatlichen Maßnahme, welche<br />
die Enteignung und Vertreibung zahlreicher Bauern in den deutschen Grenz-Kolonien zur Folge hat.<br />
Durch einen Erlass des Zaren vom 18. August 1914 wird der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit<br />
unter Strafe gestellt. Am 22. September 1914 verfügt ein „Erlass über die Aufhebung des Grundbesitzes feindlicher<br />
Ausländer“ die Enteignung nicht nur von Angehörigen der Feindstaaten, sondern auch von Kolonisten ausländischer<br />
Abstammung. Diese Maßnahmen werden durch die Liquidationsgesetze vom 2. Februar und vom 15. Dezember<br />
1915 verschärft.<br />
Die Liquidationsgesetze sehen vor, dass Angehörige der „Feindstaaten“ ebenso wie Kolonisten ausländischer Ab-<br />
stammung ihren Grundbesitz in einem Streifen von 100 bis 150 Werst entlang der Westgrenze und den Ufern der<br />
Meere innerhalb von 10 bzw. 16 Monaten verkaufen müssen. Es gibt aber bei weitem nicht so viele Kaufinteressen-<br />
ten für Grundstücke, die in den frontnahen Gebieten liegen.<br />
Im Jahre 1917 wird der Grenzstreifen, in dem die Grundstücke verkauft werden müssen, auf 28 Gouvernements<br />
ausgedehnt und durch einen Erlass vom 15. Februar 1917 die Liquidationsgesetze auch in den Gouvernements In-<br />
nerrusslands und ausdrücklich in den Wolgakolonien eingeführt. Als Reaktion darauf beschließt eine Versammlung<br />
aus den Vertretern der den Wolgakolonien benachbarten Stadtparlamente und Börsenkomitees, der Landschafts-<br />
versammlungen und der Unternehmer einstimmig folgende Resolution: „Die unter uns wohnenden deutschen Ko-<br />
lonisten sind ebensolche russische Bürger wie wir alle. Wir sind verpflichtet, fest und bestimmt zu erklären, dass die<br />
Liquidierung der deutschen Ländereien besonders bei der gegenwärtigen allgemeinen landwirtschaftlichen Krise<br />
eine ungerechte und verderbliche Maßnahme ist, nicht nur für die Kolonisten, sondern auch für das ganze Gebiet.<br />
Sie wird sich auch in ganz Russland fühlbar erweisen“.<br />
Die Einstellung der Vertreibung sowie der Liquidationsgesetze erfolgten erst durch die erzwungene Abdankung des<br />
Zaren 1917. Beides wurde vorerst nur ausgesetzt, nicht aufgehoben.<br />
Nach der Februar-Revolution des Jahres 1917 dankte Zar Nikolaj II ab, und die provisorische Regierung verkündete<br />
die Bürgerrechte für alle Einwohner des Russischen Reiches. Diese Proklamation war der Beginn einer deutschen<br />
Autonomiebewegung. Am 18. März 1917 fand in Odessa die erste Versammlung von Vertretern der deutschen<br />
Bevölkerung Russlands statt.<br />
Die Machtergreifung der Bolschewiki erfolgt in Saratow zur gleichen Zeit wie in Petersburg, das seit Kriegsbeginn<br />
Petrograd hieß. Schon bald beginnen auch die Übergriffe gegen deutsche Kolonien. Es werden Requisitionen von<br />
Getreide und Vieh durchgeführt und Kontributionen auferlegt. Die meisten dieser Gruppen, Rote Garden, kamen<br />
von auswärts. In Katharinenstadt und in den umliegenden Kolonien beteiligen sich daran aber auch Deutsche; es<br />
machen sich hier die sozialen Spannungen bemerkbar. Im Januar 1918 findet eine Konferenz der deutschen Abge-<br />
ordneten der Gouvernements Saratow und Samara in Warenburg statt.<br />
Die Warenburger Konferenz der Wolgadeutschen war sich einig über die Lage in den Kolonien und Maßnahmen<br />
zur Abwehr von Übergriffen. Man verabschiedet gemeinsam das „Projekt eines nationalen Zusammenschlusses aller<br />
Wolgakolonien zu einer selbständigen Wolgarepublik im russischen Föderationsstaat“ und beruft für den 13. Mai<br />
eine „Verfassungsgebende Versammlung“ nach Seelmann ein. Bis dahin soll ein Hauptverwaltungsrat die Verwal-<br />
tungsaufgaben in den Kolonien wahrnehmen.<br />
<strong>TB</strong><br />
18,1<br />
25
<strong>TB</strong><br />
18,2<br />
26<br />
WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR –<br />
BS 8<br />
Im April 1918 fährt eine Delegation des Hauptverwaltungsrates nach Moskau, um aufgrund der Beschlüsse der<br />
Warenburger Konferenz mit der Zentralregierung über die Gewährung der Autonomie und die Grenzen der zu<br />
schaffenden Föderation zu verhandeln. Auf Beschluss der Zentralregierung wird Ende April 1918 in Saratow das<br />
„Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“ gebildet. Es besteht aus Ernst Reuter und Karl<br />
Petin, die aus Moskau entsandt werden, und den Wolgadeutschen A. Mohr, A. Emich, G. Klinger und G. Dinges.<br />
Dieses Kommissariat, das später durch weitere Bolschewiki aus Moskau verstärkt wird, soll die „Selbstverwaltung<br />
der deutschen Kolonien auf der Grundlage der Sowjetgewalt“ in die Wege leiten und die Vorarbeiten für den Räte-<br />
kongress leisten. Der erste Gebietsrätekongress tritt am 30. Juni 1918 zusammen und verabschiedet die „Leitsätze<br />
für die Organisierung einer Föderation der Arbeiter und Bauernräte der deutschen Kolonien im Wolgagebiet“. Am<br />
19.Oktober 1918 wird ein von Lenin unterzeichnetes Dekret veröffentlicht.<br />
Durch dieses Dekret wird die „Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen“ gegründet. Die Machtergrei-<br />
fung der Bolschewiki vollzieht sich im Laufe des Jahres 1918 sowohl im Wolgagebiet und in der Ukraine, als auch<br />
in anderen Landesteilen nach dem Schneeballsystem. Ortsfremde kamen aus Petrograd, Moskau und anderen In-<br />
dustriestädten in die Provinz, jagten mit Waffengewalt die alten Verwaltungsorgane auseinander, beschlagnahmten<br />
Banken, Vorratslager usw. und setzten mit Hilfe örtlicher Bolschewiki und ihrer Sympathisanten Arbeiter- und Bau-<br />
ernräte als neue Machtorgane ein.<br />
Diese sehen ihre revolutionäre Pflicht darin, von den „konterrevolutionären Kräften“ möglichst viele Güter verschie-<br />
denster Art einzuziehen und an die Bedürftigen zu verteilen.<br />
Deutsche Kolonien sind immer häufiger beliebte Objekte von Übergriffen, gegen die sie sich kaum wirksam wehren<br />
können. Die Enteignungen werden vielerorts als Auswirkung des Deutschenhasses und der Liquidationsgesetze<br />
angesehen.<br />
Deutsche und österreichisch-ungarische Truppen besetzen ukrainisches Gebiet und übernehmen die Aufgabe, Ruhe<br />
und Ordnung wiederherzustellen. Als Gegenleistung können deutsche und österreichische Behörden dringend be-<br />
nötigtes Brotgetreide und andere Lebensmittel für die Versorgung der eigenen Bevölkerung und der Truppe aufkau-<br />
fen. Bessarabien wird an Rumänien übergeben. Die Anwesenheit deutscher Truppen weckt bei den Kolonisten die<br />
Hoffnung auf dauerhaften Schutz durch das Deutsche Reich.<br />
Vertreter der Wolgadeutschen, vor allem Pfarrer Johannes Schleuning, bemühen sich, den Schutz des Deutschen<br />
Reiches und das Recht auf Auswanderung nach Deutschland zu erreichen. Beides war im Zusatzvertrag zum Frie-<br />
densvertrag von Brest-Litowsk vereinbart worden. Das Interesse des Deutschen Reiches an der Verwirklichung der<br />
Bestimmungen des Zusatzvertrages wird jedoch mit der Verschlechterung der Lage an der Westfront immer geringer<br />
und hatte mit dem Zusammenbruch des Reiches ein Ende.<br />
Der Bürgerkrieg ist zu dieser Zeit in Russland noch nicht beendet. Er dauert bis 1921 und bringt auch den deutschen<br />
Kolonisten viel Elend und Not. Die Wolgakolonien geraten 1918 zwischen die Fronten der Roten und der Weißen.<br />
Beide Bürgerkriegsparteien holen aus den Kolonien soviel Getreide, Vieh, Pferde und Rekruten heraus, wie sie kön-<br />
nen. Bei Widerstand werden die Siedlungen unter Artilleriebeschuss genommen und dann zur Ablieferung noch<br />
größerer Mengen der geforderten Güter gezwungen. In einer noch schlimmeren Lage befinden sich die Kolonien in<br />
der Ukraine. Hier geht die Front mehrmals über sie hinweg.
WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR –<br />
BS 8<br />
Im Laufe der Jahre 1919 und 1920 wird die Südukraine dreimal von den Weißen erobert und wieder an die Roten<br />
verloren. Jeder Angriff bringt Verwüstungen mit sich. Zerstörungen durch den Bürgerkrieg und Epidemien, die ihm<br />
folgen sowie die andauernde Schwächung der Kolonien durch die Zwangsablieferungen während der Zeit des<br />
Kriegskommunismus (1918-1921) führen zu einem starken Rückgang der Saatflächen.<br />
Die widrigen Witterungsverhältnisse und die rücksichtslose Ablieferungspolitik der Verwaltung der „Arbeitskommu-<br />
ne der Deutschen des Wolgagebietes“ lassen aus der Missernte des Jahres 1920 eine Hungerskatastrophe in den<br />
Jahren 1921/1922 werden. Allein in den Wolgakolonien verhungern 1921 mehrere zehntausend Menschen. Über<br />
74.000 wandern aus. Nach amtlichen Angaben verlieren die Wolgakolonien 1921 durch Hungersnot und Aus-<br />
wanderung 26,5% ihrer Bevölkerung. Das Land erholt sich in den nächsten Jahren dank staatlicher Hilfe, besserer<br />
Ernten und vor allem wegen der liberalen „Neuen Ökonomischen Politik“.<br />
Das autonome Gebiet hat von Anfang an auch eine politische Rolle zu spielen. Es soll den deutschen und Österrei-<br />
chischen Sozialdemokraten den Weg der sozialistischen Umgestaltung zeigen. Als die Spannungen in Deutschland<br />
im Herbst 1923 zu Unruhen führen, wird das autonome Gebiet sogar zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />
der Wolgadeutschen (ASSR d WD) erhoben. Diese Umwandlung entspricht, der Aussage einer 1926 im Staatsvertrag<br />
der Wolgarepublik erschienenen Arbeit zufolge, „nicht nur den inneren Aufgaben und dem wachsenden politischen<br />
Selbstbewusstsein der Bevölkerung, sondern auch dem außerordentlichen Interesse an dem Schicksal der Wolga-<br />
deutschen in Deutschland, wo die politische Ereignisse des Winters 1923/1924 zu einer siegreichen Vollendung der<br />
proletarischen Revolution zu führen schienen“. Die Erhebung des Autonomen Gebietes zur Autonomen Republik<br />
und die Annahme einer Verfassung am 31. Januar 1926 sind Folge der sowjetischen Nationalitätenpolitik.<br />
In den deutschen Kolonien wird Deutsch wieder Amtssprache und neben Russisch und Ukrainisch auch Amtssprache<br />
der Republik.<br />
<strong>TB</strong><br />
18,3<br />
27
<strong>TB</strong><br />
19,1<br />
28<br />
ALLGEMEINE TEXTE ZU WELTKRIEG UND REVOLUTION – BS 8<br />
Machtergreifung der Bolschewiki<br />
1917: Mit der Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki wird die kurze Periode des bürgerlich-demokratischen<br />
Regimes am 25.Oktober in Russland beendet.<br />
Die Oktoberrevolution bedeutete für die Geschichte der Russlanddeutschen eine Zäsur. Auch für sie<br />
ergaben sich Veränderungen, die ihre bisherige Lebensweise, die sozialen und politischen Strukturen,<br />
Besitz- und Produktionsverhältnisse betrafen.<br />
Historisch neu war der Umstand, dass sie als nationale Minderheit Rechte bekamen, die einer eigenständigen<br />
Entwicklung beträchtlichen Raum gaben.<br />
Eingebettet in die revolutionären Umwälzungen ergaben sich aber für die Entwicklung der Russlanddeutschen<br />
auch Veränderungen, die Traditionelles wie zum Beispiel die Rolle der Kirche grundsätzlich in<br />
Frage stellten.<br />
Wie bei anderen Volksgruppen auch spielte die Religion eine wichtige Rolle im Leben der Russlanddeutschen.<br />
Sie sahen sich nun mit der atheistischen Grundausrichtung der bolschewistischen Religionspolitik<br />
konfrontiert, die ihren Ausdruck im Dekret über die Gewissensfreiheit, über die kirchlichen und<br />
religiösen Gemeinschaften fand.<br />
Eine Woche später wurde von der neuen Regierung die Deklaration der Rechte der Völker Russlands<br />
verabschiedet. Damit hatte die Sowjetregierung in kürzester Zeit auf grundlegende Fragen der Revolution<br />
eine Antwort versucht: Frieden, Land, nationale Selbstbestimmung.<br />
Der II. Gesamtrussische Sowjetkongress, der in Petrograd während des Aufstandes tagte und auf dem<br />
die Bolschewiki dominierten, nahm am 8.November (26.Oktober) das Dekret über den Frieden und<br />
das Dekret über den Grund und Boden an.<br />
Das Dekret verfügte<br />
• die entschädigungslose Enteignung aller Ländereien der Großgrundbesitzer, der Krone, der Klöster<br />
und der Kirche (wobei sich im europäischen Teil Russlands ca. 40 Prozent des Bodens in den Händen<br />
von Großgrundbesitzern befanden)<br />
• die unentgeltliche Übergabe der enteigneten Ländereien an landlose und landarme Bauern<br />
Die praktische Umsetzung des Dekretes bedeutete, dass mehr als 150 Millionen Hektar Land verteilt und<br />
den Bauern über zwei Milliarden Rubel Schulden erlassen wurden. Außerdem wurden sie von jährlichen<br />
Pachtzahlungen in Höhe von 700 Millionen Goldrubeln befreit.<br />
Der Enteignung unterlagen auch viele russlanddeutsche Gutsbesitzer. Ab Sommer 1918 waren unter<br />
dem Eindruck der so genannten "Getreidekrise" auch russlanddeutsche Großbauern von Teilenteignungen<br />
betroffen. Dies war vor allem in den reich mit Land ausgestatteten Mennonitenkolonien der Fall.<br />
Durch Übergabe des enteigneten Landes an Bauern nichtdeutscher Nationalität wurde die bisherige<br />
relative ethnische Homogenität der deutschen Kolonien aufgebrochen.<br />
Wie die russischen wurden auch die deutschen Großbauern als "Kulaken" bezeichnet.
ALLGEMEINE TEXTE ZU WELTKRIEG UND REVOLUTION – BS 8<br />
Die Deklaration der Rechte der Völker Russlands und die Russlanddeutschen<br />
In der Deklaration wurde festgeschrieben:<br />
• Gleichheit und Souveränität aller Völker Russlands<br />
• Recht auf Selbstbestimmung der Völker bis zur Lostrennung und Bildung eines selbstständigen<br />
Staates<br />
• Abschaffung nationaler und national-religiöser Privilegien und Beschränkungen<br />
• Recht auf freie Entwicklung nationaler Minderheiten und ethnischer Gruppen.<br />
Diese Deklaration hatte auch starke Auswirkungen auf die Russlanddeutschen. Sie ermöglichte, die nach<br />
der Februarrevolution 1917 aufgekeimten Autonomiebestrebungen in den deutschen Siedlungsgebieten<br />
fortzusetzen und förderte solche Tendenzen. In den Schulen der deutschen Siedlungsgebiete durfte nun<br />
wieder offiziell in der deutschen Muttersprache unterrichtet werden. Die eigene Sprache war der russischen<br />
Staatssprache gleichgestellt.<br />
Die in der Deklaration zum Ausdruck kommende sowjetische Nationalitätenpolitik war allerdings von<br />
Anfang an ambivalent, d.h., sie war durch ein widersprüchliches und wechselvolles Verhalten gegenüber<br />
den Nationalitäten, darunter auch der deutschen nationalen Minderheit, gekennzeichnet.<br />
So versprach man einerseits freie Eigenentwicklung, unterband aber andererseits eigenständige Regungen<br />
und Handlungen, sobald sie sich zentralistischer Steuerung entziehen wollten. Das kann u.a. auch<br />
die Entscheidung zum Aufbau einer deutschen Autonomie im Wolgagebiet im Frühjahr 1918 belegen.<br />
Die Deklaration bildete eine wichtige Grundlage für die Entfaltungsmöglichkeit russlanddeutscher Autonomiebestrebungen<br />
unter der Sowjetmacht.<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/oktoberrevolution_auswirkungen_rd.htm<br />
Der Übergang zum Frieden in Sowjetrussland gestaltete sich äußerst schwierig. Weltkrieg, Revolution<br />
und Bürgerkrieg hatten dem Land tiefe Wunden geschlagen.<br />
Neben der Zerrüttung des Wirtschaftslebens litten 1921 Stadt und Land infolge einer katastrophalen<br />
Missernte unter einer schweren Hungersnot. Infolge der enormen Missernten 1921 und 1922 verhungerten<br />
in Sowjetrussland erstmalig Menschen. Ca. 120 000 Russlanddeutsche, vor allem im Wolgagebiet<br />
sind betroffen.<br />
Für die Wolgakolonien waren die Verluste am gravierendsten – verglichen mit den anderen von Dürre<br />
und Hunger betroffenen Regionen (30 Gouvernements mit mehr als 30 Millionen Einwohnern im Nordkaukasus<br />
und in der Südukraine). Hungertod, Krankheiten und Flucht in andere Landesteile bzw. Auswanderung<br />
dezimierten die Bevölkerung von über 452 000 Personen im Jahre 1920 schon bis August<br />
1921 auf etwa 359 000. 1922 betrug der Bevölkerungsrückgang fast 27 Prozent, davon 10 Prozent<br />
durch den Tod.<br />
Die soziale Lage der Werktätigen war überaus kärglich. Es kam zu Streiks und Bauernaufständen. Eine<br />
tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Krise hatte Sowjetrussland erfasst.<br />
Diese Situation erforderte dringend wirtschaftliche Korrekturmaßnahmen. Die von Lenin initiierte<br />
und im März 1921 beschlossene Neue Ökonomische Politik (NÖP) führte in Verbindung mit der neuen<br />
Nationalitätenpolitik zu einer kurzfristigen wirtschaftlichen und politischen Erholungsphase auch für die<br />
Russlanddeutschen, insbesondere für die Wolgabauern.<br />
Literatur zum Nachlesen: Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturge-<br />
meinschaft, Stuttgart 1991,S. 508<br />
BESCHLUSS DES GESAMTRUSSISCHEN ZENTRALEXEKUTIVKOMMITEES UND DES RATS DER VOLKS-KOMMISSARE ÜBER DIE<br />
BILDUNG DER AUTONOMEN SOZIALISTISCHEN SOWJETREPUBLIK DER WOLGADEUTSCHEN<br />
<strong>TB</strong><br />
19,2<br />
29
<strong>TB</strong><br />
20,1<br />
30<br />
NEP – NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK – BS 9<br />
NEP – Jahre wirtschaftlicher und kultureller Erholung<br />
Neue Ökonomische Politik, russisch Nowaja Ekonomitscheskaja Politika, Abkürzung NEP, eine Politik der<br />
vorübergehenden wirtschaftlichen Liberalisierung in der Sowjetunion den Jahren 1921 bis 1928.<br />
Durch die NEP sollte nach Weltkrieg, Revolutions- und Bürgerkriegsjahren die Wirtschaft wieder belebt,<br />
die Lebensmittelproduktion gesteigert und das Wirtschaftswachstum gefördert werden.<br />
Bedingt durch den Bürgerkrieg und die harten Maßnahmen des Kriegskommunismus einer Wirtschaftspolitik,<br />
in der Marktmechanismen durch eine zentralistische Wirtschaftsstruktur ersetzt wurden, hatte<br />
die Wirtschaft in Sowjetrussland einen Tiefpunkt erreicht und war nicht mehr in der Lage, auch nur<br />
die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen: 1920 war die Industrieproduktion auf unter ein<br />
Siebtel des vorrevolutionären Standes gesunken, und die beispiellos niedrigen Getreideernten 1920 und<br />
1921 führten zu einer Hungersnot, der Millionen Menschen zum Opfer fielen.<br />
Im März 1921 führte Lenin, der Chef der sowjetischen Regierung, daher die NEP ein, um die Wirtschaft<br />
des Landes durch eine Liberalisierung in Handel, landwirtschaftlicher Produktion und Industrie wieder zu<br />
beleben und so die katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung zu überwinden. Die Überschüsse in<br />
der landwirtschaftlichen Produktion wurden jetzt nicht mehr willkürlich und zwangsweise von der Regierung<br />
beschlagnahmt; unter der NEP war es den Bauern vielmehr gestattet, ihre Produkte nach Abführung<br />
einer Steuer, die sich proportional zu ihrem Nettoertrag bemaß, auf dem freien Markt zu verkaufen. Die<br />
Bauern durften außerdem Land pachten und Leiharbeiter beschäftigen, was beides unter dem Kriegskommunismus<br />
verboten gewesen war. Kleine und mittlere Industriebetriebe konnten privatisiert werden,<br />
Finanz- und Transportwesen, Schwerindustrie und Außenhandel verblieben aber im Besitz bzw. unter der<br />
Kontrolle des Staates. 1921 wurde an Stelle des Tausch-, Kontingentierungs- und Kommandosystems<br />
wieder Geld eingeführt. Unter der NEP erholte sich die sowjetische Wirtschaft schnell, und 1928 waren<br />
die Produktion in Landwirtschaft und Industrie und die Kapazitäten im Transportwesen höher als vor der<br />
Revolution.<br />
Quelle: "Neue Ökonomische Politik," Microsoft® Encarta® Online-Enzyklopädie 2007<br />
Die wolgadeutsche Autonomie entwickelte sich nach dem Bürgerkrieg und den Hungerjahren 1921 im<br />
Zeichen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges nicht schlechter<br />
als andere autonome Sowjetrepubliken im Sinne der Nationalitätenpolitik Lenins und Stalins. …Mit dem<br />
Wachstum der Volkswirtschaft begann sich auch die Kultur zu entfalten. Bereits 1921 gab es bei den<br />
Wolgadeutschen 236 „Landamtsschulen“, 317 Schulen der Stufe I, 23 der Stufe II, elf Technika, fünf<br />
Hochschulen, drei Arbeiterfakultäten, 20 Kulturhäuser, ein deutschen Nationaltheater und ein deutsches<br />
Kindertheater. In der Republik erschienen mehr als 20 regionale und fünf überregionale Zeitungen; allein<br />
zwischen 1933 und 1935 wurden von den Wolgadeutschen 555 Bücher mit einer Gesamtauflage von<br />
etwa drei Millionen Exemplaren gedruckt.<br />
Es gab zwischen den beiden Weltkriegen eine Zeit, zu der es überall in der Sowjetunion, wo Deutsche<br />
geschlossen angesiedelt waren, eine kulturelle und administrative Autonomie. In der Russischen Sozialistischen<br />
Föderativen Sowjetrepublik zählte man sechs deutsche Rayons und 1938 628 Schulen mit<br />
deutscher Unterrichtssprache.<br />
Aus: Zwischen den Kulturen - Russlanddeutsche gestern und heute, a.a.O., Seite 12 f.
NEP – NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK – BS 9<br />
Kolchose (russische Abkürzung für kollektiwnoje chosjaistwo: „Kollektivwirtschaft”), die seit 1929/30<br />
vorherrschende Betriebsform in der Landwirtschaft.<br />
Die ersten genossenschaftlich organisierten Landbetriebe entstanden nach 1917 durch freiwilligen<br />
Zusammenschluss von Bauern mit Selbstverwaltungsbefugnis. Unter Stalin kam es mit der rigorosen<br />
Durchführung der Kollektivierung (Beginn 1928) zur größten Agrarrevolution der Geschichte, der sechs<br />
Zehntel aller Höfe und circa elf Millionen Menschen zum Opfer fielen („Liquidierung der Kulaken“ ); aus<br />
18,8 Millionen Bauernhöfen mit 117 Millionen Hektar Ackerland wurden 242.000 Kolchosen gebildet.<br />
In Eigennutzung der Kleinbauern blieben, je Hof, etwa 0,3 Hektar Gartenland und eine geringe Zahl<br />
Nutztiere. Jedes Kolchosemitglied war zu 100 bis 150 Tagwerken jährlich verpflichtet. Nach der Pflichtablieferung<br />
an den Staat erfolgte die Ertragsverteilung unter den Kolchosemitgliedern je nach geleisteten<br />
Tagwerken.<br />
Aus dem Ertrag muss der Kolchos alle Investitionen bezahlen, also z.B. Saatgetreide, Viehfutter, Dünger,<br />
Bauvorhaben und Reparaturen, Beiträge zum Sozialversicherungsfonds; bei Großkolchosen Schulen,<br />
Krankenhäuser, Kindergärten, Wohnungen, die feststehenden Zahlungen an das leitende Personal. …<br />
Bis 1956 durfte ein Kolchosbauer nicht ohne Erlaubnis von Kolchosvorstand und Lokalsowjet aus dem<br />
Kolchos wegziehen. In der Zeit zwischen 1976 und 1981 bekamen die Kolchosbauern Pässe. Ohne Pass<br />
konnten sie ihren Aufenthaltsort nicht ändern."<br />
(Schmid: Fragen an die Geschichte 4, Frankfurt/Main, S. 146)<br />
<strong>TB</strong><br />
20,2<br />
31
<strong>TB</strong> 21<br />
32<br />
ZWANGSKOLLEKTIVIERUNG AB 1928 – BS 10<br />
„In der Theorie und im Programm der KPDSU(B) war die Lösung der Agrarfrage nach der Beseitigung<br />
des Privateigentums an Grund und Boden … mit der Beseitigung der Dorfbourgeoisie und Kulaken<br />
und der Umgestaltung der Wirtschafts- und Klassenstruktur durch gemeinsame Bewirtschaftung des<br />
Bodens und die Schaffung landwirtschaftlicher Großbetriebe, d.h. Kollektivierung und Herausbildung<br />
einer homogenen Bauernschaft, vorgezeichnet.Angesichts der Getreidekrise Ende der zwanziger<br />
Jahre orientierte die Partei- und Staatsführung auf einen beschleunigten Übergang zur "durchgängigen<br />
Kollektivierung". So glaubte man das Versorgungsproblem dauerhaft lösen zu können und zugleich<br />
die "letzte Ausbeuterklasse" auszuschalten.<br />
Ein ZK-Beschluss vom Januar 1930 legte harte Fristen für die Durchsetzung fest. …Diese Festlegungen<br />
wurden genauso umgangen und verletzt wie die Orientierungen über die Freiwilligkeit eines Eintritts in<br />
eine Kollektivwirtschaft (Kolchos) und die Abfolge sowie den Umfang der Vergesellschaftung von Grund<br />
und Boden, Vieh und landwirtschaftlichen Geräten.<br />
Es begann ein regelrechter, von zentralen und territorialen Partei- und Staatsorganen geschürter Wettbewerb<br />
um die schnellstmögliche "durchgängige Kollektivierung". Bäuerlicher Widerstand wurde<br />
zunehmend mit Gewalt und Zwang gebrochen, nicht selten durch die Eingliederung widersetzlicher<br />
Bauern in die Kategorie der Kulaken.<br />
Für die Kolchose wurden aus dem Staatshaushalt beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Maschinen-<br />
und Traktorenstationen übernahmen die "technischen Dienstleistungen" in den neuen Wirtschaftsstrukturen.<br />
Im Ganzen war die technische Basis der Kolchose aber unzureichend.“<br />
http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/kollektivierung_landwirtschaft.htm<br />
Die Enteignung der Bauern hat eine Hungersnot unvorstellbaren Ausmaßes zur Folge (1932), nachdem<br />
die verordneten Planvorgaben nicht eingehalten werden. Wer nun in die Städte fliehen will, wird<br />
zurückgeschickt.<br />
„Im Widerstand gegen die Zwangskollektivierung schlachten die Bauern bis 1933 50-60% des Viehbestandes<br />
und bauen nur noch das Notwendigste an. So entsteht die nächste große Hungersnot: Zwischen<br />
5 und 11 Mio. Menschen verhungern. In der Ukraine spricht man in diesem Zusammenhang heute von<br />
Holodomor (=Hungerholocaust).<br />
Gegen den Massenwiderstand der Bauern führt die Regierung einen Bürgerkrieg von oben. Menschen<br />
werden zu Millionen in Zwangsarbeitslager gesteckt. Das Lagersystem GULAG weitet sich enorm aus.<br />
Der Massenwiderstand der Bauern führte dazu, dass sich die Industrialisierung überwiegend selbst tragen<br />
musste, da in der Landwirtschaft Mittel vernichtet wurden.“ (Quelle: wikipedia)<br />
Der Zwangskollektivierung mit der folgenden Hungersnot fallen Millionen von Menschen zum Opfer.<br />
Trotz der Not im eigenen Lande verkauft die Regierung ukrainischen Weizen ins Ausland. Die Hungersnot<br />
führt zu einer Hilfewelle aus dem Deutschen Reich, die das Misstrauen Stalins hervorruft und von ihm<br />
unterbunden wird.<br />
Der Widerstand der Bauern gegen die Zwangskollektivierung wird durch die Hungersnot endgültig<br />
gebrochen.
STALIN – DER GROßE TERROR – BS 11<br />
Der Große Terror 1936-38<br />
Von der Säuberung zum Mord<br />
Stalin baute den Terrorapparat zu einer Vernichtungsmaschine um. In<br />
immer neuen Säuberungswellen ließ er Bauern, unzählige Parteikader,<br />
große Teile der Roten Armee, aber auch ethnische Minderheiten, Juden<br />
und Geistliche zu Abertausenden verhaften und liquidieren. Säuberung<br />
nannten die Stalinisten diesen Vorgang. Doch die Säuberung<br />
(auf Russisch: "Tschistka") existierte bereits unter Lenin. Sie war ein<br />
parteiinterner Vorgang, der unzuverlässige<br />
Genossen wieder auf Linie<br />
bringen sollte. Nichtkonforme<br />
Mitglieder wurden denunziert, sie mussten sich für Abweichungen<br />
rechtfertigen, öffentlich Selbstkritik üben und wurden im Zweifelsfall<br />
aus der Partei ausgestoßen. Unter Stalin mutierte die Säuberung<br />
jedoch zur Tötungsmaschine. Eine Säuberung bedeutete jetzt nicht<br />
nur Absetzung, sondern die physische Vernichtung. Und es war Stalin,<br />
der entschied und befahl, wer Freund war oder Feind, wer als<br />
Verräter verhaftet und hingerichtet wurde und wer der Erschießung<br />
entging.<br />
Der große Terror beginnt<br />
1934 lieferte die Ermordung des Leningrader Parteisekretärs und Stalin-Konkurrenten<br />
Kirow dem Diktator den willkommenen Vorwand,<br />
um gegen die eigenen Reihen loszuschlagen. In einer groß angelegten<br />
Säuberungskampagne fielen zwei Drittel der führenden Kader, Funktionäre<br />
und Delegierten des Zentralkommitees der KpdSU (Kommunistische<br />
Partei der Sowjetunion) dem stalinistischen Terror zum Opfer.<br />
Die Mitglieder wurden verhaftet, der Abweichung von der Parteilinie<br />
und der Spionage oder Sabotage angeklagt und "überführt". Durch<br />
Einschüchterung, Folter und Sippenhaft gefügig gemacht, wurden die<br />
Opfer zu absurden Geständnissen gezwungen, in öffentlichen Schauprozessen zur Selbstanklage genötigt<br />
und anschließend hingerichtet.<br />
Selbst Genossen der ersten Stunde und Weggefährten Stalins fielen dem großen Terror zum Opfer. Als<br />
die Partei zerstört war, holte Stalin zum Schlag gegen die Rote Armee aus. Marschall Tuchatschewski,<br />
einst Ikone der Militärs, wurde subversiver Machenschaften verdächtigt und Stalin hob das Nest der<br />
"überführten Verschwörer" gründlich aus. Stalin beseitigte die komplette Kommandospitze der Armee,<br />
10.000 Offiziere wurden verhaftet und hingerichtet, darunter Marschälle und Generäle. Die Rote Armee<br />
sollte sich von diesem Vernichtungsschlag nicht mehr erholen, Millionen Rotarmisten verloren in<br />
den Schlachten des Zweiten Weltkriegs aufgrund einer buchstäblich kopflosen Armeeführung ihr Leben.<br />
Durch die Zerstörung von Partei und Armee hatte sich Stalin nun endgültig zum Alleinherrscher<br />
aufgeschwungen.<br />
<strong>TB</strong> 22<br />
33
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34<br />
INTEGRATION IN DEUTSCHLAND – BS 12, 13<br />
„Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941<br />
"Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rayons leben"<br />
Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden<br />
sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende<br />
von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal<br />
in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Sprenganschläge verüben sollen.<br />
Über die Anwesenheit einer so großen Zahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen<br />
hat den Sowjetbehörden keiner der in den Wolga-Rayons ansässigen Deutschen<br />
gemeldet, folglich verbirgt die deutsche Bevölkerung der Wolga-Rayons in ihrer Mitte Feinde<br />
des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht.<br />
Im Falle von Diversionsakten, die auf Weisung aus Deutschland durch deutsche Diversanten<br />
und Spione in der Republik der Wolgadeutschen oder in den angrenzenden Rayons ausgeführt<br />
werden sollen, und im Falle, daß es zum Blutvergießen kommen wird, wird die<br />
Sowjetregierung entsprechend den zur Kriegszeit gelten Gesetzen gezwungen sein, Strafmaßnahmen<br />
zu ergreifen.<br />
Um aber unerwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und ernsthaftes Blutvergießen zu<br />
verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden,<br />
die gesamt deutsche Bevölkerung, die in den Wolga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons<br />
umzusiedeln, und zwar derart, daß den Umzusiedelnden Land zugeteilt und bei der Einrichtung<br />
in den neuen Rayons staatliche Unterstützung gewährt werden soll.<br />
Für die Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons der Gebiete Novosibirsk und Omsk,<br />
der Region Altaj, Kazachstans und weitere benachbarte Gegenden zugewiesen worden.<br />
Im Zusammenhang damit ist das Staatliche Verteidigungskomitee angewiesen worden, die<br />
Umsiedlung aller Wolgadeutschen und die Zuweisung von Grundstücken und Nutzland an die<br />
umzusiedelnden Wolgadeutschen in den neuen Rayons unverzüglich in Angriff zu nehmen.<br />
Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSRgez. M. Kalinin<br />
Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR<br />
gez. A. Gorkin, Moskau, Kreml, 28. August 1941“<br />
Abdruck in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 267/2000, S. 21<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/Kulturarchiv/Quellen/36.htm
DEPORTATIONSWEGE – BS 12<br />
Deportation der sowjetdeutschen Bevölkerung 1941<br />
Die Evakuierung der Deutschen in der Sowjetunion aus den Gebieten des deutschen Vormarsches sowie<br />
ihre Deportation in entlegene Landesteile Sibiriens und Kasachstans war eine der ersten Reaktionen der<br />
sowjetischen Regierung auf den unerwarteten Überfall Hitler-Deutschlands. Weitere Massendeportationen<br />
sollten folgen, so wie die von ca. 40 000 bis 50 000 Deutschen von der Krim am 20. August 1941.<br />
Eingedenk der in den Jahren vor dem Krieg verstärkten repressiven Politik gegenüber nationalen Minderheiten<br />
befürchtete die sowjetische Regierung, dass mit dem Einmarsch der deutschen Okkupationstruppen<br />
besonders die Russlanddeutschen mit diesen zusammenarbeiten könnten. Bestärkt wurde sie darin<br />
durch entsprechende "Berichte" der NS-Propaganda und Beispiele von Kollaboration aus anderen von<br />
Deutschland okkupierten europäischen Ländern.<br />
Insofern ist die Reaktion der Sowjetmacht mit der Deportation der Russlanddeutschen wie auch anderer<br />
nationaler Minderheiten zwar nachvollziehbar, nicht aber historisch, politisch und menschlich zu rechtfertigen.<br />
Im Wolgagebiet bildete der Erlass über die „Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen"<br />
vom 28. August 1941* die Grundlage für die vom 3. bis 20. September durchgeführte Deportation von<br />
365 800 Personen deutscher Nationalität.<br />
Als Begründung für die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen diente die Unterstellung der kollektiven<br />
Verschwörung dieser Bevölkerungsgruppe gegen die Sowjetregierung. Die behauptete Spionage für und<br />
Kollaboration mit dem faschistischen Feind wurde indes nie nachgewiesen.<br />
Der Erlass vom 28. August 1941 hatte eine willkürliche Entrechtung aller Angehörigen der deutschen<br />
Bevölkerung und ihre Zerstreuung in der Sowjetunion zur Folge.<br />
Die Bestimmungsorte für die deportierten Wolgadeutschen lagen laut Erlass überwiegend in Sibirien (vor<br />
allem im Altai-Gebiet) und in Zentralasien (vor allem in Nordkasachstan).<br />
• S. Textblatt Deportationserlass vom 28.August 1941<br />
In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 267/2000, S. 21<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/deportation_deutschen.htm<br />
<strong>TB</strong> 24<br />
35
<strong>TB</strong><br />
25,1<br />
36<br />
GESCHICHTE DER VOLKSGRUPPE –<br />
TSCHELJABMETALLURGSTROJ DES NKWD DER UDSSR – BS 13<br />
Tscheljabmetallurgstroj des NKWD der UdSSR -<br />
das größte Zwangsarbeitslager für Russlanddeutsche<br />
Entstehungsgeschichte, Aufgaben, Struktur<br />
Das reichhaltige Eisenerzvorkommen Bakal<br />
im heutigen Gebiet Tscheljabinsk/Südural<br />
diente seit Jahrhunderten zur örtlichen Eisengewinnung,<br />
doch erst im August 1940 fassten<br />
die Regierung der UdSSR und das ZK der bolschewistischen<br />
Partei den Beschluss, das Bakaler<br />
Hüttenwerk zu bauen. Bis zu Beginn des<br />
Krieges verharrten die Bauaktivitäten jedoch<br />
auf einem niedrigen Niveau.<br />
Der Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion<br />
führte zu einschneidenden Verlusten<br />
von Metallproduzenten im europäischen Teil<br />
des Landes bei einem gleichzeitig stark zunehmenden<br />
Bedarf an Qualitätsstahl. Das Volkskommissariat<br />
(Ministerium) für Schwarzmetallurgie<br />
bekam die Anweisung, ein komplexes<br />
Hüttenkombinat zu entwerfen, das verschiedene<br />
Produktionsstufen zusammenfassen und somit<br />
weitgehend autark funktionieren sollte. Das<br />
neue Projekt sah die Errichtung von Hoch- und<br />
Martinöfen, einem koksochemischen Betrieb,<br />
Elektrostahl und Walzschmelzen sowie einem<br />
eigenen Wärmekraftwerk vor. Dieses Riesenvorhaben<br />
erforderte angesichts der unzureichenden<br />
Mechanisierung eine leistungsstarke<br />
Bauorganisation, der zahlreiche Arbeitskräfte<br />
für die schwere körperliche Arbeit zur Verfügung<br />
stehen mussten.<br />
Nur das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten<br />
(NKWD) mit dem ihm unterstellten<br />
GULag-System verfügte über einschlägige Erfahrungen<br />
in der Organisation derartiger Masseneinsätze.<br />
Deshalb war es nur konsequent,<br />
diesen Bau dem NKWD zu übertragen. Ein<br />
am 25. Januar 1942 von Berija unterzeichneter<br />
Befehl schrieb detailliert die Maßnahmen zum<br />
Aufbau des Lagers und zur Unterstützung der<br />
Bauaktivitäten vor. Das ganze Unternehmen<br />
erhielt den Namen „Bakalstroj“ und wurde im<br />
August 1942 in „Tscheljabmetallurgstroj (Bauorganisation<br />
zur Errichtung des Tscheljabinsker<br />
Hüttenkombinats) des NKWD der UdSSR“<br />
umbenannt.<br />
Als Hauptstandort diente das 4.400 Hektar<br />
große Gelände Perschino, angeschlossen an die<br />
Eisenbahnstation Schagol in der unmittelbaren<br />
Nähe zur Provinzmetropole Tscheljabinsk. Neben<br />
dem Verwaltungssitz und Hauptstandort<br />
gehörten diesem Straf- und Arbeitslager zahlreiche<br />
Außenstellen und Lagerpunkte an, die<br />
die Baustelle und später auch das Hüttenwerk<br />
mit notwendigen Rohstoffen versorgten: mehrere<br />
durch das ganze Gebiet verstreut liegende<br />
Holzeinschlagflächen, zwei Kalkproduktionsstätten,<br />
ein großes Ziegelwerk, eine Grube zur<br />
Förderung feuerfester Tonerde, eine Zementfabrik<br />
und andere Betriebe. In der Verantwortung<br />
des Lagers befanden sich auch einige Kohlengruben<br />
in den Städten Kopejsk und Korkino.<br />
Lagerbevölkerung<br />
Aus entsprechenden Direktiven geht hervor,<br />
dass anfangs nur GULag-Häftlinge und freie<br />
Mitarbeiter für diese Baustelle vorgesehen waren.<br />
Doch infolge der massenhaften Einberufungen<br />
an die Front, die auch die Häftlinge mit<br />
einbezog, und einer Vielzahl neuer Bauvorhaben<br />
entstand ein riesiger Arbeitskräftemangel.<br />
Dadurch lässt sich zum Teil auch der Entschluss<br />
über die Verwendung des deutschen „Kontingents“<br />
erklären, der zu diesem Zeitpunkt<br />
gefallen war. Offiziell wurde die Einweisung<br />
der Deutschen ins Arbeitslager als „Arbeitsmobilisierung“<br />
bezeichnet, das Arbeitslager selbst<br />
von den Politoffizieren in den Einsatzorten<br />
und später von den Behörden verschleiernd als<br />
trudarmija – Arbeitsarmee und die Betroffenen<br />
als „Trudarmisten“. Diese Zwangsrekrutierung<br />
diente aber auch in nicht geringerem Maße - wie<br />
der Chef der Lagerhauptverwaltung GULag,<br />
Generalleutnant Viktor Nasedkin, unumwunden<br />
zugab - der Repression und Bestrafung.<br />
Zum 1. Februar 1942 befanden sich auf der Baustelle<br />
bereits 4.237 Strafgefangene. Kaum eingearbeitet,<br />
rückten an ihre Stelle Russlanddeutsche<br />
ein: Schon Ende März 1942 stellten sie<br />
mit 13.135 Mann das Gros der beschäftigten<br />
Arbeitskräfte. Allein im Laufe dieses Jahres<br />
verdoppelte sich ihre Zahl durch weitere Mobilisierungen.<br />
Insgesamt gibt die Kartothek des Lagers Tscheljabmetallurgstroj<br />
Auskunft über mehr als 38.000<br />
vornehmlich russlanddeutsche Zwangsarbeiter.<br />
Unter ihnen befanden sich seit 1943 auch annähernd<br />
3.500 Finnen, Italiener, Bulgaren u.a.<br />
sowjetische „Bürger solcher Nationalitäten, deren<br />
Heimatländer mit der Sowjetunion im Krieg<br />
stehen“ – so im NKWD-Jargon.<br />
Die ankommenden Arbeitskräfte wurden in so<br />
genannte Bautrupps (strojotrjady) eingeteilt, die<br />
ihrerseits aus Kolonnen mit bis zu tausend Mann<br />
und letztere aus Brigaden unterschiedlicher Größe<br />
- in der Regel zu je 15 bis 25 Mitgliedern - bestanden.<br />
Die insgesamt 16 Trupps waren sowohl<br />
den im Bau befindlichen Objekten zugeteilt als<br />
auch in anderen Bereichen tätig: Bautrupp Nr. 1<br />
zum Beispiel war hauptsächlich mit dem Wohnungsbau,<br />
Nr. 3 bei der Errichtung des Wärmekraftwerkes<br />
beschäftigt usw. Auf dem vollständig<br />
abgesperrten Standort Perschino (Hauptzone)<br />
befanden sich bis zu neun Bautrupps: Jeder<br />
hatte eine eigene umzäumte Wohnzone, und nur<br />
dort konnten sich die Zwangsarbeiter frei bewegen.<br />
Innerhalb der Hauptzone durften sie unbewacht<br />
nur mit einer Sondergenehmigung oder<br />
einem extra für sie ausgestelltem Passierschein<br />
erscheinen.<br />
Zeitzeugen berichten<br />
Rudolf Romberg erinnert sich an die völlig unzureichende<br />
Vorbereitung des Lagers auf die Ankunft<br />
von Zehntausenden von Menschen und die<br />
miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen:<br />
Am 18. März 1942 wurde ich aus der Siedlung<br />
Marinowka, Gebiet Kustanaj, in den Bautrupp<br />
Nr. 10 des Tscheljabmetallurgstroj des NKWD<br />
eingeliefert. In der Morgenstunde standen wir<br />
vor dem Eingangstor des Lagers, von Stacheldraht<br />
umzäunt, mit Wachtürmen und -hunden<br />
gesichert. In Vier-Männer-Reihen aufgestellt,<br />
wurden wir wie Schafe gezählt und ins Lager<br />
für die vollen vier Jahre, bis zum 1. Mai 1946,<br />
eingepfercht. Das Gelände des Bautrupps bestand<br />
aus 14 Baracken für je 180 Mann. Die<br />
Baracke selbst war eigentlich eine Erdgrube,<br />
bedeckt mit Giebeldach. Im Zentrum standen<br />
Zwei-Etagen-Pritschen, an den Wänden einfache<br />
[Pritschen], unter denen der Schnee lag.<br />
Diese Unterkunft wurde von zwei Eisenöfen<br />
geheizt, die den Riesenraum nicht vollständig<br />
erwärmen konnten. Es gab kein Bettzeug und<br />
etwa zwei Monate kein Bad; das Wasser zum<br />
Trinken und für die Küche kam in Fässern. Die<br />
Läuse spazierten haufenweise auf uns... Unser<br />
10. Trupp baute das Walzwerk. Mit Spaten,<br />
Brecheisen, Pickel, Meisel und Schlaghammer<br />
hoben wir Riesengruben in der gefrorenen Erde<br />
Dr. Viktor Krieger<br />
für das Fundament des Walzwerkes aus. Wir<br />
schufteten zwölf Stunden am Tag. Die Verpflegung<br />
war wie folgt: Im Falle der Normerfüllung<br />
bekam man 600 Gramm Schwarzbrot,<br />
dreimal Wassersuppe (sup-balanda) und zum<br />
Mittagessen noch 100 bis 150 Gramm Hafer<br />
oder Hirsegrütze. Diejenigen, die das Plansoll<br />
nicht leisten konnten, erhielten nur 400 Gramm<br />
Schwarzbrot und Wassersuppe. Fleisch und<br />
Fette gab es praktisch nicht. Der Frühling 1942<br />
war anhaltend und frostig, das Aushöhlen des<br />
Fundaments in der durchgefrorenen Erde nahm<br />
die Kräfte der Arbeitsmobilisierten stark in<br />
Anspruch. Bereits im September konnten sich<br />
die meisten Leute wegen der Abmagerung und<br />
avitaminöser Krankheiten kaum bewegen; das<br />
große Sterben begann.“<br />
Massensterben<br />
Insgesamt starben 1942 allein nach der Lagerstatistik<br />
2.727 Trudarmisten; dabei stellte der<br />
Monat Dezember mit 840 Verhungerten und<br />
Erfrorenen den Jahreshöchststand dar. Im Januar<br />
1943 befanden sich von den 27.430 Zwangsarbeitern<br />
8.013 oder 29,2% in Krankenbarakken,<br />
1.512 (5,5%) waren bereits Invaliden. Die<br />
Lagerleitung war gezwungen, mehrere tausend<br />
Ausgezehrte und dem Tode Nahestehende<br />
(dochodjagi) zu demobilisieren. Wie viele von<br />
ihnen lebendig bei ihren Familien ankamen, ist<br />
unbekannt.<br />
Angesichts der alarmierenden Nachrichten -<br />
der Plan für das erste Quartal des Jahres 1943<br />
wurde nicht einmal zur Hälfte erfüllt - begannen<br />
die zentralen Partei- und Regierungsstellen<br />
sowie die Verantwortlichen vor Ort allmählich<br />
zu begreifen, dass bei diesem Tempo des Menschenverschleißes<br />
die hochgesteckten Ziele<br />
nicht erreicht werden konnten. Gleichzeitig mit<br />
der zunehmenden Terrorisierung unternahm<br />
die Lagerleitung mannigfaltige Anstrengungen,<br />
um den drohenden Produktionskollaps<br />
zu verhindern. Man begann dem physischen<br />
Zustand des mobilisierten „Kontingents“mehr<br />
Aufmerksamkeit zu schenken. So sollte eine<br />
Zusatzverpflegung und die erhöhte Differenz<br />
zwischen verschiedenen Essrationen mehr<br />
Anreiz zur Überfüllung der Norm schaffen.<br />
Zudem bekamen einige exponierte „Deutschhasser“<br />
aus der Lageraufsicht Verwarnungen<br />
wegen „grober Missachtung der Direktiven der<br />
Verwaltung des Tscheljabmetallurgstroj“, wie<br />
es so schön hieß.<br />
Dieses Arbeitslager ging in die Geschichte<br />
der Trudarmija ein als Einsatzort mit der zahlenmäßig<br />
größten Beschäftigung der zwangsmobilisierten<br />
Deutschen. Erst in der zweiten<br />
Hälfte des Jahres 1943 wurden auf der Baustelle<br />
vermehrt GULag-Häftlinge und Orientarbeiter<br />
(Kasachen, Usbeken, Tadschiken…)<br />
verzeichnet; sie sollten den stark reduzierten<br />
Personalbestand auffüllen. Zum 1. Januar 1944<br />
zählte Tscheljabmetallurgstroj neben der freien<br />
Belegschaft 35.462 Zwangsarbeiter; davon<br />
20.648 Mann aus dem „mobilisierten deutschen<br />
Kontingent“ sowie 11.482 Häftlinge und<br />
3.332 Rekruten aus Mittelasien.<br />
Seit dem Frühling 1946 begann die Auflösung<br />
der Arbeitskolonnen und die Überführung der<br />
deutschen Zwangsarbeiter in die Stammbelegschaft<br />
der Betriebe bzw. Bauorganisationen.<br />
Allerdings erhielten sie nicht die Rechte eines<br />
normalen Sowjetbürgers, sondern den Status
GESCHICHTE DER VOLKSGRUPPE –<br />
TSCHELJABMETALLURGSTROJ DES NKWD DER UDSSR – BS 13<br />
eines Sonderübersiedlers verliehen. Sie wurden<br />
unter die Aufsicht der eigens dafür errichteten<br />
Kommandanturen des Innenministeriums<br />
gestellt und durften ohne deren Zustimmung<br />
ihren Wohnort nicht verlassen. Somit bildeten<br />
sie einen Großteil der Bewohner des künftigen<br />
Metallurgischen Rayons der Stadt Tscheljabinsk.<br />
Nur mit Einverständnis der Betriebsleitung<br />
und des zuständigen Kommandanten<br />
konnten die Russlanddeutschen an den Ort der<br />
Pflichtansiedlung zurückkehren oder - soweit<br />
die Wohnverhältnisse es zuließen - ihre Familien<br />
zu sich holen. Die Zusammenführung der<br />
auseinander gerissenen Familien dauerte indes<br />
bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre.<br />
Einige tausend Trudarmisten wurden jedoch<br />
nach einer Verlegung noch bis 1948 zum Bau<br />
von Objekten der Atomindustrie unweit der<br />
Stadt Kyschtym (Bauvorhaben 859) eingesetzt.<br />
Lagerführer<br />
Im Zeitraum von Januar 1942 bis April 1944<br />
stand der Brigade-Ingenieur und spätere General<br />
Alexander Komarowski an der Spitze der<br />
Lagerverwaltung. Im Mai 1906 in Odessa geboren,<br />
schloss er 1928 sein Studium am Moskauer<br />
Institut der Transportingenieure ab.<br />
Schon früh sammelte er „Erfahrungen“ im Umgang<br />
mit den Zwangsarbeitern beim Bau des<br />
Kanals „Moskau-Wolga“, wo er seit November<br />
1931 verschiedene leitende Posten innehatte.<br />
Der Aderlass des Großen Terrors schuf die<br />
Voraussetzung für den steilen Aufstieg einer<br />
neuen technischen Intelligenz der überzeugten<br />
Stalinistenkader: Im Alter von 32 Jahren wurde<br />
Komarowski zum Stellvertreter des Volkskommissars<br />
für Marine mit der Zuständigkeit<br />
für den Bau von Hafenanlagen ernannt. Nach<br />
dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges<br />
leitete er den Bau von Verteidigungslinien<br />
in der Ukraine und im Raum von Stalingrad.<br />
Ohne Rücksicht auf Verluste legte er innerhalb<br />
von zweieinhalb Jahren in Tscheljabmetallurgstroj<br />
den Grundstein zu einem der größten<br />
Hüttenkombinate der einstigen UdSSR.<br />
Ab Mai 1944 leitete er die „Hauptverwaltung<br />
der Lager für das industrielle Bauen“ des<br />
NKWD der UdSSR. Nach dem Krieg wurden<br />
unter seiner Leitung die Zwangsarbeiter und<br />
Häftlinge für die Errichtung der Objekte der<br />
Atomindustrie, den Bau der Moskauer Universität<br />
und anderer militärischer und ziviler Bauvorhaben<br />
eingesetzt. Die Chruschtschow'sche<br />
„Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit“<br />
überstand er unbehelligt; mehr noch,<br />
1963 beförderte man ihn zum Stellvertreter<br />
des Verteidigungsministers, zuständig für den<br />
Baubereich und die Unterbringung der Armeeeinheiten,<br />
und im November 1972 erhielte er<br />
den Rang eines Armeegenerals. Mit Staatsorden<br />
und -preisen überhäuft, verstarb er 1973<br />
in Moskau und wurde auf dem Ehrenfriedhof<br />
„Nowodewitschi“ bestattet. Zur Erinnerung an<br />
seine Verdienste ist in der Stadt Tscheljabinsk,<br />
in dem Ortsteil, auf dessen Gelände sich früher<br />
das Arbeitslager befand, eine Straße nach ihm<br />
benannt.<br />
Nicht weniger „Erfahrungen“ im Umgang<br />
mit GULag-Häftlingen und Zwangsarbeitern<br />
konnte sein Nachfolger, der General-Major<br />
des ingenieur-technischen Dienstes Jakob Rapoport<br />
(1898-1962) vorweisen, der das Tscheljabmetallurgstroj<br />
seit Mai 1944 bis zu dessen<br />
Ausgliederung aus dem System des Innenministeriums<br />
leitete. Abertausende unschuldige<br />
Opfer hat er vor allem als Chef des Straf- und<br />
Arbeitslagers in der Stadt Nischni Tagil (Tagillag)<br />
in den vorangegangenen anderthalb Jahren<br />
zu verantworten. Ähnlich wie Komarowski<br />
wurde er nie für seine „Tätigkeit“ zur Rechenschaft<br />
gezogen.<br />
Terror, Verfolgungen, Diskriminierung<br />
Katastrophale Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />
riefen naturgemäß Protest und Verweigerung<br />
der Betroffenen hervor, die von den Mitarbeitern<br />
der Staatssicherheit auf der Baustelle auf<br />
rücksichtslose Weise bekämpft wurden. Eine<br />
massive Welle der Repression erfasste die<br />
Zwangsarbeiter: Allein 1942 wurden 1.403<br />
Deutsche aufgrund von Fluchtversuchen, angeblichen<br />
Sabotageakten und konterrevolutionärer<br />
Arbeit, Selbstverstümmelung und absichtlicher<br />
Abmagerung (!) verhaftet und verurteilt.<br />
Dutzende groß gedruckte Aushänge mit Namen<br />
der Erschossenen oder zu mehrjähriger Haftstrafe<br />
Verurteilten, vom Lagerchef Alexander<br />
Komarowski bekannt gegeben, versetzten die<br />
Mobilisierten in panische Angst, was noch<br />
heute in den Berichten der Zeitzeugen zu spüren<br />
ist. Der Personalstand der Staatssicherheit<br />
des Tscheljabmetallurgstroj hatte sich seit der<br />
Lagergründung bis Ende Mai 1944 mehr als<br />
verdoppelt und betrug schließlich 55 Personen.<br />
Die Namen des Leiters der Staatssicherheit,<br />
Konstantin Kurpas, oder solch „sachkundiger“<br />
Geheimpolizisten wie Wikenti Lobanow, Meir<br />
Ufland oder Fedor Glaskow erregten Furcht<br />
und Entsetzen bei den Lagerinsassen. Die Terrorisierung<br />
der Zwangsarbeiter diente mehreren<br />
Zielen. Zum einen war dies ein wichtiges Mittel<br />
der Einschüchterung und Gefügigmachung, zum<br />
anderen sollte durch die verstärkte Ausrichtung<br />
der Strafpolitik gegen Intellektuelle, Fachleute,<br />
ehemalige Funktionäre und Wirtschaftsleiter<br />
die nationalen Elite der Deutschen beseitigt und<br />
diese zu einer bloßen Verfügungsmasse degradiert<br />
werden. Nicht zuletzt musste die Zahl der<br />
Verurteilten bzw. der aufgedeckten konterrevolutionären<br />
Organisationen die Existenzberechtigung<br />
jedes einzelnen Tschekisten sichern und<br />
vor der Frontversetzung bewahren.<br />
Man untersagte dem Lagerpersonal und den<br />
russischen Beschäftigten jeglichen Kontakt mit<br />
den Deutschen, die außerhalb des unbedingt<br />
Notwendigen lagen. Das geht aus den vielen<br />
Befehlen hervor, die zu enge Beziehungen mit<br />
den Zwangsarbeitern anprangerten und die<br />
Delinquenten mit harten Strafen belegten. So<br />
wurde eine russische Ärztin der 11. Bautruppe<br />
im Befehl der Lagerverwaltung vom 28. April<br />
1943 beschuldigt, sich in ihrer Wohnung mit<br />
einem Zwangsarbeiter einige Male getroffen<br />
zu haben, und das „entgegen den strengen Vorschriften<br />
der Bauverwaltung, die dem vertragsfreien<br />
Personal die Beziehungen gleich welcher<br />
Art zu den arbeitsmobilisierten Deutschen untersagen“.<br />
Wegen dieses Disziplinarvergehens<br />
erhielt die Ärztin eine ernste Verwarnung. Andere<br />
Fälle verliefen jedoch nicht so glimpflich:<br />
Das einmalige Übernachten von F. Haffner und<br />
E. Teolani bei befreundeten russischen Arzthelferinnen<br />
kostete die letzteren ihren Arbeitsplatz.<br />
Für die beiden Trudarmisten, die um 6 Uhr<br />
morgens von der Wachmannschaft überrascht<br />
wurden, endete dieser Besuch in einer dreimonatigen<br />
Einweisung zur Schwerstarbeit in einer<br />
Strafbrigade.<br />
Fazit<br />
Am 19. April 1943 fand die erste Stahlschmelze<br />
nach der Inbetriebnahme der ersten Arbeitsstufe<br />
des Elektrostahlwerkes statt, was als Geburtsstunde<br />
des metallurgischen Werkes gilt. Insgesamt<br />
gesehen, erzeugte das Tscheljabinsker<br />
Hüttenkombinat in den Jahren 1943-44 nur einen<br />
Bruchteil von dem, was die gesamte Sowjetunion<br />
produzierte: 2,3% an Roheisen, 0,7% an<br />
Stahl und 0,8% an Walzgut. Es ist höchst zweifelhaft,<br />
ob sich die unzähligen Menschenopfer,<br />
vor allem der Jahre 1942-43, bei der Errichtung<br />
dieses Kombinats durch solch eine bescheidene<br />
Produktion rechtfertigen lassen. Ein wesentlich<br />
größerer Nutzen wäre beim Einsatz der erfahrenen<br />
deutschen Bauern und anderer Zwangsarbeiter<br />
in der notleidenden sowjetischen Landwirtschaft<br />
erzielt worden - aber die Interessen<br />
und das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung<br />
standen für das Stalinregime immer an letzter<br />
Stelle. •<br />
<strong>TB</strong><br />
25,2<br />
37
<strong>TB</strong> 26<br />
38<br />
LEBEN IM ARBEITSLAGER – DIE TRUDARMEE – BS 13<br />
Die Trudarmee<br />
Nach dem Ukas des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 wurden 376.717 Wolgadeutsche<br />
"ganz legal" in Güter- und Viehwaggons verfrachtet und nach Sibirien zwangsumgesiedelt.<br />
Schon zuvor waren zahlreiche Russlanddeutsche, die in kleineren geschlossenen Siedlungsgebieten lebten,<br />
ohne großes Aufsehen nach Sibirien, Kasachstan oder Mittelasien deportiert worden, allein 45.000<br />
von der Krim. Nach dem 28. August aber wurden alle Deutschen, die von der Roten Armee noch erfasst<br />
werden konnten, aus ihren Heimatdörfern in Russland, der Ukraine und dem Kaukasus in Gebiete östlich<br />
des Urals und nördlich der Nebenflüsse der Wolga verschleppt.<br />
Dort mussten zuerst die Männer zwischen. 17 und 50 Jahren zur so genannten Trudarmee. Am 7. Oktober<br />
1942 wurde mit dem Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees über die zusätzliche Mobilisierung<br />
deutscher Männer zwischen 16 und 55 Jahren sowie deutscher Frauen zwischen 16 und 45 Jahren<br />
(so fern sie nicht schwanger waren oder Kinder unter drei Jahren hatten) der Kreis der Trudarmisten<br />
erheblich erweitert. Auf Grund zahlreicher Berichte von Überlebenden ist davon auszugehen, dass diese<br />
Altersgrenzen oft nicht eingehalten wurden.<br />
"Trudarmee" heißt wörtlich übersetzt "Arbeitsarmee". In Wirklichkeit handelte es sich um Zwangsarbeitslager,<br />
die scharf bewacht wurden und oft von hohen Stacheldrahtzäunen umgeben waren. Die Verhältnisse,<br />
unter denen die Trudarmisten arbeiteten, glichen den Verhältnissen in Strafgefangenenlagern.<br />
Auf dem Weg zur Arbeit wurden die Männer und Frauen von Soldaten begleitet, die den strikten Befehl<br />
hatten, beim geringsten Verdacht sofort von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Im Lager herrschte<br />
eine völlige Willkür der Vorgesetzten aller Dienstgrade. Unter unwürdigen Bedingungen zusammengepfercht,<br />
starben die Trudarmisten massenweise vor Hunger, Kälte, Schwerstarbeit und Verzweiflung.<br />
Quelle: „Zwischen den Kulturen Russlanddeutsche gestern und heute“
RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE?<br />
DIE AUSWIRKUNGEN DER DEUTSCHEN BESATZUNG AUF DIE<br />
RUSSLANDDEUTSCHEN – BS 14<br />
Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geriet ein Teil der Russlanddeutschen<br />
(ca. 20 %), den die sowjetischen Behörden nicht mehr rechtzeitig evakuieren konnte,<br />
zeitweilig in den Machtbereich der deutschen Militär- und Ziviladministration. Damit kamen sie aber nur<br />
von einem totalitären System in ein anderes; die "Befreiung" von Stalins Herrschaft brachte ihnen eine<br />
andere Gewaltherrschaft mit neuer Entrechtung und Erniedrigung. Die deutsche Besatzung konfrontierte<br />
die Russlanddeutschen mit verschiedenen Maßnahmen der Nationalsozialisten und der Militärs.<br />
1. Kategorisierung der Russlanddeutschen<br />
Als eine der ersten Maßnahmen wurden die Russlanddeutschen,<br />
die nach NS-Wort-Schöpfung jetzt als "Volksdeutsche"<br />
bezeichnet wurden, von den SS-Sonder-Kommandos "R" nach<br />
rassenbiologischen und rassenpolitischen Merkmalen erfasst und<br />
kategorisiert.<br />
Vier Kategorien der Abstammung ("Deutschstämmigkeit") wurden<br />
mit vier Kategorien des "Deutschtums" (der politischen Zuverlässigkeit)<br />
kombiniert. Darauf basierend erfolgte die Einstufung<br />
jeder Person für den möglichen künftigen Einsatz im Rahmen des<br />
"Generalplanes Ost".<br />
2. Nationalsozialistische Umerziehung der "Volksdeutschen"<br />
Aufgrund der rassenpolitischen Erhebung konstatierten die SS-Einsatztruppen einen Zustand unter den<br />
Russlanddeutschen, den sie mit "Verfallserscheinungen aus der bolschewistischen Herrschaftszeit" umrissen.<br />
Dieser Zustand sollte durch Maßnahmen zur "Festigung des Deutschtums" korrigiert werden.<br />
Zuerst erfolgte eine Reinigung der deutschen Volksgruppe von "verderblichen" und "minderwertigen<br />
Elementen" bei gleichzeitiger Hebung des weltanschaulichen Niveaus (im Nazi-Sinne), des Lebensniveaus<br />
sowie des Prestiges der "verwendbaren" Volksdeutschen gegenüber anderen Volksgruppen im<br />
Besatzungsgebiet.<br />
In der Praxis bedeutete dies, dass Juden, Kommunisten, Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre "unschädlich<br />
gemacht" wurden, d. h. man erschoss sie oder brachte sie in Konzentrationslager. Deren beschlagnahmtes<br />
Eigentum wurde zur "Besserstellung der Volksdeutschen" an letztere verteilt.<br />
Bei der nationalsozialistischen Umerziehung zu neuen Lebensanschauungen und Werten lag das Augenmerk<br />
der NS-Stellen insbesondere auf der Jugend. Diese sollte mit einem breit gefächerten System – von<br />
der Kinderkrippe über Schule und Ausbildung bis zu verschiedenen NS-Organisationen – "vollkommen<br />
umgestaltet werden".<br />
3. „Neue Agrarordnung“ in den russlanddeutschen Dörfern<br />
Grosse Hoffnung hegten die Russlanddeutschen in den besetzten Gebieten, dass die deutsche Verwaltung<br />
die quasi-Enteignung während der Sowjetzeit durch die Kolchoswirtschaft wieder rückgängig<br />
machen würde, d. h. Grund und Boden und Bauernwirtschaften privatisiert würden. Nazi-Kalkül war<br />
aber eine möglichst effektive Ausbeutung der besetzten Ländereien. Da dies nur mit großflächigen<br />
Gütern möglich war, wandelten sie die bestehenden Kolchosen in „Landbaugenossenschaften“ bzw.<br />
„Gemeindewirtschaften“ um. Als Direktoren dieser Wirtschaftstypen wurden reichsdeutsche Landwirtschaftsführer<br />
eingesetzt, die vielfach mit großzügigen Privatgütern versehen wurden. Der Druck auf<br />
die „Volksdeutschen“ war vielerorts stärker als unter der Sowjetmacht. Viele waren unzufrieden und<br />
verdingten sich lieber als „Ostarbeiter“ in Deutschland.<br />
<strong>TB</strong><br />
27,1<br />
39
<strong>TB</strong><br />
27,2<br />
40<br />
RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE?<br />
DIE AUSWIRKUNGEN DER DEUTSCHEN BESATZUNG AUF DIE<br />
RUSSLANDDEUTSCHEN – BS 14<br />
Eine einzige Ausnahme von der „neuen Agrarordnung“ gab es im von Rumänien (als Verbündeter<br />
Deutschlands) besetzten Transnistrien (Gebiet zwischen Dnjestr und Bug), wo ca. 135 000 Russlanddeutsche<br />
lebten. Zur Bewirtschaftung wurde Hofland zugeteilt. Die Kolchosen wurden umbenannt. Eine<br />
Privatisierung des Grund und Bodens durfte vor Ende des Krieges nicht statt finden.<br />
4. Kirche und Besatzungsmacht<br />
Die Russlanddeutschen als ein traditionelles „Kirchenvolk“ waren von der<br />
stalinschen Vernichtungspolitik gegen alles Religiöse zutiefst getroffen<br />
worden und erhofften sich von den „deutschen Befreiern“ wieder volle<br />
Glaubensfreiheit und Förderung des religiösen Lebens.<br />
Tatsächlich erlebten sie jedoch durch den zynischen Umgang der Nazis mit<br />
ihren religiösen Gefühlen nur eine erneute Demütigung. Eine Wiederbelebung<br />
des kirchlichen Lebens der Russlanddeutschen passte nicht in das<br />
NS-Weltbild mit seiner Führer-Gefolgschaftsideologie und deren Riten, die<br />
als Ersatzreligion dienten.<br />
5. Umsiedlungen beim Rückzug der deutschen Truppen<br />
Als sich das Blatt des Krieges nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad gewendet hatte, setzten die<br />
SS-Stäbe 1943/44 die letzte große Umsiedlungsaktion in Gang. Etwa 365 000 „Volksdeutsche“, hauptsächlich<br />
aus Transnistrien und dem deutsch besetzten Teil der Ukraine, wurden als so genannte Administrativumsiedler<br />
nach Ostdeutschland und in den damaligen Warthegau in mehreren Trecks umgesiedelt<br />
und dort teilweise eingebürgert.<br />
Die Menschen auf den Trecks waren (z. T. über 1 000 km zu Fuß) großen Gefahren und Strapazen ausgesetzt.<br />
Mangelnde Bekleidung, Wetterunbilden, Beschuss und Bombardierungen durch die vordringenden<br />
sowjetischen Truppen, Krankheiten durch fehlende Hygiene und Erschöpfung führten zu Verlusten an<br />
Menschen und Tieren.<br />
Am Ziel, im Warthegau, warteten ghettoartige, mit Stacheldraht umzäunte und von der SS bewachte<br />
Umsiedlungslager. Dort wurden die ankommenden Umsiedlerfamilien registriert und, nach Kategorien<br />
differenziert, ihre Einbürgerung organisiert. In den Lagern mussten die Russlanddeutschen jedoch erkennen,<br />
dass sie nicht nur ihre Höfe verloren hatten, sondern zusätzlich betrogen wurden, indem man ihnen<br />
jetzt auch noch das unter großen Mühen über tausende Kilometer mitgeführte Vieh wegnahm - und<br />
ganz besonders - den Bauernstolz, das Pferdegespann. Das traf sie am härtesten.<br />
Nach der Einbürgerungsprozedur erfolgte der Einsatz eines Teils von ihnen in den umliegenden Dörfern<br />
bei deutschen Bauern als Landarbeiter (!). Die wehrfähigen Männer wurden zur Wehrmacht, überwiegend<br />
zur Waffen-SS, eingezogen und kamen an die Ostfront.<br />
So wurden die Russlanddeutschen, die unter deutsche Besatzung geraten waren, nach Umsiedlung und<br />
Ansiedlung versprengt, sie verelendeten materiell und moralisch.<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/auswirkungen_deutschen_besatzung_rd.htm
RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE? –<br />
DER SO GENANNTE SÜD-TRECK – BS 14<br />
Zum Beispiel umfasste der so genannte Süd-Treck aus Transnistrien 37 083 Menschen aus den Bereichskommandos<br />
Hoffnungstal, Johannesfeld, Rosenfeld und Groß-Liebental, 7 081 Fuhrwerke (Panjewagen),<br />
19 079 Pferde und 5 769 Kühe.<br />
Führer des Trecks war der Hoffnungstaler Bereichskommandant<br />
Weingärtner. Der Marsch begann am 17. März<br />
1944 in Neu-Glückstal und endete im Januar 1945 im<br />
Sammellager Pabianitza südwestlich von Litzmannstadt<br />
im Warthegau. Der Weg des Trecks führte über Tiraspol<br />
(21. März 1944), den Dnjestr nach Bessarabien, Bendery,<br />
Taruntino (25. März 1944), Vulkaneschti (29. März<br />
1944), entlang dem Südufer der Donau über Cuicovora<br />
(29. April 1944), Tschernovoda (4. Mai 1944) nach Bulgarien<br />
mit den Stationen Silistra (7. Mai 1944), Tatarin<br />
(15. Mai 1944), Lom (25. Mai 1944), Widin (28. Mai<br />
1944), danach Donauüberquerung und weiter nordseitig<br />
über Orschovo (4. Juni 1944) bis Jasenovo (10. Juni 1944) südlich von Weißkirchen an der jugoslawischrumänischen<br />
Grenze. Ab Jasenovo erfolgte dann der Weitertransport per Eisenbahn über Ungarn (Budapest)<br />
nach dem Warthegau<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/suedtreck.htm<br />
<strong>TB</strong> 28<br />
41
<strong>TB</strong> 29<br />
42<br />
ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – NACHKRIEGSZEIT – BS 15<br />
Nachkriegszeit<br />
Am 13. Dezember 1955 wurden die Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer<br />
Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlungen befanden erlassen, doch das um 1941 beschlagnahmte<br />
Eigentum wurde nicht zurückgegeben. Die Auflösung der Wolgarepublik und anderer selbstständigen<br />
administrativen Einheiten führte zur Vernachlässigung und zum Niedergang der deutschen<br />
Sprache. Die schulpflichtige Generation der Russlanddeutschen im Zeitraum 1941 - 1956 konnte zum<br />
größten Teil keine Schule besuchen. Auf Grund des mangelnden Fachunterrichts in der Muttersprache,<br />
setzte sich nach Kriegsende die Russifizierung der Schule durch. Die kulturellen und religiösen Zentren<br />
wurden größtenteils zerstört.<br />
Zur kulturellen Identität der Russlanddeutschen (Alena Petrova)<br />
Die vierte und schwerste Krise fällt mit dem zweiten Weltkrieg zusammen und „stellt den Beginn des<br />
Endes der Geschichte der rußlanddeutschen Minderheit als präsente und erkennbare Volksgruppe in der<br />
Sowjetunion dar. Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert sind sie Mitglieder einer Nationalität, die Krieg<br />
mit Rußland führt [...]“ (Ingenhorst 1997: 50). Schon 2 Monate nach dem Kriegsanfang, am 28. August<br />
1941, wurde das Dekret „Über die Umsiedlung der Deutschen des Wolgagebietes“ erlassen. Deportiert<br />
wurden jedoch nicht nur die Wolga-Deutschen, sondern auch die Volksdeutschen aus der Ukraine, aus<br />
dem Kaukasusgebiet, aus Leningrad und anderen kleineren Siedlungen (insgesamt ca. 550 Tausend<br />
Menschen nach Ingenhorst 1997: 52). Die Zwangsumsiedlung verlief in drei Etappen. Zuerst wurden<br />
mit Hilfe der 1934 erstellten Namenslisten die Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahren in Arbeitsarmeen<br />
(vorwiegend in Sibirien und Kasachstan), geschickt; dann wurden die deutschen Frauen zum Bau<br />
militärischer Anlagen abgezogen; ca. 650 Tausend der Restbevölkerung wurde in die Gebiete jenseits<br />
des Urals transportiert (vgl. Fleischhauer 1983: 104). Ca. 350 Tausend Russlanddeutsche geraten 1941<br />
in den besetzten Ostgebieten unter deutsche Herrschaft, wobei es ihnen nicht viel besser ergeht, als den<br />
anderen Gruppen der Russlanddeutschen unter sowjetischer Herrschaft (vgl. Ingenhorst 1997: 53f.). Bei<br />
dem Rückzug der deutschen Armee sollten ca. 450 Tausend Russlanddeutscher „Heim ins Reich“ geführt<br />
werden. Davon wurden etwa 100 Tausend zurück in die Sowjetunion repatriiert.<br />
Sowohl diese als auch alle, die im Krieg direkten Kontakt zum Feind hatten (Kriegsgefangene, Zwangsumsiedler,<br />
Zwangsarbeiter), gehörten als Feinde der Nation im Status der Strafgefangenen in die Arbeitsarmee<br />
und wurden in Sondersiedlungen in Sibirien und Mittelasien eingeliefert. 1948 wurde zwar<br />
die Arbeitsarmee aufgelöst, dafür aber Spezialkommandanturen errichtet (vgl. Ingen-horst 1997: 51-56,<br />
Eisfeld 1999: 120-134 und Klötzel 1999: 120-137).<br />
Erst nach Stalins Tod, in der Phase des sog. „Tauwetters“ unter Chruschtschow (1953-1964) kann man<br />
von den Erleichterungen für das Leben der Russlanddeutschen sprechen. Nach dem Ukas vom 13. Dezember<br />
1955 wurde die Kommandantur aufgehoben und die Deutschen zu freien Sowjetbürgern erklärt.<br />
Sie wurden jedoch nicht rehabilitiert, bekamen ihr konfisziertes Eigentum nicht zurück und durften in ihre<br />
Heimat-Siedlungen nicht zurückkehren (vgl. Eisfeld 1999: 134ff. und Klötzel 1999: 134f., 143ff.).22<br />
Quellen:<br />
http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2003/4192/pdf/Russlanddeutsche.pdf<br />
http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Regina.Wetzel/russlanddeutsche.html
ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – ZEITSCHRIFT „VOLK AUF<br />
DEM WEG“ – BS 15<br />
Lebenslauf meiner Oma<br />
Für die folgende „Ausarbeitung des Interviews meiner Großmutter Erna Rapp, geb. Reichert“ erhielt der<br />
Schüler Marcel Rapp beim Wettbewerb „Kriegskinder“, den das Anne Frank Zentrum Berlin e.V. 2005<br />
ausgeschrieben hatte, eine Urkunde aus der Hand des Bundespräsidenten, der die Schirmherrschaft<br />
übernommen hatte:<br />
Meine Vorfahren stammen aus einem Ort 10 km südlich von der großen Hafenstadt Odessa am Schwarzen<br />
Meer. Der Ort hieß Lustdorf und war ein schwäbisches Dorf mit einer evangelischen Konfession.<br />
Lustdorf wurde 1804 von Schwaben aus der Stuttgarter Gegend gegründet, da damals in Deutschland<br />
Hungersnot und Armut herrschten. Zarin Katharina (hessische Prinzessin) versprach ihren Landsleuten<br />
kostenloses Land, Steuerfreiheit sowie Wehrdienstfreiheit. Dieses Angebot nahmen viele an. In der Ortsmitte<br />
befand sich die Kirche mit einer großen Orgel, auf die die Lustdorfer sehr stolz waren. Eine deutschsprachige<br />
Schule gab es bis 1936. Ab 1937 wurde die Schule russisch. Die Schüler trugen Schuluniform.<br />
Es gab ebenfalls einen deutschen Kindergarten, der zu der Dorfgemeinschaft gehörte. Dort wurden die<br />
Kinder den ganzen Tag kostenfrei versorgt. Ein großer Teil der Einwohner waren Landwirte mit eigenem<br />
Ackerland ums Dorf herum. So lebten die Menschen bis zum II. Weltkrieg. Während der Kriegszeit war<br />
die Deutsche Wehrmacht im Großgebiet Odessa und der Ukraine stationiert. Unter anderem auch in<br />
Lustdorf. Meine Oma wurde am 14.5.1942 in Lustdorf geboren. Mit dem Rückzug der deutschen Truppen<br />
schlossen sich die Deutschen aus Odessa und anderen Gebieten in zwei großen Trecks an. Der Treck<br />
bestand aus alten Männern, Frauen und Müttern mit Kindern, da die jungen Männer alle zur Wehrmacht<br />
eingezogen wurden. Die Menschen mussten ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen. Mitgenommen wurde<br />
nur das Notwendige wie Lebensmittel und Kleidung.<br />
Die Flucht, bei der sehr viele Menschen umkamen, dauerte vom 17. März bis zum Juni 1944 und verlief<br />
über die Donau, durch Rumänien und Bulgarien, Jugoslawien und dann in den Warthegau. Im Januar<br />
1945, mit der Aufrückung der russischen Armee, zogen die Flüchtlinge westlicher nach Kletwitz und<br />
dann nach Ehrenberg bei Waldheim, Kreis Döbeln. Nach Kriegsende deportierte die Rote Armee meine<br />
Großmutter und ihre Familie nach Sibirien. Die „Reise“ dauerte vom 25. September bis 3. November<br />
1945 in Viehwaggons. In den Viehwagen waren bis zu 60 Personen. Während des Transportes kamen<br />
die Menschen wegen der Kälte und der Hungersnot um. Notdürftig wurden die transportierten Menschen<br />
in Baracken, abseits der Stadt, untergebracht. Meine Urgroßmutter und die älteste Schwester<br />
meiner Großmutter mussten Holzarbeiten im Wald ableisten. Meine Großmutter war damals drei Jahre<br />
alt und musste mit ihrer Großmutter allein zu Hause bleiben.<br />
Für die Kleinkinder und nicht mehr arbeitsfähigen älteren Menschen wurden am Tag 200 g Brot zugeteilt.<br />
Kurze Zeit später erkrankte meine Großmutter an Typhus; ihre Großmutter wurde sehr schwach<br />
und verstarb.<br />
Die Jahre vergingen, und meine Großmutter war mit sieben Jahren schulpflichtig. Die Schule befand<br />
sich in dem vier km entfernten Städtchen. Den Schulweg musste meine Großmutter in der Eiseskälte<br />
zu Fuß bewältigen. In manchen Jahren herrschte eine Kälte von minus 50 Grad. Viele Menschen lagen<br />
erfroren am Straßenrand. An diesen Anblick erinnert sich meine Großmutter noch heute mit Tränen in<br />
den Augen.<br />
Die Zwangsansiedlung endete im Dezember 1955. Danach zog die Familie meiner Großmutter nach<br />
Karaganda, Kasachstan. Dort heiratete meine Großmutter. 1962 wurde meine Tante geboren, 1964 kam<br />
mein Vater auf die Welt. 1975 erhielt meine Großmutter mit der Familie nach langen Bemühungen die<br />
Erlaubnis zur Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland – die Heimat der Ahnen.<br />
Von 1975 bis zur Rente 2002 arbeitete meine Großmutter als Buchhalterin in einer Stuttgarter Versicherung.<br />
Nach ihren schlimmen Erlebnissen hofft meine Großmutter, dass ihre Nachkommen nie einen<br />
Krieg miterleben müssen.<br />
Quelle: Zeitschrift „Volk auf dem Weg“, Nr. 10/2006, Seite 55<br />
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FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />
SONDERSIEDLUNGEN UND ARBEITSARMEE – BS 16<br />
Sondersiedlungen und Arbeitsarmee<br />
Nach der Ankunft in den Bestimmungsgebieten wurden die Deportierten sofort unter die Aufsicht<br />
der "Hauptverwaltung für Sondersiedlungen" des NKWD (Volkskommissariat des Innern)<br />
gestellt. Diese Siedlungen mussten von den Ankömmlingen in der Regel erst noch errichtet<br />
werden. Teilweise wurden sie aber auch bei einheimischen Familien einquartiert. Die Strapazen<br />
der Transporte, die anhaltend ungenügende Verpflegung und die zumeist elenden Unterbringungsbedingungen<br />
ebenso wie die Schwerstarbeit und der seelische Terror forderten viele<br />
Tausend Tote unter den Deportierten. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Und auf die Überlebenden<br />
warteten weitere Schrecken.<br />
Ab Januar 1942 wurden die russlanddeutschen Familien endgültig auseinander gerissen. Ausgehend<br />
vom Befehl des staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR vom 10. Januar 1942<br />
waren alle Männer im Alter von 17 bis 50 Jahre in so genannte Arbeitsarmeen (Trudarmee)<br />
zusammenzufassen. Im Oktober 1942 wurde diese Altersbegrenzung auf 15 bis 55 Jahre erweitert.<br />
Nunmehr erfolgte auch die Mobilisierung von Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren<br />
für die Arbeitsarmeen, soweit sie keine Kinder unter drei Jahren hatten (vgl. Rundschreiben zur<br />
Mobilisierung der Deutschen in der Altai-Region).<br />
Den Ausgangspunkt zur Schaffung von Arbeitsarmeen bildete ein von Stalin erlassener Befehl<br />
vom 8. September 1941. Demnach sollten alle Angehörigen der Roten Armee deutscher<br />
Herkunft entlassen, in speziellen Arbeitsbataillonen bzw. -kolonnen zusammengefasst und im<br />
Hinterland eingesetzt werden.<br />
Der Befehl vom 10. Januar 1942 enthielt nicht nur die Mobilisierung der deutschen Männer<br />
für die Arbeitsarmeen, sondern auch Bestimmungen über das Regime der Arbeitskolonnen.<br />
Demzufolge waren alle Betroffenen den Bedingungen und Arbeitsnormen der sowjetischen<br />
Straflager – dem berüchtigten System des GULAG – unterworfen. Sie wurden unter dem harten<br />
Sonderregime – militärisch organisierter und völlig rechtloser Zwangsarbeitsdienst – beim<br />
Aufbau von evakuierten Industrieanlagen, im Berg-, Straßen- und Bahnbau sowie in der Land-<br />
und Forstwirtschaft eingesetzt. Die Trudarmisten waren zumeist in Baracken oder Erdhütten<br />
hinter Stacheldraht und Wachtürmen untergebracht.<br />
In Fortsetzung ihrer bereits weiter oben wiedergegebenen Schilderungen zur Deportation aus<br />
den Heimatorten berichteten uns die befragten Zeitzeugen über die furchtbaren Lebensbedingungen<br />
der Trudarmisten und über das unvorstellbare Elend und Leid, das über die russlanddeutschen<br />
Familien hereingebrochen war. Allen ist diese Zeit bis heute wie ein Trauma in<br />
Erinnerung geblieben (Erlebnisberichte: Katharina Torno, Heinrich Dorn, Viktor Heidelbach, Ida<br />
Schmidt sowie Otto Dreit als ehemaliger Angehöriger der Roten Armee). Trotz der unmenschlichen<br />
Arbeits- und Lebensbedingungen erbrachten sie herausragende Arbeitsergebnisse. Diese<br />
veranlassten staatliche Stellen auch Russlanddeutsche mit der Medaille für heldenhafte Arbeit<br />
im Großen Vaterländischen Krieg auszuzeichnen.<br />
Trotz der extrem schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen verloren die Russlanddeutschen<br />
nicht den Glauben an eine bessere Zukunft. Ausdruck dieser optimistischen Grundeinstellung<br />
waren Eheschließungen unter Trudarmisten.<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/sondersiedlungen_arbeitsarmee.htm
FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />
TREIBGUT DES ZWEITEN WELTKRIEGS – BS 16<br />
Eine Russlanddeutsche erinnert sich an ihr Kriegsende in der Verbannung<br />
Susanne Tiessen wundert sich ein wenig, dass sich jemand für ihre Geschichte interessiert.<br />
Die kleine Frau sitzt bei ihrer jüngeren Schwester im Wohnzimmer in Bonn-Beuel und ist<br />
unsicher, ob sie sich mit ihren 90 Jahren noch an alles erinnern kann. Aber an den Tag, als<br />
der Krieg zu Ende ging, entsinnt sich Susanne Tiessen genau. Sie hat ihn in Sibirien erlebt,<br />
2.000 Kilometer von ihrer Heimat, der Ukraine, entfernt. "Das war ein trauriger Tag. Ich lag<br />
mit meiner Schwester auf dem Hof der Kolchose - im Gras. Wir zitterten, denn wir hatten<br />
beide Malaria. ‚Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen’ dröhnten die Russen auf der<br />
Straße." Als Deutschland die Kapitulation unterzeichnet, liegt ihre Verschleppung nach Si-<br />
birien vier Jahre zurück. Fast alles hat sie in dieser Zeit verloren. Traurig ist der 8. Mai, weil an diesem Tag auch die<br />
Hoffnung schwindet, wieder in ihr ukrainisches Dorf zurückzukommen: "Ich hatte immer gehofft, dass wir nach<br />
Hause dürfen. Oh, wie wollte ich wieder in die Heimat." Doch wegen ihrer Herkunft gehört sie in den Augen der<br />
Russen zu Nazi-Deutschland.<br />
In den Mühlen der Geschichte<br />
Hatten ihr Auskommen: Deutsche Siedler in Russland. Heimat, das war - und ist - für Su-<br />
sanne Tiessen das kleine Dorf Memrik in der Nähe von Donec’k, 100 Kilometer nördlich<br />
vom Schwarzen Meer. Dorthin waren ihre deutschen Vorfahren Ende des 18. Jahrhunderts<br />
aus der Gegend von Danzig ausgewandert, ins Land geholt von der Zarin Katharina II, die<br />
aus den fruchtbaren Steppenböden eine Kornkammer machen wollte. Großzügig schenkte<br />
die Zarin den Mennoniten drei Parzellen Land pro Familie und versprach Religionsfreiheit.<br />
Einfach hatten es die deutschen Auswanderer in Russland nie, und unter den politischen<br />
Umbrüchen und Hungersnöten zwischen den beiden Weltkriegen haben auch sie zu leiden.<br />
In den 30er Jahren werden sie, wie alle ausländischen Minderheiten, von Stalin misstrauisch beäugt. Aber die Siedler<br />
haben ihr Auskommen. Bis Hitler im Juni 1941 in Russland einmarschiert. Stalin reagiert sofort, denn er fürchtet die<br />
Zusammenarbeit der Russlanddeutschen mit den Angreifern. Innerhalb von drei Monaten lässt er einen großen Teil<br />
der deutschen Minderheit in die entlegenen Gebiete im Osten deportieren.<br />
"Wir waren doch keine Spione"<br />
Endstation: Lager oder Kolchose in Sibirien. Im Spätsommer 1941 trifft es auch die Bewohner<br />
von Memrik. Die deutschen Truppen rücken immer näher, Nacht für Nacht können die Siedler<br />
die deutschen Flugzeuge über ihrem Dorf hören. Dann, am 3. Oktober 1941, kommt der<br />
Befehl, der ihrem bisherigen Leben ein jähes Ende bereitet: Innerhalb von 24 Stunden soll<br />
das ganze Dorf in 43 Eisenbahnwagons verladen werden. Die damals 26-jährige Susanne<br />
Tiessen packt ihre Habseligkeiten und nimmt ihre beiden Kinder, der jüngste Sohn ist gerade<br />
zwei Monate auf der Welt.<br />
Sie ist auf sich alleine gestellt, denn ihr Mann Hans wurde schon einen Monat früher in die so genannte Trudarmee<br />
(Arbeitsarmee) verschleppt. "Viel konnte ich nicht mitnehmen, wer sollte denn das alles schleppen?" Susanne<br />
Tiessen kann die kollektive Bestrafung der deutschen Minderheit weder verstehen, noch will sie die Deportation<br />
wahrhaben: "Wir waren doch keine Spione der Deutschen. Immer wenn der Zug in der Steppe anhielt, haben wir<br />
gehofft, dass er zurückfährt und uns wieder nach Hause bringt."<br />
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FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />
TREIBGUT DES ZWEITEN WELTKRIEGS – BS 16<br />
Aber es gibt kein Zurück, die Bewohner von Memrik sind in die Mühlen der Geschichte geraten. Fast 200.000 Deut-<br />
sche aus der Ukraine und 350.000 aus dem Wolgagebiet werden zwischen Juni und Oktober 1941 in Eisenbahnwa-<br />
gons zusammengepfercht und nach Sibirien oder Kasachstan verschleppt.<br />
Ein Haus aus Graswurzeln und Erde in Sibirien<br />
Waldarbeiterinnen in der Verbannung. Ziel des Zuges von Susanne Tiessen ist die sibirische Klein-<br />
stadt Karasuk an der Grenze zu Kasachstan. Sie wird zur Arbeit im Kuhstall auf der Kolchose<br />
Charoschi (dt: der Gute) eingeteilt. Dort sieht sie im Februar 1942 ihren Mann wieder. "Da war<br />
er schon beinahe tot. Seine Beine waren geschwollen, er konnte kaum noch laufen. Sie mussten<br />
hart arbeiten im Wald und es gab kaum zu essen." Für eine kurze Zeit ist die Familie beieinander,<br />
dann muss Hans wieder zur Trudarmee und überlebt nur wenige Wochen. Auch ihren jüngsten<br />
Sohn verliert Susanne Tiessen in den ersten Jahren in Sibirien. Er stirbt kurz vor seinem zweiten<br />
Geburtstag, weil das bisschen Nahrung, das ihr zugeteilt wird, viel zu einseitig ist. Ganz sachlich<br />
spricht die alte Frau von diesen Schicksalsschlägen, als ob es nicht die eigenen wären. Aber dann hält sie inne, sinkt<br />
in ihrem großen Sessel zusammen und die Augen werden feucht: "Das war eine große Trauer." Aufgeben kann sie<br />
nicht, da ist noch ihr vierjähriger Sohn Peter, für den sie sorgen muss. Aus Graswurzeln und Erde baut sie eigenhän-<br />
dig ein Haus, das dem sibirischen Winter standhalten soll. Sie heizt, weil sie als Deutsche kein Brennholz zugeteilt<br />
bekommt, mit getrocknetem Kuhmist. Zu essen gibt es Kartoffelschalen oder Brot, das sie aus abgezupften Gras-<br />
samen zustande bringt. Denn wenn sie auf der Kolchose die zugeteilten Lebensmittel abholen will, geht sie oft leer<br />
aus: "Einmal haben sie einer Russin vor mir acht Kilo Butter und Käse gegeben. Weil ich eine Deutsche war, haben<br />
sie mir gar nichts gegeben. Da bin ich hinausgegangen und habe geweint."<br />
Zur "gesellschaftlich nützlichen" Arbeit verpflichtet<br />
Arbeit im sibirischen Lager bis 1955. Noch zehn Jahre nach Kriegsende leben die Deutschen in<br />
Russland in Arbeitslagern oder Sondersiedlungen. Sie sind zur "gesellschaftlich nützlichen" Arbeit<br />
verpflichtet und dürfen ihren Wohnort nur mit einer Genehmigung verlassen. Einmal in der Woche<br />
müssen sie sich bei den Behörden melden. Erst 1955 endet das so genannte Kommandanturre-<br />
gime, und die Russlanddeutschen können ihren Wohnort wieder selbst bestimmen. Eine Rückkehr<br />
in ihre Heimatdörfer verbietet die Sowjetregierung jedoch strengstens. Viele Familien bleiben daher<br />
in den ihnen zugewiesenen Dörfern und Städten oder ziehen dorthin, wo ihre Verwandten durch<br />
die Deportation gelandet sind. Über 80 Prozent der Russlanddeutschen leben nach dem Krieg in<br />
Kasachstan, Sibirien und in der Altai-Region. Auch Susanne Tiessen baut sich nach und nach in Sibirien ein neues<br />
Leben auf. Sie verlässt die Kolchose nach sieben Jahren und zieht mit ihrem Sohn nach Karasuk. Dort heiratet sie<br />
ein zweites Mal und hat mit ihrem Mann Heinrich Tiessen noch eine gemeinsame Tochter. Zu einer neuen Heimat<br />
wird Sibirien jedoch nicht. 1973 wird überraschend der Ausreiseantrag der Eheleute nach Deutschland genehmigt.<br />
Anfang der 90er Jahre, während der zweiten großen Ausreisewelle, kommen auch die Verwandten nach. Susanne<br />
Tiessen lebt heute bei ihrem Sohn in Gummersbach.<br />
Quelle: http://kriegsende.ard.de/pages_std_lib/0,3275,OID1361338,00.html
FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />
REHABILITATION UND FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG - ZU BS<br />
16<br />
Rehabilitation und Familienzusammenführung<br />
Am 29. August 1964 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Beschluss über<br />
die Abänderung des eigenen Erlasses vom 28. August 1941 "Über die Umsiedlung der Wolgadeutschen".<br />
Dieser Beschluss nahm zwar von den Russlanddeutschen den Makel des Verrats, war jedoch nur eine<br />
formale Rehabilitierung und wurde obendrein erst nach der Entmachtung Chruschtschows veröffentlicht.<br />
Außerdem wurde das Wenige, das mit dem Beschluss versprochen wurde, von den örtlichen Behörden<br />
entweder sehr spät oder nur zum Teil bzw. gar nicht in die Tat umgesetzt. Seine Bedeutung hatte der<br />
Ukas aber dadurch, dass die Russlanddeutschen aus der Versenkung geholt wurden, nachdem sie zuvor<br />
im Gegensatz zu anderen gemaßregelten Völkern der Sowjetunion übergangen worden waren.<br />
Aber auch 1964 mussten die Russlanddeutschen in ihren Vertreibungsgebieten bleiben. Noch bis in die<br />
80er Jahre lastete auf ihnen das moralische Erbe des deutschen Angriffskrieges und die Last der deutschen<br />
Kapitulation. Sie hatten es nicht leicht, sich in einem Land zu behaupten, in dem "Njemez" zum<br />
Inbegriff alles Bösen und zum Synonym für "Faschist" geworden war. Deutschsprachige Zeitungen wie<br />
das Moskauer "Neue Leben" und die "Freundschaft" in Kasachstan konnten es vor Gorbatschow noch<br />
weniger als russische Zeitungen wagen, Kritik am Staat sowie dessen Partei und Politik zu äußern.<br />
Die wenigen Sendungen in deutscher Sprache in Rundfunk und Fernsehen hatten nach einem strengen<br />
prosowjetischen Ritual abzulaufen. Der zweimal jährlich von Hugo Wormsbecher herausgegebene Almanach<br />
"Heimatliche Weiten", eine Sammlung russlanddeutscher Poesie, Prosa und Publizistik, stellte<br />
1989 sein Erscheinen ein. Das 1981 gegründete Deutsche Dramentheater in Temirtau (heute in Almaty)<br />
hatte ständig Existenzschwierigkeiten und Personalschwund durch die Ausreise der Schauspieler. Der<br />
muttersprachliche Unterricht schließlich konnte sich niemals von den Schwierigkeiten lösen, die durch<br />
fehlende Lehrer und Lehrbücher entstanden.<br />
Quelle: http://www.aussiedler-neuss.de/Geschichte.html<br />
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NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />
UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />
Unsere Landsleute aus Karaganda (Auszüge)<br />
Von Ulla Lachauer<br />
Minna wurde Miss Niedersachsen, Maria ist verstummt,<br />
und Waldemar baut ein Haus - Begegnungen<br />
mit Russlanddeutschen<br />
Russlanddeutsche sind nirgendwo zu Hause, nicht<br />
in Russland, nicht in Deutschland. Ihre Biografien<br />
sind gebrochen, ihre Geschichten Zeugnisse politischer<br />
Willkür. Sie kommen aus der kasachischen<br />
Steppe nach Bonn, Berlin, in den Schwarzwald,<br />
fühlen sich wie Fische, die man aufs Trockene geworfen<br />
hat. Den einzigen Halt finden sie in ihren<br />
Familien. Unsere Autorin hat einige dieser Familien<br />
besucht. Eine von vielen Fragen war: Was ist<br />
deutsch?<br />
Sie stamme „aus Russland“, antwortete Maria<br />
Pauls ihren Nachbarn in Kehl am Rhein und allen,<br />
die sie fragten, wo sie denn herkomme. „Ach so“,<br />
hieß es dann, und das Thema war erledigt. Richtiger<br />
wäre gewesen, Maria Pauls hätte gesagt: „Aus<br />
Karaganda, Kasachstan.“<br />
…<br />
5.000 Kilometer entfernt liegt Karaganda von<br />
Deutschland, unweit von China. Es ist die größte<br />
Provinzhauptstadt des Archipels Gulag. Eine<br />
„Schachtarbeiterstadt“, wie es auf Sowjetisch hieß,<br />
„die ihre Existenz der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution<br />
verdankt“. Vor 1917 war hier Nomadenland.<br />
Sary Arka, Goldene Steppe, nannten<br />
es die Kasachen, für ein sesshaftes Dasein schien<br />
es ungeeignet. 50 Grad Hitze und 50 Grad Frost,<br />
begleitet von orkanartigen Winden, das kann ein<br />
Mensch auf Dauer nicht aushalten.<br />
Bereits 1833 hatte man unter der Grasnarbe Kohle<br />
gefunden, russische Unternehmer, später ein britisches<br />
Konsortium hatten ein wenig daran gekratzt.<br />
Das riesige Ausmaß des Kohlebeckens entdeckten<br />
erst Lenins Geologen, und mit Stalins „Industrialisierungsschlacht“<br />
begann die Ausbeutung großen<br />
Stils.<br />
1930 wurde die Eisenbahntrasse von Westsibirien<br />
nach Süden fortgeführt, Kulaken waren die Bau-<br />
leute. Diese tüchtigen Bauern aus der Ukraine und<br />
dem westlichen Russland, die im Zuge der Kollektivierung<br />
enteignet und verschleppt wurden, waren<br />
auch die ersten Siedler, unter ihnen die 14-jährige<br />
Maria Pauls. Im Sommer 1931 wurde sie mit ihrer<br />
Familie und weiteren Bewohnern des Wolgadorfes<br />
Lysanderhöh hergebracht. „Wohnt, wie ihr<br />
könnt!“, hieß es. Also gruben sie sich in die Erde<br />
ein, viele überlebten den Winter nicht. Trotz der<br />
hohen Sterblichkeit hatte Karaganda bereits 1934<br />
die für eine Stadt erforderliche Zahl von 125.000<br />
Einwohnern.<br />
Immer neue kamen hinzu: Opfer der Stalinschen<br />
„Säuberungen“, 1937 die koreanische Minderheit<br />
aus der Gegend von Wladiwostok, nach dem<br />
Hitler-Stalin-Pakt 1939 Ostpolen und Balten, im<br />
Zweiten Weltkrieg gefangene Finnen, Deutsche<br />
und Japaner, Angehörige der als unzuverlässig<br />
geltenden Völker wie Tschetschenen, Krimtataren,<br />
Inguschen. Der größte Zustrom erfolgte im Herbst<br />
1941, als auf Befehl des Obersten Sowjets Deutsche<br />
von der Wolga, aus der Ukraine und dem<br />
Kaukasus – unter dem bizarren Vorwurf, sie wären<br />
Spione und Diversanten für Hitler – hinter den<br />
Ural verschleppt wurden, Zehntausende von ihnen<br />
nach Karaganda.<br />
In den frühen Vierzigern dürfte die Stadt eine<br />
deutsche Mehrheit gehabt haben; ein Viertel heißt<br />
seit damals im Volksmund Berlin. In dieser Zeit geschieht<br />
es: Maria Pauls ist gerade vier Jahre verheiratet<br />
mit ihrem Heinrich, einem Landsmann von<br />
der Wolga, und mit dem dritten Kind schwanger.<br />
Ein klassisches Paar der sowjetischen Moderne:<br />
sie eine Kolchosarbeiterin, er ein Schachtior, ein<br />
Schachtarbeiter.<br />
Eines Tages, im September 1942, beherbergen die<br />
Pauls einen jungen Bettler, der, wie sich später herausstellt,<br />
ein entflohener deutscher Kriegsgefangener<br />
ist. Daraufhin wird Heinrich Pauls verhaftet<br />
und als Vaterlandsverräter verurteilt, er kehrt aus<br />
dem Lager nicht zurück.<br />
…<br />
Für europäische Begriffe ist Karaganda keine<br />
Stadt. Bei einem ersten Besuch dort war ich mehr
NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />
UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />
als verwundert: ein breiter Boulevard, das einstige<br />
Gebietskomitee der KPdSU, ein Kasten von einem<br />
Hotel, ein pompöser Kulturpalast, Schwimmbad,<br />
Kino, vorzugsweise im pseudoklassizistischen Stil<br />
der Stalin-Epoche, wie aus dem Musterbuch sowjetischer<br />
Städtegründungen. Eine Kulisse. Jenseits<br />
der Hauptstraße ist Karaganda eine wilde Ansammlung<br />
verschiedenster Elemente und Welten.<br />
Plattenbauten neben dörflichen Isbas, Fördertürme<br />
und Fabrikmonster, mit Bergen von Abraum<br />
umgeben, die in der Ebene wie mächtige Busen<br />
wirken. Und wo immer sich eine freie Fläche zeigt,<br />
berittene Hirten mit ihren Herden.<br />
…<br />
Baue mal einer in der kasachischen Steppe! Nichts<br />
als Erde, Pfriemgras, Disteln. Kein Holz, kaum Stein.<br />
Tierhaut statt Fensterglas. Die erste Behausung des<br />
jungen Paars in Karaganda war eine Sem-lanka.<br />
Die zweite ein „Samanhaus“, aus Lehmbatzen,<br />
neun Kinder fanden darin Platz. Mal wurde es um<br />
einen Dachboden ergänzt, die Wäsche gegen den<br />
Kohlestaub zu schützen, mal die Heizung verbessert.<br />
In der Mangelwirtschaft musste man auf Dauer<br />
erfinderisch sein.<br />
Ganz bewusst sind der Schachtior Heinrich Dyck<br />
und seine Frau nie in eines der Hochhäuser umgezogen,<br />
wo die „ganze Schlechtigkeit wohnt“.<br />
In ihren vier Wänden konnten sie freier schalten<br />
und walten. Jeden Freitag wurde „Ribbelkuchen“<br />
gebacken, legte Rebeka Dyck für die Kinder eine<br />
Decke auf den Boden und erzählte von besseren,<br />
gottgefälligen Zeiten. Das Haus war eine Welt mit<br />
eigenen Gesetzen, mit seinem Garten und Stall, Kühen,<br />
„Hinkeln“ und so weiter war es zugleich eine<br />
private Ökonomie. Chruschtschow… Breschnew…<br />
Gorbatschow, es blieb der Lebensmittelpunkt der<br />
Familie, für Tochter Pauline, die Turmkranführerin<br />
– Bauberufe waren typisch für diese Generation.<br />
Paulines ältester Sohn Waldemar wohnte als Kind<br />
viel bei Oma und Opa Dyck.<br />
Ebendieser Waldemar wollte partout nicht nach<br />
Deutschland. Er war 16, nach der Ankunft 1989<br />
jahrelang heimwehkrank und sprachlos. In der<br />
Enge der Notwohnung war an Lernen nicht zu<br />
denken. Irgendwann riss er aus, 40 Tage war er<br />
spurlos verschwunden. Plötzlich stand er wieder da,<br />
kahl geschoren, in wattierter Jacke, er war in Karaganda<br />
gewesen. Und schrie: „Maaaaamaaaaa!<br />
Danke, dass du mich nach Deutschland gebracht<br />
hast.“ Danach hat er noch „viel Scheiße gebaut“,<br />
ausgestanden war das Drama erst mit Swetlana,<br />
einer Deutschen aus Karaganda, die er 23-jährig<br />
heiratete. Wirklich und endlich angekommen sind<br />
sie, wenn sie demnächst mit ihren drei Kindern das<br />
Haus beziehen.<br />
Der Löwenanteil ist Eigenleistung, Kapital so gut<br />
wie nicht vorhanden, der Bankkredit zum Fürchten<br />
– das Projekt eines ungelernten Arbeiters und<br />
einer Altenpflegerin. So ähnlich haben sich vor 40,<br />
50 Jahren traumatisierte Habenichtse aus dem Osten<br />
ein Zuhause geschaffen.<br />
Steppenkinder, Wolfsburg und Werl<br />
Café Wallenstein, Wolfsburg, die Miss Niedersachsen<br />
tritt ein. Linna Hensel kommt, wie es schon<br />
in der Zeitung stand, nie allein, sondern immer<br />
mit ihrer älteren Schwester Alexandra. Schön sind<br />
sie beide, in ihren Gesichtern spiegeln sich zwei<br />
Kontinente, Alexandra ist mehr Asien, Linna Europa.<br />
Linna ist eigentlich Lina: „Das zweite „n“ hat<br />
unser koreanischer Vater reingebracht, der Name<br />
war ihm zu deutsch.“ – „Unsere Familie ist total<br />
verschleust“, lacht Alexandra. „Und wie!“ lächelt<br />
Linna, und wieder Alexandra: „Ihnen wird noch<br />
der Kopf rauchen.“<br />
„Wir“, sie sprechen immer im Plural, und als Dritte<br />
ist die Mutter im Bunde. „Mama, skashi, wie<br />
war das? Seit wann ist unsere Oma taub?“, rufen<br />
sie ins Handy. Quietschvergnügt durchstreifen sie<br />
die Schreckenskammern des 20. Jahrhunderts, es<br />
ergibt sich ungefähr folgender Sachverhalt: Ihre<br />
Großmutter Lina Hensel, 1935 in Darmstadt/Ukraine<br />
geboren, wurde als Zweijährige durch eine<br />
Entzündung im Ohr taub. 1941 entgingen die<br />
Hensels der Deportation nach Asien, weil die deutsche<br />
Wehrmacht schneller da war, man siedelte sie<br />
später in den „Warthegau“ um. Linas Vater fiel im<br />
Krieg, die restliche Familie wurde 1945 ins Sowjet-<br />
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NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />
UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />
reich „repatriiert“. Unterwegs mussten Lina und<br />
ihre ältere Schwester die Mutter begraben, Endstation:<br />
Karaganda. Zwei Waisen, zwei von vielen,<br />
vielen in einer wilden, elenden Stadt. Hunger, frühe<br />
Schwangerschaft, saufende russische Ehemänner.<br />
Die durch Taubheit stumm gebliebene Lina hatte<br />
schließlich drei Kinder allein durchzubringen.<br />
„Da war wirklich nichts Schönes in deiner Kindheit,<br />
Mama?“, fragt Alexandra ungläubig ins Handy.<br />
„Doch, wenn die renetki blühten, das war schön!“<br />
– „Renetki sind Apfelbäume“, erklärt Linna. Ihre<br />
Mutter habe auch später wenig Glück gehabt, mit<br />
diesem Koreaner, der sie sitzen ließ. Und trotzdem!<br />
Nach zwei Generationen familiärer Unordnung<br />
habe es die Mutter geschafft, ihnen beiden<br />
eine „frohe Kindheit“ zu bereiten.<br />
Geborgenheit in einer Einzimmerwohnung im Karaganda<br />
der achtziger Jahre. Wenn die Mutter da<br />
ist und nicht in der Käsefabrik schafft, glucken die<br />
drei zusammen, die Mutter liest vor, was ihr selbst<br />
gerade gefällt, Romeo und Julia, Bulgakows Meister<br />
und Margarita. Draußen, vor der Tür des Neubaus,<br />
die Steppe. Schlittschuh laufen, Rodeln vom<br />
halsbrecherisch steilen Terekonik, dem Abraumhügel<br />
des nahen Schachtes. Im Sommer laufen die<br />
Mädchen weit ins Grasland. „So was haben Kinder<br />
hier nicht. So eine Freiheit!“<br />
Die Ausreise 1992, zusammen mit der deutschen<br />
Oma, war zunächst nur ein weiteres kindliches<br />
Abenteuer. Geleitet von der Mutter, „Kopf hoch<br />
und durch!“, eroberten sie in Wolfsburg die fremde<br />
Schule, steckten Püffe und Hänselein ganz gut<br />
weg. Verehrer hatten sie an jedem Finger einen,<br />
das half auch. Bis zum Abitur war ihr Deutsch<br />
perfekt, mit kleinem norddeutschen Akzent. Wenig<br />
später dann der Triumph: Linnas Sieg bei der<br />
Miss-Wahl, sie war ihrer beider Erfolg. Alexandra<br />
war Linnas Coach – Diätplan, Körpertraining,<br />
Makeup, sie entwarf und nähte die fantasievolle,<br />
zarte Robe.<br />
Deutschland mögen sie sehr, „dass man den Bürgern<br />
hilft“. Für die Deutschen, die „so verschlos-<br />
sen, so vereinzelt leben“, empfinden sie ein wenig<br />
Mitleid. Wie die beiden so dasitzen und qualmen,<br />
laut träumen – ich traue ihnen alles zu.<br />
…<br />
Deutschland. Friedland.<br />
Für Adenauer begann am Ostufer der Elbe die asiatische<br />
Steppe. Wer hätte gedacht, dass unsere kleine<br />
Bundesrepublik ihren Horizont einmal so weit<br />
nach Osten würde erweitern müssen? Deutschland<br />
reicht heute bis zur Oder, wir haben wieder Städte<br />
wie Breslau oder Riga im Blick, ab sofort grenzt die<br />
EU an die Ukraine. Unsere Köpfe sind zum Platzen<br />
voll, und immer noch ist es nicht genug: Jetzt muss<br />
auch noch hinter den Ural geguckt werden.<br />
Als Gorbatschow 1986 mit dem neuen Passgesetz<br />
die Tür einen Spalt breit öffnete für Ausreisewillige,<br />
die in Deutschland Verwandte ersten Grades<br />
nachweisen können, rechneten Experten mit einem<br />
Zuzug von 30.000 bis 80.000 Menschen. Allein<br />
Karaganda hatte so viele Deutschstämmige. Man<br />
wusste von solchen Städten damals buchstäblich<br />
nichts. Aus derselben Unkenntnis erwuchs die Illusion,<br />
die unerwarteten Menschenmassen ließen<br />
sich, wenigstens teilweise, in eines der alten Siedlungsgebiete,<br />
an die Wolga, umlenken. „Wiedererrichtung<br />
der Wolgarepublik“ (von 1924, bekanntlich<br />
eine Schöpfung Lenins) hieß ein Haushaltstitel<br />
im gerade wiedervereinigten Deutschland!<br />
Die Deutung des Exodus lief zunächst unter der<br />
Überschrift „Heimkehr“. Vielleicht traf dieses Wort<br />
die Sehnsucht der Maria Pauls oder der alten Dycks.<br />
Aber in ein Schwaben oder Westpreußen früherer<br />
Jahrhunderte kann man nicht heimkehren. Niemand<br />
hat die Situation der Ausreise bislang treffender<br />
beschrieben als die russische Sängerin Veronika<br />
Dolina. Lufttransport heißt das Chanson:<br />
„Luftige Reise, irdische Stimme:<br />
,Karaganda–Frankfurt…‘, von einem Pol zum<br />
anderen.<br />
Frauen und Kinder, die Alten kehren heim nach<br />
Ithaka.<br />
Schrecklich, min Herz, auch wenn es nicht<br />
in die Verbannung geht.“<br />
Und weiter: „Goethe hat sie vergessen, Rilke
NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />
UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />
hat sie im Stich gelassen, sie lernten Russisch,<br />
Kasachisch.“ Auf der Gangway ist ihnen zumute,<br />
als flögen sie ins All: „Karaganda–Frankfurt,<br />
Karaganda–Kosmos.“<br />
Ursachen und Verlauf des Exodus werden künftige<br />
Historiker erforschen; für Karaganda ist vorläufig<br />
Folgendes festzuhalten: Am 30. September 1973<br />
trafen sich etwa 400 Deutsche zu einer verbotenen<br />
Demonstration. Verhaftungen folgten. Ganze Familien,<br />
Sowjetfeinde meist aus Glaubensgründen,<br />
setzten sich nach Moldawien oder ins Baltikum ab,<br />
wo Ausreiseanträge größere Erfolgschancen hatten.<br />
Nach Jahren des Wartens durften viele nach<br />
Germanija ziehen – eine Vorhut.<br />
Ähnlich mutige Leute waren es, solche wie die<br />
Dycks und die Pauls, die sofort das Passgesetz von<br />
1986 zu nutzen versuchten. Wenig später schon<br />
war die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Zum<br />
einen kam mit dem freien Sprechen, das nun möglich<br />
war, die Vergangenheit ans Licht, Deportation,<br />
Zwangsarbeit, der ganze Albtraum der Geschichte.<br />
Und die ebenso tabuisierte, gefährliche Lage der<br />
Stadt: Karaganda befindet sich zwischen Semipalatinsk<br />
(Atomwaffentests), Baikonur (Kosmodrom)<br />
und Stepnogorsk (Biowaffen). Zugleich kündigte<br />
sich ein gesellschaftliches Beben an. Die Kasachen<br />
forderten ihr Recht, der Koloss Sowjetunion schien<br />
ins Wanken geraten. Es war mehr ein Gefühl als<br />
ein klares Bewusstsein: Raus, bevor wieder etwas<br />
Schreckliches passiert! Einmal in Gang, entstand<br />
so etwas wie eine Kettenreaktion.<br />
1989 war Karaganda mit seinen 800.000 Einwohnern<br />
noch eine moderne Großstadt sowjetischen<br />
Typs. 1991 stürzte sie mit dem Reich ins Bodenlose,<br />
ihr Niedergang war fast so dramatisch wie<br />
ihr Aufstieg 70 Jahre zuvor. 36 Schächte wurden<br />
geschlossen, die Kohle, um derentwillen Karaganda<br />
gegründet wurde, brauchte keiner mehr. Wer<br />
nur eben konnte, Russen, Polen, Ukrainer et cetera<br />
floh in die alte Heimat. Heizungsleitungen platzten<br />
im Winter, der Strom fiel aus, leere Wohnblocks<br />
zerfielen wie im Zeitraffer. „Die Steppe“, sagten<br />
die Zurückbleibenden, „erobert die Stadt zurück.“<br />
So war es, als Familie Gudi und die Hensels sie<br />
verließen.<br />
Mitte der Neunziger trat der Exodus in seine vorerst<br />
letzte Phase ein. Indem die Bundesregierung den<br />
Zuzug auf 100.000 Aussiedler pro Jahr begrenzte<br />
und Sprachtests einführte, entstanden Wartezeiten<br />
von drei bis sieben Jahren. Derweil stabilisierte<br />
sich die Situation Karagandas ein wenig. Nach<br />
Plan von Präsident Nasarbajew, den russisch kolonisierten<br />
Norden kasachisch zu prägen, wurde<br />
eine neue Hauptstadt geschaffen, Astana. Man<br />
legte Siedlungsprogramme auf, aus den Kolchosen<br />
freigesetzte Kasachen zogen in die Städte des<br />
Nordens, desgleichen Exilkasachen aus der Mongolei.<br />
In Karaganda leben inzwischen 45 Prozent<br />
Kasachen, früher waren es drei Prozent. Das Volk<br />
der Nomaden und Halbnomaden, das nach 1917<br />
in die Moderne katapultiert wurde und wie kaum<br />
ein anderes seine Identität verloren hat, seine Tradition,<br />
seine Sprache, den muslimischen Glauben,<br />
will die Tragödie mit Macht überwinden. Und in<br />
dieser Neuordnung haben, auch wenn sie sich bemerkenswert<br />
friedlich vollzieht, die auf Ausreise<br />
Wartenden keinen Platz.<br />
Solche wie Familie Onodalo aus Abai, einem Sputnik<br />
von Karaganda. Soeben, nach fünf zähen<br />
Jahren des Wartens, aus 27 Grad minus in den<br />
Vorfrühling geraten, nach Friedland. „I-ch biiin<br />
An-gst“, buchstabiert Ida Onodalo und zieht die<br />
Stirn unter den braunen Locken kraus. Ihr Mann<br />
Alexander und der erwachsene Sohn haben Reißaus<br />
genommen, wir sind zu zweit in dem weiß<br />
getünchten Schlafsaal. „Ich kann nich verzelle, o<br />
gospodi! (Mein Gott!)“. Sie scheint einer Ohnmacht<br />
nahe.<br />
Hinter ihr liegen Wochen des Abschieds, vom älteren<br />
Sohn und von dessen Familie, von ihrer besten<br />
Freundin Sagat, einer Kasachin, von ihren Schülern.<br />
Eine Lehrerin, die auf einmal sprachlos ist. Sie, Ida,<br />
die Tochter von Wolgadeutschen, wird von jetzt<br />
an ihren Mann, den Ukrainer, stützen müssen, der<br />
es noch schwerer hat. Seine ganze große Familie<br />
blieb in der Steppe zurück, seine Kultur hat in<br />
Deutschland so gut wie keine Überlebenschance.<br />
Quelle: DIE ZEIT 11.03.2004 Nr.12 http://www.zeit.<br />
de/2004/12/Russlanddeutsche<br />
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GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />
Einleitung<br />
Die eigene Geschichte spielt für die Kasachen nach der Verkündung ihrer Unabhängigkeit eine bedeutende<br />
Rolle. Durch stetige Okkupationen angrenzender Nationen und 70 Jahre kommunistischer Fremdbestimmung<br />
sind die kasachische Lebensweise und viele Traditionen teilweise verloren gegangen. Daher<br />
fällt es dem Land schwer eine eigene kasachische Identität aufzubauen und zu verkörpern. Nach und<br />
nach wird die sowjetische Ideologie aus den Köpfen der Menschen verbannt. Man versucht, sich den<br />
originär kasachischen Bräuchen und Sitten wieder bewusst zu werden, um dem Land und seiner Bevölkerung<br />
ein kasachisches Selbstverständnis zu vermitteln. Die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit<br />
soll den Menschen dabei helfen.<br />
Frühgeschichte<br />
Das kasachische Territorium ist seit Jahrtausenden besiedelt. Im 6. bis 3. Jahrhundert v. u. Z. kam der<br />
Stammesverband (Horde) der Saken in das Gebiet Kasachstans. Sie waren Nomaden, Halbnomaden und<br />
Ackerbauern und errichteten ihren ersten Staat in Semireche, im südöstlichen Kasachstan. Mitte des ersten<br />
Jahrtausends übernahmen die aus dem Altai kommenden turkvölkischen Stämme die Vorherrschaft<br />
in der Region. Sie werden als Ursprung vieler Völker in Zentralasien betrachtet. 1<br />
Durch den Einfall mongolischer Truppen unter Dshingis Khan in den Jahren 1219-21 kam die Entwicklung<br />
zum Erliegen. Infolge wachsender Migration und Mischehen wandelte sich die Struktur der Bevölkerung<br />
enorm. Nach dem Zerfall der Goldenen Horde Dshingis Khans Ende des 14. Jahrhunderts bildeten sich<br />
ein nogaisches und ein usbekisches Khanat (Königreich) heraus.<br />
Mitte des 15. Jahrhunderts formierte sich durch Abspaltung das Kasacher Khanat, welches sich als eine<br />
Konföderation verschiedenster Nomadenstämme konstituierte. In dieser Zeit hat sich das Volk der Kasachen<br />
herausgebildet. Im 16. Jahrhundert teilten sich die Kasachen in drei Horden, die noch bis heute<br />
bestehen. Die Große Horde konzentrierte sich auf das Gebiet des heutigen Südkasachstan. Die Mittlere<br />
Horde bewohnte den Norden und die Kleine Horde den Westen des Landes. 2<br />
Vorrevolutionäre Zeit bis 1917<br />
Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sah das Kasacher Khanat seine Grenzen bedroht. Im Norden und Westen<br />
drohte Russland mit seiner Expansionspolitik, dagegen fielen im Osten die Dshungaren (auch Oyraten<br />
genannt) in die kasachischen Gebiete ein. Aus Furcht vor fortschreitender Einflussnahme und<br />
Zerstörung erbaten sich um 1731 Stammesführer der Kleinen Horde den Schutz der russischen<br />
Regierung. Später erklärten auch die anderen Horden ihre Loyalität gegenüber der russischen Krone und<br />
schlossen sich Russland an. 3<br />
Allerdings blieb die angebotene Hilfe zur Zerschlagung der dshungarischen Angreifer aus. Stattdessen<br />
wurde Kasachstan in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das zaristische Verwaltungssystem<br />
eingegliedert, indem die Khanate aufgelöst und in zaristisch-administrative Einheiten<br />
umgewandelt wurden.<br />
In diesem Zuge spielten russische Städtefestungen als Stützpunkte zur Erweiterung des russischen Einflusses<br />
in dieser Region eine zentrale Rolle. So wurde 1824 bzw. 1830 ein russischer Außenposten zur<br />
Sicherung der Handelswege im Gebiet um Akmola, der heutigen Hauptstadt Astana gegründet. 4<br />
1 Nikolai Larin: Aus der Tiefe der Jahrtausende in die Gegenwart, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 17 f.<br />
2 Marie-Carin von Gumppenberg: Staats- und Nationsbildung in Kazachstan, Opladen 2002, S. 31<br />
3 Marie-Carin von Gumppenberg. a.a.O., (Fußn. 2). S. 31 f.<br />
4 N. Agubaev und R. Chekaeva: Geschichte der Entstehung und Entwicklung Astanas im 19. Jahrhundert, in:Kumbez 3/4-2001, S. 20.
GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />
Die zunehmende Kolonisierung führte in der kasachischen Bevölkerung zu heftigen Protesten gegen die<br />
russische Oberherrschaft und endete 1837 in einem nationalen Befreiungskampf.<br />
Um die Kolonisation Kasachstans weiter zu festigen, wurden entsprechende Reformen bezüglich der<br />
Wirtschafts- und Sozialstrukturen eingeleitet und einschneidende Gesetze verabschiedet. Den Völkern<br />
Sibiriens, Mittelasiens und Kasachstans entzog man das Wahlrecht. Zur gleichen Zeit konfiszierte der<br />
russische Staat Weiden und Wiesen, so dass Nomaden diese nicht mehr nutzen konnten. Eine Krise in<br />
der Viehhaltung war die Folge. Veränderte Steuern und Abgaben für die kolonisierten Gebiete wurden<br />
eingeführt. Die Maßnahmen, die von russischer Seite unternommen wurden, um die Kasachen zu unterwerfen<br />
und an sich zu binden, führten letztendlich dazu, dass sich enormer Widerstand der kasachischen<br />
Bevölkerung gegen die Okkupanten formierte. 5 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Kasachstan zum<br />
Zielgebiet russischer Siedler und Bauern aufgrund von Steuervergünstigungen und Landzuweisungen.<br />
Zugleich immigrierten auch politische Verfolgte und Bürgerkriegsflüchtlinge. In der Zeit zwischen 1871<br />
und 1917 kamen etwa 1,6 Mio. Immigranten. 6 Diese Einwanderungswelle hatte wachsende Konflikte<br />
zwischen der Titularnation und der europäischen Bevölkerung zur Folge. Der erste Weltkrieg verursachte<br />
in Russland eine schwere Wirtschaftskrise. Im Jahre 1916 begann ein Aufstand in Zentralasien wegen<br />
der Rekrutierung von Kasachen in Arbeitsdienste der russischen Armee. Viele Kasachen verließen in der<br />
Zeit ihr Land. Nach 1914 wurden Deutsche aus Russland und der Ukraine nach Kasachstan deportiert. 7<br />
Die Sowjetzeit 1917-1991<br />
Nach der Oktoberrevolution 1917/18 wurde die Sowjetmacht errichtet. Im Jahre 1920 wurde das Territorium<br />
der Kasachen zur "Kirgisischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik" (Kirgisische ASSR) innerhalb<br />
der RSFSR proklamiert - mit der vorläufigen Hauptstadt Orenburg. Die Bezeichnung „Kirgisisch"<br />
erklärt sich aus der Tatsache, dass die Kasachen früher von Russen als Kirgisen bezeichnet wurden. Nach<br />
den 1924/25 vorgenommenen Grenzfestlegungen in Zentralasien kamen die Gebiete Syr-Darja und Siebenstromland,<br />
die bis dahin zur Turkestanischen ASSR gehörten, zur Kirgischen ASSR dazu. 1925 erfolgte<br />
diesbezüglich eine Umbenennung in „Kasachische ASSR".<br />
Die in den 1920/30er Jahren erfolgte Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die gewaltsame Sesshaftmachung<br />
der Nomaden zerrüttete die Viehwirtschaft des Landes und führte zu einer großen Hungersnot.<br />
Zwischen 1,5 und 2 Mio. Kasachen kamen infolgedessen ums Leben, viele weitere flohen aus<br />
der Republik. 8<br />
1936 erhielt Kasachstan den Status einer Unionsrepublik. Im Jahr 1939 wurden die Verwaltungseinheiten<br />
erneut umstrukturiert, dabei entstand u.a. der Akmolinskaya Oblast. 9<br />
5 Nikolai Larin, a.a.O., (Fußn. 1), in: Wostok Kasachstan, S. 18 f.<br />
6 Marie-Carin von Gumppenberg. a.a.O., (Fußn. 2), S. 32<br />
7 Aus einem Gespräch mit A. Chikanaev (Eurasische Universität Astana, Fakultät Architektur und Design) am 18.04.2003 in Astana<br />
8 .auswaertiges-amt.de, Stand: September 2003<br />
9 Aus einem Gespräch mit A. Chikanaev (Eurasische Universität Astana, Fakultät Architektur und Design) am 18.04.2003 in Astana<br />
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GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />
Die Region um Akmola/Astana lag - wie ganz Kasachstan - während des Zweiten Weltkrieges nicht<br />
im Kampfgebiet. In den ersten Kriegsjahren wurden viele in der Sowjetunion lebende Völker, darunter<br />
Deutsche, Tschetschenen, Balkaren, Griechen, Kalmyken und Krimtataren nach Zentralasien, besonders<br />
nach Kasachstan deportiert. Tausende mussten dort unter den primitivsten Umständen leben. Ein bedeutendes<br />
Ereignis in der Geschichte Kasachstans beginnt 1954 mit der Neulanderschließung, welche die<br />
Umwandlung von Steppenzonen in landwirtschaftliche Anbaugebiete ermöglichen sollte. 10<br />
Neulanderschließung<br />
Zu Beginn der 1950er Jahre litt die sowjetische Landwirtschaft noch stark unter den Folgen des Zweiten<br />
Weltkrieges. Der Aufbau der zerstörten Wirtschaft und Technik erfolgte nur langsam, die Landwirtschaft<br />
konnte den wachsenden Nahrungsmittelbedarf der Bevölkerung nicht decken.<br />
Im Septemberplenum des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU (Kommunistischen Partei der Sowjetunion) im<br />
Jahre 1953 wurde die Vernachlässigung der Landwirtschaft erörtert und ein umfangreiches Programm<br />
zur Beseitigung der Mängel beschlossen. 11<br />
Unter Nikita Khrushchov (Erster Sekretär des ZK) wurde im Jahre 1953 die Idee der Neu- und Brachlanderschließung<br />
in Angriff genommen. Pläne dafür wurden schon unter Stalin ausgearbeitet, allerdings<br />
wegen befürchteter Bodenerosionen in deutlich bescheidenerem Umfang.<br />
Ende Februar 1954 begann das Februar-März-Plenum des ZK der KPdSU, das den Beschluss „Über die<br />
weitere Steigerung der Getreideproduktion im Lande und über die Erschließung von Neu- und Brachland"<br />
annahm. Im Rahmen dieses Beschlusses begann das Neulandprogramm in einem riesigen geographischen<br />
Raum. Sechs Hauptgebiete wurden für die Neulanderschließung ausgewählt. Diese waren:<br />
Kustanai, Nordkasachstan, Kokschetau, Turgai Pawlodar und Tselinograd, das Gebiet um das heutige<br />
Astana. Die Gesamtfläche der Gebiete betrug 600.000 km² (größer als das Territorium von Frankreich).<br />
In diesem Raum sollten nun 250.000 km² karge Steppe urbar gemacht und in landwirtschaftliche Anbauflächen<br />
umgewandelt werden. 12<br />
Die Neulandaktion entfaltete eine enorme Schubkraft – die Aufrufe zur Neulandgewinnung lösten eine<br />
gewaltige gesellschaftliche Bewegung aus. Zahlreiche Arbeiter kamen aus Russland und anderen Unionsrepubliken<br />
nach Kasachstan.<br />
Nachdem erste Erfahrungen ausgewertet und die Möglichkeiten des Landes abgewogen worden waren,<br />
nahmen im Sommer 1954 das Zentralkomitee der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR den neuen<br />
Beschluss „Über die weitere Erschließung von Neu- und Brachland zur Vergrößerung der Getreideproduktion"<br />
an.<br />
Im Februar 1956 fand der XX. Parteitag der KPdSU statt, auf dem der Erfolg bei der Neulanderschließung<br />
bekannt gegeben wurde. In zwei Jahren war die Anbaufläche der Kasachischen ASSR auf 27 Millionen<br />
Hektar erweitert worden. Das Jahr 1956 ging als die „Sternstunde" des Neulandes in die Geschichte Kasachstans<br />
und der UdSSR ein. Die Republik spezialisierte sich im Rahmen der unionsweiten Arbeitsteilung<br />
auf die Getreide-, Fleisch- und Wollproduktion. 13<br />
10 Nikolai Larin, a.a.O., (Fußn. 1), in: Wostok Kasachstan, S. 19.<br />
11 UdSSR - Landwirtschaft, 1975, S.56f.<br />
12 Leonid Breshnew: Neuland, Berlin 1979, S. 9 f.<br />
13 Leonid Breshnew. a.a.O., (Fußn. 12), S. 120 ff.
GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />
Insgesamt warf der Boden in den ersten Jahren so gute Ernten ab, dass Kasachstan die Ukraine als<br />
Kornkammer der UdSSR ablöste. Ein neues Getreidezentrum war entstanden. Es schien, als ob die Getreidefrage<br />
gelöst wäre.<br />
Trotz aller Euphorie um die Neulanderschließung wurde bald deutlich, dass die kultivierten Gebiete zu<br />
einem großen Teil zur Zone des „riskanten" Ackerbaus gehörte. Die Effizienz der Landwirtschaft wurde<br />
durch die niedrige Ertragsfähigkeit der Böden und ungünstige klimatische Bedingungen, d.h. starke<br />
Winde und geringe Niederschläge - erheblich beeinträchtigt. 14<br />
Schließlich traten Anfang der 60er Jahre die ersten Erosionsschäden auf, weil der Wind die dünne Decke<br />
des fruchtbaren Bodens wegwehte. Die Folgen wurden nicht gleich sichtbar - weiterhin wurde<br />
Land urbar gemacht. 1963 gab es aber unter dem Einfluss schlechter Witterungsverhältnisse im ganzen<br />
Land eine Missernte. Zum ersten Mal sah man sich gezwungen Getreide zu importieren. Infolgedessen<br />
musste Khrushchov 1964 zurücktreten. In der Folgezeit wurden die Neulandprogramme schrittweise<br />
dezimiert. 15<br />
Ein weiteres landwirtschaftliches Großprojekt führte zu erheblichen Umweltschäden. Seit den 1960er<br />
Jahren wurden in den wasserarmen Republiken Usbekistan und Turkmenistan Baumwollplantagen und<br />
in Kasachstan große Reisfelder angelegt. Für die Bewässerung wurde über den Karakoum-Kanal Wasser<br />
aus den wichtigen Zuflüssen des Aralsees - den Flüssen Amudarja und Syrdarja - abgeleitet. Bis heute<br />
hat der See bereits 75 % seiner Wassermenge verloren. Die Folgen sind für den Menschen, die Tier- und<br />
Pflanzenwelt verheerend. 16<br />
In der Zeit von 1964 bis 1986 stand mit Dinmukhamad Kunaev zum ersten Mal ein Kasache an der Spitze<br />
der Republikführung. Dieser wurde 1986 - auf Anlass von Gorbatschow - durch den Russen Gennady<br />
Kolbin abgelöst. Diese Entscheidung löste blutige antirussische Ausschreitungen in Alma-Ata (das heutige<br />
Almaty) aus. In den Jahren 1988/89 begannen zahlreiche informelle Gruppen und gesellschaftliche<br />
Bewegungen ihre Arbeit aufzunehmen. 1989 löste Nursultan Nazarbaev den Russen Kolbin an der Spitze<br />
der regionalen Kommunistischen Partei (KP) und der Republikführung ab.<br />
Nach der Unabhängigkeit<br />
Am 25. Oktober 1990 erklärte Kasachstan seine Souveränität innerhalb der UdSSR. Nazarbaev wurde<br />
im April 1990 vom Parlament und im Dezember 1991 von der Bevölkerung zum Staatspräsidenten gewählt.<br />
Am 16. Dezember 1991 erklärte Kasachstan als letzte zentralasiatische Republik seine staatliche<br />
Unabhängigkeit. Die erste Staatsverfassung wurde 1993 erlassen. Im Jahre 1994 fanden die ersten Parlamentswahlen<br />
nach der Unabhängigkeit statt. Kasachstan, Russland und Weißrussland unterzeichneten<br />
im Januar 1995 in Moskau einen Vertrag über eine gemeinsame Zollunion. Präsident Nazarbaev ließ<br />
zwei Monate später das Parlament auflösen, nachdem das Verfassungsgericht die Wahlen für ungültig<br />
erklärt hatte. Noch im gleichen Jahr wurde die Amtszeit Nazarbaevs bis zum Jahr 2000 per Referendum<br />
verlängert sowie die zweite Verfassung angenommen. 17<br />
14 Kanat Berentajew: Reform der Landwirtschaft noch nicht beendet, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 53.<br />
15 Heiner Karuscheit: Schwierige Agrarfrage, aus: Junge Welt vom 06.07.2002<br />
16 Nikolai Larin: Die Tragödie des Aralsees - Lösungswege, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 40 f.<br />
17 www.auswaertiges-amt.de, Kapitel: Geschichte Kasachstans<br />
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GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />
Am 10.12.1997 wurde Akmola zur neuen Hauptstadt erklärt und am 06.05.1998 in Astana umbenannt.<br />
Im Jahre 1999 erfolgte die Wiederwahl des Präsidenten Nazarbaevs für weitere sieben Jahre. Die Republik<br />
Kasachstan ist ein vollwertiges Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Zu Russland unterhält<br />
es noch immer weitreichende diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen. Heute gilt Kasachstan als<br />
das stabilste und hoffnungsvollste Land in der Region Zentralasiens. 18<br />
Autor: Simone Zühr<br />
Quelle: http://www.kasachstanprojekt.de/pdfdownload/geschichte_%20kasachstan.pdf<br />
18 Bulat Sultanow: Hoffen auf größeres Engagement seitens der EU und Deutschlands, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 6 ff.
HEIMAT IN RELIGION UND KUNST - RELIGION UND KIRCHE –<br />
BS 18<br />
Religionsausübung war seit den dreißiger Jahren in der Sowjetunion unterdrückt. Die Kirchen waren<br />
entweder zerstört oder wurden zweckentfremdet genutzt. Nur wenige Pfarrer der Russlanddeutschen<br />
hatten die Verfolgungen der dreißiger und vierziger Jahre überlebt. Gottesdienste konnten nur im Geheimen,<br />
im Familienkreis und unter großer Vorsicht abgehalten werden.<br />
1956/57 konnte Pastor Eugen Bachmann die erste evangelisch- lutherische Kirche in Zelinograd (damals<br />
noch Akmolinsk) /Kasachische SSR registrieren lassen. Diese Gemeinde wurde zum Zentrum evangelischlutherischer<br />
Gottesdienste in der Sowjetunion. Zu sonntäglichen Gottesdiensten kamen Gläubige aus<br />
dem ganzen Land. Morgens fand in der Regel ein Lesegottesdienst statt, am Nachmittag traf man sich<br />
zur Gebetsstunde. An Sonntagen wurden Taufen vollzogen und das Abendmahl abgehalten, einmal pro<br />
Jahr wurde eine Konfirmation durchgeführt. Den Lernstoff dafür mussten die Konfirmanden zu Hause<br />
einüben, da es keinen Konfirmandenunterricht gab.<br />
Bis zur Ablösung Nikita Chruschtschows als Partei- und Regierungschef im Jahr 1964 gab es keine weitere<br />
Registrierung von Kirchengemeinden.<br />
In den sechziger Jahren wurden in Kasachstan, Kirgisien und Westsibirien neue Gemeinden gegründet<br />
(Alma-Ata, Karaganda, Osengi-Oaher, Tomsk und Omsk).<br />
Zunächst illegal wirkende Gemeinden wurden registriert:<br />
1975 in Skytyvar, 1976 in Duschabe, Leninabad, Belowodskaja, Winsowchos und Kant.<br />
Einen neuen Aufschwung erlebte die evangelisch-lutherische Kirche durch die Politik der Perestroika. Der<br />
seit 1980 mit behördlicher Genehmigung amtierende Superintendent Harald Kalnins wurde 1988 in Riga<br />
zum Bischof ernannt. Seinen Angaben nach gab es 1986 490 deutschsprachige evangelisch-lutherische<br />
Gemeinden und Gruppen in der UdSSR, von denen 220 staatlich registriert waren.<br />
In den achtziger Jahren entstanden überall dort, wo Russlanddeutsche lebten, evangelisch-lutherische<br />
Gemeinden. Auch zahlreiche katholische Gemeinden, die bisher im Untergrund wirkten, wurden nun registriert.<br />
Früher zweckentfremdet genutzte Kirchen erhielten wieder ihre eigentliche Aufgabe. Beispiel:<br />
Evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Karaganda<br />
Die Kirchengemeinde zählte ca. 4000 Gläubige. Die durchschnittliche Besucherzahl bei den an Werktagen<br />
abgehaltenen Gottesdiensten belief sich auf 15 bis 20 Personen. Zu den sonntäglichen Gottesdiensten<br />
kamen 50 bis 80 Gläubige.<br />
Der Russlanddeutsche H. Römmich beschrieb einen dieser Gottesdienste folgendermaßen:<br />
"Sie treffen sich in Privathäusern. Man sitzt auf schmalen Bänken ohne Lehne, meist sehr eng. Männer<br />
und Frauen getrennt. Der Gast hat erlebt, dass zu einem Abendmahlsgottesdienst etwa 100 Personen in<br />
zwei Zimmern zu je 25 qm versammelt waren. Die Fenster waren verhängt, die Türen geschlossen…Das<br />
Abendmahl wird in der Regel zweimal im Jahr im Anschluss an den Gottesdienst gefeiert. Oft findet die<br />
Beichtversammlung am Samstag vorher statt. Bei der Kommunion treten die reformierten Gemeindemitglieder<br />
zuerst vor; sie empfangen das Brot in die Hand. Die Lutheraner empfangen die selbstgebackene<br />
Oblate, oft knieend. Auf diese Weise wird der konfessionelle Unterschied zwischen Lutheranern und<br />
Reformierten friedlich überwunden."<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch4/religion_kirche.htm<br />
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AUTONOMIEBEWEGUNG –<br />
AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19<br />
In der Autonomie sahen die Führer und Mitglieder der Gesellschaft "Wiedergeburt" das wirksamste<br />
Mittel gegen die Ausreise. Die neue Politik Michail Gorbatschows hatte die Ausreisebestimmungen erleichtert,<br />
aber an der tatsächlichen Situation der Russlanddeutschen hatte sich noch nichts verändert.<br />
Der Strom der Aussiedler aus der Sowjetunion stieg seit 1987 stark an.<br />
Schritte in der Autonomiefrage:<br />
• Am 14. November 1989 verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR eine Deklaration, in der die<br />
Deportationen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges als gesetzwidrig und verbrecherisch bewertet<br />
wurden.<br />
• Am 28. November 1989 stimmte der Nationalitätensowjet der UdSSR der Wiederherstellung der<br />
ASSR der Wolgadeutschen im Prinzip zu.<br />
• 1989 kam es daraufhin unter der jetzt im Wolgagebiet lebenden Bevölkerung zu Protesten.<br />
• 1990/91 schlug die Sowjetregierung die Schaffung einer "Assoziation" – einer Kulturautonomie<br />
ohne Territorium – vor. Aber die Mehrheit der Delegierten eines Außerordentlichen Kongresses der<br />
"Wiedergeburt" lehnte diesen Vorschlag ab.<br />
• Im Frühjahr 1991 nahm sich die Regierung der RSFSR auch der Belange der Deutschen an. Am 26.<br />
April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet ein "Gesetz zur Rehabilitierung der repressierten<br />
Völker".<br />
• Nachdem dem Zerfall der UdSSR (1991), verhinderten die neue Regierung Russlands und der neue<br />
Präsident Boris Jelzin mit einer Hinhaltepolitik die Umsetzung des Gesetzes. Jelzin nahm seine Zusage<br />
zur Wiederherstellung der Autonomen Wolgarepublik wieder zurück. Die meisten Russlanddeutschen<br />
sahen nun ihre Zukunft in der Ausreise nach Deutschland.<br />
Gründung der Gesellschaft "Wiedergeburt" 1988/1989<br />
Die Bemühungen der Russlanddeutschen um die Wiedererrichtung der autonomen Republik an der<br />
Wolga wurden zur Amtszeit Gorbatschows wieder aufgenommen. Delegationen reisten nach Moskau.<br />
Bereits 1987 begannen deutschsprachige Zeitungen Artikel zu veröffentlichen, die bislang "tabu" waren,<br />
wie z. B. über die ASSR der Wolgadeutschen, über Arbeitslager, Deportation, Autonomiebewegung oder<br />
die Beteiligung der Russlanddeutschen am Aufbau der Sowjetgesellschaft.<br />
Das Jahr 1989 war von besonders zahlreichen Aktivitäten der Autonomiebewegung geprägt. Von offizieller<br />
Seite gab es positive Signale, die auf volle Rehabilitierung und Wiederherstellung der Autonomie<br />
hoffen ließen.<br />
Die einzelnen Gruppen aktiver Russlanddeutscher schlossen sich Ende März 1989 zur "Allunionsgesellschaft<br />
der Sowjetdeutschen ‘Wiedergeburt‘ für Politik, Kultur und Bildung" – kurz "Wiedergeburt"<br />
genannt – zusammen.<br />
Anfang 1990 zählte die Gesellschaft etwa 5000 Mitglieder.<br />
Die Gesellschaft "Wiedergeburt" stellte sich folgende Ziele:<br />
• Bewahrung der Kultur, Traditionen und der deutschen Sprache,<br />
• volle Rehabilitierung der Deutschen in der Sowjetunion,<br />
• Wiederherstellung der autonomen Republik an der Wolga und der nationalen Landkreise in Gebieten<br />
mit kompakt siedelnder deutscher Bevölkerung,<br />
•<br />
völlige Glaubensfreiheit.
AUTONOMIEBEWEGUNG –<br />
AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19<br />
Bis zum Herbst 1989 gab es bereits in 70 Gebieten Untergliederungen der "Wiedergeburt". Ihr Vorsitzender<br />
Heinrich Groth wurde als Sekretär in eine Kommission des Nationalitätensowjets der UdSSR für<br />
Probleme der Deutschen berufen.<br />
Über Inhalt und Form der angestrebten Autonomie gab es unterschiedliche Auffassungen bei den Russlanddeutschen<br />
und innerhalb der Gesellschaft. Einige Mitglieder (um den stellvertretenden Vorsitzenden<br />
Hugo Wormsbecher) gaben sich mit der Autonomie ohne eigenes Territorium zufrieden, andere<br />
Mitglieder (um den Vorsitzenden Heinrich Groth) verlangten die Wolgarepublik möglichst in ihren alten<br />
Grenzen.<br />
Die unterschiedlichen Standpunkte führten nicht nur zum Bruch innerhalb der Gesellschaft "Wiedergeburt".<br />
Viele Russlanddeutsche selbst konnten sich nicht vorstellen, dass auf dem nun von anderen<br />
Bürgern des Landes bewohnten Wolgagebiet eine autonome deutsche Republik wieder errichtet werden<br />
könnte.<br />
Es kam zur Spaltung der Organisation "Wiedergeburt". Unter Leitung von H. Wormsbecher wurde 1991<br />
der "Verband der Deutschen in der UdSSR" gegründet, der später in "Zwischennationaler Verband der<br />
Deutschen in der GUS" umbenannt wurde.<br />
Die Organisation "Wiedergeburt" selbst wurde in "Zwischenstaatliche Vereinigung der Deutschen der<br />
ehemaligen UdSSR" (abgekürzt "Wiedergeburt") umbenannt. Diese Vereinigung hatte 1992 ca. 100 000<br />
Mitglieder und unterhielt in allen Staaten der GUS Zweigniederlassungen.<br />
Scheitern des Autonomieversuches 1991<br />
Im November 1991 unterzeichneten Präsident Boris Jelzin und Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn eine<br />
Gemeinsame Erklärung. Russland bekannte sich darin zur "Wiederherstellung der Republik der Deutschen<br />
in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga" und zur Schaffung und<br />
Förderung von nationalen Bezirken für die Deutschen in ihren gegenwärtigen Siedlungsgebieten.<br />
Jelzin brachte dabei das ehemalige Truppenübungsgelände um den Eltonsee als Ort der Wiederansiedlung<br />
ins Gespräch. Dieses steppenartige Gebiet liegt außerhalb der traditionellen Grenzen der ehemaligen<br />
Wolgarepublik und entsprach nicht den Vorstellungen der Vertreter der Russlanddeutschen.<br />
Entgegen der Zusagen in der Gemeinsamen Erklärung versicherte Präsident B. Jelzin anlässlich eines<br />
Besuchs 1992 im Gebiet Saratow, dass es unter seiner Präsidentschaft zu keiner Wiederherstellung der<br />
Wolgarepublik der Russlanddeutschen kommen würde.<br />
Damit wurden den Autonomiebestrebungen der Russlanddeutschen faktisch eine endgültige Absage erteilt.<br />
Die Zahl der Aussiedler stieg wieder an. Begünstigt wurde dies durch Aussagen der Bundesregierung<br />
über die Bereitschaft zur Aufnahme Ausreisewilliger.<br />
Die Gesellschaft "Wiedergeburt" forderte zwar die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />
an der Wolga. Dies sollte aber nicht zu Lasten der dort lebenden Bevölkerung geschehen.<br />
<strong>TB</strong><br />
37,2<br />
59
<strong>TB</strong><br />
37,3<br />
60<br />
AUTONOMIEBEWEGUNG –<br />
AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19<br />
Deshalb wurde in einem Appell der Gesellschaft an die nichtdeutsche Bevölkerung des Wolgagebietes<br />
versichert, dass sie durch die Wiederherstellung der Rechte der deutschen Bevölkerung keine Nachteile zu<br />
befürchten hätten. Man wolle gemeinsam ein besseres Leben aufbauen, neue Orte sollten entstehen.<br />
Die Gegner einer deutschen Autonomie organisierten zahlreiche Protestaktionen im Gebiet Saratow und<br />
in Moskau und verhinderten damit weitere Schritte zur Lösung dieser Frage. Von staatlicher Seite wurde<br />
versucht, der Forderung nach Wiederherstellung der ASSR an der Wolga durch die Orientierung auf eine<br />
Kulturautonomie der Deutschen ohne Territorium in Russland zu begegnen. Damit wurde die Forderung<br />
nach einem eigenen Territorium ausgeklammert.<br />
Zeitzeugen über die Gesellschaft "Wiedergeburt"<br />
Heinrich Dorn berichtet:<br />
"1986 bin ich ins Wolgagebiet gereist. Dort lebten noch Verwandte von uns. Ich schaute mir die Orte<br />
im Gebiet von Saratow an, wo einmal meine Eltern und Großeltern zu Hause waren. Könnte in diese<br />
Gebiete die während des Krieges deportierte deutsche Bevölkerung bzw. deren Nachkommen wieder<br />
zurückkehren und ein neues Leben entsprechend ihren kulturellen Werten aufbauen? Ich hielt das nicht<br />
für unmöglich. Die Perestroika hatte gerade erst begonnen. Die Zeit von Veränderungen war angebrochen.<br />
Starken Einfluss übten auf mich auch die Gespräche mit einem Piloten aus, den ich bei meiner<br />
Arbeit auf dem Flugplatz von Krasnojarsk kennenlernte. Er war ebenfalls deutscher Nationalität. Seine<br />
Eltern lebten schon vor der Wende in der Bundesrepublik Deutschland. Er überzeugte mich, dass Bestrebungen,<br />
die Vergangenheit in Gestalt einer Deutschen Wolgarepublik oder eines autonomen deutschen<br />
Gebietes zurückzuholen, nicht realistisch waren. Im Wolgagebiet und anderswo, wo einmal deutsche<br />
Siedlungsgebiete waren, lebte inzwischen eine russische oder ukrainische Bevölkerung. Sollte man sie<br />
aussiedeln? Das würde weiteres Unrecht und neuen Unfrieden bringen. Eine Möglichkeit, vielleicht die<br />
wirksamste, die deutsche Nationalität zu bewahren, so meinte mein Bekannter, wäre eine Übersiedlung<br />
nach Deutschland. Er wies mich darauf hin, dass es mit dem Umbruch in der Sowjetunion sicherlich<br />
möglich werde, diesen Weg zu gehen. Relativ schnell entschloss ich mich dann, als es so weit war, den<br />
Antrag auf die Übersiedlung nach Deutschland zu stellen."<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch4/autonomie_ausreise.htm
AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />
GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />
Die Situation in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS)<br />
Ute Heinen<br />
Autonomiebewegung<br />
Auszüge<br />
Seit den sechziger Jahren kämpfte die deutsche Autonomiebewegung für die Rehabilitierung der Russlanddeutschen.<br />
Ziel war die Wiederherstellung ihrer am 28. August 1941 im Sinne der sowjetischen<br />
Verfassung von 1936 widerrechtlich aufgelösten Republik an der Wolga. Mit ihrer Wiedereinrichtung<br />
verbanden die Russlanddeutschen die Schaffung eines politischen, kulturellen und wissenschaftlichen<br />
Zentrums für in der gesamten ehemaligen UdSSR lebende Deutsche als eine wesentliche Voraussetzung<br />
für den Erhalt der Volksgruppe, ihrer Sprache und Identität (vgl. hierzu auch S. 20 ff.). Die Wiederherstellung<br />
dieser Republik an der Wolga ist bis heute ein Kristallisationspunkt für Angehörige der deutschen<br />
Minderheiten, unabhängig von ihrer aktuellen Staatszugehörigkeit. Auch die Bundesrepublik Deutschland<br />
misst der vollen Rehabilitierung der Russlanddeutschen hohe Bedeutung bei.<br />
Am 26. April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet der Russländischen Föderation ein Gesetz „Über<br />
die Rehabilitierung der repressierten Völker“, das auch die Wiederherstellung der während des Zweiten<br />
Weltkrieges aufgelösten Autonomen Republiken und Gebiete vorsah. Die Umsetzung des Gesetzes wurde<br />
jedoch ausgesetzt und bis heute nicht vollzogen. Dies wird durch die Verfassung vom 12. Dezember<br />
1993 untermauert, die insofern neue Tatsachen schuf, als Grenzen zwischen den Subjekten der Föderation<br />
nur in gegenseitigem Einvernehmen geändert werden können.<br />
Scheitern der Wolgarepublik<br />
Im November 1991 unterzeichneten der ehemalige Präsident Boris Jelzin und der damalige Bundeskanzler<br />
Helmut Kohl eine Gemeinsame Erklärung, in der auch der Punkt der Wiedererrichtung der Wolgarepublik<br />
enthalten war. Insbesondere drei Faktoren machten das Projekt zunichte:<br />
•<br />
•<br />
•<br />
Das Angebot eines steppenartigen Geländes am Eltonsee, das außerhalb der traditionellen Grenzen<br />
der Wolgarepublik liegt und früher als Militärversuchsgelände gedient hatte, als Ort der<br />
Wiederansiedlung,<br />
das Moratorium des Obersten Sowjets der Russländischen Föderation vom Dezember 1991, das<br />
Gebietsveränderungen für die Dauer von fünf Jahren untersagte sowie<br />
Proteste der in den Siedlungsgebieten an der Wolga mittlerweile ansässigen russischen Bevölkerung.<br />
Im Januar 1992 distanzierte sich Präsident Jelzin sichtlich von seiner kurz zuvor gegebenen Zusage.<br />
Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages reagierte, indem er die für den Wiederaufbau der<br />
Wolgarepublik für das Haushaltsjahr 1992 bereit gestellten 50 Millionen DM sperrte. Die Mittel sollten,<br />
so war es mit dem Vorsitzenden des Staatskomitees für Nationalitätenpolitik Leonid Prokopjew und den<br />
Gebietsverwaltungen abgestimmt, vor allem der Bevölkerung jener Landkreise zugute kommen, die zur<br />
Wolgarepublik gehört hatten.<br />
<strong>TB</strong><br />
38,1<br />
61
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38,2<br />
62<br />
AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />
GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />
Im Sommer 1992 wurden neue Hoffnungen genährt. Am 23. April 1992 unterzeichneten der damalige<br />
Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen Horst Waffenschmidt (MdB) und für die Russische<br />
Regierung Minister Valerij Tischkow das „Protokoll über die Zusammenarbeit zur stufenweisen Wiederherstellung<br />
der Staatlichkeit der Russlanddeutschen“.<br />
In einem ersten Schritt sollte nach einem Erlass von Präsident Jelzin vom 21. Februar 1992 im Gebiet<br />
Saratow ein erster deutscher Landkreis an der Wolga ausgebaut werden (das Vorhaben war zu diesem<br />
Zeitpunkt jedoch durch das Moratorium über Gebietsveränderungen nicht realisierbar). Ihm sollte im Gebiet<br />
Wolgograd ein Okrug (Bezirk, dessen Einwohner überwiegend einer Minderheit angehören) folgen.<br />
Umgesetzt wurde das Vorhaben indes nicht. Lediglich in den Orten Bogdaschkino und in Galki, die beide<br />
im Gebiet Wolgograd liegen, konnte je ein deutscher Gemeinderat eingesetzt werden.<br />
In den verschiedenen Regionen und Staaten mündete die Diskussion um die Autonomie und die Taktik<br />
der russischen Regierung in wenig konkrete Überlegungen, Russlanddeutsche zum Beispiel in Kaliningrad,<br />
auf der Krim und in Jekaterinenburg anzusiedeln. In diese Zeit fällt auch das Angebot des damaligen<br />
ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk vom 23. Januar 1992, in dem er 400000 Deutschen<br />
aus Sibirien, Kasachstan und Mittelasien die Ansiedlung in der Ukraine in Aussicht stellte.<br />
Kulturautonomie<br />
1996 beschloss die russische Regierung die Kulturautonomie als Lösung der Nationalitätenfrage. Am<br />
19./20. Dezember 1997 wurde die Konstituierung einer „Nationalkulturellen Autonomie“ der Russlanddeutschen<br />
in Gang gesetzt. Die Kulturautonomie beinhaltet die Gewährung größerer kultureller<br />
Selbstbestimmung in eigenen Bildungs- und Kultureinrichtungen, jedoch ohne ein eigenes Territorium.<br />
Das „Programm für die Entwicklung der sozial-ökonomischen und kulturellen Basis für die ,Wiedergeburt'<br />
der Russlanddeutschen für die Jahre 1997 bis 2006“ im August 1997 sieht eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen<br />
in 21 Republiken, Regionen und Gebieten Russlands vor. „Zur Finanzierung sollen Mittel<br />
aus dem Haushalt Russlands und der beteiligten Regionen und Gebiete sowie Mittel aus Deutschland<br />
eingesetzt werden. In den in Aussicht genommenen zehn Jahren würde es möglich sein, über 100000<br />
Umsiedler vor allem aus GUS-Republiken aufzunehmen, über 22000 Arbeitsplätze zu schaffen und circa<br />
1470000 Hektar Land zu bewirtschaften“ (Eisfeld 1999). Am 19./20. Dezember 1997 fand in Moskau<br />
der Gründungskongress der föderalen Kulturautonomie statt, unter dessen Dach die lokalen Kulturautonomien<br />
zusammengefasst werden sollen.<br />
Die Erwartungen der deutschen Minderheit an die Kulturautonomie waren gespalten. Einerseits wurden<br />
neue Impulse zur Stabilisierung der Minderheitensituation durch den Ausbau der deutschen Sprache<br />
und Kultur erwartet. Andererseits kritisierte zum Beispiel Alexander Fahrenbruch (damaliger Vorsitzender<br />
der „Wiedergeburt“ in der Russländischen Föderation) die rechtliche und finanzielle Basis der Kulturautonomie:<br />
„Das Gesetz über die nationale Kulturautonomie sieht die Schaffung einer gesellschaftlichen<br />
Struktur vor, die direkt in das staatliche System eingebunden ist. Und nicht zu vergessen die Finanzierung<br />
durch den Staat, die dem Gesetz nach möglich ist – sie kann funktionieren oder auch nicht, ist also völlig<br />
vom Staat [...] abhängig“ (Neues Leben, 23. Dezember 1996). In einer gemeinsamen Erklärung betonten<br />
elf russlanddeutsche Verbände, dass die Kulturautonomie in keiner Weise die Frage einer territorialen<br />
Autonomie löse, sahen sie aber als Ansatzpunkt für weitere Schritte an.
AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />
GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />
In den ersten Jahren ihres Bestehens (bis Mitte 2000) konnte die Kulturautonomie insgesamt betrachtet<br />
die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Eine Ursache dafür sind Konflikte zwischen den russlanddeutschen<br />
Verbänden und russischen Stellen. Im Programm selbst liegende Ungereimtheiten, wie zum<br />
Beispiel die Möglichkeit mehrerer Kulturautonomien auf einem Territorium, waren eine weitere Ursache.<br />
Im Ergebnis wurden die Möglichkeiten zur Initiierung von Projekten nicht nachhaltig genutzt. Sowohl<br />
die russische Regierung als auch die deutsche Regierung, welche die Kulturautonomie grundsätzlich<br />
begrüßt, hielten sich in der Finanzierungsfrage zurück.<br />
Im Dezember 1999 wurde der neu gewählten Duma der Russländischen Föderation der Entwurf eines<br />
Föderalen Gesetzes „Rehabilitierung der Russlanddeutschen“ vorgelegt. Der Gesetzentwurf sieht auch<br />
die territoriale Rehabilitierung durch die Schaffung kompakter Siedlungsgebiete in national territorialen<br />
Einheiten mit lokaler Selbstverwaltung vor. Von einer Wiedererrichtung der Wolgarepublik in ihren<br />
territorialen Grenzen ist dagegen nicht die Rede. Eine Verabschiedung des Gesetzes ist derzeit nicht in<br />
Sicht.<br />
Nationale Rayons in Westsibirien<br />
Die Deutschen Nationalen Rayons (ein Rayon entspricht einem Landkreis) Halbstadt in der Altai-Region<br />
und Asowo bei Omsk sind die einzigen Verwaltungseinheiten mit größeren Selbstbestimmungsmöglichkeiten<br />
für die Russlanddeutschen, die auf dem Gebiet der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion<br />
bis zum Jahr 2000 wieder eingerichtet wurden.<br />
Die Gesellschaft „Wiedergeburt“ arrangierte sich mit der Entwicklung. Sie sah in den Rayons eine<br />
Gefahr für ihr übergeordnetes Ziel der territorialen Rehabilitierung an der Wolga, die damals, 1991/92,<br />
erreichbar schien. Andere sahen in den Rayons den ersten wichtigen Schritt zum Ziel. Für die Bundesregierung<br />
stand der Ausbau der Rayons seit ihrer Gründung im Mittelpunkt der Förderung.<br />
Erste Siedlungsgründungen in Westsibirien durch Deutsche hatte es im Rahmen der russischen Sibirienbesiedlungspolitik<br />
bereits Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts gegeben. 1927 war der Rayon<br />
Halbstadt entstanden, wurde aber wie alle deutschen Rayons im Jahr 1938 aufgelöst. Die Bevölkerung<br />
entging jedoch der Deportation. Daher verfügte die Region 1991 über einen hohen Prozentsatz an alteingesessener<br />
russlanddeutscher Bevölkerung. Dorfgemeinschaften und ein weitgehend deutsch geprägtes<br />
kulturelles Umfeld konnten sich lokal erhalten.<br />
Halbstadt<br />
Am 1. Juli 1991 wurde der Deutsche Nationale Rayon Halbstadt wieder eingerichtet. Als Hauptort wurde<br />
Halbstadt bestimmt. Der Rayon liegt in der Nähe von Slawgorod. Er wurde durch den Zusammenschluss<br />
von 16 Dörfern mit insgesamt 20700 Einwohnern, davon 18600 Deutschen, erreicht. 1998/99 lebten im<br />
Gebiet des Rayons und in der Stadt Slawgorod circa 39000 Russlanddeutsche.<br />
Im Mai 1993 wurde die „Entwicklungsgesellschaft Halbstadt“ mit Sitz in Schumanowka gegründet, die<br />
den Aufbau des Rayons koordiniert und die Projekte verwaltet. In ihr zusammengeschlossen sind als<br />
Gesellschafter die GTZ und als örtliche Trägerin die „Brücke GmbH“.<br />
<strong>TB</strong><br />
38,3<br />
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38,4<br />
64<br />
AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />
GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />
Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation beinhaltete das Förderkonzept auch Infrastrukturmaßnahmen,<br />
wie den Aufbau der Rayonverwaltung, den Wohnungsbau und die Ansiedlung von<br />
Gewerbebetrieben. Ziel war es auch, Aussiedler aus anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion<br />
aufnehmen zu können.<br />
Zu den Maßnahmen zählen Ausbau und Ausrüstungshilfe für drei Molkereien, von zwei Schlachthöfen,<br />
einer Bäckerei und einer Straßenmeisterei und eines Bauhofs. Mit der Inbetriebnahme einer modernen<br />
Fleischverarbeitungsfabrik wurde das Wirtschaftsprogramm 1998 weitgehend abgeschlossen. Über die<br />
„Brücke GmbH“ fließen die Reingewinne der mit deutscher Hilfe errichteten Betriebe zu einem Teil in<br />
einen Sozialfonds, aus dem soziale Leistungen finanziert werden. Die Einwohner der Rayons können<br />
deutsche Kredite zum Bau von Häusern oder für den Aufbau einer beruflichen Existenz in Anspruch nehmen.<br />
Daneben wird durch die Förderung von Sprachunterricht in Kindergärten und Schulen, kulturellen<br />
Aktivitäten oder Medien eine umfangreiche Unterstützung auf kulturellem Gebiet gewährt. Im Rahmen<br />
medizinischer Hilfen wurde ein neues Krankenhaus ausgestattet. Zum Zeitpunkt seiner Gründung waren<br />
85 Prozent aller Arbeitsplätze der Landwirtschaft zuzurechnen. Die Neusiedler kamen dagegen zu einem<br />
großen Teil aus Städten und brachten keine entsprechende Qualifikation mit.<br />
Dies hatte einen Rückgang der landwirtschaftlichen Arbeitsplätze auf 65 Prozent zur Folge. Jedoch wurden<br />
in allen Bereichen bis Ende 1997 etwa 800 Arbeitsplätze neu geschaffen, das sind zehn Prozent aller<br />
Arbeitsplätze des Kreises. 200 davon entstanden im verarbeitenden Gewerbe, weitere 80 sollen in der<br />
Fleischfabrik entstehen.<br />
Dennoch liegt ein zentrales Problem des Rayons in der hohen Fluktuation. Wie alle Siedlungsgebiete in<br />
der ehemaligen Sowjetunion wurde auch das Rayongebiet von der Ausreisewelle erfasst. So wanderte<br />
ein großer Teil der alteingesessenen Bevölkerung, insbesondere fast alle Mennoniten, ab. 1996 lebten<br />
nur noch circa 40 Prozent der alteingesessenen Bevölkerung von 1992 im Rayon. Die Abwanderung wird<br />
durch Neusiedler (darunter auch russische Familien) kompensiert, die überwiegend aus Kasachstan und<br />
Kirgisistan kommen. Jährlich erfolgt ein Bevölkerungsaustausch von circa 15 Prozent bei gleich bleibender<br />
Gesamtbevölkerung des Rayons. Die Anteile der deutschen Bevölkerung schwankten 1996 in den<br />
einzelnen Ortschaften zwischen 28 Prozent und bis zu 88 Prozent (Klaube, 1997).<br />
Die Fluktuation zeigt Wirkung auf kulturellem Gebiet. Das Bundesministerium des Innern beschreibt die<br />
Situation in ihrer Informationsschrift „Deutscher nationaler Rayon Halbstadt nach fünf Jahren“ wie folgt:<br />
„Aufgrund der anhaltenden Migration unterliegt die nationale Zusammensetzung des Rayons Halbstadt<br />
einem ständigen Wandel, der sich auch auf die Pflege der deutschen Sprache und Kultur auswirkt. Zwar<br />
findet sich unter den Neuankömmlingen aus Kasachstan, Kirgisistan und anderen Republiken der ehemaligen<br />
Sowjetunion ein hoher Prozentanteil von Deutschstämmigen, doch die meisten von ihnen sind seit<br />
einer oder mehreren Generationen kulturell assimiliert und nicht mehr gewohnt, die eigene Muttersprache<br />
zu gebrauchen. Obwohl viele Kulturträger und Personen in fast allen Ortschaften daran mitwirken,<br />
der deutschen Sprache ihren traditionellen Stellenwert im Rayon zu erhalten, bedarf es dennoch weiterer<br />
Initiativen.“ Diese zielen mehr denn je darauf ab, das Neben- und Miteinander der russischen und der<br />
deutschen Kultur zu festigen.
AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />
GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />
Im April 1999 wurde in Gesprächen des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung Jochen Welt und<br />
der politischen Vertretung des Altaiskij Kraj vereinbart, die Förderung über den Rayons hinaus auf den<br />
gesamten Altaijski Kraj auszudehnen. Ein Kraj ist eine Region mit einer starken Minderheit und besonderen<br />
Kompetenzen auf kulturellem Gebiet. Damit werden etwa 150000 Russlanddeutsche erreicht.<br />
Asowo<br />
Der Rayon Asowo bei Omsk wurde nach überwältigender Zustimmung der Bevölkerung in einem Referendum<br />
am 17. Februar 1992 durch die Zusammenlegung von acht Gemeinden. Zum Verwaltungszentrum<br />
wurde das Dorf Asowo bestimmt.<br />
Die Lage des Rayons in einem Gebiet mit rund 100.000 Deutschen machte ihn schnell zu einem Anziehungspunkt<br />
für Neusiedler aus Mittelasien und Kasachstan. Dabei verfolgte der Rayon Asowo eine von<br />
Halbstadt abweichende Ansiedlungspolitik. Während in Halbstadt Neusiedler nur in dem Maße aufgenommen<br />
wurden, wie Wohnraum und Arbeitsplätze vorhanden waren, gab es in Asowo keine derartige<br />
Beschränkung. Mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland wurden Wohncontainer als<br />
Übergangsunterkünfte aufgestellt. Als problematisch erwies sich bei diesem Vorgehen jedoch, dass die<br />
Schaffung von Arbeitsplätzen durch die russischen Behörden nicht mit dem Zuzug der Neusiedler Schritt<br />
hielt. So wurden Arbeitslosigkeit und Mangel an Wohnraum, der trotz umfangreicher Bautätigkeit und<br />
der Vergabe von Krediten zum Wohnungserwerb noch nicht bewältigt werden konnte, zum Problem.<br />
Deshalb ist es nicht selten, dass Familien mehrere Jahre in Containern leben.<br />
Zu den mit deutscher Hilfe durchgeführten Maßnahmen zählten auch große Infrastrukturprojekte wie<br />
Straßenbau sowie die Strom- und Wasserversorgung. Die wirtschaftliche Entwicklung des Rayons blieb<br />
hinter den Erwartungen zurück, so dass der Kreishaushalt fünf Jahre nach der Gründung des Rayons<br />
defizitär war. Die Industrieproduktion sank von 1995 bis 1996 auf 93,6 Prozent, die Produktion von<br />
Konsumwaren auf 77 Prozent und die der Nahrungsmittel auf 72,3 Prozent. Ebenso rückläufig waren<br />
Ackerbau und Viehzucht, wie „Ihre Zeitung“, die wöchentlich erscheinende Zeitung des Rayons, in ihrer<br />
Ausgabe Nr. 15/1997 berichtet. Erfolge sind dagegen auf kulturellem Gebiet und bei der Versorgung der<br />
Bevölkerung mit medizinischen Einrichtungen zu verzeichnen.<br />
Auch im Landkreis Asowo gibt es eine starke Fluktuation. Insbesondere durch Zuwanderer, die in national<br />
gemischten Ehen leben, verändert sich die Bevölkerungsstruktur. Waren 1992 noch 63 Prozent der<br />
Einwohner Deutsche, sank ihr Anteil bis Januar 1998 nach Angaben von Landrat Bruno Reiter auf circa<br />
50 Prozent.<br />
Die Entscheidung der neuen Bundesregierung, zugunsten einer Breitenförderung in den Bereichen<br />
Sprache, Kultur und Bildung nicht weiter an Großprojekten festzuhalten, betrifft auch die beiden Rayons.<br />
So soll in Asowo der Bau einer Ziegelei zu einem verträglichen Abschluss gebracht werden. Wirtschaftliche<br />
und Existenzgründungsbeihilfen werden nur auf dem Weg der Kreditvergabe erfolgen.<br />
Quelle: http://www.bpb.de/publikationen<br />
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38,5<br />
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39,1<br />
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DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />
Auszüge<br />
20 Jahre Perestroika<br />
Aus Anlass des Jubiläums zeigte PHOENIX am 06. Juli 2005 ab 14.45 Uhr die Festveranstaltung des Petersburger<br />
Dialogs. Gäste sind u.a. der ehemalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow und<br />
der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.<br />
Am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Es war der<br />
Beginn einer neuen politischen Entwicklung, die grundlegenden Einfluss auf unsere heutige Weltordnung<br />
haben sollte.<br />
Glasnost und Perestroika<br />
Zwei Leitbegriffe prägen die 1985 von Michail Gorbatschow eingeführte Reformpolitik: Perestroika und<br />
Glasnost. Mit ihrer Verkündung will der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion<br />
(KPdSU) einschneidende Veränderungen innerhalb der kommunistischen Ordnung durchsetzen.<br />
Beide Begriffe werden in den internationalen Sprachgebrauch eingehen.<br />
Umbau und Offenheit<br />
„Perestroika“, der russische Ausdruck für „Umbau“ beschreibt den wirtschaftlichen Aspekt der Reformen.<br />
Entscheidungsprozesse in der Wirtschaft sollen für die Bürger transparenter gemacht und ihre<br />
Mitbestimmungsrechte ausgeweitet werden. Handel und Industrie sollen vorangetrieben werden und<br />
die Betriebe mehr Selbständigkeit erhalten.<br />
Zitat: „Die Umgestaltung ist kein Spaziergang auf einem planierten Weg. Es ist die Besteigung eines Berges,<br />
häufig auf Pfaden, die noch nie jemand begangen hat.“ (Michail Gorbatschow im Januar 1987)<br />
Die einhergehende gesellschaftliche Öffnung der UdSSR wird als „Glasnost“ (russ.: Offenheit) bezeichnet.<br />
Sie steht für die Einführung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit. Glasnost soll den<br />
Bürgern eine gewisse öffentliche Kontrolle über den Partei- und Staatsapparat ermöglichen und helfen,<br />
die beabsichtigten Reformen durchzusetzen.<br />
Demokratie und Veränderung im bestehenden System<br />
Gorbatschow will das kommunistische System nicht abschaffen, sondern erneuern, es im Innern demokratisieren.<br />
Er fordert betriebliches Mitbestimmungsrecht in den Belegschaften und Eigentum an Produktionsmitteln<br />
im Sinne der freien Marktwirtschaft. Die Produktion soll sich stärker an der Nachfrage<br />
orientieren und ein demokratisches Wahlsystem die totalitären Machtstrukturen aufweichen.<br />
Die Sinatra-Doktrin<br />
In Anspielung auf dessen Lied „My Way“ wurde die Doktrin nach Frank Sinatra benannt. Der Name<br />
der Doktrin betonte, dass die Warschauer Pakt-Staaten von nun an ihren Weg gehen konnten, sie Souveränität<br />
in inneren Angelegenheiten erlangten und politische, wirtschaftliche und soziale Reformen<br />
durchführen konnten. Die bis zu diesem Zeitpunkt gültige Breschnew-Doktrin, welche die sozialistischen<br />
Staaten unter die Kontrolle und Bevormundung Moskaus gestellt hatte, wurde von der Sinatra-Doktrin<br />
abgelöst.<br />
Außenpolitischer Wandel<br />
Zu Gorbatschows wichtigsten Zielen gehört die Verbesserung der internationalen Beziehungen, vor allem<br />
die Entspannung zwischen Ost und West. 1986 erklären Gorbatschow, der seit 1985 auch Vorsitzender<br />
des Nationalen Verteidigungsrates der UdSSR ist, und US-Präsident Ronald Reagan ihren Willen zur<br />
Abrüstung.
DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />
Im folgenden Jahr unterzeichnen beide den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty). Dieser<br />
sieht den Abbau aller nuklearen Mittelstreckenraketen vor.<br />
1989 ermöglicht es Gorbatschows so genannte Sinatra-Doktrin den Warschauer Pakt-Staaten ihre inneren<br />
Angelegenheiten souverän zu regeln. Sie führt letztendlich zum Fall der Mauer und zum Ende des<br />
Kalten Krieges.<br />
Im folgenden Jahr wird Michail Gorbatschow der erste gewählte Präsident der Sowjetunion. Er verkündet<br />
das Ende des Warschauer Paktes und zieht die in der DDR, Polen, Tschechoslowakei und Ungarn stationierten<br />
Sowjet-Truppen ab.<br />
Mit Präsident Reagan verhandelt er über den beidseitigen Abbau von Atomwaffen. Im START-Vertrag<br />
(Strategic Arms Reduction Treaty) einigen sie sich 1991 auf den 50prozentigen Abbau der strategischen<br />
Atomwaffen. Im selben Jahr wird Gorbatschow für seine Bemühungen im Abrüstungsprozess und die<br />
Auflösung des Warschauer Paktes mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.<br />
Das Ende der Sowjetunion<br />
Konservative, reformfeindliche Kräfte versuchen im August 1991 Gorbatschow zu stürzen. Sie wollen die<br />
UdSSR und die Macht der KPdSU erhalten. Der Putschversuch scheitert jedoch, nicht zuletzt, weil Boris<br />
Jelzin, damaliger Parlamentspräsident Russlands, sich öffentlich gegen den Aufstand ausspricht. Das<br />
mangelnde Konzept und der Widerstand der Bevölkerung tun ein Übriges.<br />
Dennoch hat der Putsch weit reichende Konsequenzen. Boris Jelzin beansprucht in Folge des Aufstandes<br />
die Staatsgewalt. Gorbatschows Einfluss ist durch den Putsch und Jelzins Machtdemonstration geschwunden.<br />
Gorbatschow reagiert. Er vereinbart mit Jelzin die Auflösung der UdSSR zum 21. Dezember<br />
1991.<br />
Mit der anschließenden Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) „stirbt“ die UdSSR.<br />
Gorbatschow tritt am 25. Dezember von seinem Amt als deren Präsident zurück. Russland wird Rechtsnachfolger<br />
der UdSSR.<br />
Nicht die Perestroika, der Umbau der Sowjetunion, hatte stattgefunden, sondern ihr Zerfall. Für die internationalen<br />
Beziehungen und die Weltordnung waren Gorbatschows Reformen dennoch ein großer<br />
Erfolg: Sie trugen maßgeblich zur Entspannung zwischen Ost und West bei, beendeten den Kalten Krieg<br />
und legten den Grundstein zur Wiedervereinigung Deutschlands.<br />
Inga Schwer, PHOENIX.online<br />
Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch4/perestroika_glasnost.htm<br />
Perestroika, Glasnost und die Russlanddeutschen<br />
Perestroika und Glasnost, die mit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und<br />
Ministerpräsidenten der UdSSR 1985 eingeleitete Politik, brachten den Russlanddeutschen positive<br />
Veränderungen.<br />
Für seine Bestrebungen, das gesellschaftliche Leben in der UdSSR zu demokratisieren und die Wirtschaftskraft<br />
zu erhöhen, suchte er Akzeptanz und Unterstützung der eigenen Bevölkerung und der<br />
westlichen Welt.<br />
Den Russlanddeutschen wurden Zugeständnisse gemacht. Im Zuge innenpolitischer Veränderungen<br />
konnten nun auch bisherige Tabuthemen aus der Geschichte der Russlanddeutschen wie Deportation,<br />
Arbeitslager oder Autonomiebewegung öffentlich diskutiert werden.<br />
Russlanddeutschen entfalteten rege Aktivitäten in allen Bereichen des kulturellen Lebens, wobei sie die<br />
Probleme des Schulwesens (Mangel an Lehrbüchern und Arbeitsmaterialien, ausgebildeten Lehrkräften<br />
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39,2<br />
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39,3<br />
68<br />
DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />
für den Deutschunterricht) aber nicht überwinden konnten.<br />
Die Entspannungspolitik Gorbatschows machte schließlich die Übersiedlung vieler Russlanddeutscher in<br />
die BRD erst möglich.<br />
1986 wurden die Ausreisebestimmungen liberalisiert und ein ganzes Paket von Maßnahmen für die<br />
Russlanddeutschen 1986 beschlossen.<br />
Einige Vertreter der Russlanddeutschen griffen die Autonomiebestrebungen wieder auf, wobei sie die<br />
frühere Wolgarepublik vor Augen hatten. Auch dieses Thema konnte nun öffentlich diskutiert werden.<br />
Im Zuge der dabei in Gang gekommenen Diskussion wurde im März 1989 die Gesellschaft "Wiedergeburt"<br />
gegründet.<br />
Das Scheitern der Perestroika und der Zerfall der UdSSR Ende 1991bedeuteten auch das Scheitern der<br />
Autonomiebewegung. Lediglich zwei deutsche Landkreise (Rayons) wurden gebildet: Halbstadt und<br />
Asowo.<br />
Diese Entwicklung ließ die Zahl der Aussiedler erneut in die Höhe schnellen.<br />
Maßnahmen für Russlanddeutsche (1986)<br />
1990 antwortete der damalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow auf die Frage nach der<br />
Situation der Russlanddeutschen:<br />
"Die Sowjetdeutschen werden aus vielen Gründen sehr geschätzt, und niemand will, dass sie das Land<br />
verlassen. Wo immer heute Deutsche in der Sowjetunion leben, möchten ihre Mitbürger sie als Nachbarn<br />
behalten und sind besorgt, dass sie in andere Regionen unseres Landes umsiedeln könnten…"<br />
Um die Deutschen zum Bleiben in der Sowjetunion zu bewegen, wurden in der zweiten Hälfte der achtziger<br />
Jahre eine Reihe staatlicher Maßnahmen ergriffen.<br />
Ein wichtiger Punkt betraf den Muttersprachenunterricht. Dafür wurde 1986 ein "Pogramm für den muttersprachlichen<br />
Deutsch- und Literaturunterricht in den Klassen 5 bis 11" neu erarbeitet. Das Ansehen<br />
von Institutionen und Kultureinrichtungen der deutschen Minderheit sollte erhöht werden.<br />
Das kirchliche Leben verbunden mit der legalen Etablierung von evangelisch-lutherischen und katholischen<br />
Gemeinden bekam unter der Politik von Glasnost und Perestroika einen neuen Aufschwung.<br />
Muttersprachenunterricht<br />
Die Situation des muttersprachlichen Deutschunterrichts in Kasachstan in jener Zeit wird von D. Friesen<br />
(von 1960-63 Schulinspektor im Bildungsministerium Kasachstans für den fremd- bzw. muttersprachlichen<br />
Deutschunterricht) folgendermaßen geschildert:<br />
"[Es] bestand der größte Mangel damals (und besteht heute noch) darin, daß die Schulen, die Bildungsämter<br />
sowie die örtlichen Partei- und Sowjetorgane die Bedeutung, die das Erlernen der deutschen<br />
Muttersprache mit sich bringt, unterschätzen und diesbezüglich keine genügende Aufklärungsarbeit<br />
leisten. Es fehlte und fehlt die materielle Basis: Programme, entsprechende Lehrbücher, methodische<br />
Hilfs-, Anschauungs- und technische Unterrichtsmittel. Besonders große Schwierigkeiten bereitete aber<br />
das Fehlen fachkundiger Lehrkräfte.<br />
In vielen Achtklassen- und Mittelschulen der Republik wurde im Schuljahr 1957-1958 sogar das Fach<br />
Fremdsprache nicht unterrichtet, denn es gab dafür einfach keine Lehrer".
DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />
Neue Ausreisebestimmungen<br />
Bereits 1957 lagen den sowjetischen Behörden ca. 80.000 bis 100.000 Ausreiseanträge von Russlanddeutschen<br />
vor. Am 16. August 1958 durften die ersten 1.000 Deutschen vorwiegend aus Gründen der<br />
Familienzusammenführung ausreisen.<br />
Aber die sowjetischen Behörden entschieden über Genehmigung oder Ablehnung willkürlich. Dabei<br />
spielte der aktuelle Stand der Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD immer eine wesentliche<br />
Rolle.<br />
Anfang der siebziger Jahre war es zu verstärkten Ausreiseforderungen gekommen, auf die die Behörden<br />
hart reagierten. Die Zahl der Ausreisegenehmigungen ging zurück. In dieser Zeit gelangten Russlanddeutsche,<br />
deren Ausreiseanträge abgelehnt worden waren, zum Teil über die baltischen und die Moldauische<br />
Sowjetrepubliken ins westliche Ausland. Die Behörden handhabten hier die Ausreiseanträge weniger<br />
streng. Anfang der achtziger Jahre gelang es aber weniger als 1.000 Personen pro Jahr, die Sowjetunion<br />
auf diesem Wege zu verlassen.<br />
Nach Gorbatschows Machtantritt 1985 wurden die Ausreiseanträge liberaler gehandhabt, dadurch stieg<br />
die Zahl der Aussiedler von Jahr zu Jahr. Am 28. August 1987 wurde das "Gesetz über Ein- und Ausreise"<br />
verabschiedet. Es kam nun zu einem enormen Anstieg der Ausreisebewilligungen in die BRD.<br />
Im Oktober 1989 bewilligte der Oberste Sowjet dazu ein Reisegesetz, das das Recht auf freie Ausreise<br />
anerkannte und nicht nur zum Zweck einer Familienzusammenführung zuließ. Im Mai 1991 wurde das<br />
Gesetz unter dem neuen Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, bestätigt und ab 1. Januar 1993 in Kraft<br />
gesetzt.<br />
Quelle: http://www.phoenix.de/27442.htm<br />
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39,4<br />
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40,1<br />
70<br />
HEIMAT, WO BIST DU? – BS 21<br />
Verantwortung für die Schicksalsgemeinschaft der Russlanddeutschen<br />
Im April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet der Russischen Sowjetrepublik ein Gesetz „Über die<br />
Rehabilitierung der repressierten Völker“, das nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Rechtsbestand<br />
der Russischen Förderation übernommen wurde und zur Aufarbeitung von Unrechtsakten aufforderte,<br />
die der sowjetische Staat gegen bestimmte Nationalitäten seines Staatsgebietes ausgeübt hatte. Durch<br />
die Überwindung der Folgen früherer Willkür gegen eigene Völkerschaften sollten Grundlagen für zukünftige<br />
gerechte und stabile interethnische Beziehungen in Russland gelegt werden.<br />
Zu den Betroffenen der aufzuarbeitenden national motivierten Diskriminierung und Entrechtung gehören<br />
die Deutschen, die sich als Russlanddeutsche (Sowjetdeutsche) im Laufe von über 250 Jahren beträchtliche<br />
Verdienste um Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Staatsaufbau des Landes erworben hatten und<br />
dennoch besonderen Repressionen ausgesetzt waren.<br />
Das Anliegen dieser Gesetzgebung ist bisher nur teilweise eingelöst.<br />
Inzwischen liegt der russischen Duma bereits die neunte Version eines Gesetzes zur Rehabilitierung der<br />
Russlanddeutschen vor. Das russische Parlament tut sich mit einer Entscheidung zugunsten der deutschen<br />
Volksgruppe schwer, die vor allem nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion zu unschuldigen und wehrlosen<br />
Opfern von Stalins Rache wurde - einer Rache, die er wahllos an allen übte, die im sowjetischen<br />
Pass den Eintrag der deutschen Nationalität trugen.<br />
So notwendig uns eine gesetzliche Rehabilitierung der Russlanddeutschen erscheinen mag, der deutsche<br />
Staat kann auf den russischen Gesetzgeber kaum Einfluss nehmen. Während aber das russische Parlament<br />
um Rehabilitierung für die Russlanddeutschen ringt, muss sich die deutsche Politik kritisch die Frage<br />
stellen, ob sie die Aufgabe noch ernst nimmt, das schwere Kriegsfolgenschicksal dieser Deutschen in den<br />
Nachfolgestaaten der Sowjetunion überwinden zu helfen.<br />
Gewiss, es hat in diesem Zusammenhang beachtliche Leistungen zur Verbesserung der Lebenssituation<br />
gegeben, um den Bleibewillen der Deutschen in den Herkunftsgebieten zu stärken. Man mag zu Recht<br />
auf die Aufnahme und Unterstützung der Spätaussiedler verweisen, die zur erfolgreichen Integration<br />
von über 2 Mio. Deutschen aus Russland in unsere Gesellschaft geführt hat. Aber gerade vor dem Hintergrund<br />
erfolgreicher Bemühungen der Vergangenheit erscheint manche Diskussion, die dieser Tage<br />
sogar von Länderinnenministern geführt wird, den grundsätzlichen Verpflichtungen zur Hilfe bei der<br />
Überwindung der Folgen des Kriegsschicksals wenig angemessen.<br />
In den Wirbeln einer allgemeinen Integrationsdebatte, die vor allem von den Fragen der Integration von<br />
Zuwanderern aus muslimisch geprägten Kulturkreisen bestimmt wird, droht die spezifische Verantwortung<br />
unterzugehen, die der deutsche Staat gegenüber den Deutschen aus den Nachfolgestaaten der<br />
Sowjetunion übernommen hat.<br />
Unleugbare Probleme, die es auch bei der Integration von Russlanddeutschen in der Bundesrepublik gibt,<br />
werden eher verschärft als gelöst, wenn man bei ihrer Erörterung die spezifischen Voraussetzungen des<br />
Zuzugs von Spätaussiedlern missachtet.
HEIMAT, WO BIST DU? – BS 21<br />
Ausländerrechtliche Beschränkungen, die etwa der Unterbindung des Familiennachzuges von Zwangsverheirateten<br />
aus Anatolien dienen sollen, drohen unversehens zum Hinderungsgrund für die integrationspolitisch<br />
wünschenswerte gemeinsame Ausreise russlanddeutscher Kernfamilien zu werden.<br />
Wer im gesellschaftlichen Leben unseres Landes heimisch werden will, braucht deutsche Sprachkenntnisse.<br />
Die apodiktische Forderung an russlanddeutsche Familien nach dem Nachweis eines bestandenen<br />
Sprachtestes als Voraussetzung für eine Aufnahme in Deutschland verkennt aber wesentliche Aspekte<br />
der Entwicklung dieser Volksgruppe. Es war die stalinsche Repressionspolitik, die dazu führte, dass die<br />
Menschen trotz ihrer im Pass und Namen erkennbaren Nationalität vielerorts nicht mehr als deutsche<br />
Sprachgemeinschaft – wohl aber als deutsche Schicksalsgemeinschaft leben.<br />
Wir stehen also vor der Frage, ob wir bei unseren Bemühungen um nachhaltige Integration von Zuwanderern<br />
bereit sind, der besonderen Verantwortung für Spätaussiedler den erforderlichen Raum zu<br />
geben.<br />
Die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, nach Holocaust und Weltkriegskatastrophe im Bewusstsein<br />
nationaler Verantwortung eine Politik aktiver Kriegsfolgenbewältigung zu betreiben, war zweifellos<br />
ein moralisches Gebot. Diese Politik hat sich aber auch als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Ihre<br />
Resultate reichen vom europäischen Einigungsprozess bis zur Wiedererlangung der deutschen Einheit.<br />
Aussiedlerpolitik hat als Beitrag zur Bewältigung von Kriegsfolgen immer einen besonderen Stellenwert<br />
gehabt und verdient ihn auch weiterhin. Es war das besondere Verdienst der damaligen Bundesregierung,<br />
namentlich von Horst Waffenschmidt, dass sie unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhanges<br />
unseren besonderen Verpflichtungen gegenüber den Russlanddeutschen engagiert nachgegangen ist.<br />
Diese Politik braucht unter den gegebenen Umständen eine angemessene Fortsetzung. Ihr besonderes<br />
Anliegen darf im Getöse einer undifferenzierten Integrationsdebatte nicht untergehen.<br />
Nur so werden wir auch die Chancen dieser Politik nutzen können, die darin besteht, dass Russlanddeutsche<br />
kulturelle und wirtschaftliche Brücken zwischen Deutschland und Russland, aber auch zu den<br />
mittelasiatischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion schlagen können.<br />
Solche Brücken schaffen ein authentisches Band menschlicher Beziehungen und befördern damit eine<br />
staatliche Partnerschaft, die in unser aller Interesse liegt.<br />
Quelle: http://www.bmi.bund.de/cln_028/nn_122304/Internet/Content/Themen/Aussiedlerbeauftragter/Daten-<br />
undFakten/Verantwortung__fuer__Schicksalsgemeinschaft__Russlanddeutsche.html<br />
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MUTTERSPRACHE – BS 23<br />
Muttersprache - omdlm gzi (Heimatsprache)<br />
Bildquelle: www.auslandsjahr.eu/.../10/russische-woerter.jpg<br />
Das Lexikon<br />
Muttersprache, die beim primären Spracherwerb des Kindes gelernte Sprache im Unterschied zur später<br />
erlernten Fremdsprache. Im Allgemeinen hat der Mensch nur eine Muttersprache; bei Mehrsprachigkeit<br />
werden zwei Sprachen häufig nicht in gleicher Weise vollständig beherrscht, sondern in verschiedenen<br />
Bereichen angewendet: die eigentliche Muttersprache z. B. im privaten, eine zweite Sprache im öffentlichen<br />
Bereich.<br />
http://lexikon.meyers.de/meyers/Muttersprache<br />
Das Thüringische Landesministerium<br />
Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund<br />
1 Allgemeine Grundsätze<br />
Diese Verwaltungsvorschrift gilt für den Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund,<br />
deren Muttersprache oder Herkunftssprache nicht Deutsch ist.<br />
Das Ziel dieser besonderen Bestimmungen ist es einerseits, eine möglichst gute Integration in das Schulwesen<br />
und das Erreichen schulischer Abschlüsse zu fördern (§1 Abs. 2 Satz 3 SchG) und andererseits<br />
einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung von Schülerinnen und Schülern unter bikulturellen Bedingungen<br />
zu leisten. Zugleich sollen alle Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten stärken, mit Menschen verschiedener<br />
Sprachen und Kulturen zu leben und zu lernen.<br />
Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Frauen und Jugend in Thüringen vom 22. November<br />
2006 (943 B – Tgb.Nr. 3097/05) Bezug: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft<br />
und Weiterbildung in Thüringen vom 28. August 2000 (1544 B - Tgb. Nr. 3578/00, GAmtsbl. S.454,<br />
berichtigt S. 694)
MUTTERSPRACHE – BS 23<br />
Die Russlanddeutschen und die Sprache<br />
Die Alltagssprache der Kolonisten blieb lange Zeit Deutsch - geprägt durch die Mundart der jeweiligen<br />
Gegend, aus der sie kamen. Im Lauf der Zeit vermischten sich diese Mundarten miteinander. In den<br />
Schulen wurde auf Deutsch unterrichtet, in der Kirche und zu Hause wurde Deutsch gesprochen. Durch<br />
die Abgeschlossenheit der Siedlungen entstanden regelrechte "Sprachinseln". Sprachkontakte zur<br />
russischen Bevölkerung waren spärlich. Die ständige Verschlechterung der Schulsituation, vor allem der<br />
Lehrermangel, führte dazu, dass in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts Zentralschulen für die Russlanddeutschen<br />
gegründet wurden. Hier wurde zwar schon auf Russisch unterrichtet, Deutsch gehörte<br />
aber nach wie vor zu den Schulfächern.<br />
•<br />
•<br />
•<br />
•<br />
Ab 1871 wurden an den deutschen Schulen nur noch Lehrer mit russischem Examen zugelassen.<br />
Dies führte dazu, dass Schüler und Lehrer sich oft nicht einmal verständigen konnten. Erst 1905<br />
durfte Deutsch wieder unterrichtet werden.<br />
1914 erfolgte das Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit. 1915 mussten deutsche Zeitungen<br />
eingestellt werden, deutsche Bücher durften nicht mehr gedruckt werden. Als Alltagssprache<br />
wurde dennoch weiter der jeweilige deutsche Dialekt verwendet. Nach der Oktoberrevolution änderten<br />
sich die Verhältnisse: Das deutschsprachige Bildungswesen lebte wieder auf, Theater und Verlage<br />
wurden gegründet. 1933 nahmen die Bemühungen der Regierung um eine Russifizierung wieder zu.<br />
Die Tatsache, dass viele der Russlanddeutschen nur wenig Russisch beherrschten, wurde gerügt.<br />
Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Sprache der Russlanddeutschen zur "Sprache der Faschisten"<br />
erklärt. Im Juli 1941 begann dann die massenhafte Deportation der Deutschen nach Sibirien<br />
und Mittelasien. Geschlossene deutsche Siedlungen gab es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr, die<br />
öffentliche Sprache in allen Siedlungen war russisch.<br />
Deutsch als Muttersprache: 1926 gaben dies noch 95 Prozent der Russlanddeutschen an. 1959<br />
waren es noch 75 Prozent, 1989 nur noch 48,7 Prozent. Von denjenigen, die inzwischen als Spätaussiedler<br />
nach Deutschland kommen, haben nur 20 Prozent Deutschkenntnisse. Grund dafür ist<br />
unter anderem die hohe Zahl der nicht-deutschstämmigen Familienangehörigen.<br />
http://www.wissen.swr.de/sf/wissenspool/bg0074/deutsch_als_zweitsprache/wissen/russlanddeutsche_sprache.<br />
html<br />
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MUTTERSPRACHE – BS 23<br />
Ein Gedicht der russlanddeutschen Dichterin Erna Hummel<br />
An meine Muttersprache<br />
Durch dich verlor ich einst mein Vaterhaus.<br />
Erniedrigt mußt’ ich in die Welt hinaus<br />
Doch deiner Lieder traute Melodien<br />
Ließ leise ich in meine Seele zieh.<br />
Als deinetwegen ich im Staube lag,<br />
warst du es doch, die neue Kraft mir gab.<br />
Und wenn man deinetwegen mich verhöhnt,<br />
hab ich mit meiner Liebe dich gekrönt.<br />
Und als der Tod durch Menschenreihen schlich<br />
und Grab um Grab sich öffnete für dich,<br />
du bliebst mir nah, ich habe dich geliebt,<br />
du warst für mich mein allerschönstes Lied.<br />
Wo man verächtlich dreimal dich verflucht,<br />
hab´ ich dein Wort, dein zärtlich Wort gesucht.<br />
Und wenn kein Freund mehr klopfte an die Tür,<br />
warst du mein Trost – ich flüchtete zu dir.<br />
Im tiefsten Elend und im größten Schmerz<br />
Gehörte dir mein schuldlos schuldig Herz.<br />
Ein Tränenmeer hat meinen Blick getrübt,<br />
wenn Freveltaten man an dir geübt.<br />
Auch hier warst du und sagtest: „Weine nicht!<br />
Die Wahrheit siegt, wirft über mich ihr Licht.<br />
Still eine Träne, denn der Tag ist nah,<br />
wo du erfährst, wie Unrecht mir geschah.“<br />
Ich glaubte dir und jubelte dir zu<br />
Und fand durch dich auch die ersehnte Ruh´.<br />
Aus deinen Quellen schöpfte ich den Saft,<br />
der mich gesund und lebensfroh gemacht.<br />
Wenn ich im Staub auch deinetwegen lag,<br />
bliebst du die Kraft, die neue Hoffnung gab,<br />
wenn ich auch tausendmal durch dich verlor,<br />
ein Hoch dem Glück, das ich durch dich erkor!<br />
Und was bedeutet die Muttersprache für Sie? Diskutieren Sie in der Gruppe.<br />
Erstellen und gestalten Sie gemeinsam eine Mindmap als Präsentation!<br />
„Zwischen den Kulturen“, 6. Auflage – 2002, Seite 13
SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG IST DIE SPRACHE – ZEITUNGSARTI-<br />
KEL LAHNDILL – BS 24<br />
„Schlüssel zum Erfolg ist die Sprache“<br />
Schulen entwickeln Konzepte<br />
Von Maike Sophie Wessolowski (0 64 41) 95 95 58<br />
m.wessolowski@mittelhessen.de<br />
Wiesbaden/Bad Endbach/Mengerskirchen. In ihrem Pass steht „deutsch“, doch die achtjährige Helena ist in Kasachstan aufgewachsen und spricht<br />
kein Wort in dieser für sie fremden Sprache. „Es gibt keine Zahlen über Russlanddeutsche an hessischen Schulen, da diese als Deutsche gelten<br />
und nicht gesondert erfasst werden“, sagt Christian Boergen, Sprecher des hessischen Kultusministeriums. Helena hilft das nicht. Sie muss schnell<br />
Deutsch lernen, um mit den anderen Kindern mithalten zu können. Schulen in Mittelhessen mit einem hohen Anteil an Aussiedlerkindern haben<br />
ihre eigenen Integrationsprogramme entwickelt – mit Tanzunterricht, Russisch als erster Fremdsprache und Lehrern, die aus der ehemaligen Sowjetunion<br />
stammen.<br />
„Alle Kinder mit Sprachproblemen können am Förderkonzept teilnehmen“,<br />
sagt Ministeriumssprecher Boergen (siehe „Stichwort: Förderkonzept“).<br />
„Die Schulen müssen dieses Konzept selbst mit Leben füllen, das ist das<br />
Prinzip der eigenverantwortlichen Schule. Wir geben nur die Zielvorgabe“,<br />
sagt Boergen weiter.<br />
„Ich kümmere mich drum“, hatte Uwe Rademer, Mitte der 90er Jahre Konrektor<br />
der Mittelpunktschule in Hartenrod im Landkreis Marburg-Biedenkopf,<br />
gesagt, als die ersten Aussiedler in die Gemeinde Bad Endbach kamen.<br />
„Es kamen aber nicht zwei, drei Schüler sondern über 100. Unsere Schülerzahl<br />
stieg von etwa 400 auf 600 an“, erinnert sich der heute 65- Jährige.<br />
Rademer und seine Kollegen mussten eigene Regeln aufstellen: „Ich habe<br />
versucht, so viele Kinder wie möglich in den Realschulklassen unterzubringen,<br />
da ist das soziale Klima besser. Vielen Schülern konnte man dort besser<br />
vermitteln, dass sie Rücksicht auf ihre neuen Mitschüler nehmen“, sagt der<br />
ehemalige Deutschlehrer.<br />
Sprachkurse gaben er oder Kollegen teilweise am Nachmittag. Rademer,<br />
inzwischen pensioniert, aber noch als Vertretungslehrer an der Schule tätig,<br />
ist stolz, dass viele von seinen ehemaligen Schützlingen voll integriert sind,<br />
teilweise studieren, und viele Kontakt zu ihrem ehemaligen Lehrer halten.<br />
Christian Boergen ist erfreut, dass eine wachsende Zahl Eltern freiwilligen<br />
Integrationsprogrammen zustimmt: „96 Prozent aller Eltern, die Kinder mit<br />
Sprachproblemen haben, stimmen freiwilligen Förderkonzepten im Vorschulalter<br />
zu“, heißt es aus dem Ministerium.<br />
Für die aus Lettland stammende Deutschlehrerin Lili Gede (51) liegt genau<br />
dort ein aktuelles Problem der Zuwandererkinder: „Die ersten Familien, die<br />
aus der ehemaligen Sowjetunion kamen, sprachen noch deutsch oder hatten<br />
den Willen, dass ihre Kinder die Sprache lernen. Viele der Eltern die jetzt<br />
kommen, unterstützen ihre Kinder nicht und sprechen zu Hause viel russisch.<br />
Das können wir nicht auffangen“, sagt die Lehrerin, die seit 1995 an der<br />
Fritz-Leuninger-Grundschule in Mengerskirchen im Landkreis Limburg-<br />
Weilburg Deutsch-Förderkurse und Hausaufgabenhilfe leitet. 325 Kinder<br />
besuchen die Schule, etwa 20 Prozent stammen aus Aussiedlerfamilien.<br />
■ „Die Eltern heute erwarten, dass wir die schulische Betreuung<br />
ganz übernehmen“<br />
„Diese Eltern sehen nicht, dass die Hausaufgabenhilfe eine freiwillige Leistung<br />
der Schule ist, sondern fordern quasi, dass wir die ganze Schülererziehung<br />
ihrer Kinder übernehmen“, sagt Gedes aus Kasachstan stammende<br />
Kollegin Katharina Becker (49), die seit 2001 an der Grundschule arbeitet.<br />
Finanziert wird der zusätzliche Förderunterricht über den Förderverein der<br />
Schule. Nur eine der beiden befristeten Lehrer-Stellen bezahlt der Kreis. Die<br />
Rektorin der Fritz-Leuninger-Schule, Nicole Wegmann (36), hat gemeinsam<br />
mit den Kindergärten der Umgebung und der Westerwaldschule im Nachbarort<br />
Waldernbach (Kreis Limburg-Weilburg) ein Lern- und Integrationskonzept<br />
erstellt, das eine einheitliche Förderung von 0 bis 16 Jahren ermöglicht.<br />
„Integration findet auch außerhalb des Unterrichts statt. Wir bieten 17 Arbeitsgemeinschaften<br />
an. Tanz-AGs und Mathematik für Asse werden von<br />
den Aussiedlerkindern besonders gerne belegt.“ Manuela Gros, Leiterin der<br />
Westerwaldschule in Waldernbach freut sich über Kinder aus der Grundschule<br />
in Mengerskirchen. „Wir profitieren von der guten Vorarbeit“, sagt<br />
sie.<br />
Deutschintensivkurse, die teilweise parallel zum regulären Unterricht laufen,<br />
werden auch dort angeboten. Ein Drittel der Jugendlichen an der Schule<br />
stammt aus Zuwandererfamilien mehrerer Generationen. Betreut werden<br />
die Familien von Maria Anselm (50), Lehrerin aus Kasachstan. „Ich bin die<br />
Brücke zwischen Schule, Eltern und Kindern“, sagt die Lehrerin. Sie erarbeitet<br />
für jedes Kind einen eigenen Förderplan. In Mathematik seien die<br />
Schüler, die schon in Russland eine Schule besucht haben, oft viel weiter<br />
im Stoff, sagt sie.<br />
„Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration und zum Schulerfolg, darauf<br />
basiert das Förderungskonzept“, heißt es im Ministerium. Die Lehrer an der<br />
Basis müssen diese Maxime auch an Eltern und Schüler vermitteln.<br />
„Wir versuchen, die Eltern der Aussiedlerfamilien mehr für die Schule zu<br />
interessieren“, sagt NicoleWegmann.<br />
Deutschkurse für Eltern hatte eine Lehrerin in Zusammenarbeit mit der<br />
Volkshochschule bereits angeboten. Nun werden Einladungen zu Elternabenden<br />
auch auf russisch verfasst, um die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen<br />
– obwohl die Kinder mit den russischsprachigen Lehrerinnen ausschließlich<br />
deutsch sprechen dürfen.<br />
„Wenn es um Kuchen backen und Hilfsarbeiten geht, sind die Eltern immer<br />
dabei, aber sie haben oft nicht den Mut, sich zu engagieren“, sagt Wegmann.<br />
Doch, ergänzt Lili Gede, ohne elterliche Mitarbeit hätten die Kinder wenig<br />
Chancen auf eine hohe Schulbildung. „Ich habe den Kindern immer gesagt,<br />
ihr müsst doppelt so viel lernen wie die deutschen Kinder hier“, erinnert sich<br />
Rademer. „Die erben ein Haus und haben Beziehungen, ihr könnt nur über<br />
schulische Leistung euren Weg machen.“<br />
________________________________________________ Förderkonzept<br />
Das Gesamt-Förderkonzept des hessischen Kultusministeriums für Kinder<br />
nichtdeutscher Herkunftssprache umfasst:<br />
■ Freiwillige Vorlaufkurse für noch nicht schulpflichtige Kinder, die vor<br />
ihrer Einschulung nicht über die erforderlichen Deutschkenntnisse für den<br />
Unterricht einer ersten Klasse verfügen.<br />
■ Verpflichtende schulische Sprachkurse oder verpflichtender Besuch einer<br />
Vorklasse für schulpflichtige Kinder bei Zurückstellung vom Schulbesuch<br />
wegen nicht hinreichender Sprachkenntnisse. Werden diese Kurse nicht belegt,<br />
besteht die Gefahr, dass das Kind nicht auf einer allgemeinbildenden<br />
Grundschule eingeschult werden kann.<br />
■ Intensivklassen/-kurse für Seiteneinsteiger, die über keine oder nur geringe<br />
Deutschkenntnisse verfügen und dem Unterricht in einer Regelklasse<br />
nicht folgen können.<br />
■ Alphabetisierungskurse für Schüler ohne schulische Vorbildung.<br />
■ Deutsch-Förderkurse für Schüler, die sich zwar verständigen können, die<br />
deutsche Sprache jedoch in Wort und Schrift noch nicht so beherrschen, dass<br />
sie die Anforderungen des Regelunterrichts problemlos erfüllen können.<br />
■ Im laufenden Schuljahr stehen laut des Hessischen Kultusministeriums<br />
für das Sprach-Förderkonzept 1013 Stellen für Lehrkräfte zur Verfügung.<br />
Hinzu kommen jährlich rund 520 000 Euro an Sachmitteln insbesondere für<br />
Deutsch-Förderkurse.<br />
■ Freie Träger bieten, gefördert von Mitteln des Landes, außerschulische<br />
Hausaufgabenhilfe an. Die Förderung in 2005 betrug 764 000 Euro.<br />
■ Seit 2000 gibt es Deutsch-Förderung an Grundschulen mit hohem Zuwandereranteil,<br />
wie im Projekt „Deutsch & PC“. In 60 Grundschulen investiert<br />
das Land 5,5 Millionen Euro jährlich für diesen Unterricht. Das Projekt ist<br />
eine Kooperation mit der Hertie-Stiftung, die bis 2008 zwei Millionen Euro<br />
zur Verfügung stellt. (wes)<br />
Quelle: Zeitungsgruppe lahndill, 30.05.2006,Seite 3 „Hessen und<br />
Hintergrund“<br />
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FÜR UNS FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK – MUSTER-ARTIKEL LAHN-<br />
DILL – BS 25<br />
„Für uns führt keinWeg zurück“<br />
Die Familie Leichner will als Deutsche in Deutschland leben<br />
Von Klaus Birk<br />
(0 64 71) 93 80 24<br />
k.birk@mittelhessen.de<br />
Mengerskirchen-Waldernbach. Am 25. Mai 1992 sind Ludwig und Pauline Leichner in Deutschland angekommen. Aus Kasachstan hat sie ihr Weg<br />
über das Aufnahmelager Empfingen bei Stuttgart direkt in den Westerwald nach Waldernbach geführt. Das Ehepaar Leichner hat zwei Kinder,<br />
Waldemar und Alexander, damals, als sie hier ankommen, sind die Buben 17 und 15 Jahre alt. Die Leichners wollen nicht länger als Deutsche in<br />
Russland leben. Sie wollen da leben, wo ihre Vorfahren herkamen. Aber sie kommen nicht in ihrem Vaterland an; sie kommen an in Deutschland. In<br />
einem Land, in dem sie nicht als Landsleute empfangen werden: Jetzt plötzlich sind sie Russen.<br />
Ludwig und Pauline Leichner sind nicht<br />
unbedingt eine durchschnittliche russische<br />
Familie mit deutschem Stammbaum: Beide<br />
haben die Universität besucht, beide haben<br />
hervorragende Abschlüsse. Pauline, geborene<br />
Meissner, ist Deutschlehrerin. Ludwig ist<br />
zum Generaldirektor einer staatlichen Handelskette<br />
aufgestiegen.<br />
„Wir hatten ein gutes Leben in Kasachstan.<br />
Wir hatten, was wir brauchten. Es ging uns<br />
gut“, sagt Ludwig Leichner. Sie haben viel<br />
aufgegeben.<br />
Als sie gingen, da hoffte Ludwig Leichner,<br />
dass er Glück haben und vielleicht in einem<br />
deutschen Geschäft würde Arbeit finden<br />
können; sozusagen vom Chef zum Angestellten.<br />
Trotzdem: „Wir wollten das so“,<br />
sagt er. Und wenn sie und ihre Vorfahren<br />
etwas gelernt haben in Russland, dann dies:<br />
Bei Null anzufangen.<br />
Ludwig Leichner erzählt. Er kann gut erzählen<br />
– und viel. Er erzählt zum Beispiel davon,<br />
wie sie in Kasachstan gefeiert haben.<br />
Und wie es auf ihn und „unsere Leute“<br />
wirkt, wie in Deutschland gefeiert wird. „In<br />
unserem Dorf haben alle für das Dorf gearbeitet.<br />
In der Landwirtschaft, als Lastwagenfahrer,<br />
in den Betrieben, in den Geschäften.<br />
Im Frühjahr, wenn die Felder bestellt und die<br />
Saat ausgebracht war, dann haben sich alle<br />
getroffen, zusammen gesessen, gegessen,<br />
getrunken, geredet. Es wurde ein Schwein<br />
oder ein Rind geschlachtet, es wurden Prämien<br />
verteilt. Und im Herbst, nach der Ernte,<br />
wieder.“ Es war: Gemeinsamkeit.<br />
In Deutschland wird auch gefeiert, Kirmes<br />
zum Beispiel. „Da sitzt du am Tisch und<br />
weißt nicht, worüber du mit deinem Gegenüber<br />
sprechen sollst, wenn es nicht zufällig<br />
ein Arbeitskollege oder Bekannter ist.“ Es<br />
fehlt: Gemeinsamkeit.<br />
Es schimmert Wehmut durch zwischen den<br />
Worten, „Nostalgie“, wie Ludwig Leichner<br />
es nennt; wir würden Heimweh dazu sagen.<br />
„Nostalgie hat jeder, der aus Russland nach<br />
Deutschland gekommen ist. Wer das Gegenteil<br />
behauptet, lügt“, sagt er. Und fügt hinzu:<br />
„Aber was ist denn, wenn du zurückkehrst:<br />
Was willst du dann dort?“ Für ihn steht fest:<br />
„Es gibt keinen Weg zurück.“ So wie für<br />
kaum jemanden, der den Schritt gewagt hat<br />
in das Land seiner „Urväter“, wie Leichner<br />
Deutschland nennt. Dabei kennt die Familie<br />
ihre Urväter gar nicht. Wann die Familien<br />
von Deutschland nach Russland kamen?<br />
„Wir wissen es nicht.“ Vielleicht, als Katharina<br />
die Große Mitte des 18. Jahrhunderts<br />
Deutsche Handwerker rief? Vielleicht<br />
sogar früher, vielleicht auch später. Sicher<br />
ist (Ludwig Leichner hat inzwischen die<br />
Dokumente aus geheimen Archiven): Sein<br />
Großvater wurde am 23. März 1938 zum<br />
Tode verurteilt, knapp vier Wochen später<br />
erschossen. Weil er ein Konterrevolutionär<br />
gewesen sei; vor allem aber wohl, weil er<br />
Deutscher war. Am 1. März 1960 wurde er<br />
rehabilitiert.<br />
■ Mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt<br />
die Odyssee durch Russland<br />
Ludwig Leichners Vater, er hieß auch Ludwig<br />
und wurde 1904 im Raum Saratov in<br />
der Wolgadeutschen Republik geboren, wird<br />
1941 mit seiner Familie zwangsdeportiert –<br />
weit in den russischen Osten in die Gegend<br />
um Krasnojarsk. Es ist Krieg, Hitler hat Russland<br />
überfallen, Stalin lässt die Deutschen,<br />
die in Russland leben, verschleppen, verfolgen,<br />
umbringen. Ludwig Senior verliert alles,<br />
was er besaß. In der Verbannung sterben<br />
zudem seine erste Frau und sein Vater.<br />
1946 wird Ludwig Senior dann zurück nach<br />
Solikamsk, die Salzstadt im Ural, verwiesen.<br />
Dort, an der Perm, fängt er wieder bei<br />
Null an, dort heiratet er später seine zweite<br />
Frau Maria, dort wird am 28. Dezember<br />
1949 Sohn Ludwig geboren.<br />
1962 siedelt die Familie erneut um in die<br />
Gegend von Koktschetau im nördlichen<br />
Kasachstan. Ludwig Junior besucht dort<br />
zunächst das Technikum, später die Universität.<br />
Er wird das, was wir heute Betriebswirt<br />
nennen. Er fängt in der staatlichen Handelskette<br />
an, steigt auf zum Bezirksleiter, heiratet<br />
1973 seine Frau Pauline Meissner, deren<br />
Familie ein ganz ähnliches Schicksal zu erleiden<br />
hatte. Ihr Vater war Bauer in der Gegend<br />
von Saratow, ihre Familie wurde 1941<br />
in die Region Koktschetau deportiert.<br />
1977 ziehen Ludwig und Pauline zusammen<br />
mit ihren Söhnen Waldemar und Alexander<br />
aus dem Dorf in die Stadt, nach Koktschetau.<br />
Er wird dort Chef der Handelskette,<br />
sie unterrichtet Deutsch an einer Schule.<br />
1991 trifft Ludwig Leichner unter anderem<br />
Michail Gorbatschow und dessen verstorbene<br />
Frau Raissa, die seine Handelszentrale<br />
besuchen.<br />
„Wir haben dort nicht schlecht gelebt“, sagt<br />
Ludwig Leichner im Rückblick noch einmal.<br />
Eine schöne Wohnung hatten sie, einen<br />
gefüllten Kühlschrank, ein Auto, eine Datsche.<br />
Alles.<br />
„Aber wir waren trotzdem Fremde in diesem<br />
Land. Weil wir Deutsche waren.“ Und Ludwig,<br />
später selbst Mitglied im Prüfungsausschuss<br />
am Technikum, denkt an die Zukunft<br />
seiner Kinder: Als Deutsche würden auch<br />
sie es immer schwer haben in Russland. Und<br />
Kasachstan will in den 90er Jahren Kasachisch<br />
als Amtssprache einführen. Er ist zu<br />
diesem Zeitpunkt über 40 Jahre alt, er kann<br />
diese Sprache nicht; es würde ihm schwer<br />
fallen, Kasachisch zu lernen.<br />
Als die Einreiseerlaubnis nach Deutschland<br />
gekommen sei, da hätten sie schlecht<br />
geschlafen, er und seine Frau. Was ist richtig?<br />
Was ist falsch? Viel geredet hätten sie,<br />
nachgedacht – und dann, im Mai 1992, sind<br />
sie doch gegangen. In Waldernbach bekommen<br />
sie eine Notunterkunft zugewiesen,<br />
fast ein Jahr wohnt die Familie dort. „Wir<br />
hatten Glück, dass wir nach Waldernbach<br />
gekommen sind. Wir sind dort sehr gut aufgenommen<br />
worden“, sagt Ludwig Leichner<br />
im Rückblick.<br />
Auf den Sprachkurs muss Ludwig bis zum<br />
Herbst warten. Sie machen unliebsame Erfahrungen<br />
mit der deutschen Bürokratie und<br />
Ludwig Leichner ärgert sich, dass er nicht<br />
die Sprachkenntnisse seiner Frau hat, um auf<br />
seine Ansprüche pochen zu können.<br />
Der älteste Sohn Waldemar, der bereits am<br />
Technikum in seiner Heimatstadt seinen Abschluss<br />
als Bürokaufmann gemacht hat, und<br />
in die Fußstapfen seines Vaters treten will,<br />
hat hier keine Chance auf eine Banklehre;<br />
mangelnde Sprachkenntnisse stehen dem im<br />
Weg. Trotzdem beginnt er gleich zu arbeiten.<br />
Nach einem Jahr fängt eine Schreinerlehre<br />
in Mengerskirchen an, findet danach Arbeit<br />
bei Beck und Heun, beginnt dort eine weitere<br />
Lehre als Industriekaufmann, die er inzwischen<br />
abgeschlossen hat. Er ist von dem<br />
Waldernbacher Unternehmen übernommen<br />
worden. Alexander, der jüngere Sohn, lernt<br />
Feinblechkonstrukteur und ist inzwischen<br />
Projektleiter in einem Metallbetrieb.<br />
Auch Ludwig Leichner bekommt bald einen<br />
Job bei Beck und Heun, allerdings, sagt er,<br />
„nicht als Generaldirektor, denn den hatten<br />
sie da schon“. Er ist dort seit etlichen Jahren<br />
als Arbeiter beschäftigt. „Wie gesagt, wir<br />
sind es gewohnt, bei Null anzufangen. Mein<br />
Vater war Arbeiter und ich habe auch keine<br />
Angst vor Arbeit.“<br />
Stolz ist er auf das, was er sich in Waldernbach<br />
inzwischen geschaffen hat: Zunächst<br />
hat er eine neue Wohnung für seine Familie<br />
gefunden, dann eine für seine Schwiegereltern,<br />
die 1995 ebenfalls nach Deutschland<br />
kommen. Und schließlich hat er zusammen<br />
mit seinem Sohn ein Haus gebaut in Waldernbach,<br />
in dem sie jetzt wohnen.<br />
In Kasachstan ist Kasachisch übrigens bis<br />
heute keine Amtssprache geworden; es wird<br />
weiter Russisch gesprochen. Ludwig Leichner<br />
hätte seinen Direktorenposten behalten,<br />
dort in Rente gehen und mit seiner Familie<br />
weiter leben können. Aber, sagt er: „ Wir<br />
wollten als Deutsche in Deutschland leben.<br />
Und zurückkehren? Was soll ich denn in Kasachstan?“<br />
Hier in Deutschland sehen er und<br />
seine Familie die Zukunft.<br />
Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche<br />
aus Russland – Russen in Deutschland“<br />
v. 22. Mai 2006, Seite 11
AUF DER SUCHE NACH DER WIRKLICHEN HEIMAT – ARTIKEL<br />
LAHNDILL – BS 25<br />
„Auf der Suche nach der wirklichen Heimat“<br />
Die Wege der Familie Leichner quer durch Russland<br />
Mengerskirchen-Waldernbach (kbi).<br />
Viel ist es nicht, was Ludwig Leichner<br />
über seine Vorfahren weiß. Bis zu<br />
seinen Großeltern reicht das familiäre<br />
Gedächtnis zurück.<br />
Die Großeltern lebten im Wolgagebiet<br />
in der Region Saratow. Wann seine<br />
Vorfahren dorthin kamen, kann er nur<br />
vermuten: Es um das Jahr 1763,gewesen<br />
sein, als Katharina die Große ,<br />
die erste Deutsche auf demZarenthron,<br />
planmäßig Deutsche im Russischen<br />
Reich anzusiedeln begann.<br />
Siedler aus Hessen kamen dabei vorwiegend<br />
in die Wolga-Region zwischen<br />
Saratow und Samara. Ludwig Leichner<br />
vermutet, dass seine Familie in Hessen<br />
ihren Ursprung hat: Im überlieferten<br />
deutschen Wortschatz finden sich typisch<br />
hessische Dialekte-Worte. Für<br />
die Deutschen in Russland beginnt sich<br />
das Blatt mit dem Ersten Weltkrieg zu<br />
wenden, die Lage verschärft sich 1941<br />
mit dem Einmarsch der Hitler-Armee.<br />
Das trifft auch Leichners Familie: Im<br />
gleichen Jahr wird sein Vater nach<br />
Kransnojarsk deportiert, weit im Osten<br />
Russlands.<br />
1946wird er zurück nach Solikamsk<br />
verwiesen. 1962 siedelt die Familie in<br />
die Gegend von Koktschetau in Kasachstan<br />
um.<br />
Ludwig Leichner junior heiratet 1973<br />
seine Frau Pauline Meissner, deren Familie<br />
1941 ebenfalls aus Saratow nach<br />
Koktschetau verwiesen wurde.<br />
Ludwig und Pauline ziehen 1977 vom<br />
Dorf in die Stadt Koktschetau. Von dort<br />
tritt die Familie Leichner am 20. Mai<br />
1992 die Reise nach Deutschland an,<br />
das Land der „Urväter“, wie Leichners<br />
sagen.<br />
Eine Odyssee vonWest nach Ost – und zurück:<br />
Die Reisewege der Familie Leichner in den vergangenen Zeiten bis zur Ausreise im Mai 1992 zurück nach Deutschland.<br />
Heute lebt Ludwig Leichner mit seiner Familie in Waldernbach.<br />
Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche aus Russland – Russen in Deutschland“ v. 22. Mai 2006, Seite 11<br />
<strong>TB</strong><br />
43,2<br />
77
KV<br />
78<br />
DEUTSCHE AUSWANDERUNG NACH RUSSLAND<br />
IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT
QUELLENVERZEICHNIS - LINKLISTE<br />
1. Zwischen den Kulturen – Russlanddeutsche gestern und heute. Hrsg.: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland<br />
e.V. und Kulturrat der Deutschen aus Russland e.V., Stuttgart 2002<br />
Die Broschüre kann als pdf-Datei im Internet heruntergeladen werden:<br />
http://www.deutscheausrussland.de/zdk/index.htm<br />
2. Krieger, V./Kampen, H./Paulsen, N.. Deutsche aus Russland gestern und heute.<br />
Hrsg.: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., Stuttgart 2006<br />
3. Eisfeld, A.: 200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet.<br />
Hrsg.: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. mit Unterstützung der baden-württembergischen Landesregierung.<br />
Abrufbar im Internet unter der Adresse: www.deutscheausrussland.de<br />
4. Deutsche aus Russland – Russen in Deutschland.<br />
Eine Serie der Zeitungsgruppe lahndill, Mai 2006<br />
5. Gesellschaft für Pädagogik und Information e.V.. Die Geschichte der Russlanddeutschen.<br />
Präsentiert im Internet vom Bildungsverein Die Linde e.V. unter: www.russlanddeutschegeschichte.de<br />
6. Aussiedler und Aussiedlermigration in Deutschland.<br />
Informationen zur politischen Bildung. Heft 267, 2000<br />
Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung<br />
http://www.bpb.de/publikationen/08604866861222132867858162468689,0,Zuwanderung_und_Integration_in_der_Bundesrepublik_Deutschland.html<br />
7. Bundesministerium des Innern.<br />
www.bmi.bund.de<br />
8. Lexikon der Innenpolitik.<br />
http://www.bmi.bund.de/cln_012/nn_122688/Internet/Navigation/DE/Service/Lexikon/LexikonDerInnenpolitik.html__<br />
nnn=true<br />
9. Statistiken zum Aussiedleraufnahmeverfahren:<br />
www.bva.bund.de/nn_376880/DE/Aufgaben/Abt__III/Spaetaussiedler/statistik/statistik-node.html<br />
10. Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge vom 10.<br />
August 2007.<br />
Der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble:<br />
www.ornis-press.de/asb/files/bundesvertriebenengesetz_neu.pdf<br />
11. Beiträge zum Alltag russlanddeutscher Aussiedler:<br />
www.ornis-press.de/dossier.7.0.html<br />
Stand: Dezember 2007<br />
Weitere Linkangaben sind integriert in die Verlaufsmodule und Textblätter<br />
Zahlreiche Links führen zu nützlichen Seiten im Internet. Für alle Seiten gilt:<br />
§3 - Mit Urteil vom 12. Mai 1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite ggf. mit zu<br />
verantworten hat. Dies kann - so das Landgericht - nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Für all diese Links gilt:<br />
Wir möchten ausdrücklich betonen, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der genannten Links haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit<br />
ausdrücklich von allen Inhalten aller Links in diesem Arbeitsheft.<br />
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