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TB 1 - Landesfilmdienst Nordrhein-Westfalen eV

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Begleitmaterialien zum Film für den Unterricht<br />

Versöhnung über Grenzen -<br />

Die Geschichte der Russlanddeutschen<br />

KdL<br />

Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e<br />

in der Bundesrepublik Deutschland e. V.<br />

Heft IV<br />

Textblätter/<br />

Kopiervorlagen


2<br />

Herausgeber:<br />

Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e<br />

in der Bundesrepublik Deutschland e. V.<br />

v.i.S.d.P. Heinz-Joachim Herrmann<br />

Pädagogischer Arbeitskreis der<br />

Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e e. V.


Inhaltsverzeichnis<br />

Heft 4 Textblätter/Kopiervorlagen für den Unterricht<br />

Zum Umgang mit Heft 4<br />

Im vierten Heft sind schließlich Materialien (Texte, Karten, Kopiervorlagen u.ä.) für die Filmarbeit zusammen gefasst. Die Nummerierung stellt den<br />

Bezug zu den einzelnen „Bausteinen für den Unterricht“ her. Bei den Materialien wird sowohl auf die „Bausteine“ (Heft 2) als auch auf die „Arbeitsblätter“<br />

(Heft 3) verwiesen. Der Einsatz dieser Printmaterialien empfiehlt sich insbesondere dann, wenn den Schülern/Teilnehmern zur Bearbeitung<br />

der Filminhalte kein Internet-Zugang zur Verfügung steht.<br />

Inhaltsverzeichnis<br />

<strong>TB</strong> 01 AUSZÜGE AUS EINER REDE VON BUNDESMINISTER DR. WOLFGANG SCHÄUBLE - BS 1. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4<br />

<strong>TB</strong> 02 BERICHT DER UNABHÄNGIGEN KOMMISSION ZUWANDERUNG - BS 1 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5<br />

<strong>TB</strong> 03 MANIFEST DER ZARIN KATHARINA II. VOM JULI 1763 - BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 6<br />

<strong>TB</strong> 04 INFOS ZUR GESCHICHTLICHEN SITUATION UM 1763 - BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 8<br />

<strong>TB</strong> 05 GRÜNDE ZUR AUSWANDERUNG - BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 9<br />

<strong>TB</strong> 06 HESSEN ZIEHEN AN DIE WOLGA – ZEITUNGSAUSSCHNITT – BS 3 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 10<br />

<strong>TB</strong> 07 WANDERWEGE - BS 4 ......................................................................11<br />

<strong>TB</strong> 08 DAS „KOLONISTENGESETZ“ – BS 4 ............................................................13<br />

<strong>TB</strong> 09 DER HANDWERKER „ZÜGE“ - BS 4 ............................................................14<br />

<strong>TB</strong> 10 REISE UND ANSIEDLUNG AN DER WOLGA – PROBLEME – BS 4 .......................................15<br />

<strong>TB</strong> 11 BESIEDLUNG DES WOLGAGEBIETS – BS 4 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 16<br />

<strong>TB</strong> 12 ANSIEDLUNG AM SCHWARZEN MEER – BS 5 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 17<br />

<strong>TB</strong> 13 ALLGEMEINE GESAMTE SIEDLUNGSZEIT – BS 4,5,6,7 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 19<br />

<strong>TB</strong> 14 DIE WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6 . . . . . . . . . . . . . . . . 20<br />

<strong>TB</strong> 15 DIE KULTURELLE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 21<br />

<strong>TB</strong> 16 VOM ABBAU DER PRIVILEGIEN BIS ZUR DEUTSCHENHETZE – BS 7 .....................................22<br />

<strong>TB</strong> 17 100 GUTEN JAHREN FOLGEN LEID UND DEPORTATION – BS 8,9,10,11,12 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 23<br />

<strong>TB</strong> 18 WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR – BS 8 ....................................25<br />

<strong>TB</strong> 19 ALLGEMEINE TEXTE ZU WELTKRIEG UND REVOLUTION – BS 8 ........................................28<br />

<strong>TB</strong> 20 NEP – NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK – BS 9 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 30<br />

<strong>TB</strong> 21 ZWANGSKOLLEKTIVIERUNG AB 1928 – BS 10 ....................................................32<br />

<strong>TB</strong> 22 STALIN – DER GROßE TERROR – BS 11 ..........................................................33<br />

<strong>TB</strong> 23 INTEGRATION IN DEUTSCHLAND – BS 12, 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34<br />

<strong>TB</strong> 24 DEPORTATIONSWEGE – BS 12 ................................................................35<br />

<strong>TB</strong> 25 GESCHICHTE DER VOLKSGRUPPE – TSCHELJABMETALLURGSTROJ DES NKWD DER UDSSR – BS 13 ............36<br />

<strong>TB</strong> 26 LEBEN IM ARBEITSLAGER – DIE TRUDARMEE – BS 13 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 38<br />

<strong>TB</strong> 27 RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE? -<br />

DIE AUSWIRKUNGEN DER DEUTSCHEN BESATZUNG AUF DIE RUSSLANDDEUTSCHEN – BS 14 . . . . . . . . . . . . . . . 39<br />

<strong>TB</strong> 28 RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE? – DER SO GENANNTE SÜD-TRECK – BS 14 .....................41<br />

<strong>TB</strong> 29 ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – NACHKRIEGSZEIT – BS 15 .......................................42<br />

<strong>TB</strong> 30 ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – ZEITSCHRIFT „VOLK AUF DEM WEG“ – BS 15 ........................43<br />

<strong>TB</strong> 31 FORDERUNG NACH REHABILITATION – SONDERSIEDLUNGEN UND ARBEITSARMEE – BS 16 . . . . . . . . . . . . . . . . . 44<br />

<strong>TB</strong> 32 FORDERUNG NACH REHABILITATION – TREIBGUT DES ZWEITEN WELTKRIEGS – BS 16 ......................45<br />

<strong>TB</strong> 33 FORDERUNG NACH REHABILITATION – REHABILITATION UND FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG - ZU BS 16 . . . . . . 47<br />

<strong>TB</strong> 34 NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT – UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22 .................48<br />

<strong>TB</strong> 35 GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 52<br />

<strong>TB</strong> 36 HEIMAT IN RELIGION UND KUNST - RELIGION UND KIRCHE – BS 18 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 57<br />

<strong>TB</strong> 37 AUTONOMIEBEWEGUNG – AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 58<br />

<strong>TB</strong> 38 AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER^GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19 ...61<br />

<strong>TB</strong> 39 DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20 .......................................................66<br />

<strong>TB</strong> 40 HEIMAT, WO BIST DU? – BS 21 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 70<br />

<strong>TB</strong> 41 MUTTERSPRACHE – BS 23 ...................................................................72<br />

<strong>TB</strong> 42 SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG IST DIE SPRACHE – ZEITUNGSARTIKEL LAHNDILL – BS 24 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 75<br />

<strong>TB</strong> 43 FÜR UNS FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK – MUSTER-ARTIKEL LAHNDILL – BS 25 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 76<br />

KV DEUTSCHE AUSWANDERUNG NACH RUSSLAND IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT .........................78<br />

QUELLENVERZEICHNIS - LINKLISTE . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 79<br />

3


<strong>TB</strong> 1<br />

4<br />

„DIE RUSSLANDDEUTSCHEN BAUEN UNS EINE BRÜCKE…“ -<br />

AUSZÜGE AUS EINER REDE VON BUNDESMINISTER DR. WOLFGANG SCHÄUBLE - BS1<br />

Stuttgart - So 27. Aug 06<br />

Die Russlanddeutschen bauen uns eine Brücke zwischen Russland, Deutschland und Europa<br />

Rede von Bundesminister Dr. Wolfgang Schäuble anlässlich der Gedenkfeier der Landsmannschaft der Deutschen<br />

aus Russland zum 65. Jahrestag der Vertreibung der Russlanddeutschen am 27. August 2006 in Stuttgart<br />

Leiden schafft neben Schmerz und Verbitterung auch Erkenntnis. Und so haben die Russlanddeutschen<br />

früher und konkreter als andere erfahren, was es heißt, Teil einer Schicksalsgemeinschaft zu sein. Ablehnung<br />

und Verfolgung durch eine feindliche Umwelt haben die Russlanddeutschen dazu gezwungen,<br />

sich die Frage vorzulegen, was das eigentlich sein könnte: Deutscher zu sein.<br />

Und obwohl sie am weitesten von Deutschland entfernt lebten, waren die Deutschen in der Sowjetunion<br />

am längsten – und alles im allen auch am härtesten – von den Folgen des Zweiten Weltkriegs betroffen.<br />

Die über viele Jahre erheblich eingeschränkte Bewegungsfreiheit in den Deportationsgebieten,<br />

Repressalien im täglichen Leben, in der Ausbildung und im Beruf waren die Ursache von fortdauerndem<br />

Leid und Not. So blieb an den Wolgadeutschen jahrzehntelang haften, was im Zweiten Weltkrieg auch<br />

vielen Millionen Russen widerfahren war.<br />

Verständnis setzt immer auch Geschichtskenntnis voraus. Man muss vom Schicksal des Anderen wissen,<br />

um ihn zu verstehen. Und wer den hoffnungsvollen Aufbruch der Deutschen nach Russland und ihr späteres<br />

Schicksal kennt, der muss eben auch großes Verständnis für den Wunsch haben, nach Deutschland<br />

zurückzukehren, um hier noch einmal von vorne beginnen zu können.<br />

Deswegen ist es so wichtig, an die Ereignisse während und nach dem Zweiten Weltkrieg, an die Entrechtung<br />

und Verfolgung der Russlanddeutschen unter Stalin zu erinnern. Denjenigen, denen dieses<br />

Schicksal erspart blieb, ist davon heute oft nur wenig bekannt. Manche aktuelle Debatte erinnert einen<br />

gelegentlich auch daran, dass die Leute nicht mehr genügend wissen, was damals eigentlich geschehen<br />

ist. Schon deswegen müssen solche Tage des Gedenkens sein.<br />

Wir müssen die Erinnerung an das schwere Schicksal der Russlanddeutschen bewahren. Wir müssen<br />

auch die Erinnerung bewahren an die gesamte, reiche, jahrhundertealte Geschichte, ihre wirtschaftlichen<br />

Erfolge und ihre vielen kulturellen Errungenschaften. Die Landsmannschaft der Deutschen aus Russland<br />

leistet dazu einen besonderen und wertvollen Beitrag, für den ich bei dieser Gelegenheit persönlich und<br />

im Namen der ganzen Bundesregierung noch einmal herzlich danken möchte.<br />

Nur wer sich zur Vergangenheit bekennt, kann letzten Endes Zukunft begründen und gestalten. Das<br />

Schicksal der Russlanddeutschen gehört eben zu unserer deutschen Schicksalsgemeinschaft, der wir uns<br />

stellen müssen, um sehen zu können, wo unsere Nation heute steht und in welche Richtung sie sich<br />

entwickeln soll.<br />

Aber auch unser freiheitlich verfasstes Gemeinwesen hält uns dazu an, das Schicksal der Russlanddeutschen<br />

zu erinnern. Denn wirkliche Freiheit kann sich niemals ohne Solidarität und ohne Verantwortung<br />

für den Nächsten bewähren. Jede Gemeinschaft muss immer eine Verantwortungsgemeinschaft sein.<br />

Hitler und Stalin sind passiert, das Rad der Geschichte kann man nicht zurückdrehen. Aber man kann<br />

aus der Geschichte lernen. Fast genau vor 56 Jahren, am 5. August 1950, ist hier in Bad Cannstatt die<br />

Charta der deutschen Heimatvertriebenen unterzeichnet worden. Und diese Charta war damals und ist<br />

heute noch ein beeindruckendes Zeugnis menschlicher Größe und Lernfähigkeit. Nicht Revanchismus,<br />

nicht Niedergeschlagenheit bestimmen diese Charta, sondern der Glaube an die Zukunft, Europäertum,<br />

christliche Humanität.<br />

Und so können wir auch heute von den Russlanddeutschen lernen. Sie bilden eine wertvolle Brücke zum<br />

Verständnis der Anderen. Ob sie nun hier leben oder dort: Sie bauen uns eine Brücke zwischen Russland,<br />

Deutschland und Europa... .<br />

Quelle:<br />

http://www.bmi.bund.de/nn_172160/Internet/Content/Nachrichten/Reden/2006/08/BM__Russlanddeutsche,templateId=renderPr<br />

int.html?realTID=renderPrint


BERICHT DER UNABHÄNGIGEN KOMMISSION ZUWANDERUNG<br />

- BS1<br />

Bericht der Unabhängigen Kommission Zuwanderung vom Sommer 2001 (Auszüge)<br />

Die Aussiedleraufnahme wird seit dem 19. Mai 1953 durch das Bundesvertriebenengesetz (BVFG) geregelt.<br />

Als Reaktion auf den 1987 einsetzenden sprunghaften Anstieg der Zuzüge wurde mit dem Aussiedleraufnahme-<br />

gesetz (AAG) vom 28. Juni 1990 eine Grundlage geschaffen, um steuernd in das Einreiseverhalten einzugreifen.<br />

Danach muss bereits im Aussiedlungsgebiet in einem schriftlichen Aufnahmeverfahren die Spätaussiedlereigenschaft<br />

vorläufig geprüft werden. Die Einreise in die Bundesrepublik kann erst nach Erteilung eines Aufnahmebescheides<br />

erfolgen.<br />

Durch das zum 1. Januar 1993 in Kraft getretene Kriegsfolgenbereinigungsgesetz (KfbG) wurde das BVFG erneut<br />

novelliert. Mit dem durch das KfbG neu gefassten § 4 BVFG wurde der Begriff des "Spätaussiedlers" festgeschrie-<br />

ben: Diesen Status können nur Personen erwerben, die deutsche Volkszugehörige sind. Deutscher Volkszugehöriger<br />

wiederum ist derjenige, der sich in seiner Heimat zum deutschen Volkstum bekannt hat und bei dem dieses Bekennt-<br />

nis durch bestimmte Merkmale wie Abstammung, Sprache, Erziehung, Kultur bestätigt wird. Alle nach Inkrafttreten<br />

des KfbG, also ab dem 1. Januar 1993 Geborenen, können die Rechtsstellung eines Spätaussiedlers jedoch nicht<br />

mehr erwerben.<br />

Eine weitere durch das KfbG bewirkte wesentliche Rechtsänderung betraf die Feststellung des Kriegsfolgenschicksals.<br />

Seit dem 1. Januar 1993 müssen Antragsteller aus allen Herkunftsstaaten - mit Ausnahme der Nachfolgestaaten der<br />

ehemaligen Sowjetunion - glaubhaft machen, dass sie als deutsche Volkszugehörige noch am 31. Dezember 1992<br />

oder danach persönlich Benachteiligungen erlitten haben. Da dies aufgrund der Liberalisierung in den Herkunfts-<br />

gebieten und des mangelnden Vertreibungsdrucks nur noch in wenigen Fällen gelingt, ist die Zahl der Antragsteller<br />

aus Polen, Rumänien, der ehemaligen Tschechoslowakei, Ungarn und dem ehemaligen Jugoslawien beträchtlich<br />

gesunken und beträgt heute nur noch ca. zwei Prozent.<br />

Antragsteller aus den Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion sind wegen ihres besonderen Vertreibungs-<br />

schicksals von dieser Regelung ausgenommen. Bei ihnen wird nicht individuell geprüft, ob sie als deutsche Volks-<br />

zugehörige Benachteiligungen ausgesetzt waren, sondern die Fortwirkung der Benachteiligungen wird weiterhin<br />

unterstellt.<br />

Ehegatten und Abkömmlinge von Spätaussiedlern, die nicht selbst als Spätaussiedler eingestuft werden, haben die<br />

Möglichkeit, auf Antrag in den Aufnahmebescheid einbezogen zu werden. Die Einreise und der Aufenthalt sonstiger<br />

Verwandter von Spätaussiedlern (Ehegatten von Kindern, unverheiratete minderjährige Stiefkinder sowie unverhei-<br />

ratete Stiefkinder von Abkömmlingen) werden demgegenüber ausschließlich nach Ausländerrecht beurteilt. Um<br />

Familien bei der Übersiedlung nicht auseinander zu reißen, können diese jedoch aufgrund einer generell erteilten<br />

ausländerrechtlichen Zustimmung gemeinsam mit dem Spätaussiedler einreisen.<br />

Quelle:<br />

http://www.bmi.bund.de<br />

Das neue Zuwanderungsgesetz vom Januar 2005<br />

brachte Änderungen der Rechtslage. Hierüber können Sie sich informieren unter: www.bva.bund.de/cln_108/<br />

nn_372242/DE/Aufgaben<br />

<strong>TB</strong> 2<br />

5


<strong>TB</strong> 3,1<br />

6<br />

MANIFEST DER ZARIN KATHARINA II. VOM JULI 1763 - BS3<br />

Manifest der Zarin Katharina II. vom 22. Juli 1763 - Von Gottes Gnaden (Auszüge)<br />

Wir Catharina die Zweite, Zarin und Selbstherrscherin aller Reußen zu Moskau, Kiew, Wladimir, Nowgorod, Zarin<br />

zu Casan, Zarin zu Astrachan, Zarin zu Sibirien, Frau zu Pleskau und Großfürstin zu Smolensko, Fürstin zu Esth-<br />

land und Lifland, Carelien, Twer, Jugorien, Permien, …. Und Gorischen Fürsten und mehr anderen Erb-Frau und<br />

Beherrscherin.<br />

Das Uns der weite Umfang der Länder Unseres Reiches zur Genüge bekannt, so nahmen Wir unter anderem wahr,<br />

daß keine geringe Zahl solcher Gegenden noch unbebaut liege, die mit vorteilhafter Bequemlichkeit zur Bevölke-<br />

rung und Bewohnung des menschlichen Geschlechtes nutzbarlichst könnte angewendet werden, von welchen die<br />

meisten Ländereyen in ihrem Schoose einen unerschöpflichen Reichtum an allerley kostbaren Erzen und Metallen<br />

verborgen halten; …<br />

1.<br />

Verstatten Wir allen Ausländern, in Unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jeden<br />

gefällig, häuslich niederzulassen.<br />

2.<br />

Dergleichen Fremde können sich nach ihrer Ankunft nicht nur in Unsere Residenz bey der zu solchem Ende für die<br />

Ausländer besonders errichteten Tütel-Canzley, sondern auch in den anderweitigen Gränz-Städten Unseres Reiches<br />

nach eines jeden Bequemlichkeit bey denen Gouverneure, der wodergleichen nicht vorhanden, bey den vornehms-<br />

ten Stadts-Befehlshabern zu melden.<br />

3.<br />

Da unter denen sich in Rußland niederzulassen Verlangen tragenden Ausländern sich auch solche finden würden,<br />

die nicht Vermögen genug zu Bestreitung der erforderlichen Reisekosten besitzen: so können sich dergleichen bey<br />

Unseren Ministern und an auswärtigen Höfen melden, welche sie nicht nur auf Unsere Kosten ohne Anstand nach<br />

Rußland schicken, sondern auch mit Reisegeld versehen sollen.<br />

4.<br />

Sobald dergleichen Ausländer in Unserer Residenz angelangt und sich bei der Tütel-Canzley oder in einer Gränz-Stadt<br />

gemeldet haben werden; so sollen dieselben gehalten sein, ihren wahren Ent-schluß zu eröffnen, worinn nehmlich<br />

ihr eigentliches Verlangen bestehe, und ob sie sich unter die Kaufmannschaft oder unter Zünfte einschreiben lassen<br />

und Bürger werden wollen, und zwar nah-mentlich, in welcher Stadt; oder ob sie Verlangen tragen, auf freyem<br />

und nutzbarem Grunde und Boden in ganzen Kolonien und Landflecken zum Ackerbau oder zu allerley nützlichen<br />

Gewerben sich niederlassen; da sodann alle dergleichen Leute nach ihrem eigenen Wunsche und Verlangen ihre<br />

Bestimmung unverweilt erhalten werden; gleich denn aus beifolgendem Register zu ersehen ist, wo und an welchen<br />

Gegenden Unseres Reiches nahmentlich freye und zur häuslichen Niederlassung bequeme Ländereyen vorhanden<br />

sind; wiewohl sich außer der in bemeldetem Register aufgegebenen noch ungleich mehrere weitläufige Gegenden<br />

und allerley Ländereyen finden, allwo Wir gleichergestalt verstatten sich häuslich niederzulassen, wo es sich ein jeder<br />

am nützlichsten selbst wählen wird.<br />

…….<br />

5.<br />

6.<br />

Damit aber die Ausländer, welche sich in Unserem Reiche niederzulassen wünschen, gewahr werden müssen, wie<br />

weit sich Unser Wohlwollen zu ihrem Vorteile und Nutzen erstrecke, so ist, dieser Unser Wille:<br />

1. Gestatten Wir allen in Unser Reich ankommenden Ausländern unverhindert die freie Religions-Übung nach<br />

ihren Kirchen-Satzungen und Gebräuchen; denen aber, welche nicht in Städten, sondern auf unbewohnten Lände-<br />

reyen sich besonders in Colonien oder Landflecken nieder zu lassen gesonnen sind, erteilen Wir die Freyheit, Kirchen<br />

und Glocken-Türme zu bauen und dabey nöthige Anzahl Priester und Kirchendiener zu unterhalten, nur einzig den<br />

Klosterbau ausgenommen. Jedoch wird hierbey jedermann gewarnt keinen in Rußland wohnhaften christlichen


MANIFEST DER ZARIN KATHARINA II. VOM JULI 1763 - BS3<br />

Glaubensgenossen, unter gar keinem Vorwande zur Annehmung oder Beypflichtung seines Glaubens und seiner<br />

Gemeinde zu bereden oder zu verleiten, falls er sich nicht der Furcht der Strafe nach aller Strenge Unserm Gesetze<br />

auszusetzen gesonnen ist. Hiervon sind allerley an Unsere Reiche angrenzende dem Mahometanischen Glauben<br />

zugethane Nationen ausgeschlossen; als welche Wir nicht nur auf eine anständige Art zur christlichen Religion zu-<br />

neigen, sondern auch sich selbige unterthänig zu machen, einem jeden erlauben und gestatten.<br />

2. Soll keiner unter solchen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommene Ausländer an unsere Cassa<br />

die geringsten Abgaben zu entrichten, und weder gewöhnliche oder außerordentliche Dienste zu leisten gezwun-<br />

gen, noch Einquartierung zu tragen verbunden, sondern mit einem Worte, es soll ein jeder von aller Steuer und<br />

Auflagen folgendermaßen frey sein: diejenigen nehmlich, welche in vielen Familien und ganzen Colonien eine bisher<br />

noch unbekannte Gegend besetzen, genießen dreyßig Frey-Jahre;…<br />

3. Allen zur häuslichen Niederlassung nach Rußland gekommenen Ausländern, die entweder zum Kornbau und<br />

anderer Handarbeit, oder aber Manufacturen, Fabriken und Anlagen zu errichten geneigt sind, wird alle hülfliche<br />

Hand und Vorsorge dargeboten und nicht allein hinlanglich und nach eines jeden, erforderlichen Vorschub gereichet<br />

werden, je nachdem es die Notwendigkeit und der künftige Nutzen von solchen zu errichtenden Fabriken und An-<br />

lagen erheischet, besonders aber von solchen, die bis jetzo in Rußland noch nicht errichtet gewesen.<br />

4. Zum Häuser-Bau, zu Anschaffung verschiedener Gattung im Hauswesen benöthigten Viehes, und zu allerley<br />

wie beym Ackerbau, also auch bey Handwerken, erforderlichen Instrumenten, Zubehöre und Materialien, soll einem<br />

jeden aus unserer Cassa das nöthige Geld ohne alle Zinsen vorgeschossen, sondern lediglich das Kapital, und zwar<br />

nicht eher als nach Verfließung von zehn Jahren zu gleichen Theilen gerechnet, zurück gezahlt werden.<br />

5. Wir überlassen denen sich etablirten ganzen Colonien oder Landflecken die innere Verfassung der Jurisdiction<br />

ihrem eigenen Gutdünken, solcher-gestalt, daß die von Uns verordneten obrigkeitlichen Personen an ihren inneren<br />

Einrichtungen gar keinen Antheil nehmen werden, im übrigen aber sind solche Colonisten verpflichtet, sich Unserem<br />

Civil-Recht zu unterwerfen. …<br />

7. Solche in Rußland sich niederlassende Ausländer sollen während der ganzen Zeit ihres Hierseins, außer dem ge-<br />

wöhnlichen Land-Dienste, wider Willen weder in Militär noch Civil-Dienst genommen werden; ja auch zur Leistung<br />

dieses Land-Dienstes soll keines eher als nach Verfließung obangesetzter Freyjahre verbunden seyen: ….<br />

8. Sobald sich Ausländer in der für sie errichteten Tütel-Canzley oder sonst in Unsern Gränz-Städten gemeldet<br />

und ihren Entschluß eröffnet haben, in das Innerste des Reiches zu reisen, und sich daselbst häuslich niederzulassen,<br />

so bald werden selbige auch Kostgeld, nebst freyer Schieße an den Ort ihrer Bestimmung bekommen.<br />

… 7.<br />

Aller obengenannten Vorteile und Einrichtung haben sich nicht nur diejenigen zu erfreuen, die in Unser Reich ge-<br />

kommen sind, sich häuslich nieder zu lassen, sondern auch ihre hinterlassene Kinder und Nachkommenschaft, wenn<br />

sie auch gleich in Rußland geboren, solchergestalt, daß ihre Freyjahre von dem Tage der Ankunft ihrer Vorfahren in<br />

Rußland zu berechnen sind.<br />

10. Wenn übrigens einige zur häuslichen Niederlassung nach Rußland Verlangen tragenden Aus-länder aus einem<br />

oder anderen besonderen Bewegungsgründen, außer obigen noch andere Conditiones und Privilegien zu gewinnen<br />

wünschen würden; solche haben sich deshalb an Unsere für die Ausländer errichteten Tütel-Canzley, welche uns alles<br />

umständlich vortragen wird, schriftlich oder persönlich zu wenden: worauf Wir alsdann nach Befinden der Umstände<br />

nicht anstehen werden, um so viel mehr geneigte Allerhöchste Resolution ertheilen, als sich ein jeder von Unserer<br />

Gerechtigkeitshiebe zuversichtlich versprechen kann.<br />

Gegeben zu Peterhof, im Jahre 1763 den 22ten Juli, im Zweyten Jahre Unserer Regierung - Das Original haben<br />

Ihre Kayserliche MajestätAllerhöchst eigenhändig folgendergestalt unterschrieben: Gedruckt beym Senate den 25.<br />

Juli 1763.“<br />

Zit. nach: Karl Stumpp: Die Auswanderung aus Deutschland nach Rußland 1763-1862, Tübingen (1972), S. 14-18<br />

<strong>TB</strong> 3,2<br />

7


<strong>TB</strong> 4<br />

8<br />

INFOS ZUR GESCHICHTLICHEN SITUATION UM 1763 - BS3<br />

Missstände in Deutschland – Politik Katharinas II. – Territorialzuwachs<br />

„Nutzbarmachung“ dünn besiedelter Gebiete und Grenzsicherung<br />

Gestützt auf den Adel und leitende Minister, leitete Katharina II. im Inneren im Sinn des aufgeklärten<br />

Absolutismus zahlreiche Reformen zur Stärkung von Verwaltung, Wirtschaft und Militär ein; die bestehende<br />

Gesellschaftsordnung jedoch wurde aufrechterhalten, die Lage der Bauern sogar noch verschärft:<br />

Der Adel erfuhr weitere Privilegien (z. B. im „Gnadenbrief für den Adel” von 1785); die Leibeigenen<br />

wurden nun vollends dem Grund besitzenden Adel ausgeliefert, und ihr Status näherte sich dem der<br />

Sklaverei. An der Wolga und den neu gewonnenen Gebieten im Süden Russlands ließ sie durch Potemkin<br />

in großem Umfang Kolonisten aus Mittel- und Südosteuropa, u. a. Deutsche, ansiedeln, das Land<br />

kultivieren und Städte und Häfen anlegen.<br />

Mit ihrer erfolgreichen Machtpolitik nach außen etablierte Katharina Russland endgültig als europäische<br />

Großmacht. Durch zwei Kriege gegen das Osmanische Reich, Russisch-Türkische Kriege, konnte Russland<br />

seine Grenzen bis zum Dnjestr vorschieben und erhielt außerdem einen breiten Zugang zum Schwarzen<br />

Meer, und 1783 gewann Russland durch die Annexion des Khanats der Krimtataren die Krim.<br />

Unter Katharina II. und Alexander I. erfuhr Russland eine gewaltige Ausweitung seines Territoriums.<br />

Es galt nun, die den Türken und Krimtataren abgenommenen, kaum besiedelten Gebiete im<br />

Süden des Landes der Gesamtwirtschaft nutzbar zu machen, sie zu kultivieren und die Grenzen gegen<br />

nomadisierende Stämme zu sichern.<br />

Deshalb erließ Katharina II. am 22. Juli 1763 ein Manifest, in dem Ausländer aufgefordert wurden,<br />

sich in Russland niederzulassen. Die wichtigsten Punkte dieses Manifestes lauteten:"Gestatten wir allen<br />

Ausländern, in unser Reich zu kommen, um sich in allen Gouvernements, wo es einem jedem gefällig,<br />

häuslich niederzulassen. ..Gestatten wir ... die freie Religionsausübung nach ihren kirchlichen Satzungen.<br />

. . Soll keiner, der nach Russland gekommenen Ausländer, an unsere Cassa die geringsten Abgaben<br />

entrichten. . . " Es wurde Freiheit vom Militär- und Zivildienst versprochen. Das Land wurde den Kolonisten<br />

als Gemeingut auf ewige Zeiten überlassen. Es durfte ohne Genehmigung weder verkauft noch<br />

abgetreten werden. Die Siedler durften aber zusätzlich Grundstücke von Privatpersonen kaufen. Den<br />

Kolonisten wurde ferner das Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung gewährt; sie unterstanden direkt<br />

der Krone und nicht der inneren Verwaltung des Zarenreichs.<br />

Diese Einladung zur Einreise nach Russland wurde durch russische Residenten (in Russland engagierte<br />

Werber) bei allen europäischen Höfen verbreitet und hatte den gewünschten Erfolg. Daneben sorgten<br />

auch sog. „Privat-Werber für die Verbreitung des Manifests. Sie bekamen von der russischen Regierung<br />

Prämien für ihre Tätigkeit zugesagt sowie das Recht, mit den von ihnen Angeworbenen Sonderverträge<br />

abzuschließen. Besonders aktiv waren die Gesandten in Deutschland. Im Laufe des Siebenjährigen<br />

Krieges von 1756 bis 1763 waren viele Landesteile Deutschlands stark zerrüttet, die Einwohner in ihrer<br />

wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit so stark geschwächt, dass Tausende kein Auskommen mehr hatten.<br />

Deshalb hatten die Werber im Auftrage der Zarin einen großen Erfolg, besonders in Hessen, in Nordbayern,<br />

Nordbaden, der bayerischen Rheinpfalz und anderen Gebieten. Weiterhin wurden kleinere Kontingente<br />

Franzosen, Holländer, Schweizer und andere angeworben.<br />

Folgen des Siebenjährigen Krieges in deutschen Provinzen:<br />

Die Privilegien erschienen besonders verlockend angesichts der Not und Missstände,<br />

vor allem in Hessen und Südwestdeutschland: Siebenjähriger Krieg, später napole-<br />

onische Kriege, Abgaben an Grundherrn, Lebensmittelteuerungen,<br />

- Fremde Besatzung, Zwangsrekrutierungen<br />

- Heeres- und Frondienste, wirtschaftliche Not<br />

- Missernten, Plünderungen, Hungerjahre<br />

- Beeinträchtigung der Glaubensfreiheit<br />

(in: Deutsche in Russland, hrsg. v. Rothe, S. 1-31)<br />

Das bettelnde Soldatenweib. Kupferstich von Daniel<br />

Chodowiecki, 1764. Das Bild führt die Folgen<br />

des Siebenjährigen Krieges (1756-1763) für die<br />

einfache Bevölkerung in den betroffenen Gebieten<br />

vor Augen.


GRÜNDE ZUR AUSWANDERUNG - BS3 <strong>TB</strong> 5<br />

Im Siebenjährigen Krieg schlug sich Friedrich von Hessen-Kassel auf die Seite Preußens und kämpfte in<br />

der preußischen Armee bis zum Ende des Krieges mit. 1760 wurde Friedrich Landgraf von Hessen-Kassel<br />

und unternahm einige erfolglose Versuche, die Grafschaft Hanau wieder mit Hessen-Cassel zu vereinigen,<br />

die aber am Widerstand Großbritanniens und den evangelischen Ständen scheiterten. Nach dem<br />

Krieg begann in Kassel eine rege Bautätigkeit, die der Landgraf unterstützte und förderte. Er siedelte<br />

Industrie und Manufakturen in Hessen an, er holte Künstler und Gelehrte nach Kassel. Das erste frei<br />

zugängliche Museum des europäischen Festland, das Fridericianum entstand 1779. Er gründete 1777<br />

auch die Akademie der Künste.<br />

Soldatenhandel<br />

Die Finanzmittel für diese Vorhaben kamen aus dem in dieser Zeit geläufigen Vermietung von Soldaten<br />

an andere Staaten, vorrangig an Großbritannien. England benötigte Truppen für den Amerikanischen<br />

Unabhängigkeitskrieg und Friedrich und andere deutsche Fürsten stellten König Georg III. über 20.000<br />

Soldaten für den Krieg in Amerika. Hierfür schloss Friedrichs Minister von Schlieffen mit England Verträge<br />

ab, die Friedrich zu einem der reichsten Fürsten Europas machten.<br />

Der so genannte Soldatenhandel unter Landgraf Friedrich II. von Hessen-Kassel macht<br />

den Fürsten bis in die Gegenwart hinein zur Zielscheibe von Kritik. Tatsächlich war der<br />

„Soldatenhandel“ wirtschaftlichen und militärischen Zwängen geschuldet. Hessen war<br />

in Folge seiner Zentrallage auf ein starkes Heer angewiesen, konnte jedoch wegen<br />

der nicht überwundenen Verwüstungen des Siebenjährigen Krieges, der gerade auf<br />

hessischem Territorium tief greifende Schädigungen des Wirtschaftslebens gezeitigt<br />

hatte, aus eigenen Mitteln nur schwerlich die benötigte Truppenstärke unterhalten.<br />

Die Anwerbung der Truppen durfte auf Friedrichs Befehl hin nicht unter Zwang oder<br />

Gewaltanwendung erfolgen und versprach für viele hessische Freiwillige ein sicheres<br />

Auskommen.<br />

Die Kritik an der Bereitstellung von Truppen beschränkt sich meist auf Friedrich II., obwohl andere<br />

Feudalherren der Zeit, aber auch die demokratisch regierte Schweiz vergleichbar vorgingen. Die<br />

nähere Betrachtung der finanziellen Konditionen, unter denen die hessischen Truppen in Nord-<br />

amerika eingesetzt wurden, belegt, dass für dauerhaft beschädigte, gefallene oder gestorbene<br />

Soldaten Zahlungen an Hessen fällig wurden, die zum Teil in mildtätige Stiftungen liefen, welche<br />

bis zur Inflation der 1920er Jahre Bestand hatten.<br />

Wegen des großen Anteils hessischer Soldaten an den britischen Hilfstruppen, ist in den USA bis heute die Bezeich-<br />

nung Hessians für alle deutschen Hilfstruppen des Unabhängigkeitskriegs gebräuchlich.<br />

Im Jahre 1785 starb Friedrich überraschend an einem Schlaganfall und hinterließ seinem Nachfolger Wilhelm IX.<br />

nach 25-jähriger Regentschaft ein gefülltes Staatssäckel. Er wurde in der von ihm begründeten katholischen Sankt-<br />

Elisabeth-Kirche beigesetzt und nach dem Zweiten Weltkrieg in das Treppenhaus des Neubaus der Kirche umgebet-<br />

tet. Somit ist er der einzige Landgraf der Neuzeit, der nicht in der Kasseler Martinskirche beigesetzt ist.<br />

Denkmal Friedrichs II. auf dem<br />

Friedrichsplatz in Kassel<br />

9


<strong>TB</strong> 6<br />

10<br />

HESSEN ZIEHEN AN DIE WOLGA – ZEITUNGSAUSSCHNITT –<br />

BS3<br />

Hessen ziehen an die Wolga<br />

Vorfahren der Russlanddeutschen folgen 1763 dem Ruf der Zarin<br />

Von Klaus P. Andrießen<br />

(06441)959184<br />

k.andriessen@mittelhessen.de<br />

Wetzlar. Als Michael Hechler mit seiner Fami-<br />

lie 1989 aus Kasachstan nach Hessen kommt,<br />

da erinnert ihn die Mundart in Wetzlar an seine<br />

Schwiegermutter. ,Die hat hessisch gesprochen",<br />

sagt der niedergelassene Chirurg. Die Wurzeln<br />

der Flechters aus der ehemaligen Sowjetrepublik<br />

Kasachstan liegen In der Pfalz. „Das Wissen da-<br />

rüber gehört natürlich zur Überlieferung unserer<br />

Familie."<br />

Vor rund 240 Jahren waren gut 100 000 Men-<br />

schen einem Aufruf der russischen Zarin Katha-<br />

rina II. gefolgt, die mit deutschen Bauern und<br />

Handwerkern den Aufschwung ihres Landes<br />

fördern wollte. Genaugenommen ging es der<br />

Monarchin um die Bevölkerung des brachliegen-<br />

den Landes und die Sicherung ihres politischen<br />

Grenzlandes im Westen. Sie versprach den Kolo-<br />

nisten kostenloses Land, 30 Jahre Steuerfreiheit,<br />

Befreiung vom Militärdienst, freie Religionsaus-<br />

übung, kulturelle Autonomie und einiges mehr.<br />

Es war eine Verlockung für die Menschen, die<br />

wegen der Folgen des siebenjährigen Krieges,<br />

Landmangel und der drückenden Steuerlast der<br />

feudalen Kleinstaaten keine Zukunft für sich in<br />

Deutschland sahen. -Sie kamen vorwiegend aus<br />

Hessen und dem Südwesten Deutschlands - aus<br />

Baden, Württemberg, der Rheinpfalz und dem<br />

Elsass - aber auch aus Danzig-Westpreußen<br />

Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Meinung und Analyse“ vom 22. Mai 2006, Seite 3<br />

und der Oberlausitz“, heißt es im Katalog der<br />

Ausstellung „Volk auf dem Weg“ der Lands-<br />

mannschaft der Deutschen aus Russland.<br />

Hessen bestand damals aus einer Fülle von<br />

Klein- und Kleinststaaten. Karl Stumpp, eh-<br />

renamtlicher Chronist der Russlanddeutschen,<br />

hat sich die Mühe gemacht, auf einer Karte<br />

alle Orte einzutragen, von denen Auswande-<br />

rungen in alten Archiven und Kirchenbüchern<br />

bezeugt sind. Daraus geht hervor, dass Mit-<br />

telhessen, der Vogelsberg und der Odenwald<br />

zu den wichtigsten Herkunftsgebieten derer<br />

gehören, die sich nach Russland auf den Weg<br />

machten. Aus den Kirchenbüchern geht her-<br />

vor, dass allein in Büdingen 400 Paare vor<br />

ihrer Auswanderung im Jahr 1776 heirateten.<br />

Der Weg nach Russland - tausende von Kilo-<br />

metern und nicht selten zu Fuß - war beschwer-<br />

lich und gefährlich. Und die Ankunft im Ziel-<br />

gebiet oft eine Enttäuschung. Ein Kolonist hat<br />

darüber geschrieben: ,Der Weg führte durch<br />

eine Steppe, die uns eben keine günstige Mei-<br />

nung von dem geträumten Paradiese, das wir<br />

bevölkern sollten, beibrachte. Auf dem ganzen<br />

Weg landen wir kein Dorf, außer einigen deut-<br />

schen Kolonien, welche unsere Hoffnung von<br />

der Zukunft noch mehr herabstimmten, weil<br />

wir sahen, dass bei diesen verpflanzten Lands-<br />

leuten die äußerste Dürftigkeit herrschte.‘<br />

Hessen, vor allem aus Oberhessen und Hes-<br />

sen-Darmstadt, waren beim ersten Kolonisa-<br />

tionsprojekt an der Wolga so zahlreich ver-<br />

treten, dass die Sprache der Wolgadeutschen noch<br />

heute dem Hessischen nahesteht“, schreibt die<br />

Historikerin Inge Auerbach 1984 im Katalog zur<br />

Hessentagsausstellung . "Auswanderung aus Hes-<br />

sen". Auf dem Weg an die Wolga hätten sich bei<br />

der ersten Wanderungswelle 1763 allerdings einige<br />

Handwerker auch bei St. Petersburg angesiedelt.<br />

Katharinas Nachfolger will nur noch begüterte<br />

Siedler<br />

In einer zweiten Siedlerwelle kommen nach 1803<br />

Südhessen in die Ukraine. Katharinas Nachfolger<br />

Alexander I. hatte sie gerufen. wollte aber nur<br />

solche, die pro erwachsenem Mann 300 Gulden<br />

Kapital hatten und beschränkte den jährlichen<br />

Zuzug auf 200 Familien. Diese begüterten Sied-<br />

ler erwiesen sich als Innovativ und erfolgreich.<br />

Sie wurden nach Inge Auerbach auch den Wol-<br />

gadeutschen zum Vorbild. 1819 stoppte Russland<br />

die Einwanderung. Heute sind über 2,2 Millionen<br />

Russlanddeutsche als Aussiedler in der Bundes-<br />

republik aufgenommen worden. Nach einem ge-<br />

setzlich festgelegten Schlüssel werden sie auf die<br />

Bundesländer verteilt. So sind in Hessen 1992<br />

noch 20 119 Russlanddeutsche aufgenommen wor-<br />

den, im Jahr 2005 waren es nur noch 2571. Was<br />

die Russlanddeutschen im 19. und 20. Jahrhundert<br />

erlebten und warum und ihre Nachfahren als Aus-<br />

siedler wieder nach Deutschland kommen, das le-<br />

sen sie auf der Sonderseite "Deutsche in Russland“


WANDERWEGE - BS4 <strong>TB</strong> 7,1<br />

Verbreitung des Manifests in deutschen Ländern<br />

Die Werber<br />

Verbreitung fand das Manifest Katharinas durch russische Kommissare, die es in europäischen Häfen<br />

bekannt machten. Daneben wurden seitens der russischen Regierung ausländische Werber engagiert,<br />

denen für ihre Dienste hohe Prämien versprochen wurden:<br />

Außer einer Prämie von fünf bis zehn Rubeln für jede geworbene Familie erhielten die Werber für jeweils<br />

100 Familien drei Parzellen in den Ansiedlungsgebieten. Als finanzielle Starthilfe kam ein zinsloser Zehnjahreskredit<br />

in Höhe von 4.000 Rubeln dazu. Die Werber erhielten zudem das Recht, mit den Auswanderern<br />

Sonderrechte und -leistungen zu vereinbaren. Welche Sonderrechte und -leistungen dem Werber<br />

dabei eingeräumt wurden, zeigt der Entwurf eines derartigen Ansiedlungsvertrages. Darin wurde dem<br />

Werber das Vorkaufsrecht auf alle Produkte eingeräumt, die der Siedler verkaufen wollte. Gleichzeitig<br />

konnte er aber den Preis nicht frei aushandeln. Dieser durfte nur so hoch sein, wie er allgemein von<br />

Dritten verlangt wurde. Der Siedler verpflichtete sich auch zur Zahlung des Zehnten, also des zehnten Teils<br />

von allen Getreideprodukten und dem Geflügel an den Leiter der Kolonie - den ehemaligen Werber.<br />

1764 unterstanden 63 der insgesamt 104 Dörfer auf beiden Seiten der Wolga ehemaligen Werbern,<br />

die jetzt als Direktoren fungierten und sich an die Stelle einer autonomen Gemeindeverwaltung setzten.<br />

Diese Gemeinden hatten zunächst den Status der „Privatkolonien“ inne, wohingegen die autonomen<br />

Kolonien den Status der nur der Krone unterstellten "Kronkolonien" besaßen. Gegen deren Ansprüche<br />

wehrten sich die Kolonisten. 1779 kam es durch eine Verfügung der Zarin zur Gleichstellung von Privat-<br />

und Kronskolonien.<br />

Den Werbern wurde für jede von ihnen gewonnene Familie eine Prämie gezahlt. Auch hier ist Christian<br />

Gottlieb Züge ein gutes Beispiel. Als Handwerksgeselle dürfte er kaum die notwendige Qualifikation<br />

besessen haben, um sich in Russland als Bauernkolonist eine neue Lebensgrundlage aufzubauen.<br />

Er war kein Einzelfall, wie die Ergebnisse einer 1769 von Katharina II. verfügten Inspektion der Wolgakolonien<br />

zeigten. Damals wurde festgestellt, dass rund 9 Prozent aller Kolonistenfamilien nicht für die<br />

Landwirtschaft geeignet waren. Von den 6.433 dort lebenden Familien waren es 579. Bei einer zweiten<br />

Inspektion 1774 stieg dieser Anteil sogar auf 10 Prozent. Dieser Zustand war aber nicht allein den<br />

Werbern anzulasten, sondern auch der russischen Regierung. Sie ließ sich zunächst von dem Gedanken<br />

leiten, allein eine hinreichend hohe Zahl von Menschen würde die Kolonisation erfolgreich gestalten.<br />

Wanderwege<br />

Die große planmäßige Ansiedlung deutscher Bauern in Russland begann 1763 und dauerte bis 1842. Einzelne<br />

Kolonien wurden noch bis 1862 angelegt. Auf Grund des Manifestes der Zarin Katharina II. begann<br />

nach dem Siebenjährigen Krieg eine Massenauswanderung nach Russland, vor allem aus Hessen, aber<br />

auch aus den Rheinlanden und Württemberg. Der beschwerliche Weg - damals gab es noch keine Eisenbahnen<br />

und Dampfschiffe - führte zu Lande bis Lübeck und von hier auf dem Wasser nach Petersburg.<br />

Von dort verlief die Weiterreise auf dem Landweg über Moskau oder auf dem Wasserwege auf der Wolga<br />

bis Saratow, wo auf einer geschlossenen Landfläche 104 deutsche Siedlungen angelegt wurden.<br />

11


<strong>TB</strong> 7,2<br />

12<br />

WANDERWEGE - BS 4<br />

Die zweite größere Auswanderung war die der Mennoniten aus Danzig-Westpreußen in den Jahren 1789<br />

und dann nochmals ab 1803. Der Weg ging diesmal über Riga ins Schwarzmeergebiet nach Chortitza<br />

und an die Molotschna. In den Jahren 1804 und 1816/17 bis 1842 fand die stärkste Auswanderung aus<br />

Württemberg statt. Der Weg führte von Ulm donauabwärts oder zu Land über Podolien in die Gegend<br />

bei Odessa, nach Bessarabien, auf die Krim und in den Südkaukasus.<br />

Die Siedler aus der Pfalz, dem Elsass und Nordbaden kamen in den Jahren 1809/10. Der Reiseweg ging<br />

meist über Polen und Podolien vorwiegend in das Gebiet Odessa, wo viele große katholische Dörfer<br />

entstanden. Die Siedler gaben ihren Kolonien oft die Namen ihrer in der alten Heimat zurückgelassenen<br />

Dörfer und Städte (z.B. Basel, Darmstadt, Mariental, Rosenberg, Rheinhardt; Stuttgart, Karlsruhe, Mannheim,<br />

Selz, Straßburg; Tiege, Tiegenhagen, Altonau, Lichtenau, Orloff). Insgesamt wurden im Schwarzmeergebiet,<br />

in Bessarabien und im Südkaukasus 181 Mutterkolonien gegründet.<br />

Quelle: Deutsche Jugend aus Russland e.V., http://www.djrbund.de/pagefotos/auswanderungswege.jpg


DAS „KOLONISTENGESETZ“ – BS 4 <strong>TB</strong> 8<br />

Anreise und Niederlassung im Wolgagebiet – Das sog. „Kolonistengesetz“<br />

Das sog. „Kolonistengesetz“ 19. März 1764<br />

Nur kurze Zeit nach Veröffentlichung des Manifests in Europa beschließt Katharina die vorrangige Besiedlung<br />

des Wolgagebiets. Von den 30.000 eingereisten Deutschen werden 26.000 auf die Weiterreise<br />

ins Wolgagebiet geschickt; einige wenige Tausend siedeln in der Umgebung Petersburgs. Mehr als 3000<br />

Menschen überleben die Strapazen der Reise nicht. Es zeichnet sich ab, dass das Versprechen der freien<br />

Landwahl und auch das der freien Berufswahl nicht eingehalten wird. Handwerkern und Kaufleuten<br />

wird zwangsweise Land zugeteilt, dessen Bebauung sie später nicht leisten können, da ihnen jegliche<br />

Erfahrung fehlt.<br />

Zuständig für die Belange der Kolonisten ist die Niederlassung der obersten Vormundschaftsbehörde der<br />

Ausländer (Tutelkanzlei, Petersburg) in Saratow.<br />

Hier erhalten die Kolonisten ihre Landzuteilung und Kredite für Hausbau, Anschaffung landwirtschaftlicher<br />

Geräte, Saatgut, Vieh.<br />

Als sich 1764 der unerwartet hohe Zustrom von Kolonisten aus dem Ausland abzeichnet, werden die<br />

Versprechungen des Manifestes konkretisiert (Landverteilung) und Regelungen zum rechtlichen Status<br />

der Einwanderer, Landverteilungsfragen, Erbrecht… in einem sog. „Kolonistengesetz“ vom 19. März<br />

1764 zusammengefasst.<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch1/kolonialgesetzgebung.htm<br />

Die Kolonisierung der frei stehenden Gebiete wird darin geregelt.<br />

Regelungen:<br />

•<br />

•<br />

•<br />

•<br />

•<br />

•<br />

Die Einteilung des Siedlungsgebietes an der Wolga in kreisförmige Gebiete mit einem Durchmesser<br />

von ca. 70 Werst (1 Werst = 1,067 km). Diese Gebiete (volost) durften jeweils mit ca. 1000 Familien<br />

besiedelt werden.<br />

Die Anzahl der zu gründenden Kolonien: 52 auf der „Bergseite“ der Wolga, 52 auf der „Wiesenseite“<br />

der Wolga (links steil abfallend, rechts fruchtbares Flachland)<br />

Die Zuteilung des Landes zur Erbleihe – 30 Desjatinen. Das Land bleibt Eigentum der Krone (nicht,<br />

wie zugesagt, Eigentum des einzelnen Kolonisten). Es soll nicht geteilt, verpfändet oder verkauft<br />

werden, die Gemeindeverwaltung vertritt den Anspruch der Krone.<br />

Die Selbstverwaltung der Gemeinden<br />

Die Aufteilung der Kolonien nach Konfession getrennt<br />

Das Anerbrecht – einzelne Höfe sollen nicht aufgeteilt werden ( dies wird später in den Kolonien des<br />

Wolgagebiets nicht eingehalten)<br />

Viele der im Manifest zugesagten Versprechungen werden mit dem Kolonistengesetz relativiert, z.B. die<br />

freie Landwahl , freie Berufswahl, Erlangung des Grundbesitzes als Erbeigentum. Zudem wird mit dem<br />

Kolonisteneid der Status als Untertan der russischen Krone fixiert, so dass eine beliebige Rückreise nahezu<br />

unmöglich gemacht wird.<br />

13


<strong>TB</strong> 9<br />

14<br />

DER HANDWERKER „ZÜGE“ - BS 4<br />

Der Geraer Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge vermittelt auch heute noch einen lebendigen<br />

Eindruck über die Enttäuschung, die sich unter den Kolonisten bei der Ankunft in den Siedlungsgebieten<br />

breit machte.<br />

Der 1746 als Sohn eines Zeugmachers in Gera geborene Handwerksgeselle Christian Gottlob Züge gelangte<br />

1764 auf seiner Wanderschaft nach Lübeck. Hier schloss er sich einem Zug von Auswanderern<br />

an. In seinem 1802 erschienenen Buch "Der russische Colonist oder Christian Gottlob Züge´s Leben in<br />

Russland. Nebst einer Schilderung der Sitten und Gebräuche der Russen, vornehmlich in den asiatischen<br />

Provinzen" gibt er nicht nur eine wenig schmeichelhafte Charakteristik der nach Russland auswandernden<br />

Menschen, sondern er beschreibt auch seine Eindrücke von der Reise in die Siedlungsgebiete und<br />

von den Schwierigkeiten nach der Ankunft. Nach der Ankunft im Siedlungsgebiet zog er bald nach Saratow,<br />

wo er zunächst in einer Manufaktur arbeitete. Danach war er Mitglied einer Schauspielertruppe.<br />

Nachdem ihm mit Hilfe eines falschen Passes die Flucht aus Russland gelungen war, kehrte er 1774 in<br />

seine Geburtsstadt zurück.<br />

In seinem Buch "Der russische Colonist" lesen wir:<br />

"Unser Führer rief halt! Worüber wir uns sehr wunderten, weil es zum Nachtlager noch zu früh war;<br />

unsere Verwunderung gieng aber bald in Staunen und Schrecken über, als man uns sagte, daß wir hier<br />

am Ziel unserer Reise wären. Erschrocken blickten wir einander an, uns hier in einer Wildniß zu sehen,<br />

welche, so weit das Auge reichte, außer einem kleinen Walde, nichts als fast drei Schuh [entspricht<br />

etwa einem Meter] hohes Gras zeigte. Keins von uns machte Anstalt von seinem Roße oder Wagen<br />

herabzusteigen, und als das erste allgemeine Schrecken sich ein wenig verloren hatte, las man auf allen<br />

Gesichtern den Wunsch, wieder umlenken zu können ... Das ist also das Paradies, das uns die russischen<br />

Werber in Lübeck verhießen, sagte einer meiner Leidensgefährten mit einer traurigen Miene! ... Es war<br />

freilich eine Thorheit von uns gewesen, daß wir uns in Russlands unbewohnten Gegenden einen Garten<br />

Eden dachten; die Täuschung war aber dagegen auch allzu groß, dafür eine Steppe zu finden, die auch<br />

nicht einmal den mäßigsten Forderungen entsprach. Wir bemerkten in dieser unwirthbaren Gegend<br />

nicht die geringsten Anstalt zu unserer Aufnahme, sahen auch im Verlauf mehrerer Tage keine machen,<br />

und doch schien, bei dem nicht mehr fernen Winter Eile nöthig zu sein."<br />

Auch wenn die Siedler, wie Züge bemerkt, nach einer näheren Untersuchung<br />

der Umgebung feststellten, dass sie anscheinend doch<br />

nicht ganz so unfruchtbar zu sein schien wie anfänglich befürchtet,<br />

so fanden sie dennoch nicht die ihnen versprochenen Bedingungen<br />

vor. Das für den Bau der Häuser notwendige Material lag nicht in ausreichender<br />

Menge vor und der Bau der Häuser verzögerte sich. Einige<br />

Kolonisten mussten deshalb mehrere Monate in Erdhütten Schutz vor<br />

den Unbilden der Witterung suchen.


REISE UND ANSIEDLUNG AN DER WOLGA – PROBLEME – BS 4 <strong>TB</strong> 10<br />

Fast zwei Jahre dauerte die Reise der ersten Gruppe. Wie viele Einwanderer im Wolgagebiet in den ersten<br />

zehn Jahren nach Verbreitung des Manifests eintrafen, ist ungewiss: Die Angaben schwanken zwischen 23.000<br />

und 29.000 Personen. Nach der Ankunft stellte sich heraus, dass eine ganze Reihe von Versprechungen des<br />

Manifestes der Zarin nicht erfüllt wurden. So war das Land für die Kolonie noch nicht vermessen, von den<br />

versprochenen Häusern und Nebengebäuden stand noch kein einziges, an Baumaterial fehlte es ebenfalls.<br />

1764 waren nur Balken und Bretter für die Einrichtung von Häfen angeliefert worden. Die meisten Ankömmlinge<br />

mussten deshalb den ersten Winter in Saratow, in nahegelegenen Dörfern und zum Teil in primitiven<br />

Erdlöchern verbringen. Die erste deutsche Kolonie, „Nischnjaja Dobrynka“, wurde am 12. Juni 1764 auf einem<br />

Kronsland nördlich der heutigen Stadt Kamyschin gegründet.<br />

In den Jahren 1764 bis 1767 folgten auf dem Westufer der Wolga (Bergseite) insgesamt 33 Kolonien und auf<br />

dem Ostufer (Wiesenseite) 41 Kolonien, alles ebenfalls auf „Kronland“. Die neuen Siedlungen hatten bei ihrer<br />

Gründung noch keine amtlichen Namen, deshalb nannte man sie meistens nach dem ersten Vorsteher oder<br />

Schulzen, z. B. Kraft, Bähr, Pfeifer, Müller, Anton usw. Amtliche Ortsnamen wurden erst im Jahre 1768 vergeben.<br />

Verschont blieben nur wenige Orte, die meisten bekamen russische oder tatarische Ortsbezeichnungen.<br />

Jede Familie bekam bis zu 30 Desjatinen Land, davon 15 für Ackerbau, fünf für Wiesen, 5 für Wald, 1,5 für Gehöft<br />

und Garten und 3,5 für die Hutweide. Das Land wurde den Kolonisten zum erblichen Besitz der gesamten<br />

Kolonien überlassen. Die Entwicklung der Kolonien an der Wolga verlief in den ersten Jahrzehnten nach ihrer<br />

Gründung weniger günstig, als es die Regierung erwartet hatte. Man hatte es versäumt, die Voraussetzungen<br />

für eine erfolgreiche Ansiedlung zu schaffen. Diese Unzulänglichkeiten führten dazu, dass die Kolonisten in<br />

den ersten Jahren häufig in Erdlöchern hausten. Viele von ihnen wurden daher krank und starben. Die Erträge<br />

waren anfangs sehr mäßig und reichten vielfach nicht für die eigene Ernährung.<br />

Mit der Besiedlung des Wolgagebietes verfolgte die russische Regierung nicht nur wirtschaftliche Ziele. Die<br />

neu angelegten Dörfer sollten die inneren Gouvernements vor Raubzügen nomadisierender Kalmücken und<br />

Kasachen, die man damals Kirgisen nannte, schützen. Die für die Kolonisation verwendeten Ländereien waren<br />

damals das Weideland nomadisierender Viehhirten, die sich erst 1740 scheinbar der russischen Krone unterworfen<br />

hatten. Sie fühlten sich durch die Anlage der Kolonien und die Ausweitung des Ackerbaus bedrängt<br />

und griffen wiederholt einzelne Siedlungen an. In den Jahren 1771 und 74 wurden 17 Kolonien von Nomaden<br />

überfallen. Die Orte Chasselois, Cäsarsfeld, Keller und Leitzinger hatten darunter so schwer gelitten, dass sie<br />

nicht wieder aufgebaut wurden.<br />

Ca. 3000 Siedler sollen bis 1775 bei Überfällen ums Leben gekommen sein, 1200 bis 1500 wurden angeblich<br />

auf den Märkten von Chiwa und Buchara in die Sklaverei verkauft, von denen nur wenige wieder an die Wolga<br />

zurückkamen. Der Bauernaufstand unter der Führung von Emeljan Pugačev verschonte auch die Kolonien<br />

nicht. Nach der Einnahme der Stadt Saratow zogen Scharen plündernd durch das Land. Es wurden nicht nur<br />

Vieh und Getreide mitgenommen, sondern auch Männer. Manch einer nutzte diese Gelegenheit aber auch,<br />

um aus der Kolonie zu entkommen. Diese Erschwernisse und Rückschläge führten dazu, dass die Regierung<br />

erst im Jahre 1786 und nicht schon zehn Jahre nach der Ansiedlung, das heißt ab 1774, versuchte, die Auslagen<br />

für die Kolonisation von Siedlern einzutreiben. Es stellte sich aber heraus, dass die Kolonisten noch<br />

immer nicht im Stande waren, die Schulden zu bezahlen. Die erwarteten wirtschaftlichen Erfolge waren nicht<br />

eingetreten.<br />

Quelle (mit geringfügigen Änderungen):<br />

http://kommentare.zeit.de/user/rowisch/beitrag/2007/10/26/die-geschichte-der-deutschen-russland<br />

15


<strong>TB</strong> 11<br />

16<br />

BESIEDLUNG DES WOLGAGEBIETS – BS 4<br />

Schwierige Anfangsjahre an der Wolga<br />

Die Voraussetzungen für eine erfolgreiche Ansiedlung waren nicht geschaffen worden. So gestalteten<br />

sich die ersten Jahre für die Siedler recht schwierig. Viele hausten zunächst in Erdlöchern, weil das notwendige<br />

Baumaterial für Häuser fehlte. Nicht wenige wurden krank und viele starben. Die Erträge waren<br />

anfangs nur mäßig und reichten kaum für die eigene Ernährung.<br />

Mit der Besiedlung des Wolgagebietes verfolgte die russische Regierung nicht nur wirtschaftliche Ziele.<br />

Die neu angelegten Dörfer sollten die inneren Gouvernements vor Raubzügen nomadisierender Kalmücken<br />

und Kasachen, die man damals Kirgisen nannte, schützen. Die für die Kolonisation verwendeten<br />

Ländereien waren damals das Weideland nomadisierender Viehhirten, die sich erst 1740 scheinbar der<br />

russischen Krone unterworfen hatten. Sie fühlten sich durch die Anlage der Kolonien und die Ausweitung<br />

des Ackerbaus bedrängt und griffen wiederholt einzelne Siedlungen an. In den Jahren 1771 und<br />

74 wurden 17 Kolonien von Nomaden überfallen. Viele Orte wurden dauerhaft vernichtet.<br />

Rund 3000 Siedler sollen bis 1775 bei Überfällen ums Leben gekommen sein, 1200 bis 1500 wurden<br />

angeblich auf den Märkten von Chiwa und Buchara in die Sklaverei verkauft, von denen nur wenige<br />

wieder an die Wolga zurückkam. Der Bauernaufstand unter der Führung von Emeljan Pugaèev verschonte<br />

auch die Kolonien nicht. Nach der Einnahme der Stadt Saratow zogen Scharen plündernd durch das<br />

Land. Es wurden nicht nur Vieh und Getreide mitgenommen, sondern auch Männer. Manch einer nutzte<br />

diese Gelegenheit aber auch, um aus der Kolonie zu entkommen. Diese Erschwernisse und Rückschläge<br />

führten dazu, dass die Regierung erst im Jahre 1786 und nicht schon zehn Jahre nach der Ansiedlung,<br />

das heißt ab 1774, versuchte, die Auslagen für die Kolonisation von Siedlern einzutreiben. Es stellte sich<br />

aber heraus, dass die Kolonisten noch immer nicht im Stande waren, die Schulden zu bezahlen. Die<br />

erwarteten wirtschaftlichen Erfolge waren nicht eingetreten. Die Regierung sah sich daher gezwungen,<br />

Revisionen durchführen zu lassen.<br />

Im Zuge dieser Revisionen wurde so manche Ungerechtigkeit aufgedeckt und auch abgestellt. Unter anderem<br />

wurde auch die Selbstverwaltung wiederhergestellt. Amtssprache der Kolonieverwaltung war bis<br />

hinauf zur obersten Instanz Deutsch. Die Wiederherstellung der Selbstverwaltung verlieh den Kolonisten<br />

den ursprünglich gewährten Sonderstatus wieder.


ANSIEDLUNG AM SCHWARZEN MEER – BS 5<br />

Die Kolonisation Neurusslands unter Katharina II. und Paul I.<br />

Ein neuer Versuch der Kolonisation durch Auswanderer aus deutschen Ländern wird durch die Veröffentlichung<br />

eines Einladungsmanifestes der Zarin im Juli 1785 eingeleitet. Man beginnt, bei den Mennoniten des<br />

Danziger Werders und bei den Bürgern der Stadt Danzig für die Auswanderung nach Neurußland zu werben.<br />

Mit der Durchführung wurde Kollegienrat Georg von Trappe beauftragt.<br />

Seine Mission ist trotz des Widerwillens der preußischen Regierung und des Danziger Magistrats durchaus<br />

erfolgreich. Ihm gelingt es im Jahre 1789, 755 Personen anzuwerben. Vierzehn Familien aus dieser Gruppe<br />

werden in der sehr stark geschwächten Kolonie Alt-Schwedendorf angesiedelt, 21 Familien gründen die<br />

Kolonie Danzig im Bezirk Jelisawetgrad. Der andere Teil dieser Einwanderer lässt sich in den verschiedenen<br />

Städten des Gebiets als Handwerker nieder. Eine weitere Kolonistengruppe kann Georg Trappe im Jahre 1790<br />

nach Jekaterinoslaw bringen.<br />

Gleichzeitig mit den Danzigern kommen auch Mennoniten aus Westpreußen als Kundschafter nach Neurußland.<br />

Sie handelten mit dem Gouverneur Fürst Potjomkin die Bedingungen ihrer Ansiedlung aus, die sich nach<br />

den Bestimmungen des Einladungsmanifestes richteten.<br />

Die Landzuteilung ist nun viel großzügiger als 1763: sie bekommen 65 Desjatinen pro Familie. 1789 wandern<br />

228 Familien westpreußischer Mennoniten ein. Sie gründen in der Nähe der heutigen Stadt Zaporoschje zehn<br />

Kolonien: Chortiza, Einlage, Insel Chortiza, Kronsweide, Neuburg, Neudorf, Blumgart, Rosengard, Rosental und<br />

Schönhorst. Neben diesen, von der Regierung umgesiedelten oder angeworbenen Kolonisten verschiedener<br />

Nationalität und Herkunft, kamen im Jahre 1803 auch erste Kundschafter aus Württemberg in das Neurussisches<br />

Gebiet. Auch in diesem Fall wurde die Ansiedlung entsprechend dem Einladungsmanifest von 1763,<br />

jedoch mit größerer Landzuteilung, gestattet.<br />

Die Kolonisation unter Alexander I.<br />

Der Gedanke, deutsche Bauern zwischen den Bauern anderer Volkszugehörigkeit als Musterlandwirte anzusiedeln,<br />

führte dazu, dass durch einen Ukas vom 17. August 1793 einer Gruppe von 273 Kolonisten aus der<br />

Umgebung von Jamburg im Ingermannland die Umsiedlung nach Neurussland gestattet wurde.<br />

Sie gründen die Kolonie Jamburg in der Nähe von Jekaterinoslaw. Zu Beginn des 19. Jahrhunderts wurde<br />

dieser Gedanke weiterentwickelt und als Bericht des Innenministers Kotschubej dem Zaren Alexander I. vorgelegt.<br />

Der Minister stellt fest, „die Einladung aufgrund des Manifestes von 1763 enthält keine Beschränkung<br />

darüber, welche Leute anzunehmen sind, sondern bezieht sich im allgemeinen auf jeden Beruf und Stand;<br />

deshalb kamen anfangs auch viele schlechte und größtenteils sehr arme Wirte, welche dem Staate bis jetzt<br />

wenig Nutzen gebracht haben“.<br />

Mit Rücksicht auf die Vermehrung der eigenen Bevölkerung und die damit verbundene Umsiedlung eines Teiles<br />

davon nach Neurußland schlägt er die Ansiedlung „einer beschränkten Zahl solcher Einwanderer, welche<br />

in ländlichen Beschäftigungen und Handwerken als Beispiel dienen können“, vor. Vor allem sollten Bauern<br />

aufgenommen werden, die Erfahrungen im Weinbau, in der Anpflanzung von Obst- und Maulbeerbäumen, in<br />

der Viehzucht, insbesondere in der Schafzucht, hatten. Von den handwerklichen Berufen wurden Schneider,<br />

Schuster, Zimmerleute, Schmiede, Töpfer, Müller, Weber und Maurer ausdrücklich, andere Berufe nur nach<br />

Bedarf zur Einwanderung zugelassen.<br />

Während für die Gewinnung von Kolonisten für das Wolgagebiet den „Werbern“ Kopfprämien gezahlt wurden,<br />

ist für die Kolonisation Neurußlands nicht geworben worden. Einreisewillige sollten sich selbst bei russischen<br />

Gesandten melden. Sie müssen dabei „Pässe, Zeugnisse oder andere Scheine, die von Magistraten<br />

oder Gemeinden ausgestellt, die Bescheinigung eines guten Lebenswandels des Vorzeigers enthalten sollten“,<br />

vorlegen. Für die Einwanderung kommt nur in Frage, wer seiner Regierung gegenüber keine Verbindlichkeiten<br />

hatte, verheiratet ist und Bargeld oder Waren im Wert von mindestens 300 Gulden als Eigenbesitz nachweisen<br />

konnte. Diese Vorschriften werden von Alexander dem Ersten am 20. Februar 1804 bestätigt und bilden die<br />

Grundlage der deutschen Kolonisation Neurußlands.<br />

<strong>TB</strong><br />

12,1<br />

17


<strong>TB</strong><br />

12,2<br />

18<br />

ANSIEDLUNG AM SCHWARZEN MEER – BS 5<br />

Auswanderungswillige können sich nun in den eigens dafür eingerichteten Sammelstellen in Frankfurt, Rothenburg,<br />

Regensburg, Ulm und Lauingen an der Donau melden. Die Regierungen versuchten Bevölkerungsverluste<br />

zu verhindern; in Baden etwa verschlingen die verschiedenen, bei den Auswanderungen fälligen Abgaben<br />

bis zu einem Viertel des Vermögens. Als das nicht wirkt, beschließt die Regierung, dass Rückkehrern die<br />

Aufnahme in den badischen Untertanenverband verweigert werden sollte. Gleichzeitig wurde die russische<br />

Regierung ersucht, Einwanderern aus Baden die Rückreise nicht zu gestatten.<br />

Der Auswandererstrom kommt aber seit 1804, trotz der Behinderung durch die Regierung und den Feldzug<br />

Napoleons gegen Preußen und dessen Verbündeten Russland in Gang und hält über mehrere Jahre an. Die<br />

Auswanderer aus dem Südwesten Deutschlands werden durch die „Russisch-Kaiserliche Colonie Transport<br />

Station“ ab Ulm und Lauingen mit etwa 30 Meter langen sogenannten „Ulmer Schachteln“ bis Wien gebracht.<br />

Von hier aus fuhr ein Teil Donauabwärts bis Ismail und dann auf dem Landweg weiter über die Grenzstadt<br />

Dubosary nach Odessa. Der größere Teil aber reiste ab Wien oder Budapest auf dem Landweg durch die<br />

Karpaten und Galizien nach Russland. Im Jahre 1809 reisten Auswanderer aus der Pfalz, aus Hessen Baden,<br />

Württemberg und aus dem Elsass von einem Sammellager in der Nähe von Frankfurt am Main über Schlesien,<br />

Warschau und Grodno nach Ekaterinoslaw und wurden dort auf die vorgesehenen Kolonien verteilt. Für<br />

die Anlage der Siedlungen stellte die Regierung insgesamt 532.000 Desjatinen( 1 Desj. = 1,09 ha) Land zur<br />

Verfügung.<br />

Dieses bildet keine zusammenhängende Fläche, sondern wird entsprechend dem Ziel, Musterlandwirte anzusiedeln,<br />

an mehreren Stellen zugeteilt. Die darauf gegründeten Dörfer werden in der Folge zu Kolonistengebieten<br />

zusammengefasst. Das Großliebentaler Gebiet entsteht westlich von Odessa in der waldlosen Steppe<br />

zwischen der Küste und den Flüßchen Dalnik, Klein- und Groß-Akerscha und Baraboj. Die Landfläche beträgt<br />

34.212 Desjatinen.<br />

Die älteste Siedlung ist Großliebental. In den Jahren 1804 bis 1806 entstehen weitere neun Kolonien; von den<br />

ersten waren sechs evangelisch und vier katholisch. Die meisten der Einwanderer stammten aus dem Elsaß,<br />

aus Baden und aus der Pfalz.<br />

Die ersten Kolonisten des Glückstaler Gebietes werden 1803 in dem armenischen Städtchen Grigoriopol angesiedelt.<br />

In den Jahren 1808 bis 1810 gründen sie Bergdorf, Glückstal, Neudorf und Kassel. Die weitaus meisten<br />

Siedler dieses Gebietes kommen aus Württemberg. Sie sind Protestanten. Ein weiteres Kolonisationsgebiet,<br />

das Beresaner Gebiet, wird in den Jahren 1809 und 1810 im Tal des Steppenflüßchens Beresan angelegt. Von<br />

den ersten sieben Kolonien sind die Bewohner von Landau, München, Rastatt, Speyer und Sulz katholisch, die<br />

von Rohrbach und Worms evangelisch.<br />

Die meisten Siedler stammten aus Baden, aus dem Elsass und der Pfalz. Im Schwedengebiet entstanden 1806<br />

die katholische Kolonie Klosterdorf und die evangelischen Kolonien Schlangendorf und Mühlhausendorf. In<br />

den Jahren 1804 bis 1810 wird an dem Flüsschen Molotschna das Molotschnaer Kolonistengebiet gegründet.<br />

Es bestand aus insgesamt 16 Kolonien. Die Zahl der Kolonien auf der Krim wuchs bis zum Jahre 1810 auf zehn<br />

an. Die Einwanderung größeren Ausmaßes fand im Jahre 1810 ein vorläufiges Ende.<br />

Nach der Beendigung der Napoleonischen Kriege setzte der Nachzug kleinerer Auswanderergruppen aus verschiedenen<br />

deutschen Fürstentümern in bereits bestehende Kolonien wieder ein. Die hohen Verluste während<br />

der Einwanderung dürften, neben der durch den Krieg gegen Napoleon eingetretenen Erschöpfung der<br />

Staatsfinanzen, die Hauptursache dafür gewesen sein, dass die Werbung für Neurussland durch den Erlass des<br />

russischen Außenministers vom Februar 1820 eingestellt wurde.<br />

Kleinere Einwanderergruppen kommen aber immer wieder mit Sondergenehmigungen in das Land. Sie werden<br />

vor allem in den, in den Jahren 1823 bis 1842 gegründeten „Planer Kolonien“ in der Nähe der Hafenstadt<br />

Mariupol, angesiedelt. Ferner setzt seit 1816 eine Einwanderung aus Polen nach Wolhynien ein. Sie erfolgt<br />

auf Privatinitiative ohne staatliche Unterstützung und hatte ihre Höhepunkte in den Jahren der polnischen<br />

Aufstände von 1831 und 1863. Die Gesamtzahl der Deutschen, die sich in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

als Bauern und Handwerker in den Kolonien und Städten Neurußlands niederließen, beläuft sich auf<br />

insgesamt etwa 10.000 Familien mit ungefähr 55.000 Personen.


ALLGEMEINE GESAMTE SIEDLUNGSZEIT – BS 4,5,6,7 <strong>TB</strong> 13<br />

Ansiedlung an der Wolga, Schwarzmeer, Wolhynien (Ukraine, westl.)<br />

1763-1767 Die erste große planmäßige Ansiedlung deutscher Bauern in Russland beginnt 1763 und dauerte<br />

bis Ende der 1860er Jahre, d.h. ca. 100 Jahre. Es wandern vor allem Hessen, aber auch Rheinländer<br />

und Süddeutsche ins Wolga- (und später ins Schwarzmeergebiet) aus. Der beschwerliche Weg führt bis<br />

Saratow an der Wolga, wo auf einer geschlossenen Landfläche 104 deutsche Siedlungen (Mutterkolonien)<br />

gegründet werden. Dobrinka, die älteste Wolgadeutsche Kolonie wird am 29. 06.1764 gegründet.<br />

Die ersten 30 bis 40 Jahre nach der Einwanderung sind für die deutschen Siedlungen eine schwierige<br />

Zeit, denn es fehlt an allem: an landwirtschaftlichen Geräten, an Getreide-, Gemüse- und Obstsorten, die<br />

den örtlichen Gegebenheiten entsprochen hätten. Doch mit der Zeit passt man sich den Gegebenheiten<br />

an. Bereits in den 1830er Jahren beginnt man in kleineren Fabrikanlagen und Werkstätten Putzmaschinen,<br />

zwei-, dann drei- und später sogar sechsschürige Pflüge sowie Mähmaschinen zu entwickeln und<br />

zu produzieren.<br />

1789-1863 Die zweite große Auswanderergruppe, vorwiegend Mennoniten, stammt aus Danzig/Westpreußen.<br />

Chortitza, die erste mennonitische Kolonie, wurde im Juli 1789 gegründet.<br />

20. 02.1804 Alexander I. wünscht die Ansiedlung Deutscher ins Schwarzmeergebiet.<br />

25.10.1819 Generalkonsistorium für die evangelischen Kirchen in Saratow/Wolga gegründet. Das religiöse<br />

Leben war bei den Deutschen in Russland immer stark ausgeprägt, schließlich waren viele aus religiösen<br />

Gründen ausgewandert. Die Kirchen und Schulen (letztere bis 1917) werden immer aus eigenen Mitteln<br />

erbaut und unterhalten werden. Da von der russischen Regierung bis 1914 Glaubensfreiheit gewährt<br />

wurde, war man in der Lage und auch bereit, für die Kirchen und Schulen große Opfer zu bringen.<br />

1804-1842 Fand die stärkste Auswanderung aus Süd- und Südwestdeutschland bis in die Gegend von<br />

Odessa, nach Bessarabien, in die Krim und in den Südkaukasus statt. Insgesamt wurden in diesen Gebieten<br />

181 Dörfer (Mutterkolonien) gegründet. Beachtliche Erfolge hatten die Deutschen zu verzeichnen<br />

mit dem Anbau von Weintrauben auf der Krim und im Transkaukasus zu verzeichnen. Außerdem waren<br />

sie bei der Schafzucht, bei der Produktion von Käse und Butter federführend. Der deutsche Anteil an<br />

Getreide und besonders Mehl, welches zum Verkauf ins Ausland gelangte, war besonders groß. Zuerst<br />

baute man hauptsächlich Wind-, dann Wasser- und Pferdemühlen. Seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts<br />

wurden aber auch einige hundert große Dampfmühlen errichtet und das in einem Gebiet von<br />

der Ukraine bis zur Wolga und bis nach Sibirien. Nikolaus I. bestätigte am 09.11.1838 die Privilegien der<br />

Kolonisten und 1842 wurden alle Freiheiten, Pflichten und Privilegien der Kolonisten im ganzen Zarenreich<br />

kodifiziert.<br />

4.06.1871 Die Zarenregierung hebt die Kolonistengesetze auf. 7.10.1879 Nachdem das Deutsch-österreichisches<br />

Bündnis (Zweibund) geschlossen wurde, verschlechterte sich das Ansehen der Deutschen in<br />

Russland.<br />

13.03.1881 Nach der Thronbesteigung Alexanders III. beginnt die Russifizierung von ethnischen Minderheiten.<br />

Aus 100.000 Einwanderern und einigen zigtausend "Alteingesessenen" wurde in 135 Jahren<br />

eine Volksgruppe von 1,7 Millionen (Volkszählung 1897) , ungeachtet dessen, dass die Einwanderung<br />

insgesamt 100 Jahre andauerte und in den 70er Jahren des 19. Jahrhunderts nach der Aufhebung der Privilegien<br />

und der Einführung von Beschränkungen eine größere Auswanderbewegung eingesetzt hatte.<br />

19


<strong>TB</strong> 14<br />

20<br />

DIE WIRTSCHAFTLICHE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN<br />

NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6<br />

Wirtschaftliche Entwicklung<br />

Die wirtschaftliche Entwicklung der Wolgakolonien verläuft nach deren Stabilisierung gegen Ende des<br />

18. Jahrhunderts relativ erfolgreich. Durch die Nähe zur Wolga war der Getreideabsatz nicht nur nach<br />

Saratow, sondern weit darüber hinaus gesichert. Zu dieser Zeit haben eine Reihe von Kolonisten ihre<br />

Bauernhöfe aufgegeben und ließen sich in die Kaufmannsgilden eintragen. Sie bauten eine Vielzahl von<br />

Wind und Wassermühlen und gingen vom Getreidehandel zum einträglicheren Mehlhandel über. Der<br />

Anbau von Sonnenblumen, Obst und Gemüse diente zur Deckung des Eigenbedarfs. Die bis dahin in<br />

dieser Gegend nicht bekannte Kartoffel wurde rund 50 Jahre nach der Ansiedlung der ersten Kolonisten<br />

auch von den benachbarten russischen Bauern übernommen.<br />

Erfolgreich waren die Versuche mit dem Anbau von Tabak, 13 Tabakfabriken wurden errichtet. Im Laufe<br />

der Zeit gewann auch das Handwerk zunehmend an Bedeutung. In den letzten 30 Jahren des 19.<br />

Jahrhunderts ist ein Aufschwung in den deutschen Kolonien Neurußlands zu verzeichnen, der bis zum<br />

Ersten Weltkrieg anhielt. Er wurde in hohen Maßen durch den Ausbau der Verkehrswege ermöglicht.<br />

Der Anschluss an die Verkehrswege verbesserte den Getreideabsatz ganz erheblich und führte zur intensiveren<br />

Bodenbearbeitung und zum Aufbau einer leistungsfähigen Mühlenindustrie. Die Intensivierung<br />

der Bodenbearbeitung wurde durch den Einsatz von immer mehr und besseren landwirtschaftlichen<br />

Maschinen ermöglicht.<br />

Hier soll auf die größte deutsche Landmaschinenfabrik in Russland hingewiesen werden. Die im Jahre<br />

1856 in Odessa gegründete Firma von Johann Hoehn beschäftigte 1912 in zwei Betrieben 1200 Arbeiter<br />

und baute in diesem Jahr 80.000 Pflüge, 30.000 Eggen, 6000 Mähmaschinen, 3000 Drillmaschinen<br />

(Sämaschinen), 2000 Bugger (Bodenauflockerungsgeräte), 1500 Goeppel-Dreschmaschinen und 1600<br />

Breitsähmaschinen. Das Unternehmen gründete 1913 eine Verkaufsgemeinschaft mit zwei anderen<br />

deutschen Landmaschinenfabriken, dies ermöglichte die Spezialisierung der Produktion und den Vertrieb<br />

im ganzen Russischen Reich. An diesem wirtschaftlichen Aufschwung konnten jedoch nicht alle Kolonien<br />

gleichermaßen teilhaben.<br />

Der sehr rasche Bevölkerungszuwachs führte insbesondere in den Wolgakolonien zu einer starken Bevölkerung.<br />

Im Jahre 1912 gab es auf dem Gebiet der späteren Wolgarepublik 227 Kolonien und Streusiedlungen<br />

mit einer Bevölkerung von 427.400 Personen. 81% der Siedlungen hatten über 1000 Einwohner.<br />

Ein Weggang aus den Kolonien war aber wegen des „Mir-Systems“ mit dem Verlust des Eigentums- bzw.<br />

des Nutzungsrechtes verbunden und behinderte so das Absiedeln der überschüssigen Bevölkerung. Eine<br />

Änderung trat erst durch die Agrarreform des Stolypin ein, die in den Jahren 1906 und 1910 durchgeführt<br />

wurde. Sie hatte die Überführung von Grund und Boden aus dem Gemeinschafts- in den Privatbesitz zum<br />

Ziel. Zu dieser Zeit wurden in Sibirien Ländereien für eine Kolonisation zur Verfügung gestellt. Dadurch<br />

verstärkte sich der bereits in den 1890er Jahren eingesetzte Zustrom von Deutschen nach Sibirien und<br />

Nordkasachstan. Die Mennonitengemeinden bei Orenburg bekamen Zuwachs durch Einwanderer.<br />

Es entstanden auch neue Kolonien bei Kustanaj, Semipalatinsk, Omsk und im Altaigebiet. Kleinere Kolonien<br />

entstanden in Mittelasien, in Ostsibirien und sogar im Amurgebiet. Gleichzeitig mit der wirtschaftlichen<br />

Expansion war auch ein wachsendes Ansehen der Repräsentanten der Kolonien zu verzeichnen.


DIE KULTURELLE ENTWICKLUNG DER KOLONIEN<br />

NEURUSSLANDS IM 19. JHDT – BS 6<br />

Kirche und Schule<br />

Für viele Kolonisten war die Einwanderung nach Russland erst durch die Zusage der Religionsfreiheit erstrebenswert<br />

gewesen. Bei den Mennoniten und Separatisten aus Südwestdeutschland war dies sogar der Ausschlag gebende<br />

Grund. Die ersten Geistlichen, ein lutherischer und ein calvinistischer Pastor sowie ein katholischer Pater und je ein<br />

Küster, wurden auf Beschluss der russischen Regierung vom 3. November 1763 in die Wolgakolonien entsandt. Ihr<br />

Gehalt zahlt die Regierung zwei Jahre lang. Danach sollen die Kolonisten die Besoldung der Geistlichen selbst übernehmen<br />

und die Auslagen der ersten zwei Jahre nach Ablauf von zehn Jahren dem Staat in Raten zurückerstatten.<br />

Die Gehälter für die Geistlichen werden wegen der anfänglichen wirtschaftlichen Schwierigkeiten und aus diversen<br />

anderen Gründen vom Saratower Tutelkontor übernommen.<br />

Auch die Kosten für den Bau von Kirchen und Bethäusern werden von diesem Kontor übernommen, alle diese Auslagen<br />

sollen nach Ablauf der Freijahre an die Krone zurückerstattet werden.<br />

Im Januar 1765 wird die Errichtung von Gotteshäusern in jedem Kreis gestattet und bereits 1768 die ersten beiden<br />

Kirchen mit Pastorat und Schule gebaut. Bis Ende des Jahres 1771 hat jeder Kreis der Wolgakolonien eine Kirche<br />

und die dazugehörige Schule.<br />

Die Geistlichen sollten aber nicht nur als Seelsorger im kirchlichen Rahmen wirken, sondern auch zur Stärkung von<br />

Sitte und Moral beitragen und durch Ermahnung zu besserer Arbeitshaltung die wirtschaftliche Entwicklung der<br />

Kolonien fördern. Die Seelsorge ist aber, abgesehen von den materiellen Problemen der Geistlichen, unbefriedigend<br />

geregelt. Nicht alle Pfarrstellen können besetzt werden, und daher werden zunächst Seelsorger aus dem Ausland<br />

eingeladen.<br />

Eine evangelisch-theologische Fakultät gibt es in Russland erst mit der Gründung der Universität zu Dorpat (heute<br />

Tartu) im Jahre 1802. Sie hat aber vor allem für den Priesternachwuchs der baltischen Provinzen und der Hauptstädte<br />

zu sorgen. Der erste Absolvent dieser Universität kommt 1854 in die Kolonien von Transkaukasien. Kolonistensöhne<br />

haben erst in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts in größerer Zahl in Dorpat studiert.<br />

Die Schulfrage ist eng mit der Kirchenfrage verbunden. Sowohl die Protestanten als auch Katholiken legen großen<br />

Wert auf eine sorgfältige Ausbildung der Geistlichkeit und auf die Verbreitung von Elementarkenntnissen im Volk.<br />

Da die Einwanderer aus ihrer Heimat die Volksschule kennen, ist es nicht verwunderlich, dass sie nicht nur während<br />

der Anreise „Schule hielten“, sondern sogleich nach der Ansiedlung bestrebt sind, Schulen für ihre Kinder zu schaffen.<br />

In der ersten Zeit nach der Einwanderung gibt es noch genügend Gebildete, die das Lehramt ausüben können. Im<br />

Jahre 1782 aber entfällt die Besoldung der Lehrer durch das Tutelkontor, und man geht zur Unsitte über, das Lehramt<br />

demjenigen zu übertragen, der dafür das geringste Entgelt fordert.<br />

Im Jahre 1865 gibt es in den Wolgakolonien 175 kirchliche Schulen, in denen 22.046 Knaben und 21.223 Mädchen<br />

von 214 Lehrern unterrichtet werden. Das sind 247 Kinder pro Schule oder 202 Kinder pro Lehrer. Wohlhabende<br />

Kolonisten schickten ihre Kinder auf höhere russische Schulen oder lassen sie von Privatlehrern unterrichten.<br />

Die Situation in den Kolonien Südrusslands unterscheidet sich von der an der Wolga recht deutlich. Das liberale<br />

Schulgesetz für Wolhynien, Kiew und Polodien findet auch in den Kolonien Neurusslands Anwendung. Hier sind<br />

Geldsammlungen für schulische Zwecke erlaubt. Zudem ist es angesichts des Wohlstandes der Kolonien leichter,<br />

zusätzliche Gelder zu sammeln. Das beste Beispiel für Wohltätigkeit durch Privatinitiative gibt es in der deutschen<br />

Gemeinde zu Odessa.<br />

Auf Veranlassung von Pfarrer Fletnizer wird 1829 eine Sammlung für eine Schule durchgeführt. In dieser Schule<br />

werden die Fächer Deutsch, Russisch, Französisch, Arithmetik, Rechtschreiben, Geographie, Geometrie, Geschichte,<br />

Naturkunde, Technologie, Gesang und Malen unterrichtet. Neben dieser Schule wird in Odessa durch die Initiative<br />

der Geistlichkeit bereits 1823 eine Armenkasse und 1831 ein Altersheim gegründet; später kommen ein Hospital<br />

und ein Waisenhaus dazu. In der Mitte des Jahrhunderts folgt eine Realschule, eine Handelsschule und Kurse für<br />

Mädchen.<br />

Alle diese Einrichtungen werden jahrzehntelang durch die Spenden der Gemeindemitglieder finanziert. Zu Beginn<br />

des 20. Jahrhunderts hat jedes Kolonistengebiet Neurusslands eine Zentralbildungsanstalt zur Ausbildung von Lehrern<br />

und Schreibern. Zur selben Zeit werden in Georgien Ackerbauschulen und Progymnasien, in Tiflis ein Realgymnasium,<br />

in Helenendorf eine Oberrealschule gegründet, um nur einige zu nennen.<br />

<strong>TB</strong> 15<br />

21


<strong>TB</strong> 16<br />

22<br />

VOM ABBAU DER PRIVILEGIEN BIS ZUR DEUTSCHENHETZE<br />

– BS 7<br />

Die Entwicklung der deutschen Kolonien in Russland in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wird zunehmend<br />

durch innen- und außenpolitische Entwicklungen bestimmt.<br />

Die Niederlage im Krimkrieg (1853 bis 1856) wird in Russland als nationale Demütigung empfunden und gibt den<br />

Panslawisten Auftrieb. Ihre politischen Aktivitäten, die auf die Einigung aller Slawen unter russischer Führung gerichtet<br />

sind, bleiben auch für die innere Entwicklung des Landes nicht ohne Wirkung. Im Zusammenhang mit der Bauernbefreiung<br />

etwa, werden nun alte Vorbehalte gegen die Besserstellung der Kolonien wieder laut vorgetragen.<br />

Dabei forderte man den Abbau der Privilegien und die Angleichung der Rechte der Kolonisten an die der wesentlich<br />

schlechter gestellten russischen Bauern, statt einer weitgehender Befreiung und Angleichung der Bauern an den<br />

rechtlichen und wirtschaftlichen Stand der Kolonisten.<br />

Als erstes wurde in Saratow 1866 das Tutelkontor in seinen Rechten beschnitten. Es war jetzt nur noch mit Kirchen<br />

und Schulangelegenheiten befasst, aber gerade diese Gebiete zählten schon bisher nicht zu seinen Stärken. Eine<br />

entscheidende Verschlechterung brachte das Jahr 1871 (Gründung des Deutschen Reichs). Das Kolonistengesetz<br />

wurde aufgehoben und die bei der Einwanderung gewährten Privilegien widerrufen.<br />

Die Kompetenzen der Verwaltungskörperschaften und der gewählten Beamten wurden wesentlich vermindert.<br />

Nach dem neuen Gesetz war der Schulze (Starosta) jetzt nur noch ausführendes Organ der Staatsgewalt, die ihn vor<br />

allem für die Eintreibung der Steuern verantwortlich machte. Als weitere verhängnisvolle Folge der Angleichung der<br />

Rechte der Kolonisten an die der russischen Bauern wurde auch die Befreiung von dem Militärdienst widerrufen.<br />

Das war für die Kolonisten ein Schock, denn der Militärdienst dauerte in Russland zu dieser Zeit 15 bis 20 Jahre.<br />

Am härtesten traf die neue Einführung die Mennoniten, für die der Dienst mit der Waffe mit ihrem Glauben nicht<br />

zu vereinbaren ist.<br />

Sie selbst und ihre Vorfahren waren bekanntlich aus Preußen nach Russland gekommen, um dem Dienst mit der<br />

Waffe zu entgehen. Ein beträchtlicher Teil der Mennoniten lehnte jeglichen Dienst ab und bereitete sich zur Auswanderung<br />

in ein geeignetes Land vor. Sehr viele von ihnen wandern nach Kanada, in die USA und in die anderen<br />

Staaten des amerikanischen Kontinents aus.<br />

Zur gleichen Zeit kommt auch die Auswanderung katholischer und protestantischer Kolonisten aus dem Wolgagebiet,<br />

Bessarabien und Neurussland in Gang. Sie schicken, wie die Mennoniten, ebenfalls Kundschafter nach Übersee.<br />

Insgesamt wandern mehr als 100.000 deutsche Kolonisten nach Übersee aus.<br />

Zeitgleich mit dem Abbau der Privilegien der Kolonisten in Russland kommt in Wolhynien eine Entwicklung in Gang,<br />

deren Tragweite erst zu Beginn des Ersten Weltkrieges deutlich wird. Nach der Niederwerfung des Aufstandes in<br />

Polen von 1863 verschlechtert sich die Lage der deutschen Bauern in diesem Lande, weil sie sich an der Revolte<br />

nicht beteiligt hatten. Außerdem machte sich eine zunehmende Landknappheit bei steigenden Bodenpreisen stark<br />

bemerkbar.<br />

Zur gleichen Zeit gab es aber weiter östlich, in Wolhynien, preiswertes Land zu pachten und zu kaufen. Den dortigen<br />

Gutsbesitzern fehlten nach der Bauernbefreiung die billigen Arbeitskräfte und den Bauern die Mittel und Erfahrungen<br />

zur Trockenlegung der Sümpfe. Die deutschen Zuwanderer aus dem Gouvernements Warschau brachten beides<br />

mit. Sie verwandelten Sumpfgebiete in Ackerland, pachteten oder kauften neue Grundstücke und machten auch<br />

diese urbar.<br />

Es gab für Ausländer keine Beschränkungen beim Grunderwerb. Dieses Einsickern deutscher Bauern stieß bei den<br />

Slawophilen auf wenig Gegenliebe. Bereits 1874 schrieb der damalige Generalgouverneur von Kiew, Podolien und<br />

Wolhynien, Fürst Dondukow-Korsakow: „Wenn diese Kolonisten auch des starken Arbeitermangels wegen dem<br />

Lande, wirtschaftlich betrachtet, nützlich sind, so rufen sie doch politisch die Befürchtung hervor, ob nicht die immer<br />

mehr zunehmende Einwanderung der Deutschen eine Änderung des Charakters der Landbevölkerung an der<br />

Grenze nach sich ziehe, ob nicht statt der Russifizierung des Gebietes eine Germanisierung sich ergäbe“.<br />

Mit dem Regierungsantritt Alexander des III. gewinnen die Slawophilen an Einfluss. Das Motto des Zaren „Russland<br />

muss den Russen gehören“ erhebt die Ausländerfeindlichkeit zur Staatspolitik und wirkt sich auf das Verhältnis zu<br />

deutschen Kolonisten negativ aus. In der öffentlichen Diskussion ergreifen neben der deutschen „Sankt-Petersburger<br />

Zeitung“ auch die russischen Großgrundbesitzer und das ihnen nahestehende Blatt „Kiewljanin“ Partei für die<br />

Kolonisten, indem sie auf den durch diese erbrachten wirtschaftlichen Nutzen hinwiesen.<br />

Der Druck der Slawischen Komitees in Kiew auf die öffentliche Meinung und die örtlichen Verwaltungen verstärken<br />

den öffentlichen Druck auf deutsche Kolonisten. Die deutschfeindliche Atmosphäre und die stark gestiegenen<br />

Pachtzinsen führen allein im Jahre 1890, zur Auswanderung von etwa 10.000 Siedlern aus den Wolhynischen<br />

Bezirken Lutzk, Kowel und Wladimir-Wolynsk nach Brasilien.


100 GUTEN JAHREN FOLGEN LEID UND DEPORTATION –<br />

BS 8,9,10,11,12<br />

100 guten Jahren folgen Leid und Deportation<br />

Russlanddeutsche werden für Hitler-Deutschlands Krieg verantwortlich gemacht/Exodus seit den 80er Jahren<br />

Von Klaus P. Andrießen (0 64 41) 95 91 84<br />

k.andriessen@mittelhessen.de<br />

Wetzlar. In den ersten hundert Jahren der Kolonisation – also bis etwa 1870 – entfalten die Deutschen in Russland eine rege Siedlungstätigkeit. Sie verlassen sich dabei auf die ihnen<br />

von Zarin Katharina II. für immer gewährten Vorrechte. Zu den ursprünglich 304 Mutterkolonien in der Ukraine, am Schwarzen Meer, an der Wolga und in Kasachstan kommen 322<br />

Tochterkolonien hinzu. Doch dann müssen sie auf ihre Privilegien - insbesondere die Selbstverwaltung und kulturelle Autonomie – verzichten, 1891 wird Deutsch als Unterrichtssprache<br />

in den deutschen Schulen verboten.<br />

Russlanddeutsche<br />

wandern nach Nord-<br />

Amerika aus. Als 1914<br />

der erste Weltkrieg<br />

ausbricht, leben 1,7<br />

Millionen Deutsche<br />

in Zentralrussland. Sie<br />

verfügen mit 13,4 Millionen<br />

Hektar Land<br />

über eine Fläche, die<br />

etwa den fünf neuen<br />

Bundesländern entspricht.<br />

„Die Region<br />

liegt an der westlichen<br />

Grenze des heutigen<br />

Russlands. Historisch<br />

jedoch bildet sie die<br />

Keimzelle des Landes<br />

und stellte bis zur Oktoberrevolution<br />

1917<br />

tatsächlich den zentralen<br />

Teil des Landes<br />

dar“, beschreibt die<br />

Internet-Enzyklopädie<br />

Wikipedia die geografische<br />

Lage.<br />

Das Zarenreich erklärt<br />

1914 das Deutsche<br />

Reich zu seinem<br />

Feind, die deutschen<br />

Ortsnamen werden<br />

durch russische ersetzt.<br />

Mit dem so genanntenLiquidationsgesetz<br />

enteignet der<br />

russische Staat 150<br />

000 Deutsche in Wolhynien<br />

(Ukraine) und<br />

lässt sie nach Sibirien<br />

verschleppen. Dasselbe<br />

Schicksal hatte<br />

Zar Nikolaus II. allen<br />

Deutschen westlich<br />

des Ural zugedacht,<br />

doch die bürgerliche<br />

„Februarrevolution“<br />

1917 vereitelt den<br />

Plan.<br />

Mit Lenins kommunistischer<br />

Revolution<br />

verschärft sich nur<br />

wenige Monate später<br />

der Druck auf die<br />

Deutschen. Enteignungen<br />

und Verfolgungen<br />

stehen auf der<br />

Tagesordnung, bis die<br />

„Neue Ökonomische<br />

Politik“ 1921 bis 1928<br />

Erleichterung bringt.<br />

An den deutschen<br />

Schulen wird die deutsche<br />

Sprache wieder<br />

erlaubt, 1924 wird<br />

die „Autonome Sozialistische<br />

Republik<br />

der Wolgadeutschen“<br />

gegründet. Außerdem<br />

werden 16 deutsche<br />

Landkreise und 3000<br />

Gemeinden mit deutscher<br />

Amtssprache in<br />

der Ukraine, auf der<br />

Krim, im Kaukasus,<br />

im Südural (Orenburg),<br />

in Westsibirien<br />

(Altai), Kasachstan,<br />

Bessarabien und Kir-<br />

gisien gebildet.<br />

Bereits 1928 (bis<br />

1932) führt die „Entkulakisierung<br />

und<br />

K o l l e k t i v i e r u n g “<br />

dann aber zu Enteignungen<br />

und Vertreibungen,<br />

unter denen<br />

die deutschen Bauern<br />

besonders zu leiden<br />

hatten. Allein aus dem<br />

Wolgagebiet werden<br />

50 000 von ihnen<br />

nach Zentralasien<br />

deportiert. Das ist ein<br />

Gebiet mit Kasachstan<br />

im Norden, dem<br />

Kaspischen Meer im<br />

Westen und Tadschikistan<br />

imSüden.<br />

Die Machtergreifung<br />

Hitlers 1933<br />

in Deutschland löst<br />

eine weitere Verschlimmerung<br />

der<br />

Lage der Deutschen<br />

in der Sowjetunion<br />

aus. Sie gelten nun<br />

als Kollaborateure<br />

und Volksfeinde und<br />

haben unter Stalins<br />

Vernichtungsmaßnahmen<br />

– schönfärberisch<br />

„Säuberungen“<br />

genannt – zu leiden.<br />

„In manchen Dörfern<br />

gab es kaum noch<br />

arbeitsfähige Männer.<br />

Diesen Repressalien<br />

sind nach zuverlässigen<br />

Schätzungen<br />

mehr als 55 000 Deutsche<br />

zum Opfer gefallen“,<br />

heißt es im Katalog<br />

zur Ausstellung<br />

„Volk auf dem Weg“<br />

der Landsmannschaft<br />

der Deutschen aus<br />

Russland. Der Ausbruch<br />

des zweiten<br />

Weltkriegs 1939 und<br />

der Einmarsch deutscher<br />

Truppen in die<br />

Sowjetunion 1941<br />

sollten die Lage der<br />

1,4 Millionen Deutschen<br />

allerdings noch<br />

weit darüber hinaus<br />

verschärfen.<br />

Ein Erlass des Obersten<br />

Sowjets löst die<br />

Republik der Wolgadeutschen<br />

auf und<br />

verfügt die Deportation<br />

der Bevölkerung<br />

nach Sibirien<br />

und Mittelasien in<br />

Arbeitslager (so genannte<br />

Trudarmee).<br />

Innerhalb von zehn<br />

Tagen werden rund<br />

350 000 Wolgadeutsche<br />

verschleppt.<br />

Bis 1946 sind knapp<br />

eine Million Russlanddeutsche<br />

von<br />

den Deportationen<br />

betroffen, ungezählte<br />

Menschen sterben<br />

durch Unterernährung,<br />

Krankheiten<br />

und schwere Arbeit,<br />

Familien werden auseinandergerissen.<br />

■ Der Flucht nach<br />

Westen schließt sich<br />

der Rücktransport<br />

nach Sibirien an<br />

Hitlers Truppen siedeln<br />

1944 während<br />

des Rückzugs aus der<br />

Sowjetunion 350 000<br />

Russlanddeutsche<br />

imWarthegau (heute<br />

wieder Polen) und im<br />

Sudetenland (heute<br />

Tschechien) an. Vor<br />

der sowjetischenWinteroffensive<br />

im Januar<br />

1945 fliehen ungezählteRusslanddeutsche<br />

nach Westen,<br />

werden aber bereits<br />

im Sommer 1945 aus<br />

der russischen Besatzungszone<br />

zurück<br />

nach Sibirien und<br />

Mittelasien gebracht.<br />

1948 schreibt der<br />

Oberste Sowjet die<br />

Verbannung der Russlanddeutschen<br />

auf<br />

„ewige Zeiten“ fest,<br />

ein Verlassen ihrer<br />

Ansiedlungsorte wird<br />

mit Zwangsarbeit bis<br />

zu 20 Jahren bedroht.<br />

Erst Ende 1955 wird<br />

diese so genannte<br />

Kommandantur aufgehoben,<br />

die Rückkehr<br />

in die ursprünglichen<br />

Heimatorte im<br />

europäischen Teil der<br />

Sowjetunion bleibt allerdings<br />

verboten. 200<br />

000 Russlanddeutsche<br />

möchten nun nach<br />

Deutschland auswandern,<br />

doch das wird<br />

ihnen verwehrt.<br />

<strong>TB</strong><br />

17,1<br />

23


<strong>TB</strong><br />

17,2<br />

24<br />

100 GUTEN JAHREN FOLGEN LEID UND DEPORTATION –<br />

BS 8,9,10,11,12<br />

Immerhin erleichtert<br />

die Bewegungsfreiheit<br />

innerhalb der Sowjetunion<br />

das Los der<br />

Russlanddeutschen.<br />

„Bei den Massenvertreibungen<br />

nach Zentralasien<br />

im Jahre 1941<br />

beherrschte die Mehrheit<br />

der Russlanddeutschen<br />

kein Russisch.<br />

In den ehemaligen<br />

Internierungs- und<br />

Zwangsarbeitslagern<br />

im Osten der Sowjetunion<br />

war den Deutschen<br />

die Pflege ihrer<br />

Muttersprache und<br />

der deutschen Kultur<br />

strengstens untersagt“,<br />

steht im Ausstellungskatalog<br />

„Volk auf dem<br />

Weg“. Dies sei der<br />

Grund für die mangelhafte<br />

Beherrschung<br />

der deutschen Sprache<br />

insbesondere bei<br />

der jungen Generation<br />

der Russlanddeutschen,<br />

die seit Ende<br />

der 50er Jahre in zunehmendem<br />

Maße<br />

als Aussiedler nach<br />

Deutschland kommen.<br />

Nachdem die Bundesrepublik<br />

Deutschland<br />

1958/59 mit der Sowjetunion<br />

ein Abkommen<br />

über die Familienzusammenführung<br />

mit in Deutschland<br />

lebenden Verwandten<br />

geschlossen hat,<br />

dürfen bis 1970 etwa<br />

15 000 Menschen in<br />

den Westen ausreisen.<br />

Das „Tauwetter“<br />

in den Ost-West-<br />

Beziehungen der<br />

60er Jahre bringt den<br />

Russlanddeutschen<br />

schließlich Ende<br />

1964 den offiziellen<br />

Freispruch vom pauschalen<br />

Vorwurf des<br />

Verrats. Eine Wiedergutmachung<br />

für<br />

Enteignungen und<br />

Vertreibungen findet<br />

gleichwohl nicht statt.<br />

Auch die Möglichkeiten<br />

zur Ausreise<br />

nach Deutschland bewegen<br />

sich in engen<br />

Grenzen, bis 1987 ein<br />

neues Gesetz „eine<br />

bisher nicht denkbare<br />

Liberalisierung der<br />

Ausreisepraxis für die<br />

Russlanddeutschen“<br />

bringt, wie es im<br />

Ausstellungskatalog<br />

„Volk auf dem Weg“<br />

heißt. Grund dafür<br />

ist die Politik von<br />

Staats- und Parteichef<br />

Michail Gorbatschow<br />

(von 1985 bis August<br />

1991 Generalsekretär<br />

des Zentralkomitees<br />

der Kommunistischen<br />

Partei der Sowjetunion<br />

und von 1990<br />

bis Dezember 1991<br />

Präsident der Sowjetunion),<br />

die auch der<br />

Forderung der Rus-<br />

slanddeutschen nach<br />

Autonomie in der<br />

Sowjetunionwieder-<br />

Auftrieb verleiht.<br />

■ Länder müssen je<br />

nach Größe unterschiedlich<br />

viele Aussiedler<br />

aufnehmen<br />

Doch obwohl seit<br />

1989 sogar wieder<br />

freie Organisationen<br />

der Russlanddeutschen<br />

in der Sowjetunion<br />

gegründet<br />

werden, steigt die<br />

Zahl der Aussiedler<br />

nach Deutschland<br />

auch in den folgenden<br />

Jahren stetig<br />

an. Zu den Gründen<br />

schreibt 1999 der Politikwissenschaftler<br />

Götz-Achim Riek:<br />

„Von einer Verbesserung<br />

der Lage für die<br />

Russlanddeutschen in<br />

der Russischen Föderation<br />

kann Ende<br />

der 90er Jahre nicht<br />

gesprochen werden.“<br />

Da die deutsche<br />

Gesetzgebung<br />

die Einwanderung<br />

ermögliche, werde<br />

davon auch Gebrauch<br />

gemacht. Die Gründe<br />

lägen sowohl in der<br />

wirtschaftlichen wie<br />

auch in der gesellschaftlichen<br />

und politischen<br />

Situation der<br />

Russlanddeutschen,<br />

sagt Riek aufgrund<br />

seiner Untersuchung<br />

von Meinungsumfragen.<br />

Auch die<br />

ökologischen Krisen<br />

in der Russischen Föderation<br />

würden den<br />

Wunsch nach Aussiedlung<br />

fördern.<br />

Russlanddeutsche,<br />

die nach Deutschland<br />

ausreisen wollen,<br />

müssen:<br />

■ deutsche Volksangehörige<br />

im Sinne<br />

des Bundesvertriebenengesetzes<br />

oder deren<br />

Ehegatte sein (das<br />

heißt, sich in der Heimat<br />

zum deutschen<br />

Volkstum bekannt<br />

zu haben und dieses<br />

Bekenntnis durch<br />

Merkmale wie Abstammung,<br />

Sprache,<br />

Erziehung und Kultur<br />

zu bestätigen),<br />

■ den deutschen<br />

Sprachtest bestehen<br />

und<br />

■ einen Aufnahmebescheid<br />

des Bundesverwaltungsamtes<br />

in<br />

Köln erhalten haben.<br />

Russlanddeutsche<br />

Spätaussiedler werden<br />

zunächst in der<br />

Bundesaufnahmestelle<br />

im niedersächsischen<br />

Friedland<br />

registriert und anschließend<br />

einem bestimmten<br />

Bundesland<br />

zugewiesen. (Im Bundesvertriebenengesetz<br />

sind die Prozentsätze<br />

festgelegt, nach denen<br />

Bundesländer Aussiedler<br />

aufnehmen<br />

müssen. Für Hessen<br />

beträgt dieser Satz<br />

7,2 Prozent, für <strong>Nordrhein</strong>-<strong>Westfalen</strong><br />

21,8<br />

Prozent.)<br />

Über die zuständige<br />

Landesaufnahmestelle<br />

gelangen die<br />

Aussiedler in ein<br />

staatliches Übergangswohnheim<br />

eines<br />

bestimmten Wohnortes.<br />

Nur wer einen<br />

Arbeitsplatz hat oder<br />

seinen Lebensunterhalt<br />

auf andere Art sichern<br />

kann, darf sich<br />

selbst einen Wohnort<br />

suchen.<br />

Im ersten halben<br />

Jahr in Deutschland<br />

erhalten die Aussiedler<br />

eine finanzielle<br />

Eingliederungshilfe,<br />

Krankenversicherung,<br />

Sprachkurse sowie<br />

Schul- und Ausbildungsförderung.<br />

Doch<br />

damit ist die Integration<br />

in der Bundesrepublik<br />

bei weitem nicht<br />

abgeschlossen. Zu<br />

den üblichen Proble-<br />

Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche aus Russland – Russen in Deutschland“ vom 22. Mai 2006, Seite 23<br />

men gehören knappe<br />

Mittel für den Lebensunterhalt,<br />

erhebliche<br />

Sprachschwierigkeiten,<br />

das Ringen um<br />

einen Arbeits- oder<br />

Ausbildungsplatz sowie<br />

die Anpassung an<br />

andere Werte und Lebensformen<br />

in Gesellschaft<br />

und Familie.<br />

Nicht zu unterschätzen<br />

ist auch die Auseinandersetzung<br />

mit<br />

Vorurteilen in der<br />

einheimischen Bevölkerung,<br />

denen die<br />

Russlanddeutschen in<br />

höhere Maße ausgesetzt<br />

sind als die Heimatvertriebenen.


WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR –<br />

BS 8<br />

Wolgarepublik - Hungerjahre<br />

Die zunehmende Verschlechterung der Lage der Kolonisten, vor allem in Wolhynien, gipfelt nach Beginn des Ersten<br />

Weltkrieges (Herbst 1914) in den sogenannten „Liquidationsgesetzen“, der ersten staatlichen Maßnahme, welche<br />

die Enteignung und Vertreibung zahlreicher Bauern in den deutschen Grenz-Kolonien zur Folge hat.<br />

Durch einen Erlass des Zaren vom 18. August 1914 wird der Gebrauch der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit<br />

unter Strafe gestellt. Am 22. September 1914 verfügt ein „Erlass über die Aufhebung des Grundbesitzes feindlicher<br />

Ausländer“ die Enteignung nicht nur von Angehörigen der Feindstaaten, sondern auch von Kolonisten ausländischer<br />

Abstammung. Diese Maßnahmen werden durch die Liquidationsgesetze vom 2. Februar und vom 15. Dezember<br />

1915 verschärft.<br />

Die Liquidationsgesetze sehen vor, dass Angehörige der „Feindstaaten“ ebenso wie Kolonisten ausländischer Ab-<br />

stammung ihren Grundbesitz in einem Streifen von 100 bis 150 Werst entlang der Westgrenze und den Ufern der<br />

Meere innerhalb von 10 bzw. 16 Monaten verkaufen müssen. Es gibt aber bei weitem nicht so viele Kaufinteressen-<br />

ten für Grundstücke, die in den frontnahen Gebieten liegen.<br />

Im Jahre 1917 wird der Grenzstreifen, in dem die Grundstücke verkauft werden müssen, auf 28 Gouvernements<br />

ausgedehnt und durch einen Erlass vom 15. Februar 1917 die Liquidationsgesetze auch in den Gouvernements In-<br />

nerrusslands und ausdrücklich in den Wolgakolonien eingeführt. Als Reaktion darauf beschließt eine Versammlung<br />

aus den Vertretern der den Wolgakolonien benachbarten Stadtparlamente und Börsenkomitees, der Landschafts-<br />

versammlungen und der Unternehmer einstimmig folgende Resolution: „Die unter uns wohnenden deutschen Ko-<br />

lonisten sind ebensolche russische Bürger wie wir alle. Wir sind verpflichtet, fest und bestimmt zu erklären, dass die<br />

Liquidierung der deutschen Ländereien besonders bei der gegenwärtigen allgemeinen landwirtschaftlichen Krise<br />

eine ungerechte und verderbliche Maßnahme ist, nicht nur für die Kolonisten, sondern auch für das ganze Gebiet.<br />

Sie wird sich auch in ganz Russland fühlbar erweisen“.<br />

Die Einstellung der Vertreibung sowie der Liquidationsgesetze erfolgten erst durch die erzwungene Abdankung des<br />

Zaren 1917. Beides wurde vorerst nur ausgesetzt, nicht aufgehoben.<br />

Nach der Februar-Revolution des Jahres 1917 dankte Zar Nikolaj II ab, und die provisorische Regierung verkündete<br />

die Bürgerrechte für alle Einwohner des Russischen Reiches. Diese Proklamation war der Beginn einer deutschen<br />

Autonomiebewegung. Am 18. März 1917 fand in Odessa die erste Versammlung von Vertretern der deutschen<br />

Bevölkerung Russlands statt.<br />

Die Machtergreifung der Bolschewiki erfolgt in Saratow zur gleichen Zeit wie in Petersburg, das seit Kriegsbeginn<br />

Petrograd hieß. Schon bald beginnen auch die Übergriffe gegen deutsche Kolonien. Es werden Requisitionen von<br />

Getreide und Vieh durchgeführt und Kontributionen auferlegt. Die meisten dieser Gruppen, Rote Garden, kamen<br />

von auswärts. In Katharinenstadt und in den umliegenden Kolonien beteiligen sich daran aber auch Deutsche; es<br />

machen sich hier die sozialen Spannungen bemerkbar. Im Januar 1918 findet eine Konferenz der deutschen Abge-<br />

ordneten der Gouvernements Saratow und Samara in Warenburg statt.<br />

Die Warenburger Konferenz der Wolgadeutschen war sich einig über die Lage in den Kolonien und Maßnahmen<br />

zur Abwehr von Übergriffen. Man verabschiedet gemeinsam das „Projekt eines nationalen Zusammenschlusses aller<br />

Wolgakolonien zu einer selbständigen Wolgarepublik im russischen Föderationsstaat“ und beruft für den 13. Mai<br />

eine „Verfassungsgebende Versammlung“ nach Seelmann ein. Bis dahin soll ein Hauptverwaltungsrat die Verwal-<br />

tungsaufgaben in den Kolonien wahrnehmen.<br />

<strong>TB</strong><br />

18,1<br />

25


<strong>TB</strong><br />

18,2<br />

26<br />

WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR –<br />

BS 8<br />

Im April 1918 fährt eine Delegation des Hauptverwaltungsrates nach Moskau, um aufgrund der Beschlüsse der<br />

Warenburger Konferenz mit der Zentralregierung über die Gewährung der Autonomie und die Grenzen der zu<br />

schaffenden Föderation zu verhandeln. Auf Beschluss der Zentralregierung wird Ende April 1918 in Saratow das<br />

„Kommissariat für deutsche Angelegenheiten im Wolgagebiet“ gebildet. Es besteht aus Ernst Reuter und Karl<br />

Petin, die aus Moskau entsandt werden, und den Wolgadeutschen A. Mohr, A. Emich, G. Klinger und G. Dinges.<br />

Dieses Kommissariat, das später durch weitere Bolschewiki aus Moskau verstärkt wird, soll die „Selbstverwaltung<br />

der deutschen Kolonien auf der Grundlage der Sowjetgewalt“ in die Wege leiten und die Vorarbeiten für den Räte-<br />

kongress leisten. Der erste Gebietsrätekongress tritt am 30. Juni 1918 zusammen und verabschiedet die „Leitsätze<br />

für die Organisierung einer Föderation der Arbeiter und Bauernräte der deutschen Kolonien im Wolgagebiet“. Am<br />

19.Oktober 1918 wird ein von Lenin unterzeichnetes Dekret veröffentlicht.<br />

Durch dieses Dekret wird die „Arbeitskommune des Gebietes der Wolgadeutschen“ gegründet. Die Machtergrei-<br />

fung der Bolschewiki vollzieht sich im Laufe des Jahres 1918 sowohl im Wolgagebiet und in der Ukraine, als auch<br />

in anderen Landesteilen nach dem Schneeballsystem. Ortsfremde kamen aus Petrograd, Moskau und anderen In-<br />

dustriestädten in die Provinz, jagten mit Waffengewalt die alten Verwaltungsorgane auseinander, beschlagnahmten<br />

Banken, Vorratslager usw. und setzten mit Hilfe örtlicher Bolschewiki und ihrer Sympathisanten Arbeiter- und Bau-<br />

ernräte als neue Machtorgane ein.<br />

Diese sehen ihre revolutionäre Pflicht darin, von den „konterrevolutionären Kräften“ möglichst viele Güter verschie-<br />

denster Art einzuziehen und an die Bedürftigen zu verteilen.<br />

Deutsche Kolonien sind immer häufiger beliebte Objekte von Übergriffen, gegen die sie sich kaum wirksam wehren<br />

können. Die Enteignungen werden vielerorts als Auswirkung des Deutschenhasses und der Liquidationsgesetze<br />

angesehen.<br />

Deutsche und österreichisch-ungarische Truppen besetzen ukrainisches Gebiet und übernehmen die Aufgabe, Ruhe<br />

und Ordnung wiederherzustellen. Als Gegenleistung können deutsche und österreichische Behörden dringend be-<br />

nötigtes Brotgetreide und andere Lebensmittel für die Versorgung der eigenen Bevölkerung und der Truppe aufkau-<br />

fen. Bessarabien wird an Rumänien übergeben. Die Anwesenheit deutscher Truppen weckt bei den Kolonisten die<br />

Hoffnung auf dauerhaften Schutz durch das Deutsche Reich.<br />

Vertreter der Wolgadeutschen, vor allem Pfarrer Johannes Schleuning, bemühen sich, den Schutz des Deutschen<br />

Reiches und das Recht auf Auswanderung nach Deutschland zu erreichen. Beides war im Zusatzvertrag zum Frie-<br />

densvertrag von Brest-Litowsk vereinbart worden. Das Interesse des Deutschen Reiches an der Verwirklichung der<br />

Bestimmungen des Zusatzvertrages wird jedoch mit der Verschlechterung der Lage an der Westfront immer geringer<br />

und hatte mit dem Zusammenbruch des Reiches ein Ende.<br />

Der Bürgerkrieg ist zu dieser Zeit in Russland noch nicht beendet. Er dauert bis 1921 und bringt auch den deutschen<br />

Kolonisten viel Elend und Not. Die Wolgakolonien geraten 1918 zwischen die Fronten der Roten und der Weißen.<br />

Beide Bürgerkriegsparteien holen aus den Kolonien soviel Getreide, Vieh, Pferde und Rekruten heraus, wie sie kön-<br />

nen. Bei Widerstand werden die Siedlungen unter Artilleriebeschuss genommen und dann zur Ablieferung noch<br />

größerer Mengen der geforderten Güter gezwungen. In einer noch schlimmeren Lage befinden sich die Kolonien in<br />

der Ukraine. Hier geht die Front mehrmals über sie hinweg.


WELTKRIEG UND REVOLUTION – HUNGERJAHRE UND ASSR –<br />

BS 8<br />

Im Laufe der Jahre 1919 und 1920 wird die Südukraine dreimal von den Weißen erobert und wieder an die Roten<br />

verloren. Jeder Angriff bringt Verwüstungen mit sich. Zerstörungen durch den Bürgerkrieg und Epidemien, die ihm<br />

folgen sowie die andauernde Schwächung der Kolonien durch die Zwangsablieferungen während der Zeit des<br />

Kriegskommunismus (1918-1921) führen zu einem starken Rückgang der Saatflächen.<br />

Die widrigen Witterungsverhältnisse und die rücksichtslose Ablieferungspolitik der Verwaltung der „Arbeitskommu-<br />

ne der Deutschen des Wolgagebietes“ lassen aus der Missernte des Jahres 1920 eine Hungerskatastrophe in den<br />

Jahren 1921/1922 werden. Allein in den Wolgakolonien verhungern 1921 mehrere zehntausend Menschen. Über<br />

74.000 wandern aus. Nach amtlichen Angaben verlieren die Wolgakolonien 1921 durch Hungersnot und Aus-<br />

wanderung 26,5% ihrer Bevölkerung. Das Land erholt sich in den nächsten Jahren dank staatlicher Hilfe, besserer<br />

Ernten und vor allem wegen der liberalen „Neuen Ökonomischen Politik“.<br />

Das autonome Gebiet hat von Anfang an auch eine politische Rolle zu spielen. Es soll den deutschen und Österrei-<br />

chischen Sozialdemokraten den Weg der sozialistischen Umgestaltung zeigen. Als die Spannungen in Deutschland<br />

im Herbst 1923 zu Unruhen führen, wird das autonome Gebiet sogar zur Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />

der Wolgadeutschen (ASSR d WD) erhoben. Diese Umwandlung entspricht, der Aussage einer 1926 im Staatsvertrag<br />

der Wolgarepublik erschienenen Arbeit zufolge, „nicht nur den inneren Aufgaben und dem wachsenden politischen<br />

Selbstbewusstsein der Bevölkerung, sondern auch dem außerordentlichen Interesse an dem Schicksal der Wolga-<br />

deutschen in Deutschland, wo die politische Ereignisse des Winters 1923/1924 zu einer siegreichen Vollendung der<br />

proletarischen Revolution zu führen schienen“. Die Erhebung des Autonomen Gebietes zur Autonomen Republik<br />

und die Annahme einer Verfassung am 31. Januar 1926 sind Folge der sowjetischen Nationalitätenpolitik.<br />

In den deutschen Kolonien wird Deutsch wieder Amtssprache und neben Russisch und Ukrainisch auch Amtssprache<br />

der Republik.<br />

<strong>TB</strong><br />

18,3<br />

27


<strong>TB</strong><br />

19,1<br />

28<br />

ALLGEMEINE TEXTE ZU WELTKRIEG UND REVOLUTION – BS 8<br />

Machtergreifung der Bolschewiki<br />

1917: Mit der Eroberung der politischen Macht durch die Bolschewiki wird die kurze Periode des bürgerlich-demokratischen<br />

Regimes am 25.Oktober in Russland beendet.<br />

Die Oktoberrevolution bedeutete für die Geschichte der Russlanddeutschen eine Zäsur. Auch für sie<br />

ergaben sich Veränderungen, die ihre bisherige Lebensweise, die sozialen und politischen Strukturen,<br />

Besitz- und Produktionsverhältnisse betrafen.<br />

Historisch neu war der Umstand, dass sie als nationale Minderheit Rechte bekamen, die einer eigenständigen<br />

Entwicklung beträchtlichen Raum gaben.<br />

Eingebettet in die revolutionären Umwälzungen ergaben sich aber für die Entwicklung der Russlanddeutschen<br />

auch Veränderungen, die Traditionelles wie zum Beispiel die Rolle der Kirche grundsätzlich in<br />

Frage stellten.<br />

Wie bei anderen Volksgruppen auch spielte die Religion eine wichtige Rolle im Leben der Russlanddeutschen.<br />

Sie sahen sich nun mit der atheistischen Grundausrichtung der bolschewistischen Religionspolitik<br />

konfrontiert, die ihren Ausdruck im Dekret über die Gewissensfreiheit, über die kirchlichen und<br />

religiösen Gemeinschaften fand.<br />

Eine Woche später wurde von der neuen Regierung die Deklaration der Rechte der Völker Russlands<br />

verabschiedet. Damit hatte die Sowjetregierung in kürzester Zeit auf grundlegende Fragen der Revolution<br />

eine Antwort versucht: Frieden, Land, nationale Selbstbestimmung.<br />

Der II. Gesamtrussische Sowjetkongress, der in Petrograd während des Aufstandes tagte und auf dem<br />

die Bolschewiki dominierten, nahm am 8.November (26.Oktober) das Dekret über den Frieden und<br />

das Dekret über den Grund und Boden an.<br />

Das Dekret verfügte<br />

• die entschädigungslose Enteignung aller Ländereien der Großgrundbesitzer, der Krone, der Klöster<br />

und der Kirche (wobei sich im europäischen Teil Russlands ca. 40 Prozent des Bodens in den Händen<br />

von Großgrundbesitzern befanden)<br />

• die unentgeltliche Übergabe der enteigneten Ländereien an landlose und landarme Bauern<br />

Die praktische Umsetzung des Dekretes bedeutete, dass mehr als 150 Millionen Hektar Land verteilt und<br />

den Bauern über zwei Milliarden Rubel Schulden erlassen wurden. Außerdem wurden sie von jährlichen<br />

Pachtzahlungen in Höhe von 700 Millionen Goldrubeln befreit.<br />

Der Enteignung unterlagen auch viele russlanddeutsche Gutsbesitzer. Ab Sommer 1918 waren unter<br />

dem Eindruck der so genannten "Getreidekrise" auch russlanddeutsche Großbauern von Teilenteignungen<br />

betroffen. Dies war vor allem in den reich mit Land ausgestatteten Mennonitenkolonien der Fall.<br />

Durch Übergabe des enteigneten Landes an Bauern nichtdeutscher Nationalität wurde die bisherige<br />

relative ethnische Homogenität der deutschen Kolonien aufgebrochen.<br />

Wie die russischen wurden auch die deutschen Großbauern als "Kulaken" bezeichnet.


ALLGEMEINE TEXTE ZU WELTKRIEG UND REVOLUTION – BS 8<br />

Die Deklaration der Rechte der Völker Russlands und die Russlanddeutschen<br />

In der Deklaration wurde festgeschrieben:<br />

• Gleichheit und Souveränität aller Völker Russlands<br />

• Recht auf Selbstbestimmung der Völker bis zur Lostrennung und Bildung eines selbstständigen<br />

Staates<br />

• Abschaffung nationaler und national-religiöser Privilegien und Beschränkungen<br />

• Recht auf freie Entwicklung nationaler Minderheiten und ethnischer Gruppen.<br />

Diese Deklaration hatte auch starke Auswirkungen auf die Russlanddeutschen. Sie ermöglichte, die nach<br />

der Februarrevolution 1917 aufgekeimten Autonomiebestrebungen in den deutschen Siedlungsgebieten<br />

fortzusetzen und förderte solche Tendenzen. In den Schulen der deutschen Siedlungsgebiete durfte nun<br />

wieder offiziell in der deutschen Muttersprache unterrichtet werden. Die eigene Sprache war der russischen<br />

Staatssprache gleichgestellt.<br />

Die in der Deklaration zum Ausdruck kommende sowjetische Nationalitätenpolitik war allerdings von<br />

Anfang an ambivalent, d.h., sie war durch ein widersprüchliches und wechselvolles Verhalten gegenüber<br />

den Nationalitäten, darunter auch der deutschen nationalen Minderheit, gekennzeichnet.<br />

So versprach man einerseits freie Eigenentwicklung, unterband aber andererseits eigenständige Regungen<br />

und Handlungen, sobald sie sich zentralistischer Steuerung entziehen wollten. Das kann u.a. auch<br />

die Entscheidung zum Aufbau einer deutschen Autonomie im Wolgagebiet im Frühjahr 1918 belegen.<br />

Die Deklaration bildete eine wichtige Grundlage für die Entfaltungsmöglichkeit russlanddeutscher Autonomiebestrebungen<br />

unter der Sowjetmacht.<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/oktoberrevolution_auswirkungen_rd.htm<br />

Der Übergang zum Frieden in Sowjetrussland gestaltete sich äußerst schwierig. Weltkrieg, Revolution<br />

und Bürgerkrieg hatten dem Land tiefe Wunden geschlagen.<br />

Neben der Zerrüttung des Wirtschaftslebens litten 1921 Stadt und Land infolge einer katastrophalen<br />

Missernte unter einer schweren Hungersnot. Infolge der enormen Missernten 1921 und 1922 verhungerten<br />

in Sowjetrussland erstmalig Menschen. Ca. 120 000 Russlanddeutsche, vor allem im Wolgagebiet<br />

sind betroffen.<br />

Für die Wolgakolonien waren die Verluste am gravierendsten – verglichen mit den anderen von Dürre<br />

und Hunger betroffenen Regionen (30 Gouvernements mit mehr als 30 Millionen Einwohnern im Nordkaukasus<br />

und in der Südukraine). Hungertod, Krankheiten und Flucht in andere Landesteile bzw. Auswanderung<br />

dezimierten die Bevölkerung von über 452 000 Personen im Jahre 1920 schon bis August<br />

1921 auf etwa 359 000. 1922 betrug der Bevölkerungsrückgang fast 27 Prozent, davon 10 Prozent<br />

durch den Tod.<br />

Die soziale Lage der Werktätigen war überaus kärglich. Es kam zu Streiks und Bauernaufständen. Eine<br />

tiefgreifende wirtschaftliche und soziale Krise hatte Sowjetrussland erfasst.<br />

Diese Situation erforderte dringend wirtschaftliche Korrekturmaßnahmen. Die von Lenin initiierte<br />

und im März 1921 beschlossene Neue Ökonomische Politik (NÖP) führte in Verbindung mit der neuen<br />

Nationalitätenpolitik zu einer kurzfristigen wirtschaftlichen und politischen Erholungsphase auch für die<br />

Russlanddeutschen, insbesondere für die Wolgabauern.<br />

Literatur zum Nachlesen: Ingeborg Fleischhauer, Die Deutschen im Zarenreich. Zwei Jahrhunderte deutsch-russische Kulturge-<br />

meinschaft, Stuttgart 1991,S. 508<br />

BESCHLUSS DES GESAMTRUSSISCHEN ZENTRALEXEKUTIVKOMMITEES UND DES RATS DER VOLKS-KOMMISSARE ÜBER DIE<br />

BILDUNG DER AUTONOMEN SOZIALISTISCHEN SOWJETREPUBLIK DER WOLGADEUTSCHEN<br />

<strong>TB</strong><br />

19,2<br />

29


<strong>TB</strong><br />

20,1<br />

30<br />

NEP – NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK – BS 9<br />

NEP – Jahre wirtschaftlicher und kultureller Erholung<br />

Neue Ökonomische Politik, russisch Nowaja Ekonomitscheskaja Politika, Abkürzung NEP, eine Politik der<br />

vorübergehenden wirtschaftlichen Liberalisierung in der Sowjetunion den Jahren 1921 bis 1928.<br />

Durch die NEP sollte nach Weltkrieg, Revolutions- und Bürgerkriegsjahren die Wirtschaft wieder belebt,<br />

die Lebensmittelproduktion gesteigert und das Wirtschaftswachstum gefördert werden.<br />

Bedingt durch den Bürgerkrieg und die harten Maßnahmen des Kriegskommunismus einer Wirtschaftspolitik,<br />

in der Marktmechanismen durch eine zentralistische Wirtschaftsstruktur ersetzt wurden, hatte<br />

die Wirtschaft in Sowjetrussland einen Tiefpunkt erreicht und war nicht mehr in der Lage, auch nur<br />

die Grundbedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen: 1920 war die Industrieproduktion auf unter ein<br />

Siebtel des vorrevolutionären Standes gesunken, und die beispiellos niedrigen Getreideernten 1920 und<br />

1921 führten zu einer Hungersnot, der Millionen Menschen zum Opfer fielen.<br />

Im März 1921 führte Lenin, der Chef der sowjetischen Regierung, daher die NEP ein, um die Wirtschaft<br />

des Landes durch eine Liberalisierung in Handel, landwirtschaftlicher Produktion und Industrie wieder zu<br />

beleben und so die katastrophale Versorgungslage der Bevölkerung zu überwinden. Die Überschüsse in<br />

der landwirtschaftlichen Produktion wurden jetzt nicht mehr willkürlich und zwangsweise von der Regierung<br />

beschlagnahmt; unter der NEP war es den Bauern vielmehr gestattet, ihre Produkte nach Abführung<br />

einer Steuer, die sich proportional zu ihrem Nettoertrag bemaß, auf dem freien Markt zu verkaufen. Die<br />

Bauern durften außerdem Land pachten und Leiharbeiter beschäftigen, was beides unter dem Kriegskommunismus<br />

verboten gewesen war. Kleine und mittlere Industriebetriebe konnten privatisiert werden,<br />

Finanz- und Transportwesen, Schwerindustrie und Außenhandel verblieben aber im Besitz bzw. unter der<br />

Kontrolle des Staates. 1921 wurde an Stelle des Tausch-, Kontingentierungs- und Kommandosystems<br />

wieder Geld eingeführt. Unter der NEP erholte sich die sowjetische Wirtschaft schnell, und 1928 waren<br />

die Produktion in Landwirtschaft und Industrie und die Kapazitäten im Transportwesen höher als vor der<br />

Revolution.<br />

Quelle: "Neue Ökonomische Politik," Microsoft® Encarta® Online-Enzyklopädie 2007<br />

Die wolgadeutsche Autonomie entwickelte sich nach dem Bürgerkrieg und den Hungerjahren 1921 im<br />

Zeichen der Neuen Ökonomischen Politik (NEP) bis zum Ausbruch des 2. Weltkrieges nicht schlechter<br />

als andere autonome Sowjetrepubliken im Sinne der Nationalitätenpolitik Lenins und Stalins. …Mit dem<br />

Wachstum der Volkswirtschaft begann sich auch die Kultur zu entfalten. Bereits 1921 gab es bei den<br />

Wolgadeutschen 236 „Landamtsschulen“, 317 Schulen der Stufe I, 23 der Stufe II, elf Technika, fünf<br />

Hochschulen, drei Arbeiterfakultäten, 20 Kulturhäuser, ein deutschen Nationaltheater und ein deutsches<br />

Kindertheater. In der Republik erschienen mehr als 20 regionale und fünf überregionale Zeitungen; allein<br />

zwischen 1933 und 1935 wurden von den Wolgadeutschen 555 Bücher mit einer Gesamtauflage von<br />

etwa drei Millionen Exemplaren gedruckt.<br />

Es gab zwischen den beiden Weltkriegen eine Zeit, zu der es überall in der Sowjetunion, wo Deutsche<br />

geschlossen angesiedelt waren, eine kulturelle und administrative Autonomie. In der Russischen Sozialistischen<br />

Föderativen Sowjetrepublik zählte man sechs deutsche Rayons und 1938 628 Schulen mit<br />

deutscher Unterrichtssprache.<br />

Aus: Zwischen den Kulturen - Russlanddeutsche gestern und heute, a.a.O., Seite 12 f.


NEP – NEUE ÖKONOMISCHE POLITIK – BS 9<br />

Kolchose (russische Abkürzung für kollektiwnoje chosjaistwo: „Kollektivwirtschaft”), die seit 1929/30<br />

vorherrschende Betriebsform in der Landwirtschaft.<br />

Die ersten genossenschaftlich organisierten Landbetriebe entstanden nach 1917 durch freiwilligen<br />

Zusammenschluss von Bauern mit Selbstverwaltungsbefugnis. Unter Stalin kam es mit der rigorosen<br />

Durchführung der Kollektivierung (Beginn 1928) zur größten Agrarrevolution der Geschichte, der sechs<br />

Zehntel aller Höfe und circa elf Millionen Menschen zum Opfer fielen („Liquidierung der Kulaken“ ); aus<br />

18,8 Millionen Bauernhöfen mit 117 Millionen Hektar Ackerland wurden 242.000 Kolchosen gebildet.<br />

In Eigennutzung der Kleinbauern blieben, je Hof, etwa 0,3 Hektar Gartenland und eine geringe Zahl<br />

Nutztiere. Jedes Kolchosemitglied war zu 100 bis 150 Tagwerken jährlich verpflichtet. Nach der Pflichtablieferung<br />

an den Staat erfolgte die Ertragsverteilung unter den Kolchosemitgliedern je nach geleisteten<br />

Tagwerken.<br />

Aus dem Ertrag muss der Kolchos alle Investitionen bezahlen, also z.B. Saatgetreide, Viehfutter, Dünger,<br />

Bauvorhaben und Reparaturen, Beiträge zum Sozialversicherungsfonds; bei Großkolchosen Schulen,<br />

Krankenhäuser, Kindergärten, Wohnungen, die feststehenden Zahlungen an das leitende Personal. …<br />

Bis 1956 durfte ein Kolchosbauer nicht ohne Erlaubnis von Kolchosvorstand und Lokalsowjet aus dem<br />

Kolchos wegziehen. In der Zeit zwischen 1976 und 1981 bekamen die Kolchosbauern Pässe. Ohne Pass<br />

konnten sie ihren Aufenthaltsort nicht ändern."<br />

(Schmid: Fragen an die Geschichte 4, Frankfurt/Main, S. 146)<br />

<strong>TB</strong><br />

20,2<br />

31


<strong>TB</strong> 21<br />

32<br />

ZWANGSKOLLEKTIVIERUNG AB 1928 – BS 10<br />

„In der Theorie und im Programm der KPDSU(B) war die Lösung der Agrarfrage nach der Beseitigung<br />

des Privateigentums an Grund und Boden … mit der Beseitigung der Dorfbourgeoisie und Kulaken<br />

und der Umgestaltung der Wirtschafts- und Klassenstruktur durch gemeinsame Bewirtschaftung des<br />

Bodens und die Schaffung landwirtschaftlicher Großbetriebe, d.h. Kollektivierung und Herausbildung<br />

einer homogenen Bauernschaft, vorgezeichnet.Angesichts der Getreidekrise Ende der zwanziger<br />

Jahre orientierte die Partei- und Staatsführung auf einen beschleunigten Übergang zur "durchgängigen<br />

Kollektivierung". So glaubte man das Versorgungsproblem dauerhaft lösen zu können und zugleich<br />

die "letzte Ausbeuterklasse" auszuschalten.<br />

Ein ZK-Beschluss vom Januar 1930 legte harte Fristen für die Durchsetzung fest. …Diese Festlegungen<br />

wurden genauso umgangen und verletzt wie die Orientierungen über die Freiwilligkeit eines Eintritts in<br />

eine Kollektivwirtschaft (Kolchos) und die Abfolge sowie den Umfang der Vergesellschaftung von Grund<br />

und Boden, Vieh und landwirtschaftlichen Geräten.<br />

Es begann ein regelrechter, von zentralen und territorialen Partei- und Staatsorganen geschürter Wettbewerb<br />

um die schnellstmögliche "durchgängige Kollektivierung". Bäuerlicher Widerstand wurde<br />

zunehmend mit Gewalt und Zwang gebrochen, nicht selten durch die Eingliederung widersetzlicher<br />

Bauern in die Kategorie der Kulaken.<br />

Für die Kolchose wurden aus dem Staatshaushalt beträchtliche Mittel zur Verfügung gestellt. Maschinen-<br />

und Traktorenstationen übernahmen die "technischen Dienstleistungen" in den neuen Wirtschaftsstrukturen.<br />

Im Ganzen war die technische Basis der Kolchose aber unzureichend.“<br />

http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/kollektivierung_landwirtschaft.htm<br />

Die Enteignung der Bauern hat eine Hungersnot unvorstellbaren Ausmaßes zur Folge (1932), nachdem<br />

die verordneten Planvorgaben nicht eingehalten werden. Wer nun in die Städte fliehen will, wird<br />

zurückgeschickt.<br />

„Im Widerstand gegen die Zwangskollektivierung schlachten die Bauern bis 1933 50-60% des Viehbestandes<br />

und bauen nur noch das Notwendigste an. So entsteht die nächste große Hungersnot: Zwischen<br />

5 und 11 Mio. Menschen verhungern. In der Ukraine spricht man in diesem Zusammenhang heute von<br />

Holodomor (=Hungerholocaust).<br />

Gegen den Massenwiderstand der Bauern führt die Regierung einen Bürgerkrieg von oben. Menschen<br />

werden zu Millionen in Zwangsarbeitslager gesteckt. Das Lagersystem GULAG weitet sich enorm aus.<br />

Der Massenwiderstand der Bauern führte dazu, dass sich die Industrialisierung überwiegend selbst tragen<br />

musste, da in der Landwirtschaft Mittel vernichtet wurden.“ (Quelle: wikipedia)<br />

Der Zwangskollektivierung mit der folgenden Hungersnot fallen Millionen von Menschen zum Opfer.<br />

Trotz der Not im eigenen Lande verkauft die Regierung ukrainischen Weizen ins Ausland. Die Hungersnot<br />

führt zu einer Hilfewelle aus dem Deutschen Reich, die das Misstrauen Stalins hervorruft und von ihm<br />

unterbunden wird.<br />

Der Widerstand der Bauern gegen die Zwangskollektivierung wird durch die Hungersnot endgültig<br />

gebrochen.


STALIN – DER GROßE TERROR – BS 11<br />

Der Große Terror 1936-38<br />

Von der Säuberung zum Mord<br />

Stalin baute den Terrorapparat zu einer Vernichtungsmaschine um. In<br />

immer neuen Säuberungswellen ließ er Bauern, unzählige Parteikader,<br />

große Teile der Roten Armee, aber auch ethnische Minderheiten, Juden<br />

und Geistliche zu Abertausenden verhaften und liquidieren. Säuberung<br />

nannten die Stalinisten diesen Vorgang. Doch die Säuberung<br />

(auf Russisch: "Tschistka") existierte bereits unter Lenin. Sie war ein<br />

parteiinterner Vorgang, der unzuverlässige<br />

Genossen wieder auf Linie<br />

bringen sollte. Nichtkonforme<br />

Mitglieder wurden denunziert, sie mussten sich für Abweichungen<br />

rechtfertigen, öffentlich Selbstkritik üben und wurden im Zweifelsfall<br />

aus der Partei ausgestoßen. Unter Stalin mutierte die Säuberung<br />

jedoch zur Tötungsmaschine. Eine Säuberung bedeutete jetzt nicht<br />

nur Absetzung, sondern die physische Vernichtung. Und es war Stalin,<br />

der entschied und befahl, wer Freund war oder Feind, wer als<br />

Verräter verhaftet und hingerichtet wurde und wer der Erschießung<br />

entging.<br />

Der große Terror beginnt<br />

1934 lieferte die Ermordung des Leningrader Parteisekretärs und Stalin-Konkurrenten<br />

Kirow dem Diktator den willkommenen Vorwand,<br />

um gegen die eigenen Reihen loszuschlagen. In einer groß angelegten<br />

Säuberungskampagne fielen zwei Drittel der führenden Kader, Funktionäre<br />

und Delegierten des Zentralkommitees der KpdSU (Kommunistische<br />

Partei der Sowjetunion) dem stalinistischen Terror zum Opfer.<br />

Die Mitglieder wurden verhaftet, der Abweichung von der Parteilinie<br />

und der Spionage oder Sabotage angeklagt und "überführt". Durch<br />

Einschüchterung, Folter und Sippenhaft gefügig gemacht, wurden die<br />

Opfer zu absurden Geständnissen gezwungen, in öffentlichen Schauprozessen zur Selbstanklage genötigt<br />

und anschließend hingerichtet.<br />

Selbst Genossen der ersten Stunde und Weggefährten Stalins fielen dem großen Terror zum Opfer. Als<br />

die Partei zerstört war, holte Stalin zum Schlag gegen die Rote Armee aus. Marschall Tuchatschewski,<br />

einst Ikone der Militärs, wurde subversiver Machenschaften verdächtigt und Stalin hob das Nest der<br />

"überführten Verschwörer" gründlich aus. Stalin beseitigte die komplette Kommandospitze der Armee,<br />

10.000 Offiziere wurden verhaftet und hingerichtet, darunter Marschälle und Generäle. Die Rote Armee<br />

sollte sich von diesem Vernichtungsschlag nicht mehr erholen, Millionen Rotarmisten verloren in<br />

den Schlachten des Zweiten Weltkriegs aufgrund einer buchstäblich kopflosen Armeeführung ihr Leben.<br />

Durch die Zerstörung von Partei und Armee hatte sich Stalin nun endgültig zum Alleinherrscher<br />

aufgeschwungen.<br />

<strong>TB</strong> 22<br />

33


<strong>TB</strong> 23<br />

34<br />

INTEGRATION IN DEUTSCHLAND – BS 12, 13<br />

„Erlaß des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR vom 28. August 1941<br />

"Über die Umsiedlung der Deutschen, die in den Wolga-Rayons leben"<br />

Entsprechend glaubwürdigen Nachrichten, die die Militärbehörden erhalten haben, befinden<br />

sich unter der in den Wolga-Rayons lebenden deutschen Bevölkerung Tausende und Zehntausende<br />

von Diversanten und Spionen, die nach einem aus Deutschland gegebenen Signal<br />

in den von den Wolgadeutschen besiedelten Rayons Sprenganschläge verüben sollen.<br />

Über die Anwesenheit einer so großen Zahl von Diversanten und Spionen unter den Wolgadeutschen<br />

hat den Sowjetbehörden keiner der in den Wolga-Rayons ansässigen Deutschen<br />

gemeldet, folglich verbirgt die deutsche Bevölkerung der Wolga-Rayons in ihrer Mitte Feinde<br />

des Sowjetvolkes und der Sowjetmacht.<br />

Im Falle von Diversionsakten, die auf Weisung aus Deutschland durch deutsche Diversanten<br />

und Spione in der Republik der Wolgadeutschen oder in den angrenzenden Rayons ausgeführt<br />

werden sollen, und im Falle, daß es zum Blutvergießen kommen wird, wird die<br />

Sowjetregierung entsprechend den zur Kriegszeit gelten Gesetzen gezwungen sein, Strafmaßnahmen<br />

zu ergreifen.<br />

Um aber unerwünschte Ereignisse dieser Art zu vermeiden und ernsthaftes Blutvergießen zu<br />

verhindern, hat das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR es für notwendig befunden,<br />

die gesamt deutsche Bevölkerung, die in den Wolga-Rayons ansässig ist, in andere Rayons<br />

umzusiedeln, und zwar derart, daß den Umzusiedelnden Land zugeteilt und bei der Einrichtung<br />

in den neuen Rayons staatliche Unterstützung gewährt werden soll.<br />

Für die Ansiedlung sind die an Ackerland reichen Rayons der Gebiete Novosibirsk und Omsk,<br />

der Region Altaj, Kazachstans und weitere benachbarte Gegenden zugewiesen worden.<br />

Im Zusammenhang damit ist das Staatliche Verteidigungskomitee angewiesen worden, die<br />

Umsiedlung aller Wolgadeutschen und die Zuweisung von Grundstücken und Nutzland an die<br />

umzusiedelnden Wolgadeutschen in den neuen Rayons unverzüglich in Angriff zu nehmen.<br />

Der Vorsitzende des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSRgez. M. Kalinin<br />

Der Sekretär des Präsidiums des Obersten Sowjets der UdSSR<br />

gez. A. Gorkin, Moskau, Kreml, 28. August 1941“<br />

Abdruck in: Informationen zur politischen Bildung Nr. 267/2000, S. 21<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/Kulturarchiv/Quellen/36.htm


DEPORTATIONSWEGE – BS 12<br />

Deportation der sowjetdeutschen Bevölkerung 1941<br />

Die Evakuierung der Deutschen in der Sowjetunion aus den Gebieten des deutschen Vormarsches sowie<br />

ihre Deportation in entlegene Landesteile Sibiriens und Kasachstans war eine der ersten Reaktionen der<br />

sowjetischen Regierung auf den unerwarteten Überfall Hitler-Deutschlands. Weitere Massendeportationen<br />

sollten folgen, so wie die von ca. 40 000 bis 50 000 Deutschen von der Krim am 20. August 1941.<br />

Eingedenk der in den Jahren vor dem Krieg verstärkten repressiven Politik gegenüber nationalen Minderheiten<br />

befürchtete die sowjetische Regierung, dass mit dem Einmarsch der deutschen Okkupationstruppen<br />

besonders die Russlanddeutschen mit diesen zusammenarbeiten könnten. Bestärkt wurde sie darin<br />

durch entsprechende "Berichte" der NS-Propaganda und Beispiele von Kollaboration aus anderen von<br />

Deutschland okkupierten europäischen Ländern.<br />

Insofern ist die Reaktion der Sowjetmacht mit der Deportation der Russlanddeutschen wie auch anderer<br />

nationaler Minderheiten zwar nachvollziehbar, nicht aber historisch, politisch und menschlich zu rechtfertigen.<br />

Im Wolgagebiet bildete der Erlass über die „Umsiedlung der im Wolgagebiet ansässigen Deutschen"<br />

vom 28. August 1941* die Grundlage für die vom 3. bis 20. September durchgeführte Deportation von<br />

365 800 Personen deutscher Nationalität.<br />

Als Begründung für die Zwangsumsiedlung der Wolgadeutschen diente die Unterstellung der kollektiven<br />

Verschwörung dieser Bevölkerungsgruppe gegen die Sowjetregierung. Die behauptete Spionage für und<br />

Kollaboration mit dem faschistischen Feind wurde indes nie nachgewiesen.<br />

Der Erlass vom 28. August 1941 hatte eine willkürliche Entrechtung aller Angehörigen der deutschen<br />

Bevölkerung und ihre Zerstreuung in der Sowjetunion zur Folge.<br />

Die Bestimmungsorte für die deportierten Wolgadeutschen lagen laut Erlass überwiegend in Sibirien (vor<br />

allem im Altai-Gebiet) und in Zentralasien (vor allem in Nordkasachstan).<br />

• S. Textblatt Deportationserlass vom 28.August 1941<br />

In: Informationen zur politischen Bildung Nr. 267/2000, S. 21<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/deportation_deutschen.htm<br />

<strong>TB</strong> 24<br />

35


<strong>TB</strong><br />

25,1<br />

36<br />

GESCHICHTE DER VOLKSGRUPPE –<br />

TSCHELJABMETALLURGSTROJ DES NKWD DER UDSSR – BS 13<br />

Tscheljabmetallurgstroj des NKWD der UdSSR -<br />

das größte Zwangsarbeitslager für Russlanddeutsche<br />

Entstehungsgeschichte, Aufgaben, Struktur<br />

Das reichhaltige Eisenerzvorkommen Bakal<br />

im heutigen Gebiet Tscheljabinsk/Südural<br />

diente seit Jahrhunderten zur örtlichen Eisengewinnung,<br />

doch erst im August 1940 fassten<br />

die Regierung der UdSSR und das ZK der bolschewistischen<br />

Partei den Beschluss, das Bakaler<br />

Hüttenwerk zu bauen. Bis zu Beginn des<br />

Krieges verharrten die Bauaktivitäten jedoch<br />

auf einem niedrigen Niveau.<br />

Der Angriff Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion<br />

führte zu einschneidenden Verlusten<br />

von Metallproduzenten im europäischen Teil<br />

des Landes bei einem gleichzeitig stark zunehmenden<br />

Bedarf an Qualitätsstahl. Das Volkskommissariat<br />

(Ministerium) für Schwarzmetallurgie<br />

bekam die Anweisung, ein komplexes<br />

Hüttenkombinat zu entwerfen, das verschiedene<br />

Produktionsstufen zusammenfassen und somit<br />

weitgehend autark funktionieren sollte. Das<br />

neue Projekt sah die Errichtung von Hoch- und<br />

Martinöfen, einem koksochemischen Betrieb,<br />

Elektrostahl und Walzschmelzen sowie einem<br />

eigenen Wärmekraftwerk vor. Dieses Riesenvorhaben<br />

erforderte angesichts der unzureichenden<br />

Mechanisierung eine leistungsstarke<br />

Bauorganisation, der zahlreiche Arbeitskräfte<br />

für die schwere körperliche Arbeit zur Verfügung<br />

stehen mussten.<br />

Nur das Volkskommissariat für Innere Angelegenheiten<br />

(NKWD) mit dem ihm unterstellten<br />

GULag-System verfügte über einschlägige Erfahrungen<br />

in der Organisation derartiger Masseneinsätze.<br />

Deshalb war es nur konsequent,<br />

diesen Bau dem NKWD zu übertragen. Ein<br />

am 25. Januar 1942 von Berija unterzeichneter<br />

Befehl schrieb detailliert die Maßnahmen zum<br />

Aufbau des Lagers und zur Unterstützung der<br />

Bauaktivitäten vor. Das ganze Unternehmen<br />

erhielt den Namen „Bakalstroj“ und wurde im<br />

August 1942 in „Tscheljabmetallurgstroj (Bauorganisation<br />

zur Errichtung des Tscheljabinsker<br />

Hüttenkombinats) des NKWD der UdSSR“<br />

umbenannt.<br />

Als Hauptstandort diente das 4.400 Hektar<br />

große Gelände Perschino, angeschlossen an die<br />

Eisenbahnstation Schagol in der unmittelbaren<br />

Nähe zur Provinzmetropole Tscheljabinsk. Neben<br />

dem Verwaltungssitz und Hauptstandort<br />

gehörten diesem Straf- und Arbeitslager zahlreiche<br />

Außenstellen und Lagerpunkte an, die<br />

die Baustelle und später auch das Hüttenwerk<br />

mit notwendigen Rohstoffen versorgten: mehrere<br />

durch das ganze Gebiet verstreut liegende<br />

Holzeinschlagflächen, zwei Kalkproduktionsstätten,<br />

ein großes Ziegelwerk, eine Grube zur<br />

Förderung feuerfester Tonerde, eine Zementfabrik<br />

und andere Betriebe. In der Verantwortung<br />

des Lagers befanden sich auch einige Kohlengruben<br />

in den Städten Kopejsk und Korkino.<br />

Lagerbevölkerung<br />

Aus entsprechenden Direktiven geht hervor,<br />

dass anfangs nur GULag-Häftlinge und freie<br />

Mitarbeiter für diese Baustelle vorgesehen waren.<br />

Doch infolge der massenhaften Einberufungen<br />

an die Front, die auch die Häftlinge mit<br />

einbezog, und einer Vielzahl neuer Bauvorhaben<br />

entstand ein riesiger Arbeitskräftemangel.<br />

Dadurch lässt sich zum Teil auch der Entschluss<br />

über die Verwendung des deutschen „Kontingents“<br />

erklären, der zu diesem Zeitpunkt<br />

gefallen war. Offiziell wurde die Einweisung<br />

der Deutschen ins Arbeitslager als „Arbeitsmobilisierung“<br />

bezeichnet, das Arbeitslager selbst<br />

von den Politoffizieren in den Einsatzorten<br />

und später von den Behörden verschleiernd als<br />

trudarmija – Arbeitsarmee und die Betroffenen<br />

als „Trudarmisten“. Diese Zwangsrekrutierung<br />

diente aber auch in nicht geringerem Maße - wie<br />

der Chef der Lagerhauptverwaltung GULag,<br />

Generalleutnant Viktor Nasedkin, unumwunden<br />

zugab - der Repression und Bestrafung.<br />

Zum 1. Februar 1942 befanden sich auf der Baustelle<br />

bereits 4.237 Strafgefangene. Kaum eingearbeitet,<br />

rückten an ihre Stelle Russlanddeutsche<br />

ein: Schon Ende März 1942 stellten sie<br />

mit 13.135 Mann das Gros der beschäftigten<br />

Arbeitskräfte. Allein im Laufe dieses Jahres<br />

verdoppelte sich ihre Zahl durch weitere Mobilisierungen.<br />

Insgesamt gibt die Kartothek des Lagers Tscheljabmetallurgstroj<br />

Auskunft über mehr als 38.000<br />

vornehmlich russlanddeutsche Zwangsarbeiter.<br />

Unter ihnen befanden sich seit 1943 auch annähernd<br />

3.500 Finnen, Italiener, Bulgaren u.a.<br />

sowjetische „Bürger solcher Nationalitäten, deren<br />

Heimatländer mit der Sowjetunion im Krieg<br />

stehen“ – so im NKWD-Jargon.<br />

Die ankommenden Arbeitskräfte wurden in so<br />

genannte Bautrupps (strojotrjady) eingeteilt, die<br />

ihrerseits aus Kolonnen mit bis zu tausend Mann<br />

und letztere aus Brigaden unterschiedlicher Größe<br />

- in der Regel zu je 15 bis 25 Mitgliedern - bestanden.<br />

Die insgesamt 16 Trupps waren sowohl<br />

den im Bau befindlichen Objekten zugeteilt als<br />

auch in anderen Bereichen tätig: Bautrupp Nr. 1<br />

zum Beispiel war hauptsächlich mit dem Wohnungsbau,<br />

Nr. 3 bei der Errichtung des Wärmekraftwerkes<br />

beschäftigt usw. Auf dem vollständig<br />

abgesperrten Standort Perschino (Hauptzone)<br />

befanden sich bis zu neun Bautrupps: Jeder<br />

hatte eine eigene umzäumte Wohnzone, und nur<br />

dort konnten sich die Zwangsarbeiter frei bewegen.<br />

Innerhalb der Hauptzone durften sie unbewacht<br />

nur mit einer Sondergenehmigung oder<br />

einem extra für sie ausgestelltem Passierschein<br />

erscheinen.<br />

Zeitzeugen berichten<br />

Rudolf Romberg erinnert sich an die völlig unzureichende<br />

Vorbereitung des Lagers auf die Ankunft<br />

von Zehntausenden von Menschen und die<br />

miserablen Lebens- und Arbeitsbedingungen:<br />

Am 18. März 1942 wurde ich aus der Siedlung<br />

Marinowka, Gebiet Kustanaj, in den Bautrupp<br />

Nr. 10 des Tscheljabmetallurgstroj des NKWD<br />

eingeliefert. In der Morgenstunde standen wir<br />

vor dem Eingangstor des Lagers, von Stacheldraht<br />

umzäunt, mit Wachtürmen und -hunden<br />

gesichert. In Vier-Männer-Reihen aufgestellt,<br />

wurden wir wie Schafe gezählt und ins Lager<br />

für die vollen vier Jahre, bis zum 1. Mai 1946,<br />

eingepfercht. Das Gelände des Bautrupps bestand<br />

aus 14 Baracken für je 180 Mann. Die<br />

Baracke selbst war eigentlich eine Erdgrube,<br />

bedeckt mit Giebeldach. Im Zentrum standen<br />

Zwei-Etagen-Pritschen, an den Wänden einfache<br />

[Pritschen], unter denen der Schnee lag.<br />

Diese Unterkunft wurde von zwei Eisenöfen<br />

geheizt, die den Riesenraum nicht vollständig<br />

erwärmen konnten. Es gab kein Bettzeug und<br />

etwa zwei Monate kein Bad; das Wasser zum<br />

Trinken und für die Küche kam in Fässern. Die<br />

Läuse spazierten haufenweise auf uns... Unser<br />

10. Trupp baute das Walzwerk. Mit Spaten,<br />

Brecheisen, Pickel, Meisel und Schlaghammer<br />

hoben wir Riesengruben in der gefrorenen Erde<br />

Dr. Viktor Krieger<br />

für das Fundament des Walzwerkes aus. Wir<br />

schufteten zwölf Stunden am Tag. Die Verpflegung<br />

war wie folgt: Im Falle der Normerfüllung<br />

bekam man 600 Gramm Schwarzbrot,<br />

dreimal Wassersuppe (sup-balanda) und zum<br />

Mittagessen noch 100 bis 150 Gramm Hafer<br />

oder Hirsegrütze. Diejenigen, die das Plansoll<br />

nicht leisten konnten, erhielten nur 400 Gramm<br />

Schwarzbrot und Wassersuppe. Fleisch und<br />

Fette gab es praktisch nicht. Der Frühling 1942<br />

war anhaltend und frostig, das Aushöhlen des<br />

Fundaments in der durchgefrorenen Erde nahm<br />

die Kräfte der Arbeitsmobilisierten stark in<br />

Anspruch. Bereits im September konnten sich<br />

die meisten Leute wegen der Abmagerung und<br />

avitaminöser Krankheiten kaum bewegen; das<br />

große Sterben begann.“<br />

Massensterben<br />

Insgesamt starben 1942 allein nach der Lagerstatistik<br />

2.727 Trudarmisten; dabei stellte der<br />

Monat Dezember mit 840 Verhungerten und<br />

Erfrorenen den Jahreshöchststand dar. Im Januar<br />

1943 befanden sich von den 27.430 Zwangsarbeitern<br />

8.013 oder 29,2% in Krankenbarakken,<br />

1.512 (5,5%) waren bereits Invaliden. Die<br />

Lagerleitung war gezwungen, mehrere tausend<br />

Ausgezehrte und dem Tode Nahestehende<br />

(dochodjagi) zu demobilisieren. Wie viele von<br />

ihnen lebendig bei ihren Familien ankamen, ist<br />

unbekannt.<br />

Angesichts der alarmierenden Nachrichten -<br />

der Plan für das erste Quartal des Jahres 1943<br />

wurde nicht einmal zur Hälfte erfüllt - begannen<br />

die zentralen Partei- und Regierungsstellen<br />

sowie die Verantwortlichen vor Ort allmählich<br />

zu begreifen, dass bei diesem Tempo des Menschenverschleißes<br />

die hochgesteckten Ziele<br />

nicht erreicht werden konnten. Gleichzeitig mit<br />

der zunehmenden Terrorisierung unternahm<br />

die Lagerleitung mannigfaltige Anstrengungen,<br />

um den drohenden Produktionskollaps<br />

zu verhindern. Man begann dem physischen<br />

Zustand des mobilisierten „Kontingents“mehr<br />

Aufmerksamkeit zu schenken. So sollte eine<br />

Zusatzverpflegung und die erhöhte Differenz<br />

zwischen verschiedenen Essrationen mehr<br />

Anreiz zur Überfüllung der Norm schaffen.<br />

Zudem bekamen einige exponierte „Deutschhasser“<br />

aus der Lageraufsicht Verwarnungen<br />

wegen „grober Missachtung der Direktiven der<br />

Verwaltung des Tscheljabmetallurgstroj“, wie<br />

es so schön hieß.<br />

Dieses Arbeitslager ging in die Geschichte<br />

der Trudarmija ein als Einsatzort mit der zahlenmäßig<br />

größten Beschäftigung der zwangsmobilisierten<br />

Deutschen. Erst in der zweiten<br />

Hälfte des Jahres 1943 wurden auf der Baustelle<br />

vermehrt GULag-Häftlinge und Orientarbeiter<br />

(Kasachen, Usbeken, Tadschiken…)<br />

verzeichnet; sie sollten den stark reduzierten<br />

Personalbestand auffüllen. Zum 1. Januar 1944<br />

zählte Tscheljabmetallurgstroj neben der freien<br />

Belegschaft 35.462 Zwangsarbeiter; davon<br />

20.648 Mann aus dem „mobilisierten deutschen<br />

Kontingent“ sowie 11.482 Häftlinge und<br />

3.332 Rekruten aus Mittelasien.<br />

Seit dem Frühling 1946 begann die Auflösung<br />

der Arbeitskolonnen und die Überführung der<br />

deutschen Zwangsarbeiter in die Stammbelegschaft<br />

der Betriebe bzw. Bauorganisationen.<br />

Allerdings erhielten sie nicht die Rechte eines<br />

normalen Sowjetbürgers, sondern den Status


GESCHICHTE DER VOLKSGRUPPE –<br />

TSCHELJABMETALLURGSTROJ DES NKWD DER UDSSR – BS 13<br />

eines Sonderübersiedlers verliehen. Sie wurden<br />

unter die Aufsicht der eigens dafür errichteten<br />

Kommandanturen des Innenministeriums<br />

gestellt und durften ohne deren Zustimmung<br />

ihren Wohnort nicht verlassen. Somit bildeten<br />

sie einen Großteil der Bewohner des künftigen<br />

Metallurgischen Rayons der Stadt Tscheljabinsk.<br />

Nur mit Einverständnis der Betriebsleitung<br />

und des zuständigen Kommandanten<br />

konnten die Russlanddeutschen an den Ort der<br />

Pflichtansiedlung zurückkehren oder - soweit<br />

die Wohnverhältnisse es zuließen - ihre Familien<br />

zu sich holen. Die Zusammenführung der<br />

auseinander gerissenen Familien dauerte indes<br />

bis in die zweite Hälfte der fünfziger Jahre.<br />

Einige tausend Trudarmisten wurden jedoch<br />

nach einer Verlegung noch bis 1948 zum Bau<br />

von Objekten der Atomindustrie unweit der<br />

Stadt Kyschtym (Bauvorhaben 859) eingesetzt.<br />

Lagerführer<br />

Im Zeitraum von Januar 1942 bis April 1944<br />

stand der Brigade-Ingenieur und spätere General<br />

Alexander Komarowski an der Spitze der<br />

Lagerverwaltung. Im Mai 1906 in Odessa geboren,<br />

schloss er 1928 sein Studium am Moskauer<br />

Institut der Transportingenieure ab.<br />

Schon früh sammelte er „Erfahrungen“ im Umgang<br />

mit den Zwangsarbeitern beim Bau des<br />

Kanals „Moskau-Wolga“, wo er seit November<br />

1931 verschiedene leitende Posten innehatte.<br />

Der Aderlass des Großen Terrors schuf die<br />

Voraussetzung für den steilen Aufstieg einer<br />

neuen technischen Intelligenz der überzeugten<br />

Stalinistenkader: Im Alter von 32 Jahren wurde<br />

Komarowski zum Stellvertreter des Volkskommissars<br />

für Marine mit der Zuständigkeit<br />

für den Bau von Hafenanlagen ernannt. Nach<br />

dem Ausbruch des deutsch-sowjetischen Krieges<br />

leitete er den Bau von Verteidigungslinien<br />

in der Ukraine und im Raum von Stalingrad.<br />

Ohne Rücksicht auf Verluste legte er innerhalb<br />

von zweieinhalb Jahren in Tscheljabmetallurgstroj<br />

den Grundstein zu einem der größten<br />

Hüttenkombinate der einstigen UdSSR.<br />

Ab Mai 1944 leitete er die „Hauptverwaltung<br />

der Lager für das industrielle Bauen“ des<br />

NKWD der UdSSR. Nach dem Krieg wurden<br />

unter seiner Leitung die Zwangsarbeiter und<br />

Häftlinge für die Errichtung der Objekte der<br />

Atomindustrie, den Bau der Moskauer Universität<br />

und anderer militärischer und ziviler Bauvorhaben<br />

eingesetzt. Die Chruschtschow'sche<br />

„Wiederherstellung der sozialistischen Gesetzlichkeit“<br />

überstand er unbehelligt; mehr noch,<br />

1963 beförderte man ihn zum Stellvertreter<br />

des Verteidigungsministers, zuständig für den<br />

Baubereich und die Unterbringung der Armeeeinheiten,<br />

und im November 1972 erhielte er<br />

den Rang eines Armeegenerals. Mit Staatsorden<br />

und -preisen überhäuft, verstarb er 1973<br />

in Moskau und wurde auf dem Ehrenfriedhof<br />

„Nowodewitschi“ bestattet. Zur Erinnerung an<br />

seine Verdienste ist in der Stadt Tscheljabinsk,<br />

in dem Ortsteil, auf dessen Gelände sich früher<br />

das Arbeitslager befand, eine Straße nach ihm<br />

benannt.<br />

Nicht weniger „Erfahrungen“ im Umgang<br />

mit GULag-Häftlingen und Zwangsarbeitern<br />

konnte sein Nachfolger, der General-Major<br />

des ingenieur-technischen Dienstes Jakob Rapoport<br />

(1898-1962) vorweisen, der das Tscheljabmetallurgstroj<br />

seit Mai 1944 bis zu dessen<br />

Ausgliederung aus dem System des Innenministeriums<br />

leitete. Abertausende unschuldige<br />

Opfer hat er vor allem als Chef des Straf- und<br />

Arbeitslagers in der Stadt Nischni Tagil (Tagillag)<br />

in den vorangegangenen anderthalb Jahren<br />

zu verantworten. Ähnlich wie Komarowski<br />

wurde er nie für seine „Tätigkeit“ zur Rechenschaft<br />

gezogen.<br />

Terror, Verfolgungen, Diskriminierung<br />

Katastrophale Lebens- und Arbeitsbedingungen<br />

riefen naturgemäß Protest und Verweigerung<br />

der Betroffenen hervor, die von den Mitarbeitern<br />

der Staatssicherheit auf der Baustelle auf<br />

rücksichtslose Weise bekämpft wurden. Eine<br />

massive Welle der Repression erfasste die<br />

Zwangsarbeiter: Allein 1942 wurden 1.403<br />

Deutsche aufgrund von Fluchtversuchen, angeblichen<br />

Sabotageakten und konterrevolutionärer<br />

Arbeit, Selbstverstümmelung und absichtlicher<br />

Abmagerung (!) verhaftet und verurteilt.<br />

Dutzende groß gedruckte Aushänge mit Namen<br />

der Erschossenen oder zu mehrjähriger Haftstrafe<br />

Verurteilten, vom Lagerchef Alexander<br />

Komarowski bekannt gegeben, versetzten die<br />

Mobilisierten in panische Angst, was noch<br />

heute in den Berichten der Zeitzeugen zu spüren<br />

ist. Der Personalstand der Staatssicherheit<br />

des Tscheljabmetallurgstroj hatte sich seit der<br />

Lagergründung bis Ende Mai 1944 mehr als<br />

verdoppelt und betrug schließlich 55 Personen.<br />

Die Namen des Leiters der Staatssicherheit,<br />

Konstantin Kurpas, oder solch „sachkundiger“<br />

Geheimpolizisten wie Wikenti Lobanow, Meir<br />

Ufland oder Fedor Glaskow erregten Furcht<br />

und Entsetzen bei den Lagerinsassen. Die Terrorisierung<br />

der Zwangsarbeiter diente mehreren<br />

Zielen. Zum einen war dies ein wichtiges Mittel<br />

der Einschüchterung und Gefügigmachung, zum<br />

anderen sollte durch die verstärkte Ausrichtung<br />

der Strafpolitik gegen Intellektuelle, Fachleute,<br />

ehemalige Funktionäre und Wirtschaftsleiter<br />

die nationalen Elite der Deutschen beseitigt und<br />

diese zu einer bloßen Verfügungsmasse degradiert<br />

werden. Nicht zuletzt musste die Zahl der<br />

Verurteilten bzw. der aufgedeckten konterrevolutionären<br />

Organisationen die Existenzberechtigung<br />

jedes einzelnen Tschekisten sichern und<br />

vor der Frontversetzung bewahren.<br />

Man untersagte dem Lagerpersonal und den<br />

russischen Beschäftigten jeglichen Kontakt mit<br />

den Deutschen, die außerhalb des unbedingt<br />

Notwendigen lagen. Das geht aus den vielen<br />

Befehlen hervor, die zu enge Beziehungen mit<br />

den Zwangsarbeitern anprangerten und die<br />

Delinquenten mit harten Strafen belegten. So<br />

wurde eine russische Ärztin der 11. Bautruppe<br />

im Befehl der Lagerverwaltung vom 28. April<br />

1943 beschuldigt, sich in ihrer Wohnung mit<br />

einem Zwangsarbeiter einige Male getroffen<br />

zu haben, und das „entgegen den strengen Vorschriften<br />

der Bauverwaltung, die dem vertragsfreien<br />

Personal die Beziehungen gleich welcher<br />

Art zu den arbeitsmobilisierten Deutschen untersagen“.<br />

Wegen dieses Disziplinarvergehens<br />

erhielt die Ärztin eine ernste Verwarnung. Andere<br />

Fälle verliefen jedoch nicht so glimpflich:<br />

Das einmalige Übernachten von F. Haffner und<br />

E. Teolani bei befreundeten russischen Arzthelferinnen<br />

kostete die letzteren ihren Arbeitsplatz.<br />

Für die beiden Trudarmisten, die um 6 Uhr<br />

morgens von der Wachmannschaft überrascht<br />

wurden, endete dieser Besuch in einer dreimonatigen<br />

Einweisung zur Schwerstarbeit in einer<br />

Strafbrigade.<br />

Fazit<br />

Am 19. April 1943 fand die erste Stahlschmelze<br />

nach der Inbetriebnahme der ersten Arbeitsstufe<br />

des Elektrostahlwerkes statt, was als Geburtsstunde<br />

des metallurgischen Werkes gilt. Insgesamt<br />

gesehen, erzeugte das Tscheljabinsker<br />

Hüttenkombinat in den Jahren 1943-44 nur einen<br />

Bruchteil von dem, was die gesamte Sowjetunion<br />

produzierte: 2,3% an Roheisen, 0,7% an<br />

Stahl und 0,8% an Walzgut. Es ist höchst zweifelhaft,<br />

ob sich die unzähligen Menschenopfer,<br />

vor allem der Jahre 1942-43, bei der Errichtung<br />

dieses Kombinats durch solch eine bescheidene<br />

Produktion rechtfertigen lassen. Ein wesentlich<br />

größerer Nutzen wäre beim Einsatz der erfahrenen<br />

deutschen Bauern und anderer Zwangsarbeiter<br />

in der notleidenden sowjetischen Landwirtschaft<br />

erzielt worden - aber die Interessen<br />

und das Wohlergehen der eigenen Bevölkerung<br />

standen für das Stalinregime immer an letzter<br />

Stelle. •<br />

<strong>TB</strong><br />

25,2<br />

37


<strong>TB</strong> 26<br />

38<br />

LEBEN IM ARBEITSLAGER – DIE TRUDARMEE – BS 13<br />

Die Trudarmee<br />

Nach dem Ukas des Obersten Sowjets der Sowjetunion vom 28. August 1941 wurden 376.717 Wolgadeutsche<br />

"ganz legal" in Güter- und Viehwaggons verfrachtet und nach Sibirien zwangsumgesiedelt.<br />

Schon zuvor waren zahlreiche Russlanddeutsche, die in kleineren geschlossenen Siedlungsgebieten lebten,<br />

ohne großes Aufsehen nach Sibirien, Kasachstan oder Mittelasien deportiert worden, allein 45.000<br />

von der Krim. Nach dem 28. August aber wurden alle Deutschen, die von der Roten Armee noch erfasst<br />

werden konnten, aus ihren Heimatdörfern in Russland, der Ukraine und dem Kaukasus in Gebiete östlich<br />

des Urals und nördlich der Nebenflüsse der Wolga verschleppt.<br />

Dort mussten zuerst die Männer zwischen. 17 und 50 Jahren zur so genannten Trudarmee. Am 7. Oktober<br />

1942 wurde mit dem Beschluss des Staatlichen Verteidigungskomitees über die zusätzliche Mobilisierung<br />

deutscher Männer zwischen 16 und 55 Jahren sowie deutscher Frauen zwischen 16 und 45 Jahren<br />

(so fern sie nicht schwanger waren oder Kinder unter drei Jahren hatten) der Kreis der Trudarmisten<br />

erheblich erweitert. Auf Grund zahlreicher Berichte von Überlebenden ist davon auszugehen, dass diese<br />

Altersgrenzen oft nicht eingehalten wurden.<br />

"Trudarmee" heißt wörtlich übersetzt "Arbeitsarmee". In Wirklichkeit handelte es sich um Zwangsarbeitslager,<br />

die scharf bewacht wurden und oft von hohen Stacheldrahtzäunen umgeben waren. Die Verhältnisse,<br />

unter denen die Trudarmisten arbeiteten, glichen den Verhältnissen in Strafgefangenenlagern.<br />

Auf dem Weg zur Arbeit wurden die Männer und Frauen von Soldaten begleitet, die den strikten Befehl<br />

hatten, beim geringsten Verdacht sofort von der Schusswaffe Gebrauch zu machen. Im Lager herrschte<br />

eine völlige Willkür der Vorgesetzten aller Dienstgrade. Unter unwürdigen Bedingungen zusammengepfercht,<br />

starben die Trudarmisten massenweise vor Hunger, Kälte, Schwerstarbeit und Verzweiflung.<br />

Quelle: „Zwischen den Kulturen Russlanddeutsche gestern und heute“


RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE?<br />

DIE AUSWIRKUNGEN DER DEUTSCHEN BESATZUNG AUF DIE<br />

RUSSLANDDEUTSCHEN – BS 14<br />

Nach dem Überfall Hitler-Deutschlands auf die Sowjetunion am 22. Juni 1941 geriet ein Teil der Russlanddeutschen<br />

(ca. 20 %), den die sowjetischen Behörden nicht mehr rechtzeitig evakuieren konnte,<br />

zeitweilig in den Machtbereich der deutschen Militär- und Ziviladministration. Damit kamen sie aber nur<br />

von einem totalitären System in ein anderes; die "Befreiung" von Stalins Herrschaft brachte ihnen eine<br />

andere Gewaltherrschaft mit neuer Entrechtung und Erniedrigung. Die deutsche Besatzung konfrontierte<br />

die Russlanddeutschen mit verschiedenen Maßnahmen der Nationalsozialisten und der Militärs.<br />

1. Kategorisierung der Russlanddeutschen<br />

Als eine der ersten Maßnahmen wurden die Russlanddeutschen,<br />

die nach NS-Wort-Schöpfung jetzt als "Volksdeutsche"<br />

bezeichnet wurden, von den SS-Sonder-Kommandos "R" nach<br />

rassenbiologischen und rassenpolitischen Merkmalen erfasst und<br />

kategorisiert.<br />

Vier Kategorien der Abstammung ("Deutschstämmigkeit") wurden<br />

mit vier Kategorien des "Deutschtums" (der politischen Zuverlässigkeit)<br />

kombiniert. Darauf basierend erfolgte die Einstufung<br />

jeder Person für den möglichen künftigen Einsatz im Rahmen des<br />

"Generalplanes Ost".<br />

2. Nationalsozialistische Umerziehung der "Volksdeutschen"<br />

Aufgrund der rassenpolitischen Erhebung konstatierten die SS-Einsatztruppen einen Zustand unter den<br />

Russlanddeutschen, den sie mit "Verfallserscheinungen aus der bolschewistischen Herrschaftszeit" umrissen.<br />

Dieser Zustand sollte durch Maßnahmen zur "Festigung des Deutschtums" korrigiert werden.<br />

Zuerst erfolgte eine Reinigung der deutschen Volksgruppe von "verderblichen" und "minderwertigen<br />

Elementen" bei gleichzeitiger Hebung des weltanschaulichen Niveaus (im Nazi-Sinne), des Lebensniveaus<br />

sowie des Prestiges der "verwendbaren" Volksdeutschen gegenüber anderen Volksgruppen im<br />

Besatzungsgebiet.<br />

In der Praxis bedeutete dies, dass Juden, Kommunisten, Sowjet- und Wirtschaftsfunktionäre "unschädlich<br />

gemacht" wurden, d. h. man erschoss sie oder brachte sie in Konzentrationslager. Deren beschlagnahmtes<br />

Eigentum wurde zur "Besserstellung der Volksdeutschen" an letztere verteilt.<br />

Bei der nationalsozialistischen Umerziehung zu neuen Lebensanschauungen und Werten lag das Augenmerk<br />

der NS-Stellen insbesondere auf der Jugend. Diese sollte mit einem breit gefächerten System – von<br />

der Kinderkrippe über Schule und Ausbildung bis zu verschiedenen NS-Organisationen – "vollkommen<br />

umgestaltet werden".<br />

3. „Neue Agrarordnung“ in den russlanddeutschen Dörfern<br />

Grosse Hoffnung hegten die Russlanddeutschen in den besetzten Gebieten, dass die deutsche Verwaltung<br />

die quasi-Enteignung während der Sowjetzeit durch die Kolchoswirtschaft wieder rückgängig<br />

machen würde, d. h. Grund und Boden und Bauernwirtschaften privatisiert würden. Nazi-Kalkül war<br />

aber eine möglichst effektive Ausbeutung der besetzten Ländereien. Da dies nur mit großflächigen<br />

Gütern möglich war, wandelten sie die bestehenden Kolchosen in „Landbaugenossenschaften“ bzw.<br />

„Gemeindewirtschaften“ um. Als Direktoren dieser Wirtschaftstypen wurden reichsdeutsche Landwirtschaftsführer<br />

eingesetzt, die vielfach mit großzügigen Privatgütern versehen wurden. Der Druck auf<br />

die „Volksdeutschen“ war vielerorts stärker als unter der Sowjetmacht. Viele waren unzufrieden und<br />

verdingten sich lieber als „Ostarbeiter“ in Deutschland.<br />

<strong>TB</strong><br />

27,1<br />

39


<strong>TB</strong><br />

27,2<br />

40<br />

RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE?<br />

DIE AUSWIRKUNGEN DER DEUTSCHEN BESATZUNG AUF DIE<br />

RUSSLANDDEUTSCHEN – BS 14<br />

Eine einzige Ausnahme von der „neuen Agrarordnung“ gab es im von Rumänien (als Verbündeter<br />

Deutschlands) besetzten Transnistrien (Gebiet zwischen Dnjestr und Bug), wo ca. 135 000 Russlanddeutsche<br />

lebten. Zur Bewirtschaftung wurde Hofland zugeteilt. Die Kolchosen wurden umbenannt. Eine<br />

Privatisierung des Grund und Bodens durfte vor Ende des Krieges nicht statt finden.<br />

4. Kirche und Besatzungsmacht<br />

Die Russlanddeutschen als ein traditionelles „Kirchenvolk“ waren von der<br />

stalinschen Vernichtungspolitik gegen alles Religiöse zutiefst getroffen<br />

worden und erhofften sich von den „deutschen Befreiern“ wieder volle<br />

Glaubensfreiheit und Förderung des religiösen Lebens.<br />

Tatsächlich erlebten sie jedoch durch den zynischen Umgang der Nazis mit<br />

ihren religiösen Gefühlen nur eine erneute Demütigung. Eine Wiederbelebung<br />

des kirchlichen Lebens der Russlanddeutschen passte nicht in das<br />

NS-Weltbild mit seiner Führer-Gefolgschaftsideologie und deren Riten, die<br />

als Ersatzreligion dienten.<br />

5. Umsiedlungen beim Rückzug der deutschen Truppen<br />

Als sich das Blatt des Krieges nach der verlorenen Schlacht von Stalingrad gewendet hatte, setzten die<br />

SS-Stäbe 1943/44 die letzte große Umsiedlungsaktion in Gang. Etwa 365 000 „Volksdeutsche“, hauptsächlich<br />

aus Transnistrien und dem deutsch besetzten Teil der Ukraine, wurden als so genannte Administrativumsiedler<br />

nach Ostdeutschland und in den damaligen Warthegau in mehreren Trecks umgesiedelt<br />

und dort teilweise eingebürgert.<br />

Die Menschen auf den Trecks waren (z. T. über 1 000 km zu Fuß) großen Gefahren und Strapazen ausgesetzt.<br />

Mangelnde Bekleidung, Wetterunbilden, Beschuss und Bombardierungen durch die vordringenden<br />

sowjetischen Truppen, Krankheiten durch fehlende Hygiene und Erschöpfung führten zu Verlusten an<br />

Menschen und Tieren.<br />

Am Ziel, im Warthegau, warteten ghettoartige, mit Stacheldraht umzäunte und von der SS bewachte<br />

Umsiedlungslager. Dort wurden die ankommenden Umsiedlerfamilien registriert und, nach Kategorien<br />

differenziert, ihre Einbürgerung organisiert. In den Lagern mussten die Russlanddeutschen jedoch erkennen,<br />

dass sie nicht nur ihre Höfe verloren hatten, sondern zusätzlich betrogen wurden, indem man ihnen<br />

jetzt auch noch das unter großen Mühen über tausende Kilometer mitgeführte Vieh wegnahm - und<br />

ganz besonders - den Bauernstolz, das Pferdegespann. Das traf sie am härtesten.<br />

Nach der Einbürgerungsprozedur erfolgte der Einsatz eines Teils von ihnen in den umliegenden Dörfern<br />

bei deutschen Bauern als Landarbeiter (!). Die wehrfähigen Männer wurden zur Wehrmacht, überwiegend<br />

zur Waffen-SS, eingezogen und kamen an die Ostfront.<br />

So wurden die Russlanddeutschen, die unter deutsche Besatzung geraten waren, nach Umsiedlung und<br />

Ansiedlung versprengt, sie verelendeten materiell und moralisch.<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/auswirkungen_deutschen_besatzung_rd.htm


RUSSLANDDEUTSCHE – VOLKSDEUTSCHE? –<br />

DER SO GENANNTE SÜD-TRECK – BS 14<br />

Zum Beispiel umfasste der so genannte Süd-Treck aus Transnistrien 37 083 Menschen aus den Bereichskommandos<br />

Hoffnungstal, Johannesfeld, Rosenfeld und Groß-Liebental, 7 081 Fuhrwerke (Panjewagen),<br />

19 079 Pferde und 5 769 Kühe.<br />

Führer des Trecks war der Hoffnungstaler Bereichskommandant<br />

Weingärtner. Der Marsch begann am 17. März<br />

1944 in Neu-Glückstal und endete im Januar 1945 im<br />

Sammellager Pabianitza südwestlich von Litzmannstadt<br />

im Warthegau. Der Weg des Trecks führte über Tiraspol<br />

(21. März 1944), den Dnjestr nach Bessarabien, Bendery,<br />

Taruntino (25. März 1944), Vulkaneschti (29. März<br />

1944), entlang dem Südufer der Donau über Cuicovora<br />

(29. April 1944), Tschernovoda (4. Mai 1944) nach Bulgarien<br />

mit den Stationen Silistra (7. Mai 1944), Tatarin<br />

(15. Mai 1944), Lom (25. Mai 1944), Widin (28. Mai<br />

1944), danach Donauüberquerung und weiter nordseitig<br />

über Orschovo (4. Juni 1944) bis Jasenovo (10. Juni 1944) südlich von Weißkirchen an der jugoslawischrumänischen<br />

Grenze. Ab Jasenovo erfolgte dann der Weitertransport per Eisenbahn über Ungarn (Budapest)<br />

nach dem Warthegau<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/suedtreck.htm<br />

<strong>TB</strong> 28<br />

41


<strong>TB</strong> 29<br />

42<br />

ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – NACHKRIEGSZEIT – BS 15<br />

Nachkriegszeit<br />

Am 13. Dezember 1955 wurden die Beschränkungen in der Rechtsstellung der Deutschen und ihrer<br />

Familienangehörigen, die sich in den Sondersiedlungen befanden erlassen, doch das um 1941 beschlagnahmte<br />

Eigentum wurde nicht zurückgegeben. Die Auflösung der Wolgarepublik und anderer selbstständigen<br />

administrativen Einheiten führte zur Vernachlässigung und zum Niedergang der deutschen<br />

Sprache. Die schulpflichtige Generation der Russlanddeutschen im Zeitraum 1941 - 1956 konnte zum<br />

größten Teil keine Schule besuchen. Auf Grund des mangelnden Fachunterrichts in der Muttersprache,<br />

setzte sich nach Kriegsende die Russifizierung der Schule durch. Die kulturellen und religiösen Zentren<br />

wurden größtenteils zerstört.<br />

Zur kulturellen Identität der Russlanddeutschen (Alena Petrova)<br />

Die vierte und schwerste Krise fällt mit dem zweiten Weltkrieg zusammen und „stellt den Beginn des<br />

Endes der Geschichte der rußlanddeutschen Minderheit als präsente und erkennbare Volksgruppe in der<br />

Sowjetunion dar. Zum zweiten Mal in diesem Jahrhundert sind sie Mitglieder einer Nationalität, die Krieg<br />

mit Rußland führt [...]“ (Ingenhorst 1997: 50). Schon 2 Monate nach dem Kriegsanfang, am 28. August<br />

1941, wurde das Dekret „Über die Umsiedlung der Deutschen des Wolgagebietes“ erlassen. Deportiert<br />

wurden jedoch nicht nur die Wolga-Deutschen, sondern auch die Volksdeutschen aus der Ukraine, aus<br />

dem Kaukasusgebiet, aus Leningrad und anderen kleineren Siedlungen (insgesamt ca. 550 Tausend<br />

Menschen nach Ingenhorst 1997: 52). Die Zwangsumsiedlung verlief in drei Etappen. Zuerst wurden<br />

mit Hilfe der 1934 erstellten Namenslisten die Männer im Alter zwischen 16 und 60 Jahren in Arbeitsarmeen<br />

(vorwiegend in Sibirien und Kasachstan), geschickt; dann wurden die deutschen Frauen zum Bau<br />

militärischer Anlagen abgezogen; ca. 650 Tausend der Restbevölkerung wurde in die Gebiete jenseits<br />

des Urals transportiert (vgl. Fleischhauer 1983: 104). Ca. 350 Tausend Russlanddeutsche geraten 1941<br />

in den besetzten Ostgebieten unter deutsche Herrschaft, wobei es ihnen nicht viel besser ergeht, als den<br />

anderen Gruppen der Russlanddeutschen unter sowjetischer Herrschaft (vgl. Ingenhorst 1997: 53f.). Bei<br />

dem Rückzug der deutschen Armee sollten ca. 450 Tausend Russlanddeutscher „Heim ins Reich“ geführt<br />

werden. Davon wurden etwa 100 Tausend zurück in die Sowjetunion repatriiert.<br />

Sowohl diese als auch alle, die im Krieg direkten Kontakt zum Feind hatten (Kriegsgefangene, Zwangsumsiedler,<br />

Zwangsarbeiter), gehörten als Feinde der Nation im Status der Strafgefangenen in die Arbeitsarmee<br />

und wurden in Sondersiedlungen in Sibirien und Mittelasien eingeliefert. 1948 wurde zwar<br />

die Arbeitsarmee aufgelöst, dafür aber Spezialkommandanturen errichtet (vgl. Ingen-horst 1997: 51-56,<br />

Eisfeld 1999: 120-134 und Klötzel 1999: 120-137).<br />

Erst nach Stalins Tod, in der Phase des sog. „Tauwetters“ unter Chruschtschow (1953-1964) kann man<br />

von den Erleichterungen für das Leben der Russlanddeutschen sprechen. Nach dem Ukas vom 13. Dezember<br />

1955 wurde die Kommandantur aufgehoben und die Deutschen zu freien Sowjetbürgern erklärt.<br />

Sie wurden jedoch nicht rehabilitiert, bekamen ihr konfisziertes Eigentum nicht zurück und durften in ihre<br />

Heimat-Siedlungen nicht zurückkehren (vgl. Eisfeld 1999: 134ff. und Klötzel 1999: 134f., 143ff.).22<br />

Quellen:<br />

http://archiv.ub.uni-heidelberg.de/volltextserver/volltexte/2003/4192/pdf/Russlanddeutsche.pdf<br />

http://homepage.ruhr-uni-bochum.de/Regina.Wetzel/russlanddeutsche.html


ENDE DES ZWEITEN WELTKRIEGES – ZEITSCHRIFT „VOLK AUF<br />

DEM WEG“ – BS 15<br />

Lebenslauf meiner Oma<br />

Für die folgende „Ausarbeitung des Interviews meiner Großmutter Erna Rapp, geb. Reichert“ erhielt der<br />

Schüler Marcel Rapp beim Wettbewerb „Kriegskinder“, den das Anne Frank Zentrum Berlin e.V. 2005<br />

ausgeschrieben hatte, eine Urkunde aus der Hand des Bundespräsidenten, der die Schirmherrschaft<br />

übernommen hatte:<br />

Meine Vorfahren stammen aus einem Ort 10 km südlich von der großen Hafenstadt Odessa am Schwarzen<br />

Meer. Der Ort hieß Lustdorf und war ein schwäbisches Dorf mit einer evangelischen Konfession.<br />

Lustdorf wurde 1804 von Schwaben aus der Stuttgarter Gegend gegründet, da damals in Deutschland<br />

Hungersnot und Armut herrschten. Zarin Katharina (hessische Prinzessin) versprach ihren Landsleuten<br />

kostenloses Land, Steuerfreiheit sowie Wehrdienstfreiheit. Dieses Angebot nahmen viele an. In der Ortsmitte<br />

befand sich die Kirche mit einer großen Orgel, auf die die Lustdorfer sehr stolz waren. Eine deutschsprachige<br />

Schule gab es bis 1936. Ab 1937 wurde die Schule russisch. Die Schüler trugen Schuluniform.<br />

Es gab ebenfalls einen deutschen Kindergarten, der zu der Dorfgemeinschaft gehörte. Dort wurden die<br />

Kinder den ganzen Tag kostenfrei versorgt. Ein großer Teil der Einwohner waren Landwirte mit eigenem<br />

Ackerland ums Dorf herum. So lebten die Menschen bis zum II. Weltkrieg. Während der Kriegszeit war<br />

die Deutsche Wehrmacht im Großgebiet Odessa und der Ukraine stationiert. Unter anderem auch in<br />

Lustdorf. Meine Oma wurde am 14.5.1942 in Lustdorf geboren. Mit dem Rückzug der deutschen Truppen<br />

schlossen sich die Deutschen aus Odessa und anderen Gebieten in zwei großen Trecks an. Der Treck<br />

bestand aus alten Männern, Frauen und Müttern mit Kindern, da die jungen Männer alle zur Wehrmacht<br />

eingezogen wurden. Die Menschen mussten ihr ganzes Hab und Gut zurücklassen. Mitgenommen wurde<br />

nur das Notwendige wie Lebensmittel und Kleidung.<br />

Die Flucht, bei der sehr viele Menschen umkamen, dauerte vom 17. März bis zum Juni 1944 und verlief<br />

über die Donau, durch Rumänien und Bulgarien, Jugoslawien und dann in den Warthegau. Im Januar<br />

1945, mit der Aufrückung der russischen Armee, zogen die Flüchtlinge westlicher nach Kletwitz und<br />

dann nach Ehrenberg bei Waldheim, Kreis Döbeln. Nach Kriegsende deportierte die Rote Armee meine<br />

Großmutter und ihre Familie nach Sibirien. Die „Reise“ dauerte vom 25. September bis 3. November<br />

1945 in Viehwaggons. In den Viehwagen waren bis zu 60 Personen. Während des Transportes kamen<br />

die Menschen wegen der Kälte und der Hungersnot um. Notdürftig wurden die transportierten Menschen<br />

in Baracken, abseits der Stadt, untergebracht. Meine Urgroßmutter und die älteste Schwester<br />

meiner Großmutter mussten Holzarbeiten im Wald ableisten. Meine Großmutter war damals drei Jahre<br />

alt und musste mit ihrer Großmutter allein zu Hause bleiben.<br />

Für die Kleinkinder und nicht mehr arbeitsfähigen älteren Menschen wurden am Tag 200 g Brot zugeteilt.<br />

Kurze Zeit später erkrankte meine Großmutter an Typhus; ihre Großmutter wurde sehr schwach<br />

und verstarb.<br />

Die Jahre vergingen, und meine Großmutter war mit sieben Jahren schulpflichtig. Die Schule befand<br />

sich in dem vier km entfernten Städtchen. Den Schulweg musste meine Großmutter in der Eiseskälte<br />

zu Fuß bewältigen. In manchen Jahren herrschte eine Kälte von minus 50 Grad. Viele Menschen lagen<br />

erfroren am Straßenrand. An diesen Anblick erinnert sich meine Großmutter noch heute mit Tränen in<br />

den Augen.<br />

Die Zwangsansiedlung endete im Dezember 1955. Danach zog die Familie meiner Großmutter nach<br />

Karaganda, Kasachstan. Dort heiratete meine Großmutter. 1962 wurde meine Tante geboren, 1964 kam<br />

mein Vater auf die Welt. 1975 erhielt meine Großmutter mit der Familie nach langen Bemühungen die<br />

Erlaubnis zur Rückkehr in die Bundesrepublik Deutschland – die Heimat der Ahnen.<br />

Von 1975 bis zur Rente 2002 arbeitete meine Großmutter als Buchhalterin in einer Stuttgarter Versicherung.<br />

Nach ihren schlimmen Erlebnissen hofft meine Großmutter, dass ihre Nachkommen nie einen<br />

Krieg miterleben müssen.<br />

Quelle: Zeitschrift „Volk auf dem Weg“, Nr. 10/2006, Seite 55<br />

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FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />

SONDERSIEDLUNGEN UND ARBEITSARMEE – BS 16<br />

Sondersiedlungen und Arbeitsarmee<br />

Nach der Ankunft in den Bestimmungsgebieten wurden die Deportierten sofort unter die Aufsicht<br />

der "Hauptverwaltung für Sondersiedlungen" des NKWD (Volkskommissariat des Innern)<br />

gestellt. Diese Siedlungen mussten von den Ankömmlingen in der Regel erst noch errichtet<br />

werden. Teilweise wurden sie aber auch bei einheimischen Familien einquartiert. Die Strapazen<br />

der Transporte, die anhaltend ungenügende Verpflegung und die zumeist elenden Unterbringungsbedingungen<br />

ebenso wie die Schwerstarbeit und der seelische Terror forderten viele<br />

Tausend Tote unter den Deportierten. Ihre genaue Zahl ist nicht bekannt. Und auf die Überlebenden<br />

warteten weitere Schrecken.<br />

Ab Januar 1942 wurden die russlanddeutschen Familien endgültig auseinander gerissen. Ausgehend<br />

vom Befehl des staatlichen Verteidigungskomitees der UdSSR vom 10. Januar 1942<br />

waren alle Männer im Alter von 17 bis 50 Jahre in so genannte Arbeitsarmeen (Trudarmee)<br />

zusammenzufassen. Im Oktober 1942 wurde diese Altersbegrenzung auf 15 bis 55 Jahre erweitert.<br />

Nunmehr erfolgte auch die Mobilisierung von Frauen im Alter von 16 bis 45 Jahren<br />

für die Arbeitsarmeen, soweit sie keine Kinder unter drei Jahren hatten (vgl. Rundschreiben zur<br />

Mobilisierung der Deutschen in der Altai-Region).<br />

Den Ausgangspunkt zur Schaffung von Arbeitsarmeen bildete ein von Stalin erlassener Befehl<br />

vom 8. September 1941. Demnach sollten alle Angehörigen der Roten Armee deutscher<br />

Herkunft entlassen, in speziellen Arbeitsbataillonen bzw. -kolonnen zusammengefasst und im<br />

Hinterland eingesetzt werden.<br />

Der Befehl vom 10. Januar 1942 enthielt nicht nur die Mobilisierung der deutschen Männer<br />

für die Arbeitsarmeen, sondern auch Bestimmungen über das Regime der Arbeitskolonnen.<br />

Demzufolge waren alle Betroffenen den Bedingungen und Arbeitsnormen der sowjetischen<br />

Straflager – dem berüchtigten System des GULAG – unterworfen. Sie wurden unter dem harten<br />

Sonderregime – militärisch organisierter und völlig rechtloser Zwangsarbeitsdienst – beim<br />

Aufbau von evakuierten Industrieanlagen, im Berg-, Straßen- und Bahnbau sowie in der Land-<br />

und Forstwirtschaft eingesetzt. Die Trudarmisten waren zumeist in Baracken oder Erdhütten<br />

hinter Stacheldraht und Wachtürmen untergebracht.<br />

In Fortsetzung ihrer bereits weiter oben wiedergegebenen Schilderungen zur Deportation aus<br />

den Heimatorten berichteten uns die befragten Zeitzeugen über die furchtbaren Lebensbedingungen<br />

der Trudarmisten und über das unvorstellbare Elend und Leid, das über die russlanddeutschen<br />

Familien hereingebrochen war. Allen ist diese Zeit bis heute wie ein Trauma in<br />

Erinnerung geblieben (Erlebnisberichte: Katharina Torno, Heinrich Dorn, Viktor Heidelbach, Ida<br />

Schmidt sowie Otto Dreit als ehemaliger Angehöriger der Roten Armee). Trotz der unmenschlichen<br />

Arbeits- und Lebensbedingungen erbrachten sie herausragende Arbeitsergebnisse. Diese<br />

veranlassten staatliche Stellen auch Russlanddeutsche mit der Medaille für heldenhafte Arbeit<br />

im Großen Vaterländischen Krieg auszuzeichnen.<br />

Trotz der extrem schlechten Arbeits- und Lebensbedingungen verloren die Russlanddeutschen<br />

nicht den Glauben an eine bessere Zukunft. Ausdruck dieser optimistischen Grundeinstellung<br />

waren Eheschließungen unter Trudarmisten.<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch3/sondersiedlungen_arbeitsarmee.htm


FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />

TREIBGUT DES ZWEITEN WELTKRIEGS – BS 16<br />

Eine Russlanddeutsche erinnert sich an ihr Kriegsende in der Verbannung<br />

Susanne Tiessen wundert sich ein wenig, dass sich jemand für ihre Geschichte interessiert.<br />

Die kleine Frau sitzt bei ihrer jüngeren Schwester im Wohnzimmer in Bonn-Beuel und ist<br />

unsicher, ob sie sich mit ihren 90 Jahren noch an alles erinnern kann. Aber an den Tag, als<br />

der Krieg zu Ende ging, entsinnt sich Susanne Tiessen genau. Sie hat ihn in Sibirien erlebt,<br />

2.000 Kilometer von ihrer Heimat, der Ukraine, entfernt. "Das war ein trauriger Tag. Ich lag<br />

mit meiner Schwester auf dem Hof der Kolchose - im Gras. Wir zitterten, denn wir hatten<br />

beide Malaria. ‚Wir haben gewonnen, wir haben gewonnen’ dröhnten die Russen auf der<br />

Straße." Als Deutschland die Kapitulation unterzeichnet, liegt ihre Verschleppung nach Si-<br />

birien vier Jahre zurück. Fast alles hat sie in dieser Zeit verloren. Traurig ist der 8. Mai, weil an diesem Tag auch die<br />

Hoffnung schwindet, wieder in ihr ukrainisches Dorf zurückzukommen: "Ich hatte immer gehofft, dass wir nach<br />

Hause dürfen. Oh, wie wollte ich wieder in die Heimat." Doch wegen ihrer Herkunft gehört sie in den Augen der<br />

Russen zu Nazi-Deutschland.<br />

In den Mühlen der Geschichte<br />

Hatten ihr Auskommen: Deutsche Siedler in Russland. Heimat, das war - und ist - für Su-<br />

sanne Tiessen das kleine Dorf Memrik in der Nähe von Donec’k, 100 Kilometer nördlich<br />

vom Schwarzen Meer. Dorthin waren ihre deutschen Vorfahren Ende des 18. Jahrhunderts<br />

aus der Gegend von Danzig ausgewandert, ins Land geholt von der Zarin Katharina II, die<br />

aus den fruchtbaren Steppenböden eine Kornkammer machen wollte. Großzügig schenkte<br />

die Zarin den Mennoniten drei Parzellen Land pro Familie und versprach Religionsfreiheit.<br />

Einfach hatten es die deutschen Auswanderer in Russland nie, und unter den politischen<br />

Umbrüchen und Hungersnöten zwischen den beiden Weltkriegen haben auch sie zu leiden.<br />

In den 30er Jahren werden sie, wie alle ausländischen Minderheiten, von Stalin misstrauisch beäugt. Aber die Siedler<br />

haben ihr Auskommen. Bis Hitler im Juni 1941 in Russland einmarschiert. Stalin reagiert sofort, denn er fürchtet die<br />

Zusammenarbeit der Russlanddeutschen mit den Angreifern. Innerhalb von drei Monaten lässt er einen großen Teil<br />

der deutschen Minderheit in die entlegenen Gebiete im Osten deportieren.<br />

"Wir waren doch keine Spione"<br />

Endstation: Lager oder Kolchose in Sibirien. Im Spätsommer 1941 trifft es auch die Bewohner<br />

von Memrik. Die deutschen Truppen rücken immer näher, Nacht für Nacht können die Siedler<br />

die deutschen Flugzeuge über ihrem Dorf hören. Dann, am 3. Oktober 1941, kommt der<br />

Befehl, der ihrem bisherigen Leben ein jähes Ende bereitet: Innerhalb von 24 Stunden soll<br />

das ganze Dorf in 43 Eisenbahnwagons verladen werden. Die damals 26-jährige Susanne<br />

Tiessen packt ihre Habseligkeiten und nimmt ihre beiden Kinder, der jüngste Sohn ist gerade<br />

zwei Monate auf der Welt.<br />

Sie ist auf sich alleine gestellt, denn ihr Mann Hans wurde schon einen Monat früher in die so genannte Trudarmee<br />

(Arbeitsarmee) verschleppt. "Viel konnte ich nicht mitnehmen, wer sollte denn das alles schleppen?" Susanne<br />

Tiessen kann die kollektive Bestrafung der deutschen Minderheit weder verstehen, noch will sie die Deportation<br />

wahrhaben: "Wir waren doch keine Spione der Deutschen. Immer wenn der Zug in der Steppe anhielt, haben wir<br />

gehofft, dass er zurückfährt und uns wieder nach Hause bringt."<br />

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FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />

TREIBGUT DES ZWEITEN WELTKRIEGS – BS 16<br />

Aber es gibt kein Zurück, die Bewohner von Memrik sind in die Mühlen der Geschichte geraten. Fast 200.000 Deut-<br />

sche aus der Ukraine und 350.000 aus dem Wolgagebiet werden zwischen Juni und Oktober 1941 in Eisenbahnwa-<br />

gons zusammengepfercht und nach Sibirien oder Kasachstan verschleppt.<br />

Ein Haus aus Graswurzeln und Erde in Sibirien<br />

Waldarbeiterinnen in der Verbannung. Ziel des Zuges von Susanne Tiessen ist die sibirische Klein-<br />

stadt Karasuk an der Grenze zu Kasachstan. Sie wird zur Arbeit im Kuhstall auf der Kolchose<br />

Charoschi (dt: der Gute) eingeteilt. Dort sieht sie im Februar 1942 ihren Mann wieder. "Da war<br />

er schon beinahe tot. Seine Beine waren geschwollen, er konnte kaum noch laufen. Sie mussten<br />

hart arbeiten im Wald und es gab kaum zu essen." Für eine kurze Zeit ist die Familie beieinander,<br />

dann muss Hans wieder zur Trudarmee und überlebt nur wenige Wochen. Auch ihren jüngsten<br />

Sohn verliert Susanne Tiessen in den ersten Jahren in Sibirien. Er stirbt kurz vor seinem zweiten<br />

Geburtstag, weil das bisschen Nahrung, das ihr zugeteilt wird, viel zu einseitig ist. Ganz sachlich<br />

spricht die alte Frau von diesen Schicksalsschlägen, als ob es nicht die eigenen wären. Aber dann hält sie inne, sinkt<br />

in ihrem großen Sessel zusammen und die Augen werden feucht: "Das war eine große Trauer." Aufgeben kann sie<br />

nicht, da ist noch ihr vierjähriger Sohn Peter, für den sie sorgen muss. Aus Graswurzeln und Erde baut sie eigenhän-<br />

dig ein Haus, das dem sibirischen Winter standhalten soll. Sie heizt, weil sie als Deutsche kein Brennholz zugeteilt<br />

bekommt, mit getrocknetem Kuhmist. Zu essen gibt es Kartoffelschalen oder Brot, das sie aus abgezupften Gras-<br />

samen zustande bringt. Denn wenn sie auf der Kolchose die zugeteilten Lebensmittel abholen will, geht sie oft leer<br />

aus: "Einmal haben sie einer Russin vor mir acht Kilo Butter und Käse gegeben. Weil ich eine Deutsche war, haben<br />

sie mir gar nichts gegeben. Da bin ich hinausgegangen und habe geweint."<br />

Zur "gesellschaftlich nützlichen" Arbeit verpflichtet<br />

Arbeit im sibirischen Lager bis 1955. Noch zehn Jahre nach Kriegsende leben die Deutschen in<br />

Russland in Arbeitslagern oder Sondersiedlungen. Sie sind zur "gesellschaftlich nützlichen" Arbeit<br />

verpflichtet und dürfen ihren Wohnort nur mit einer Genehmigung verlassen. Einmal in der Woche<br />

müssen sie sich bei den Behörden melden. Erst 1955 endet das so genannte Kommandanturre-<br />

gime, und die Russlanddeutschen können ihren Wohnort wieder selbst bestimmen. Eine Rückkehr<br />

in ihre Heimatdörfer verbietet die Sowjetregierung jedoch strengstens. Viele Familien bleiben daher<br />

in den ihnen zugewiesenen Dörfern und Städten oder ziehen dorthin, wo ihre Verwandten durch<br />

die Deportation gelandet sind. Über 80 Prozent der Russlanddeutschen leben nach dem Krieg in<br />

Kasachstan, Sibirien und in der Altai-Region. Auch Susanne Tiessen baut sich nach und nach in Sibirien ein neues<br />

Leben auf. Sie verlässt die Kolchose nach sieben Jahren und zieht mit ihrem Sohn nach Karasuk. Dort heiratet sie<br />

ein zweites Mal und hat mit ihrem Mann Heinrich Tiessen noch eine gemeinsame Tochter. Zu einer neuen Heimat<br />

wird Sibirien jedoch nicht. 1973 wird überraschend der Ausreiseantrag der Eheleute nach Deutschland genehmigt.<br />

Anfang der 90er Jahre, während der zweiten großen Ausreisewelle, kommen auch die Verwandten nach. Susanne<br />

Tiessen lebt heute bei ihrem Sohn in Gummersbach.<br />

Quelle: http://kriegsende.ard.de/pages_std_lib/0,3275,OID1361338,00.html


FORDERUNG NACH REHABILITATION –<br />

REHABILITATION UND FAMILIENZUSAMMENFÜHRUNG - ZU BS<br />

16<br />

Rehabilitation und Familienzusammenführung<br />

Am 29. August 1964 verabschiedete das Präsidium des Obersten Sowjets der UdSSR den Beschluss über<br />

die Abänderung des eigenen Erlasses vom 28. August 1941 "Über die Umsiedlung der Wolgadeutschen".<br />

Dieser Beschluss nahm zwar von den Russlanddeutschen den Makel des Verrats, war jedoch nur eine<br />

formale Rehabilitierung und wurde obendrein erst nach der Entmachtung Chruschtschows veröffentlicht.<br />

Außerdem wurde das Wenige, das mit dem Beschluss versprochen wurde, von den örtlichen Behörden<br />

entweder sehr spät oder nur zum Teil bzw. gar nicht in die Tat umgesetzt. Seine Bedeutung hatte der<br />

Ukas aber dadurch, dass die Russlanddeutschen aus der Versenkung geholt wurden, nachdem sie zuvor<br />

im Gegensatz zu anderen gemaßregelten Völkern der Sowjetunion übergangen worden waren.<br />

Aber auch 1964 mussten die Russlanddeutschen in ihren Vertreibungsgebieten bleiben. Noch bis in die<br />

80er Jahre lastete auf ihnen das moralische Erbe des deutschen Angriffskrieges und die Last der deutschen<br />

Kapitulation. Sie hatten es nicht leicht, sich in einem Land zu behaupten, in dem "Njemez" zum<br />

Inbegriff alles Bösen und zum Synonym für "Faschist" geworden war. Deutschsprachige Zeitungen wie<br />

das Moskauer "Neue Leben" und die "Freundschaft" in Kasachstan konnten es vor Gorbatschow noch<br />

weniger als russische Zeitungen wagen, Kritik am Staat sowie dessen Partei und Politik zu äußern.<br />

Die wenigen Sendungen in deutscher Sprache in Rundfunk und Fernsehen hatten nach einem strengen<br />

prosowjetischen Ritual abzulaufen. Der zweimal jährlich von Hugo Wormsbecher herausgegebene Almanach<br />

"Heimatliche Weiten", eine Sammlung russlanddeutscher Poesie, Prosa und Publizistik, stellte<br />

1989 sein Erscheinen ein. Das 1981 gegründete Deutsche Dramentheater in Temirtau (heute in Almaty)<br />

hatte ständig Existenzschwierigkeiten und Personalschwund durch die Ausreise der Schauspieler. Der<br />

muttersprachliche Unterricht schließlich konnte sich niemals von den Schwierigkeiten lösen, die durch<br />

fehlende Lehrer und Lehrbücher entstanden.<br />

Quelle: http://www.aussiedler-neuss.de/Geschichte.html<br />

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48<br />

NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />

UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />

Unsere Landsleute aus Karaganda (Auszüge)<br />

Von Ulla Lachauer<br />

Minna wurde Miss Niedersachsen, Maria ist verstummt,<br />

und Waldemar baut ein Haus - Begegnungen<br />

mit Russlanddeutschen<br />

Russlanddeutsche sind nirgendwo zu Hause, nicht<br />

in Russland, nicht in Deutschland. Ihre Biografien<br />

sind gebrochen, ihre Geschichten Zeugnisse politischer<br />

Willkür. Sie kommen aus der kasachischen<br />

Steppe nach Bonn, Berlin, in den Schwarzwald,<br />

fühlen sich wie Fische, die man aufs Trockene geworfen<br />

hat. Den einzigen Halt finden sie in ihren<br />

Familien. Unsere Autorin hat einige dieser Familien<br />

besucht. Eine von vielen Fragen war: Was ist<br />

deutsch?<br />

Sie stamme „aus Russland“, antwortete Maria<br />

Pauls ihren Nachbarn in Kehl am Rhein und allen,<br />

die sie fragten, wo sie denn herkomme. „Ach so“,<br />

hieß es dann, und das Thema war erledigt. Richtiger<br />

wäre gewesen, Maria Pauls hätte gesagt: „Aus<br />

Karaganda, Kasachstan.“<br />

…<br />

5.000 Kilometer entfernt liegt Karaganda von<br />

Deutschland, unweit von China. Es ist die größte<br />

Provinzhauptstadt des Archipels Gulag. Eine<br />

„Schachtarbeiterstadt“, wie es auf Sowjetisch hieß,<br />

„die ihre Existenz der Großen Sozialistischen Oktoberrevolution<br />

verdankt“. Vor 1917 war hier Nomadenland.<br />

Sary Arka, Goldene Steppe, nannten<br />

es die Kasachen, für ein sesshaftes Dasein schien<br />

es ungeeignet. 50 Grad Hitze und 50 Grad Frost,<br />

begleitet von orkanartigen Winden, das kann ein<br />

Mensch auf Dauer nicht aushalten.<br />

Bereits 1833 hatte man unter der Grasnarbe Kohle<br />

gefunden, russische Unternehmer, später ein britisches<br />

Konsortium hatten ein wenig daran gekratzt.<br />

Das riesige Ausmaß des Kohlebeckens entdeckten<br />

erst Lenins Geologen, und mit Stalins „Industrialisierungsschlacht“<br />

begann die Ausbeutung großen<br />

Stils.<br />

1930 wurde die Eisenbahntrasse von Westsibirien<br />

nach Süden fortgeführt, Kulaken waren die Bau-<br />

leute. Diese tüchtigen Bauern aus der Ukraine und<br />

dem westlichen Russland, die im Zuge der Kollektivierung<br />

enteignet und verschleppt wurden, waren<br />

auch die ersten Siedler, unter ihnen die 14-jährige<br />

Maria Pauls. Im Sommer 1931 wurde sie mit ihrer<br />

Familie und weiteren Bewohnern des Wolgadorfes<br />

Lysanderhöh hergebracht. „Wohnt, wie ihr<br />

könnt!“, hieß es. Also gruben sie sich in die Erde<br />

ein, viele überlebten den Winter nicht. Trotz der<br />

hohen Sterblichkeit hatte Karaganda bereits 1934<br />

die für eine Stadt erforderliche Zahl von 125.000<br />

Einwohnern.<br />

Immer neue kamen hinzu: Opfer der Stalinschen<br />

„Säuberungen“, 1937 die koreanische Minderheit<br />

aus der Gegend von Wladiwostok, nach dem<br />

Hitler-Stalin-Pakt 1939 Ostpolen und Balten, im<br />

Zweiten Weltkrieg gefangene Finnen, Deutsche<br />

und Japaner, Angehörige der als unzuverlässig<br />

geltenden Völker wie Tschetschenen, Krimtataren,<br />

Inguschen. Der größte Zustrom erfolgte im Herbst<br />

1941, als auf Befehl des Obersten Sowjets Deutsche<br />

von der Wolga, aus der Ukraine und dem<br />

Kaukasus – unter dem bizarren Vorwurf, sie wären<br />

Spione und Diversanten für Hitler – hinter den<br />

Ural verschleppt wurden, Zehntausende von ihnen<br />

nach Karaganda.<br />

In den frühen Vierzigern dürfte die Stadt eine<br />

deutsche Mehrheit gehabt haben; ein Viertel heißt<br />

seit damals im Volksmund Berlin. In dieser Zeit geschieht<br />

es: Maria Pauls ist gerade vier Jahre verheiratet<br />

mit ihrem Heinrich, einem Landsmann von<br />

der Wolga, und mit dem dritten Kind schwanger.<br />

Ein klassisches Paar der sowjetischen Moderne:<br />

sie eine Kolchosarbeiterin, er ein Schachtior, ein<br />

Schachtarbeiter.<br />

Eines Tages, im September 1942, beherbergen die<br />

Pauls einen jungen Bettler, der, wie sich später herausstellt,<br />

ein entflohener deutscher Kriegsgefangener<br />

ist. Daraufhin wird Heinrich Pauls verhaftet<br />

und als Vaterlandsverräter verurteilt, er kehrt aus<br />

dem Lager nicht zurück.<br />

…<br />

Für europäische Begriffe ist Karaganda keine<br />

Stadt. Bei einem ersten Besuch dort war ich mehr


NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />

UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />

als verwundert: ein breiter Boulevard, das einstige<br />

Gebietskomitee der KPdSU, ein Kasten von einem<br />

Hotel, ein pompöser Kulturpalast, Schwimmbad,<br />

Kino, vorzugsweise im pseudoklassizistischen Stil<br />

der Stalin-Epoche, wie aus dem Musterbuch sowjetischer<br />

Städtegründungen. Eine Kulisse. Jenseits<br />

der Hauptstraße ist Karaganda eine wilde Ansammlung<br />

verschiedenster Elemente und Welten.<br />

Plattenbauten neben dörflichen Isbas, Fördertürme<br />

und Fabrikmonster, mit Bergen von Abraum<br />

umgeben, die in der Ebene wie mächtige Busen<br />

wirken. Und wo immer sich eine freie Fläche zeigt,<br />

berittene Hirten mit ihren Herden.<br />

…<br />

Baue mal einer in der kasachischen Steppe! Nichts<br />

als Erde, Pfriemgras, Disteln. Kein Holz, kaum Stein.<br />

Tierhaut statt Fensterglas. Die erste Behausung des<br />

jungen Paars in Karaganda war eine Sem-lanka.<br />

Die zweite ein „Samanhaus“, aus Lehmbatzen,<br />

neun Kinder fanden darin Platz. Mal wurde es um<br />

einen Dachboden ergänzt, die Wäsche gegen den<br />

Kohlestaub zu schützen, mal die Heizung verbessert.<br />

In der Mangelwirtschaft musste man auf Dauer<br />

erfinderisch sein.<br />

Ganz bewusst sind der Schachtior Heinrich Dyck<br />

und seine Frau nie in eines der Hochhäuser umgezogen,<br />

wo die „ganze Schlechtigkeit wohnt“.<br />

In ihren vier Wänden konnten sie freier schalten<br />

und walten. Jeden Freitag wurde „Ribbelkuchen“<br />

gebacken, legte Rebeka Dyck für die Kinder eine<br />

Decke auf den Boden und erzählte von besseren,<br />

gottgefälligen Zeiten. Das Haus war eine Welt mit<br />

eigenen Gesetzen, mit seinem Garten und Stall, Kühen,<br />

„Hinkeln“ und so weiter war es zugleich eine<br />

private Ökonomie. Chruschtschow… Breschnew…<br />

Gorbatschow, es blieb der Lebensmittelpunkt der<br />

Familie, für Tochter Pauline, die Turmkranführerin<br />

– Bauberufe waren typisch für diese Generation.<br />

Paulines ältester Sohn Waldemar wohnte als Kind<br />

viel bei Oma und Opa Dyck.<br />

Ebendieser Waldemar wollte partout nicht nach<br />

Deutschland. Er war 16, nach der Ankunft 1989<br />

jahrelang heimwehkrank und sprachlos. In der<br />

Enge der Notwohnung war an Lernen nicht zu<br />

denken. Irgendwann riss er aus, 40 Tage war er<br />

spurlos verschwunden. Plötzlich stand er wieder da,<br />

kahl geschoren, in wattierter Jacke, er war in Karaganda<br />

gewesen. Und schrie: „Maaaaamaaaaa!<br />

Danke, dass du mich nach Deutschland gebracht<br />

hast.“ Danach hat er noch „viel Scheiße gebaut“,<br />

ausgestanden war das Drama erst mit Swetlana,<br />

einer Deutschen aus Karaganda, die er 23-jährig<br />

heiratete. Wirklich und endlich angekommen sind<br />

sie, wenn sie demnächst mit ihren drei Kindern das<br />

Haus beziehen.<br />

Der Löwenanteil ist Eigenleistung, Kapital so gut<br />

wie nicht vorhanden, der Bankkredit zum Fürchten<br />

– das Projekt eines ungelernten Arbeiters und<br />

einer Altenpflegerin. So ähnlich haben sich vor 40,<br />

50 Jahren traumatisierte Habenichtse aus dem Osten<br />

ein Zuhause geschaffen.<br />

Steppenkinder, Wolfsburg und Werl<br />

Café Wallenstein, Wolfsburg, die Miss Niedersachsen<br />

tritt ein. Linna Hensel kommt, wie es schon<br />

in der Zeitung stand, nie allein, sondern immer<br />

mit ihrer älteren Schwester Alexandra. Schön sind<br />

sie beide, in ihren Gesichtern spiegeln sich zwei<br />

Kontinente, Alexandra ist mehr Asien, Linna Europa.<br />

Linna ist eigentlich Lina: „Das zweite „n“ hat<br />

unser koreanischer Vater reingebracht, der Name<br />

war ihm zu deutsch.“ – „Unsere Familie ist total<br />

verschleust“, lacht Alexandra. „Und wie!“ lächelt<br />

Linna, und wieder Alexandra: „Ihnen wird noch<br />

der Kopf rauchen.“<br />

„Wir“, sie sprechen immer im Plural, und als Dritte<br />

ist die Mutter im Bunde. „Mama, skashi, wie<br />

war das? Seit wann ist unsere Oma taub?“, rufen<br />

sie ins Handy. Quietschvergnügt durchstreifen sie<br />

die Schreckenskammern des 20. Jahrhunderts, es<br />

ergibt sich ungefähr folgender Sachverhalt: Ihre<br />

Großmutter Lina Hensel, 1935 in Darmstadt/Ukraine<br />

geboren, wurde als Zweijährige durch eine<br />

Entzündung im Ohr taub. 1941 entgingen die<br />

Hensels der Deportation nach Asien, weil die deutsche<br />

Wehrmacht schneller da war, man siedelte sie<br />

später in den „Warthegau“ um. Linas Vater fiel im<br />

Krieg, die restliche Familie wurde 1945 ins Sowjet-<br />

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NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />

UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />

reich „repatriiert“. Unterwegs mussten Lina und<br />

ihre ältere Schwester die Mutter begraben, Endstation:<br />

Karaganda. Zwei Waisen, zwei von vielen,<br />

vielen in einer wilden, elenden Stadt. Hunger, frühe<br />

Schwangerschaft, saufende russische Ehemänner.<br />

Die durch Taubheit stumm gebliebene Lina hatte<br />

schließlich drei Kinder allein durchzubringen.<br />

„Da war wirklich nichts Schönes in deiner Kindheit,<br />

Mama?“, fragt Alexandra ungläubig ins Handy.<br />

„Doch, wenn die renetki blühten, das war schön!“<br />

– „Renetki sind Apfelbäume“, erklärt Linna. Ihre<br />

Mutter habe auch später wenig Glück gehabt, mit<br />

diesem Koreaner, der sie sitzen ließ. Und trotzdem!<br />

Nach zwei Generationen familiärer Unordnung<br />

habe es die Mutter geschafft, ihnen beiden<br />

eine „frohe Kindheit“ zu bereiten.<br />

Geborgenheit in einer Einzimmerwohnung im Karaganda<br />

der achtziger Jahre. Wenn die Mutter da<br />

ist und nicht in der Käsefabrik schafft, glucken die<br />

drei zusammen, die Mutter liest vor, was ihr selbst<br />

gerade gefällt, Romeo und Julia, Bulgakows Meister<br />

und Margarita. Draußen, vor der Tür des Neubaus,<br />

die Steppe. Schlittschuh laufen, Rodeln vom<br />

halsbrecherisch steilen Terekonik, dem Abraumhügel<br />

des nahen Schachtes. Im Sommer laufen die<br />

Mädchen weit ins Grasland. „So was haben Kinder<br />

hier nicht. So eine Freiheit!“<br />

Die Ausreise 1992, zusammen mit der deutschen<br />

Oma, war zunächst nur ein weiteres kindliches<br />

Abenteuer. Geleitet von der Mutter, „Kopf hoch<br />

und durch!“, eroberten sie in Wolfsburg die fremde<br />

Schule, steckten Püffe und Hänselein ganz gut<br />

weg. Verehrer hatten sie an jedem Finger einen,<br />

das half auch. Bis zum Abitur war ihr Deutsch<br />

perfekt, mit kleinem norddeutschen Akzent. Wenig<br />

später dann der Triumph: Linnas Sieg bei der<br />

Miss-Wahl, sie war ihrer beider Erfolg. Alexandra<br />

war Linnas Coach – Diätplan, Körpertraining,<br />

Makeup, sie entwarf und nähte die fantasievolle,<br />

zarte Robe.<br />

Deutschland mögen sie sehr, „dass man den Bürgern<br />

hilft“. Für die Deutschen, die „so verschlos-<br />

sen, so vereinzelt leben“, empfinden sie ein wenig<br />

Mitleid. Wie die beiden so dasitzen und qualmen,<br />

laut träumen – ich traue ihnen alles zu.<br />

…<br />

Deutschland. Friedland.<br />

Für Adenauer begann am Ostufer der Elbe die asiatische<br />

Steppe. Wer hätte gedacht, dass unsere kleine<br />

Bundesrepublik ihren Horizont einmal so weit<br />

nach Osten würde erweitern müssen? Deutschland<br />

reicht heute bis zur Oder, wir haben wieder Städte<br />

wie Breslau oder Riga im Blick, ab sofort grenzt die<br />

EU an die Ukraine. Unsere Köpfe sind zum Platzen<br />

voll, und immer noch ist es nicht genug: Jetzt muss<br />

auch noch hinter den Ural geguckt werden.<br />

Als Gorbatschow 1986 mit dem neuen Passgesetz<br />

die Tür einen Spalt breit öffnete für Ausreisewillige,<br />

die in Deutschland Verwandte ersten Grades<br />

nachweisen können, rechneten Experten mit einem<br />

Zuzug von 30.000 bis 80.000 Menschen. Allein<br />

Karaganda hatte so viele Deutschstämmige. Man<br />

wusste von solchen Städten damals buchstäblich<br />

nichts. Aus derselben Unkenntnis erwuchs die Illusion,<br />

die unerwarteten Menschenmassen ließen<br />

sich, wenigstens teilweise, in eines der alten Siedlungsgebiete,<br />

an die Wolga, umlenken. „Wiedererrichtung<br />

der Wolgarepublik“ (von 1924, bekanntlich<br />

eine Schöpfung Lenins) hieß ein Haushaltstitel<br />

im gerade wiedervereinigten Deutschland!<br />

Die Deutung des Exodus lief zunächst unter der<br />

Überschrift „Heimkehr“. Vielleicht traf dieses Wort<br />

die Sehnsucht der Maria Pauls oder der alten Dycks.<br />

Aber in ein Schwaben oder Westpreußen früherer<br />

Jahrhunderte kann man nicht heimkehren. Niemand<br />

hat die Situation der Ausreise bislang treffender<br />

beschrieben als die russische Sängerin Veronika<br />

Dolina. Lufttransport heißt das Chanson:<br />

„Luftige Reise, irdische Stimme:<br />

,Karaganda–Frankfurt…‘, von einem Pol zum<br />

anderen.<br />

Frauen und Kinder, die Alten kehren heim nach<br />

Ithaka.<br />

Schrecklich, min Herz, auch wenn es nicht<br />

in die Verbannung geht.“<br />

Und weiter: „Goethe hat sie vergessen, Rilke


NEULANDERSCHLIEßUNG – DIE ZEIT –<br />

UNSERE LANDSLEUTE AUS KARAGANDA – BS 17,22<br />

hat sie im Stich gelassen, sie lernten Russisch,<br />

Kasachisch.“ Auf der Gangway ist ihnen zumute,<br />

als flögen sie ins All: „Karaganda–Frankfurt,<br />

Karaganda–Kosmos.“<br />

Ursachen und Verlauf des Exodus werden künftige<br />

Historiker erforschen; für Karaganda ist vorläufig<br />

Folgendes festzuhalten: Am 30. September 1973<br />

trafen sich etwa 400 Deutsche zu einer verbotenen<br />

Demonstration. Verhaftungen folgten. Ganze Familien,<br />

Sowjetfeinde meist aus Glaubensgründen,<br />

setzten sich nach Moldawien oder ins Baltikum ab,<br />

wo Ausreiseanträge größere Erfolgschancen hatten.<br />

Nach Jahren des Wartens durften viele nach<br />

Germanija ziehen – eine Vorhut.<br />

Ähnlich mutige Leute waren es, solche wie die<br />

Dycks und die Pauls, die sofort das Passgesetz von<br />

1986 zu nutzen versuchten. Wenig später schon<br />

war die Entwicklung nicht mehr aufzuhalten. Zum<br />

einen kam mit dem freien Sprechen, das nun möglich<br />

war, die Vergangenheit ans Licht, Deportation,<br />

Zwangsarbeit, der ganze Albtraum der Geschichte.<br />

Und die ebenso tabuisierte, gefährliche Lage der<br />

Stadt: Karaganda befindet sich zwischen Semipalatinsk<br />

(Atomwaffentests), Baikonur (Kosmodrom)<br />

und Stepnogorsk (Biowaffen). Zugleich kündigte<br />

sich ein gesellschaftliches Beben an. Die Kasachen<br />

forderten ihr Recht, der Koloss Sowjetunion schien<br />

ins Wanken geraten. Es war mehr ein Gefühl als<br />

ein klares Bewusstsein: Raus, bevor wieder etwas<br />

Schreckliches passiert! Einmal in Gang, entstand<br />

so etwas wie eine Kettenreaktion.<br />

1989 war Karaganda mit seinen 800.000 Einwohnern<br />

noch eine moderne Großstadt sowjetischen<br />

Typs. 1991 stürzte sie mit dem Reich ins Bodenlose,<br />

ihr Niedergang war fast so dramatisch wie<br />

ihr Aufstieg 70 Jahre zuvor. 36 Schächte wurden<br />

geschlossen, die Kohle, um derentwillen Karaganda<br />

gegründet wurde, brauchte keiner mehr. Wer<br />

nur eben konnte, Russen, Polen, Ukrainer et cetera<br />

floh in die alte Heimat. Heizungsleitungen platzten<br />

im Winter, der Strom fiel aus, leere Wohnblocks<br />

zerfielen wie im Zeitraffer. „Die Steppe“, sagten<br />

die Zurückbleibenden, „erobert die Stadt zurück.“<br />

So war es, als Familie Gudi und die Hensels sie<br />

verließen.<br />

Mitte der Neunziger trat der Exodus in seine vorerst<br />

letzte Phase ein. Indem die Bundesregierung den<br />

Zuzug auf 100.000 Aussiedler pro Jahr begrenzte<br />

und Sprachtests einführte, entstanden Wartezeiten<br />

von drei bis sieben Jahren. Derweil stabilisierte<br />

sich die Situation Karagandas ein wenig. Nach<br />

Plan von Präsident Nasarbajew, den russisch kolonisierten<br />

Norden kasachisch zu prägen, wurde<br />

eine neue Hauptstadt geschaffen, Astana. Man<br />

legte Siedlungsprogramme auf, aus den Kolchosen<br />

freigesetzte Kasachen zogen in die Städte des<br />

Nordens, desgleichen Exilkasachen aus der Mongolei.<br />

In Karaganda leben inzwischen 45 Prozent<br />

Kasachen, früher waren es drei Prozent. Das Volk<br />

der Nomaden und Halbnomaden, das nach 1917<br />

in die Moderne katapultiert wurde und wie kaum<br />

ein anderes seine Identität verloren hat, seine Tradition,<br />

seine Sprache, den muslimischen Glauben,<br />

will die Tragödie mit Macht überwinden. Und in<br />

dieser Neuordnung haben, auch wenn sie sich bemerkenswert<br />

friedlich vollzieht, die auf Ausreise<br />

Wartenden keinen Platz.<br />

Solche wie Familie Onodalo aus Abai, einem Sputnik<br />

von Karaganda. Soeben, nach fünf zähen<br />

Jahren des Wartens, aus 27 Grad minus in den<br />

Vorfrühling geraten, nach Friedland. „I-ch biiin<br />

An-gst“, buchstabiert Ida Onodalo und zieht die<br />

Stirn unter den braunen Locken kraus. Ihr Mann<br />

Alexander und der erwachsene Sohn haben Reißaus<br />

genommen, wir sind zu zweit in dem weiß<br />

getünchten Schlafsaal. „Ich kann nich verzelle, o<br />

gospodi! (Mein Gott!)“. Sie scheint einer Ohnmacht<br />

nahe.<br />

Hinter ihr liegen Wochen des Abschieds, vom älteren<br />

Sohn und von dessen Familie, von ihrer besten<br />

Freundin Sagat, einer Kasachin, von ihren Schülern.<br />

Eine Lehrerin, die auf einmal sprachlos ist. Sie, Ida,<br />

die Tochter von Wolgadeutschen, wird von jetzt<br />

an ihren Mann, den Ukrainer, stützen müssen, der<br />

es noch schwerer hat. Seine ganze große Familie<br />

blieb in der Steppe zurück, seine Kultur hat in<br />

Deutschland so gut wie keine Überlebenschance.<br />

Quelle: DIE ZEIT 11.03.2004 Nr.12 http://www.zeit.<br />

de/2004/12/Russlanddeutsche<br />

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52<br />

GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />

Einleitung<br />

Die eigene Geschichte spielt für die Kasachen nach der Verkündung ihrer Unabhängigkeit eine bedeutende<br />

Rolle. Durch stetige Okkupationen angrenzender Nationen und 70 Jahre kommunistischer Fremdbestimmung<br />

sind die kasachische Lebensweise und viele Traditionen teilweise verloren gegangen. Daher<br />

fällt es dem Land schwer eine eigene kasachische Identität aufzubauen und zu verkörpern. Nach und<br />

nach wird die sowjetische Ideologie aus den Köpfen der Menschen verbannt. Man versucht, sich den<br />

originär kasachischen Bräuchen und Sitten wieder bewusst zu werden, um dem Land und seiner Bevölkerung<br />

ein kasachisches Selbstverständnis zu vermitteln. Die Aufarbeitung der eigenen Vergangenheit<br />

soll den Menschen dabei helfen.<br />

Frühgeschichte<br />

Das kasachische Territorium ist seit Jahrtausenden besiedelt. Im 6. bis 3. Jahrhundert v. u. Z. kam der<br />

Stammesverband (Horde) der Saken in das Gebiet Kasachstans. Sie waren Nomaden, Halbnomaden und<br />

Ackerbauern und errichteten ihren ersten Staat in Semireche, im südöstlichen Kasachstan. Mitte des ersten<br />

Jahrtausends übernahmen die aus dem Altai kommenden turkvölkischen Stämme die Vorherrschaft<br />

in der Region. Sie werden als Ursprung vieler Völker in Zentralasien betrachtet. 1<br />

Durch den Einfall mongolischer Truppen unter Dshingis Khan in den Jahren 1219-21 kam die Entwicklung<br />

zum Erliegen. Infolge wachsender Migration und Mischehen wandelte sich die Struktur der Bevölkerung<br />

enorm. Nach dem Zerfall der Goldenen Horde Dshingis Khans Ende des 14. Jahrhunderts bildeten sich<br />

ein nogaisches und ein usbekisches Khanat (Königreich) heraus.<br />

Mitte des 15. Jahrhunderts formierte sich durch Abspaltung das Kasacher Khanat, welches sich als eine<br />

Konföderation verschiedenster Nomadenstämme konstituierte. In dieser Zeit hat sich das Volk der Kasachen<br />

herausgebildet. Im 16. Jahrhundert teilten sich die Kasachen in drei Horden, die noch bis heute<br />

bestehen. Die Große Horde konzentrierte sich auf das Gebiet des heutigen Südkasachstan. Die Mittlere<br />

Horde bewohnte den Norden und die Kleine Horde den Westen des Landes. 2<br />

Vorrevolutionäre Zeit bis 1917<br />

Zu Beginn des 18. Jahrhunderts sah das Kasacher Khanat seine Grenzen bedroht. Im Norden und Westen<br />

drohte Russland mit seiner Expansionspolitik, dagegen fielen im Osten die Dshungaren (auch Oyraten<br />

genannt) in die kasachischen Gebiete ein. Aus Furcht vor fortschreitender Einflussnahme und<br />

Zerstörung erbaten sich um 1731 Stammesführer der Kleinen Horde den Schutz der russischen<br />

Regierung. Später erklärten auch die anderen Horden ihre Loyalität gegenüber der russischen Krone und<br />

schlossen sich Russland an. 3<br />

Allerdings blieb die angebotene Hilfe zur Zerschlagung der dshungarischen Angreifer aus. Stattdessen<br />

wurde Kasachstan in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts in das zaristische Verwaltungssystem<br />

eingegliedert, indem die Khanate aufgelöst und in zaristisch-administrative Einheiten<br />

umgewandelt wurden.<br />

In diesem Zuge spielten russische Städtefestungen als Stützpunkte zur Erweiterung des russischen Einflusses<br />

in dieser Region eine zentrale Rolle. So wurde 1824 bzw. 1830 ein russischer Außenposten zur<br />

Sicherung der Handelswege im Gebiet um Akmola, der heutigen Hauptstadt Astana gegründet. 4<br />

1 Nikolai Larin: Aus der Tiefe der Jahrtausende in die Gegenwart, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 17 f.<br />

2 Marie-Carin von Gumppenberg: Staats- und Nationsbildung in Kazachstan, Opladen 2002, S. 31<br />

3 Marie-Carin von Gumppenberg. a.a.O., (Fußn. 2). S. 31 f.<br />

4 N. Agubaev und R. Chekaeva: Geschichte der Entstehung und Entwicklung Astanas im 19. Jahrhundert, in:Kumbez 3/4-2001, S. 20.


GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />

Die zunehmende Kolonisierung führte in der kasachischen Bevölkerung zu heftigen Protesten gegen die<br />

russische Oberherrschaft und endete 1837 in einem nationalen Befreiungskampf.<br />

Um die Kolonisation Kasachstans weiter zu festigen, wurden entsprechende Reformen bezüglich der<br />

Wirtschafts- und Sozialstrukturen eingeleitet und einschneidende Gesetze verabschiedet. Den Völkern<br />

Sibiriens, Mittelasiens und Kasachstans entzog man das Wahlrecht. Zur gleichen Zeit konfiszierte der<br />

russische Staat Weiden und Wiesen, so dass Nomaden diese nicht mehr nutzen konnten. Eine Krise in<br />

der Viehhaltung war die Folge. Veränderte Steuern und Abgaben für die kolonisierten Gebiete wurden<br />

eingeführt. Die Maßnahmen, die von russischer Seite unternommen wurden, um die Kasachen zu unterwerfen<br />

und an sich zu binden, führten letztendlich dazu, dass sich enormer Widerstand der kasachischen<br />

Bevölkerung gegen die Okkupanten formierte. 5 Gegen Ende des 19. Jahrhunderts wurde Kasachstan zum<br />

Zielgebiet russischer Siedler und Bauern aufgrund von Steuervergünstigungen und Landzuweisungen.<br />

Zugleich immigrierten auch politische Verfolgte und Bürgerkriegsflüchtlinge. In der Zeit zwischen 1871<br />

und 1917 kamen etwa 1,6 Mio. Immigranten. 6 Diese Einwanderungswelle hatte wachsende Konflikte<br />

zwischen der Titularnation und der europäischen Bevölkerung zur Folge. Der erste Weltkrieg verursachte<br />

in Russland eine schwere Wirtschaftskrise. Im Jahre 1916 begann ein Aufstand in Zentralasien wegen<br />

der Rekrutierung von Kasachen in Arbeitsdienste der russischen Armee. Viele Kasachen verließen in der<br />

Zeit ihr Land. Nach 1914 wurden Deutsche aus Russland und der Ukraine nach Kasachstan deportiert. 7<br />

Die Sowjetzeit 1917-1991<br />

Nach der Oktoberrevolution 1917/18 wurde die Sowjetmacht errichtet. Im Jahre 1920 wurde das Territorium<br />

der Kasachen zur "Kirgisischen Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik" (Kirgisische ASSR) innerhalb<br />

der RSFSR proklamiert - mit der vorläufigen Hauptstadt Orenburg. Die Bezeichnung „Kirgisisch"<br />

erklärt sich aus der Tatsache, dass die Kasachen früher von Russen als Kirgisen bezeichnet wurden. Nach<br />

den 1924/25 vorgenommenen Grenzfestlegungen in Zentralasien kamen die Gebiete Syr-Darja und Siebenstromland,<br />

die bis dahin zur Turkestanischen ASSR gehörten, zur Kirgischen ASSR dazu. 1925 erfolgte<br />

diesbezüglich eine Umbenennung in „Kasachische ASSR".<br />

Die in den 1920/30er Jahren erfolgte Kollektivierung der Landwirtschaft sowie die gewaltsame Sesshaftmachung<br />

der Nomaden zerrüttete die Viehwirtschaft des Landes und führte zu einer großen Hungersnot.<br />

Zwischen 1,5 und 2 Mio. Kasachen kamen infolgedessen ums Leben, viele weitere flohen aus<br />

der Republik. 8<br />

1936 erhielt Kasachstan den Status einer Unionsrepublik. Im Jahr 1939 wurden die Verwaltungseinheiten<br />

erneut umstrukturiert, dabei entstand u.a. der Akmolinskaya Oblast. 9<br />

5 Nikolai Larin, a.a.O., (Fußn. 1), in: Wostok Kasachstan, S. 18 f.<br />

6 Marie-Carin von Gumppenberg. a.a.O., (Fußn. 2), S. 32<br />

7 Aus einem Gespräch mit A. Chikanaev (Eurasische Universität Astana, Fakultät Architektur und Design) am 18.04.2003 in Astana<br />

8 .auswaertiges-amt.de, Stand: September 2003<br />

9 Aus einem Gespräch mit A. Chikanaev (Eurasische Universität Astana, Fakultät Architektur und Design) am 18.04.2003 in Astana<br />

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GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />

Die Region um Akmola/Astana lag - wie ganz Kasachstan - während des Zweiten Weltkrieges nicht<br />

im Kampfgebiet. In den ersten Kriegsjahren wurden viele in der Sowjetunion lebende Völker, darunter<br />

Deutsche, Tschetschenen, Balkaren, Griechen, Kalmyken und Krimtataren nach Zentralasien, besonders<br />

nach Kasachstan deportiert. Tausende mussten dort unter den primitivsten Umständen leben. Ein bedeutendes<br />

Ereignis in der Geschichte Kasachstans beginnt 1954 mit der Neulanderschließung, welche die<br />

Umwandlung von Steppenzonen in landwirtschaftliche Anbaugebiete ermöglichen sollte. 10<br />

Neulanderschließung<br />

Zu Beginn der 1950er Jahre litt die sowjetische Landwirtschaft noch stark unter den Folgen des Zweiten<br />

Weltkrieges. Der Aufbau der zerstörten Wirtschaft und Technik erfolgte nur langsam, die Landwirtschaft<br />

konnte den wachsenden Nahrungsmittelbedarf der Bevölkerung nicht decken.<br />

Im Septemberplenum des Zentralkomitees (ZK) der KPdSU (Kommunistischen Partei der Sowjetunion) im<br />

Jahre 1953 wurde die Vernachlässigung der Landwirtschaft erörtert und ein umfangreiches Programm<br />

zur Beseitigung der Mängel beschlossen. 11<br />

Unter Nikita Khrushchov (Erster Sekretär des ZK) wurde im Jahre 1953 die Idee der Neu- und Brachlanderschließung<br />

in Angriff genommen. Pläne dafür wurden schon unter Stalin ausgearbeitet, allerdings<br />

wegen befürchteter Bodenerosionen in deutlich bescheidenerem Umfang.<br />

Ende Februar 1954 begann das Februar-März-Plenum des ZK der KPdSU, das den Beschluss „Über die<br />

weitere Steigerung der Getreideproduktion im Lande und über die Erschließung von Neu- und Brachland"<br />

annahm. Im Rahmen dieses Beschlusses begann das Neulandprogramm in einem riesigen geographischen<br />

Raum. Sechs Hauptgebiete wurden für die Neulanderschließung ausgewählt. Diese waren:<br />

Kustanai, Nordkasachstan, Kokschetau, Turgai Pawlodar und Tselinograd, das Gebiet um das heutige<br />

Astana. Die Gesamtfläche der Gebiete betrug 600.000 km² (größer als das Territorium von Frankreich).<br />

In diesem Raum sollten nun 250.000 km² karge Steppe urbar gemacht und in landwirtschaftliche Anbauflächen<br />

umgewandelt werden. 12<br />

Die Neulandaktion entfaltete eine enorme Schubkraft – die Aufrufe zur Neulandgewinnung lösten eine<br />

gewaltige gesellschaftliche Bewegung aus. Zahlreiche Arbeiter kamen aus Russland und anderen Unionsrepubliken<br />

nach Kasachstan.<br />

Nachdem erste Erfahrungen ausgewertet und die Möglichkeiten des Landes abgewogen worden waren,<br />

nahmen im Sommer 1954 das Zentralkomitee der KPdSU und der Ministerrat der UdSSR den neuen<br />

Beschluss „Über die weitere Erschließung von Neu- und Brachland zur Vergrößerung der Getreideproduktion"<br />

an.<br />

Im Februar 1956 fand der XX. Parteitag der KPdSU statt, auf dem der Erfolg bei der Neulanderschließung<br />

bekannt gegeben wurde. In zwei Jahren war die Anbaufläche der Kasachischen ASSR auf 27 Millionen<br />

Hektar erweitert worden. Das Jahr 1956 ging als die „Sternstunde" des Neulandes in die Geschichte Kasachstans<br />

und der UdSSR ein. Die Republik spezialisierte sich im Rahmen der unionsweiten Arbeitsteilung<br />

auf die Getreide-, Fleisch- und Wollproduktion. 13<br />

10 Nikolai Larin, a.a.O., (Fußn. 1), in: Wostok Kasachstan, S. 19.<br />

11 UdSSR - Landwirtschaft, 1975, S.56f.<br />

12 Leonid Breshnew: Neuland, Berlin 1979, S. 9 f.<br />

13 Leonid Breshnew. a.a.O., (Fußn. 12), S. 120 ff.


GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />

Insgesamt warf der Boden in den ersten Jahren so gute Ernten ab, dass Kasachstan die Ukraine als<br />

Kornkammer der UdSSR ablöste. Ein neues Getreidezentrum war entstanden. Es schien, als ob die Getreidefrage<br />

gelöst wäre.<br />

Trotz aller Euphorie um die Neulanderschließung wurde bald deutlich, dass die kultivierten Gebiete zu<br />

einem großen Teil zur Zone des „riskanten" Ackerbaus gehörte. Die Effizienz der Landwirtschaft wurde<br />

durch die niedrige Ertragsfähigkeit der Böden und ungünstige klimatische Bedingungen, d.h. starke<br />

Winde und geringe Niederschläge - erheblich beeinträchtigt. 14<br />

Schließlich traten Anfang der 60er Jahre die ersten Erosionsschäden auf, weil der Wind die dünne Decke<br />

des fruchtbaren Bodens wegwehte. Die Folgen wurden nicht gleich sichtbar - weiterhin wurde<br />

Land urbar gemacht. 1963 gab es aber unter dem Einfluss schlechter Witterungsverhältnisse im ganzen<br />

Land eine Missernte. Zum ersten Mal sah man sich gezwungen Getreide zu importieren. Infolgedessen<br />

musste Khrushchov 1964 zurücktreten. In der Folgezeit wurden die Neulandprogramme schrittweise<br />

dezimiert. 15<br />

Ein weiteres landwirtschaftliches Großprojekt führte zu erheblichen Umweltschäden. Seit den 1960er<br />

Jahren wurden in den wasserarmen Republiken Usbekistan und Turkmenistan Baumwollplantagen und<br />

in Kasachstan große Reisfelder angelegt. Für die Bewässerung wurde über den Karakoum-Kanal Wasser<br />

aus den wichtigen Zuflüssen des Aralsees - den Flüssen Amudarja und Syrdarja - abgeleitet. Bis heute<br />

hat der See bereits 75 % seiner Wassermenge verloren. Die Folgen sind für den Menschen, die Tier- und<br />

Pflanzenwelt verheerend. 16<br />

In der Zeit von 1964 bis 1986 stand mit Dinmukhamad Kunaev zum ersten Mal ein Kasache an der Spitze<br />

der Republikführung. Dieser wurde 1986 - auf Anlass von Gorbatschow - durch den Russen Gennady<br />

Kolbin abgelöst. Diese Entscheidung löste blutige antirussische Ausschreitungen in Alma-Ata (das heutige<br />

Almaty) aus. In den Jahren 1988/89 begannen zahlreiche informelle Gruppen und gesellschaftliche<br />

Bewegungen ihre Arbeit aufzunehmen. 1989 löste Nursultan Nazarbaev den Russen Kolbin an der Spitze<br />

der regionalen Kommunistischen Partei (KP) und der Republikführung ab.<br />

Nach der Unabhängigkeit<br />

Am 25. Oktober 1990 erklärte Kasachstan seine Souveränität innerhalb der UdSSR. Nazarbaev wurde<br />

im April 1990 vom Parlament und im Dezember 1991 von der Bevölkerung zum Staatspräsidenten gewählt.<br />

Am 16. Dezember 1991 erklärte Kasachstan als letzte zentralasiatische Republik seine staatliche<br />

Unabhängigkeit. Die erste Staatsverfassung wurde 1993 erlassen. Im Jahre 1994 fanden die ersten Parlamentswahlen<br />

nach der Unabhängigkeit statt. Kasachstan, Russland und Weißrussland unterzeichneten<br />

im Januar 1995 in Moskau einen Vertrag über eine gemeinsame Zollunion. Präsident Nazarbaev ließ<br />

zwei Monate später das Parlament auflösen, nachdem das Verfassungsgericht die Wahlen für ungültig<br />

erklärt hatte. Noch im gleichen Jahr wurde die Amtszeit Nazarbaevs bis zum Jahr 2000 per Referendum<br />

verlängert sowie die zweite Verfassung angenommen. 17<br />

14 Kanat Berentajew: Reform der Landwirtschaft noch nicht beendet, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 53.<br />

15 Heiner Karuscheit: Schwierige Agrarfrage, aus: Junge Welt vom 06.07.2002<br />

16 Nikolai Larin: Die Tragödie des Aralsees - Lösungswege, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 40 f.<br />

17 www.auswaertiges-amt.de, Kapitel: Geschichte Kasachstans<br />

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GESCHICHTE KASACHSTANS – BS 17<br />

Am 10.12.1997 wurde Akmola zur neuen Hauptstadt erklärt und am 06.05.1998 in Astana umbenannt.<br />

Im Jahre 1999 erfolgte die Wiederwahl des Präsidenten Nazarbaevs für weitere sieben Jahre. Die Republik<br />

Kasachstan ist ein vollwertiges Mitglied der internationalen Staatengemeinschaft. Zu Russland unterhält<br />

es noch immer weitreichende diplomatische und wirtschaftliche Beziehungen. Heute gilt Kasachstan als<br />

das stabilste und hoffnungsvollste Land in der Region Zentralasiens. 18<br />

Autor: Simone Zühr<br />

Quelle: http://www.kasachstanprojekt.de/pdfdownload/geschichte_%20kasachstan.pdf<br />

18 Bulat Sultanow: Hoffen auf größeres Engagement seitens der EU und Deutschlands, in: Wostok Kasachstan, Berlin 2001, S. 6 ff.


HEIMAT IN RELIGION UND KUNST - RELIGION UND KIRCHE –<br />

BS 18<br />

Religionsausübung war seit den dreißiger Jahren in der Sowjetunion unterdrückt. Die Kirchen waren<br />

entweder zerstört oder wurden zweckentfremdet genutzt. Nur wenige Pfarrer der Russlanddeutschen<br />

hatten die Verfolgungen der dreißiger und vierziger Jahre überlebt. Gottesdienste konnten nur im Geheimen,<br />

im Familienkreis und unter großer Vorsicht abgehalten werden.<br />

1956/57 konnte Pastor Eugen Bachmann die erste evangelisch- lutherische Kirche in Zelinograd (damals<br />

noch Akmolinsk) /Kasachische SSR registrieren lassen. Diese Gemeinde wurde zum Zentrum evangelischlutherischer<br />

Gottesdienste in der Sowjetunion. Zu sonntäglichen Gottesdiensten kamen Gläubige aus<br />

dem ganzen Land. Morgens fand in der Regel ein Lesegottesdienst statt, am Nachmittag traf man sich<br />

zur Gebetsstunde. An Sonntagen wurden Taufen vollzogen und das Abendmahl abgehalten, einmal pro<br />

Jahr wurde eine Konfirmation durchgeführt. Den Lernstoff dafür mussten die Konfirmanden zu Hause<br />

einüben, da es keinen Konfirmandenunterricht gab.<br />

Bis zur Ablösung Nikita Chruschtschows als Partei- und Regierungschef im Jahr 1964 gab es keine weitere<br />

Registrierung von Kirchengemeinden.<br />

In den sechziger Jahren wurden in Kasachstan, Kirgisien und Westsibirien neue Gemeinden gegründet<br />

(Alma-Ata, Karaganda, Osengi-Oaher, Tomsk und Omsk).<br />

Zunächst illegal wirkende Gemeinden wurden registriert:<br />

1975 in Skytyvar, 1976 in Duschabe, Leninabad, Belowodskaja, Winsowchos und Kant.<br />

Einen neuen Aufschwung erlebte die evangelisch-lutherische Kirche durch die Politik der Perestroika. Der<br />

seit 1980 mit behördlicher Genehmigung amtierende Superintendent Harald Kalnins wurde 1988 in Riga<br />

zum Bischof ernannt. Seinen Angaben nach gab es 1986 490 deutschsprachige evangelisch-lutherische<br />

Gemeinden und Gruppen in der UdSSR, von denen 220 staatlich registriert waren.<br />

In den achtziger Jahren entstanden überall dort, wo Russlanddeutsche lebten, evangelisch-lutherische<br />

Gemeinden. Auch zahlreiche katholische Gemeinden, die bisher im Untergrund wirkten, wurden nun registriert.<br />

Früher zweckentfremdet genutzte Kirchen erhielten wieder ihre eigentliche Aufgabe. Beispiel:<br />

Evangelisch-lutherische Kirchengemeinde Karaganda<br />

Die Kirchengemeinde zählte ca. 4000 Gläubige. Die durchschnittliche Besucherzahl bei den an Werktagen<br />

abgehaltenen Gottesdiensten belief sich auf 15 bis 20 Personen. Zu den sonntäglichen Gottesdiensten<br />

kamen 50 bis 80 Gläubige.<br />

Der Russlanddeutsche H. Römmich beschrieb einen dieser Gottesdienste folgendermaßen:<br />

"Sie treffen sich in Privathäusern. Man sitzt auf schmalen Bänken ohne Lehne, meist sehr eng. Männer<br />

und Frauen getrennt. Der Gast hat erlebt, dass zu einem Abendmahlsgottesdienst etwa 100 Personen in<br />

zwei Zimmern zu je 25 qm versammelt waren. Die Fenster waren verhängt, die Türen geschlossen…Das<br />

Abendmahl wird in der Regel zweimal im Jahr im Anschluss an den Gottesdienst gefeiert. Oft findet die<br />

Beichtversammlung am Samstag vorher statt. Bei der Kommunion treten die reformierten Gemeindemitglieder<br />

zuerst vor; sie empfangen das Brot in die Hand. Die Lutheraner empfangen die selbstgebackene<br />

Oblate, oft knieend. Auf diese Weise wird der konfessionelle Unterschied zwischen Lutheranern und<br />

Reformierten friedlich überwunden."<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch4/religion_kirche.htm<br />

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AUTONOMIEBEWEGUNG –<br />

AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19<br />

In der Autonomie sahen die Führer und Mitglieder der Gesellschaft "Wiedergeburt" das wirksamste<br />

Mittel gegen die Ausreise. Die neue Politik Michail Gorbatschows hatte die Ausreisebestimmungen erleichtert,<br />

aber an der tatsächlichen Situation der Russlanddeutschen hatte sich noch nichts verändert.<br />

Der Strom der Aussiedler aus der Sowjetunion stieg seit 1987 stark an.<br />

Schritte in der Autonomiefrage:<br />

• Am 14. November 1989 verabschiedete der Oberste Sowjet der UdSSR eine Deklaration, in der die<br />

Deportationen in der Zeit des Zweiten Weltkrieges als gesetzwidrig und verbrecherisch bewertet<br />

wurden.<br />

• Am 28. November 1989 stimmte der Nationalitätensowjet der UdSSR der Wiederherstellung der<br />

ASSR der Wolgadeutschen im Prinzip zu.<br />

• 1989 kam es daraufhin unter der jetzt im Wolgagebiet lebenden Bevölkerung zu Protesten.<br />

• 1990/91 schlug die Sowjetregierung die Schaffung einer "Assoziation" – einer Kulturautonomie<br />

ohne Territorium – vor. Aber die Mehrheit der Delegierten eines Außerordentlichen Kongresses der<br />

"Wiedergeburt" lehnte diesen Vorschlag ab.<br />

• Im Frühjahr 1991 nahm sich die Regierung der RSFSR auch der Belange der Deutschen an. Am 26.<br />

April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet ein "Gesetz zur Rehabilitierung der repressierten<br />

Völker".<br />

• Nachdem dem Zerfall der UdSSR (1991), verhinderten die neue Regierung Russlands und der neue<br />

Präsident Boris Jelzin mit einer Hinhaltepolitik die Umsetzung des Gesetzes. Jelzin nahm seine Zusage<br />

zur Wiederherstellung der Autonomen Wolgarepublik wieder zurück. Die meisten Russlanddeutschen<br />

sahen nun ihre Zukunft in der Ausreise nach Deutschland.<br />

Gründung der Gesellschaft "Wiedergeburt" 1988/1989<br />

Die Bemühungen der Russlanddeutschen um die Wiedererrichtung der autonomen Republik an der<br />

Wolga wurden zur Amtszeit Gorbatschows wieder aufgenommen. Delegationen reisten nach Moskau.<br />

Bereits 1987 begannen deutschsprachige Zeitungen Artikel zu veröffentlichen, die bislang "tabu" waren,<br />

wie z. B. über die ASSR der Wolgadeutschen, über Arbeitslager, Deportation, Autonomiebewegung oder<br />

die Beteiligung der Russlanddeutschen am Aufbau der Sowjetgesellschaft.<br />

Das Jahr 1989 war von besonders zahlreichen Aktivitäten der Autonomiebewegung geprägt. Von offizieller<br />

Seite gab es positive Signale, die auf volle Rehabilitierung und Wiederherstellung der Autonomie<br />

hoffen ließen.<br />

Die einzelnen Gruppen aktiver Russlanddeutscher schlossen sich Ende März 1989 zur "Allunionsgesellschaft<br />

der Sowjetdeutschen ‘Wiedergeburt‘ für Politik, Kultur und Bildung" – kurz "Wiedergeburt"<br />

genannt – zusammen.<br />

Anfang 1990 zählte die Gesellschaft etwa 5000 Mitglieder.<br />

Die Gesellschaft "Wiedergeburt" stellte sich folgende Ziele:<br />

• Bewahrung der Kultur, Traditionen und der deutschen Sprache,<br />

• volle Rehabilitierung der Deutschen in der Sowjetunion,<br />

• Wiederherstellung der autonomen Republik an der Wolga und der nationalen Landkreise in Gebieten<br />

mit kompakt siedelnder deutscher Bevölkerung,<br />

•<br />

völlige Glaubensfreiheit.


AUTONOMIEBEWEGUNG –<br />

AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19<br />

Bis zum Herbst 1989 gab es bereits in 70 Gebieten Untergliederungen der "Wiedergeburt". Ihr Vorsitzender<br />

Heinrich Groth wurde als Sekretär in eine Kommission des Nationalitätensowjets der UdSSR für<br />

Probleme der Deutschen berufen.<br />

Über Inhalt und Form der angestrebten Autonomie gab es unterschiedliche Auffassungen bei den Russlanddeutschen<br />

und innerhalb der Gesellschaft. Einige Mitglieder (um den stellvertretenden Vorsitzenden<br />

Hugo Wormsbecher) gaben sich mit der Autonomie ohne eigenes Territorium zufrieden, andere<br />

Mitglieder (um den Vorsitzenden Heinrich Groth) verlangten die Wolgarepublik möglichst in ihren alten<br />

Grenzen.<br />

Die unterschiedlichen Standpunkte führten nicht nur zum Bruch innerhalb der Gesellschaft "Wiedergeburt".<br />

Viele Russlanddeutsche selbst konnten sich nicht vorstellen, dass auf dem nun von anderen<br />

Bürgern des Landes bewohnten Wolgagebiet eine autonome deutsche Republik wieder errichtet werden<br />

könnte.<br />

Es kam zur Spaltung der Organisation "Wiedergeburt". Unter Leitung von H. Wormsbecher wurde 1991<br />

der "Verband der Deutschen in der UdSSR" gegründet, der später in "Zwischennationaler Verband der<br />

Deutschen in der GUS" umbenannt wurde.<br />

Die Organisation "Wiedergeburt" selbst wurde in "Zwischenstaatliche Vereinigung der Deutschen der<br />

ehemaligen UdSSR" (abgekürzt "Wiedergeburt") umbenannt. Diese Vereinigung hatte 1992 ca. 100 000<br />

Mitglieder und unterhielt in allen Staaten der GUS Zweigniederlassungen.<br />

Scheitern des Autonomieversuches 1991<br />

Im November 1991 unterzeichneten Präsident Boris Jelzin und Bundeskanzler Helmut Kohl in Bonn eine<br />

Gemeinsame Erklärung. Russland bekannte sich darin zur "Wiederherstellung der Republik der Deutschen<br />

in den traditionellen Siedlungsgebieten ihrer Vorfahren an der Wolga" und zur Schaffung und<br />

Förderung von nationalen Bezirken für die Deutschen in ihren gegenwärtigen Siedlungsgebieten.<br />

Jelzin brachte dabei das ehemalige Truppenübungsgelände um den Eltonsee als Ort der Wiederansiedlung<br />

ins Gespräch. Dieses steppenartige Gebiet liegt außerhalb der traditionellen Grenzen der ehemaligen<br />

Wolgarepublik und entsprach nicht den Vorstellungen der Vertreter der Russlanddeutschen.<br />

Entgegen der Zusagen in der Gemeinsamen Erklärung versicherte Präsident B. Jelzin anlässlich eines<br />

Besuchs 1992 im Gebiet Saratow, dass es unter seiner Präsidentschaft zu keiner Wiederherstellung der<br />

Wolgarepublik der Russlanddeutschen kommen würde.<br />

Damit wurden den Autonomiebestrebungen der Russlanddeutschen faktisch eine endgültige Absage erteilt.<br />

Die Zahl der Aussiedler stieg wieder an. Begünstigt wurde dies durch Aussagen der Bundesregierung<br />

über die Bereitschaft zur Aufnahme Ausreisewilliger.<br />

Die Gesellschaft "Wiedergeburt" forderte zwar die Wiederherstellung der Autonomen Sozialistischen Sowjetrepublik<br />

an der Wolga. Dies sollte aber nicht zu Lasten der dort lebenden Bevölkerung geschehen.<br />

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37,2<br />

59


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60<br />

AUTONOMIEBEWEGUNG –<br />

AUTONOMIE UND AUSREISE – BS 19<br />

Deshalb wurde in einem Appell der Gesellschaft an die nichtdeutsche Bevölkerung des Wolgagebietes<br />

versichert, dass sie durch die Wiederherstellung der Rechte der deutschen Bevölkerung keine Nachteile zu<br />

befürchten hätten. Man wolle gemeinsam ein besseres Leben aufbauen, neue Orte sollten entstehen.<br />

Die Gegner einer deutschen Autonomie organisierten zahlreiche Protestaktionen im Gebiet Saratow und<br />

in Moskau und verhinderten damit weitere Schritte zur Lösung dieser Frage. Von staatlicher Seite wurde<br />

versucht, der Forderung nach Wiederherstellung der ASSR an der Wolga durch die Orientierung auf eine<br />

Kulturautonomie der Deutschen ohne Territorium in Russland zu begegnen. Damit wurde die Forderung<br />

nach einem eigenen Territorium ausgeklammert.<br />

Zeitzeugen über die Gesellschaft "Wiedergeburt"<br />

Heinrich Dorn berichtet:<br />

"1986 bin ich ins Wolgagebiet gereist. Dort lebten noch Verwandte von uns. Ich schaute mir die Orte<br />

im Gebiet von Saratow an, wo einmal meine Eltern und Großeltern zu Hause waren. Könnte in diese<br />

Gebiete die während des Krieges deportierte deutsche Bevölkerung bzw. deren Nachkommen wieder<br />

zurückkehren und ein neues Leben entsprechend ihren kulturellen Werten aufbauen? Ich hielt das nicht<br />

für unmöglich. Die Perestroika hatte gerade erst begonnen. Die Zeit von Veränderungen war angebrochen.<br />

Starken Einfluss übten auf mich auch die Gespräche mit einem Piloten aus, den ich bei meiner<br />

Arbeit auf dem Flugplatz von Krasnojarsk kennenlernte. Er war ebenfalls deutscher Nationalität. Seine<br />

Eltern lebten schon vor der Wende in der Bundesrepublik Deutschland. Er überzeugte mich, dass Bestrebungen,<br />

die Vergangenheit in Gestalt einer Deutschen Wolgarepublik oder eines autonomen deutschen<br />

Gebietes zurückzuholen, nicht realistisch waren. Im Wolgagebiet und anderswo, wo einmal deutsche<br />

Siedlungsgebiete waren, lebte inzwischen eine russische oder ukrainische Bevölkerung. Sollte man sie<br />

aussiedeln? Das würde weiteres Unrecht und neuen Unfrieden bringen. Eine Möglichkeit, vielleicht die<br />

wirksamste, die deutsche Nationalität zu bewahren, so meinte mein Bekannter, wäre eine Übersiedlung<br />

nach Deutschland. Er wies mich darauf hin, dass es mit dem Umbruch in der Sowjetunion sicherlich<br />

möglich werde, diesen Weg zu gehen. Relativ schnell entschloss ich mich dann, als es so weit war, den<br />

Antrag auf die Übersiedlung nach Deutschland zu stellen."<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch4/autonomie_ausreise.htm


AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />

GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />

Die Situation in der Gemeinschaft unabhängiger Staaten (GUS)<br />

Ute Heinen<br />

Autonomiebewegung<br />

Auszüge<br />

Seit den sechziger Jahren kämpfte die deutsche Autonomiebewegung für die Rehabilitierung der Russlanddeutschen.<br />

Ziel war die Wiederherstellung ihrer am 28. August 1941 im Sinne der sowjetischen<br />

Verfassung von 1936 widerrechtlich aufgelösten Republik an der Wolga. Mit ihrer Wiedereinrichtung<br />

verbanden die Russlanddeutschen die Schaffung eines politischen, kulturellen und wissenschaftlichen<br />

Zentrums für in der gesamten ehemaligen UdSSR lebende Deutsche als eine wesentliche Voraussetzung<br />

für den Erhalt der Volksgruppe, ihrer Sprache und Identität (vgl. hierzu auch S. 20 ff.). Die Wiederherstellung<br />

dieser Republik an der Wolga ist bis heute ein Kristallisationspunkt für Angehörige der deutschen<br />

Minderheiten, unabhängig von ihrer aktuellen Staatszugehörigkeit. Auch die Bundesrepublik Deutschland<br />

misst der vollen Rehabilitierung der Russlanddeutschen hohe Bedeutung bei.<br />

Am 26. April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet der Russländischen Föderation ein Gesetz „Über<br />

die Rehabilitierung der repressierten Völker“, das auch die Wiederherstellung der während des Zweiten<br />

Weltkrieges aufgelösten Autonomen Republiken und Gebiete vorsah. Die Umsetzung des Gesetzes wurde<br />

jedoch ausgesetzt und bis heute nicht vollzogen. Dies wird durch die Verfassung vom 12. Dezember<br />

1993 untermauert, die insofern neue Tatsachen schuf, als Grenzen zwischen den Subjekten der Föderation<br />

nur in gegenseitigem Einvernehmen geändert werden können.<br />

Scheitern der Wolgarepublik<br />

Im November 1991 unterzeichneten der ehemalige Präsident Boris Jelzin und der damalige Bundeskanzler<br />

Helmut Kohl eine Gemeinsame Erklärung, in der auch der Punkt der Wiedererrichtung der Wolgarepublik<br />

enthalten war. Insbesondere drei Faktoren machten das Projekt zunichte:<br />

•<br />

•<br />

•<br />

Das Angebot eines steppenartigen Geländes am Eltonsee, das außerhalb der traditionellen Grenzen<br />

der Wolgarepublik liegt und früher als Militärversuchsgelände gedient hatte, als Ort der<br />

Wiederansiedlung,<br />

das Moratorium des Obersten Sowjets der Russländischen Föderation vom Dezember 1991, das<br />

Gebietsveränderungen für die Dauer von fünf Jahren untersagte sowie<br />

Proteste der in den Siedlungsgebieten an der Wolga mittlerweile ansässigen russischen Bevölkerung.<br />

Im Januar 1992 distanzierte sich Präsident Jelzin sichtlich von seiner kurz zuvor gegebenen Zusage.<br />

Der Haushaltsausschuss des Deutschen Bundestages reagierte, indem er die für den Wiederaufbau der<br />

Wolgarepublik für das Haushaltsjahr 1992 bereit gestellten 50 Millionen DM sperrte. Die Mittel sollten,<br />

so war es mit dem Vorsitzenden des Staatskomitees für Nationalitätenpolitik Leonid Prokopjew und den<br />

Gebietsverwaltungen abgestimmt, vor allem der Bevölkerung jener Landkreise zugute kommen, die zur<br />

Wolgarepublik gehört hatten.<br />

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38,1<br />

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38,2<br />

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AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />

GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />

Im Sommer 1992 wurden neue Hoffnungen genährt. Am 23. April 1992 unterzeichneten der damalige<br />

Beauftragte der Bundesregierung für Aussiedlerfragen Horst Waffenschmidt (MdB) und für die Russische<br />

Regierung Minister Valerij Tischkow das „Protokoll über die Zusammenarbeit zur stufenweisen Wiederherstellung<br />

der Staatlichkeit der Russlanddeutschen“.<br />

In einem ersten Schritt sollte nach einem Erlass von Präsident Jelzin vom 21. Februar 1992 im Gebiet<br />

Saratow ein erster deutscher Landkreis an der Wolga ausgebaut werden (das Vorhaben war zu diesem<br />

Zeitpunkt jedoch durch das Moratorium über Gebietsveränderungen nicht realisierbar). Ihm sollte im Gebiet<br />

Wolgograd ein Okrug (Bezirk, dessen Einwohner überwiegend einer Minderheit angehören) folgen.<br />

Umgesetzt wurde das Vorhaben indes nicht. Lediglich in den Orten Bogdaschkino und in Galki, die beide<br />

im Gebiet Wolgograd liegen, konnte je ein deutscher Gemeinderat eingesetzt werden.<br />

In den verschiedenen Regionen und Staaten mündete die Diskussion um die Autonomie und die Taktik<br />

der russischen Regierung in wenig konkrete Überlegungen, Russlanddeutsche zum Beispiel in Kaliningrad,<br />

auf der Krim und in Jekaterinenburg anzusiedeln. In diese Zeit fällt auch das Angebot des damaligen<br />

ukrainischen Präsidenten Leonid Krawtschuk vom 23. Januar 1992, in dem er 400000 Deutschen<br />

aus Sibirien, Kasachstan und Mittelasien die Ansiedlung in der Ukraine in Aussicht stellte.<br />

Kulturautonomie<br />

1996 beschloss die russische Regierung die Kulturautonomie als Lösung der Nationalitätenfrage. Am<br />

19./20. Dezember 1997 wurde die Konstituierung einer „Nationalkulturellen Autonomie“ der Russlanddeutschen<br />

in Gang gesetzt. Die Kulturautonomie beinhaltet die Gewährung größerer kultureller<br />

Selbstbestimmung in eigenen Bildungs- und Kultureinrichtungen, jedoch ohne ein eigenes Territorium.<br />

Das „Programm für die Entwicklung der sozial-ökonomischen und kulturellen Basis für die ,Wiedergeburt'<br />

der Russlanddeutschen für die Jahre 1997 bis 2006“ im August 1997 sieht eine Vielzahl von Einzelmaßnahmen<br />

in 21 Republiken, Regionen und Gebieten Russlands vor. „Zur Finanzierung sollen Mittel<br />

aus dem Haushalt Russlands und der beteiligten Regionen und Gebiete sowie Mittel aus Deutschland<br />

eingesetzt werden. In den in Aussicht genommenen zehn Jahren würde es möglich sein, über 100000<br />

Umsiedler vor allem aus GUS-Republiken aufzunehmen, über 22000 Arbeitsplätze zu schaffen und circa<br />

1470000 Hektar Land zu bewirtschaften“ (Eisfeld 1999). Am 19./20. Dezember 1997 fand in Moskau<br />

der Gründungskongress der föderalen Kulturautonomie statt, unter dessen Dach die lokalen Kulturautonomien<br />

zusammengefasst werden sollen.<br />

Die Erwartungen der deutschen Minderheit an die Kulturautonomie waren gespalten. Einerseits wurden<br />

neue Impulse zur Stabilisierung der Minderheitensituation durch den Ausbau der deutschen Sprache<br />

und Kultur erwartet. Andererseits kritisierte zum Beispiel Alexander Fahrenbruch (damaliger Vorsitzender<br />

der „Wiedergeburt“ in der Russländischen Föderation) die rechtliche und finanzielle Basis der Kulturautonomie:<br />

„Das Gesetz über die nationale Kulturautonomie sieht die Schaffung einer gesellschaftlichen<br />

Struktur vor, die direkt in das staatliche System eingebunden ist. Und nicht zu vergessen die Finanzierung<br />

durch den Staat, die dem Gesetz nach möglich ist – sie kann funktionieren oder auch nicht, ist also völlig<br />

vom Staat [...] abhängig“ (Neues Leben, 23. Dezember 1996). In einer gemeinsamen Erklärung betonten<br />

elf russlanddeutsche Verbände, dass die Kulturautonomie in keiner Weise die Frage einer territorialen<br />

Autonomie löse, sahen sie aber als Ansatzpunkt für weitere Schritte an.


AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />

GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />

In den ersten Jahren ihres Bestehens (bis Mitte 2000) konnte die Kulturautonomie insgesamt betrachtet<br />

die in sie gesetzten Erwartungen nicht erfüllen. Eine Ursache dafür sind Konflikte zwischen den russlanddeutschen<br />

Verbänden und russischen Stellen. Im Programm selbst liegende Ungereimtheiten, wie zum<br />

Beispiel die Möglichkeit mehrerer Kulturautonomien auf einem Territorium, waren eine weitere Ursache.<br />

Im Ergebnis wurden die Möglichkeiten zur Initiierung von Projekten nicht nachhaltig genutzt. Sowohl<br />

die russische Regierung als auch die deutsche Regierung, welche die Kulturautonomie grundsätzlich<br />

begrüßt, hielten sich in der Finanzierungsfrage zurück.<br />

Im Dezember 1999 wurde der neu gewählten Duma der Russländischen Föderation der Entwurf eines<br />

Föderalen Gesetzes „Rehabilitierung der Russlanddeutschen“ vorgelegt. Der Gesetzentwurf sieht auch<br />

die territoriale Rehabilitierung durch die Schaffung kompakter Siedlungsgebiete in national territorialen<br />

Einheiten mit lokaler Selbstverwaltung vor. Von einer Wiedererrichtung der Wolgarepublik in ihren<br />

territorialen Grenzen ist dagegen nicht die Rede. Eine Verabschiedung des Gesetzes ist derzeit nicht in<br />

Sicht.<br />

Nationale Rayons in Westsibirien<br />

Die Deutschen Nationalen Rayons (ein Rayon entspricht einem Landkreis) Halbstadt in der Altai-Region<br />

und Asowo bei Omsk sind die einzigen Verwaltungseinheiten mit größeren Selbstbestimmungsmöglichkeiten<br />

für die Russlanddeutschen, die auf dem Gebiet der Nachfolgestaaten der ehemaligen Sowjetunion<br />

bis zum Jahr 2000 wieder eingerichtet wurden.<br />

Die Gesellschaft „Wiedergeburt“ arrangierte sich mit der Entwicklung. Sie sah in den Rayons eine<br />

Gefahr für ihr übergeordnetes Ziel der territorialen Rehabilitierung an der Wolga, die damals, 1991/92,<br />

erreichbar schien. Andere sahen in den Rayons den ersten wichtigen Schritt zum Ziel. Für die Bundesregierung<br />

stand der Ausbau der Rayons seit ihrer Gründung im Mittelpunkt der Förderung.<br />

Erste Siedlungsgründungen in Westsibirien durch Deutsche hatte es im Rahmen der russischen Sibirienbesiedlungspolitik<br />

bereits Ende des 18./Anfang des 19. Jahrhunderts gegeben. 1927 war der Rayon<br />

Halbstadt entstanden, wurde aber wie alle deutschen Rayons im Jahr 1938 aufgelöst. Die Bevölkerung<br />

entging jedoch der Deportation. Daher verfügte die Region 1991 über einen hohen Prozentsatz an alteingesessener<br />

russlanddeutscher Bevölkerung. Dorfgemeinschaften und ein weitgehend deutsch geprägtes<br />

kulturelles Umfeld konnten sich lokal erhalten.<br />

Halbstadt<br />

Am 1. Juli 1991 wurde der Deutsche Nationale Rayon Halbstadt wieder eingerichtet. Als Hauptort wurde<br />

Halbstadt bestimmt. Der Rayon liegt in der Nähe von Slawgorod. Er wurde durch den Zusammenschluss<br />

von 16 Dörfern mit insgesamt 20700 Einwohnern, davon 18600 Deutschen, erreicht. 1998/99 lebten im<br />

Gebiet des Rayons und in der Stadt Slawgorod circa 39000 Russlanddeutsche.<br />

Im Mai 1993 wurde die „Entwicklungsgesellschaft Halbstadt“ mit Sitz in Schumanowka gegründet, die<br />

den Aufbau des Rayons koordiniert und die Projekte verwaltet. In ihr zusammengeschlossen sind als<br />

Gesellschafter die GTZ und als örtliche Trägerin die „Brücke GmbH“.<br />

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AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />

GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />

Angesichts der schwierigen wirtschaftlichen Situation beinhaltete das Förderkonzept auch Infrastrukturmaßnahmen,<br />

wie den Aufbau der Rayonverwaltung, den Wohnungsbau und die Ansiedlung von<br />

Gewerbebetrieben. Ziel war es auch, Aussiedler aus anderen Republiken der ehemaligen Sowjetunion<br />

aufnehmen zu können.<br />

Zu den Maßnahmen zählen Ausbau und Ausrüstungshilfe für drei Molkereien, von zwei Schlachthöfen,<br />

einer Bäckerei und einer Straßenmeisterei und eines Bauhofs. Mit der Inbetriebnahme einer modernen<br />

Fleischverarbeitungsfabrik wurde das Wirtschaftsprogramm 1998 weitgehend abgeschlossen. Über die<br />

„Brücke GmbH“ fließen die Reingewinne der mit deutscher Hilfe errichteten Betriebe zu einem Teil in<br />

einen Sozialfonds, aus dem soziale Leistungen finanziert werden. Die Einwohner der Rayons können<br />

deutsche Kredite zum Bau von Häusern oder für den Aufbau einer beruflichen Existenz in Anspruch nehmen.<br />

Daneben wird durch die Förderung von Sprachunterricht in Kindergärten und Schulen, kulturellen<br />

Aktivitäten oder Medien eine umfangreiche Unterstützung auf kulturellem Gebiet gewährt. Im Rahmen<br />

medizinischer Hilfen wurde ein neues Krankenhaus ausgestattet. Zum Zeitpunkt seiner Gründung waren<br />

85 Prozent aller Arbeitsplätze der Landwirtschaft zuzurechnen. Die Neusiedler kamen dagegen zu einem<br />

großen Teil aus Städten und brachten keine entsprechende Qualifikation mit.<br />

Dies hatte einen Rückgang der landwirtschaftlichen Arbeitsplätze auf 65 Prozent zur Folge. Jedoch wurden<br />

in allen Bereichen bis Ende 1997 etwa 800 Arbeitsplätze neu geschaffen, das sind zehn Prozent aller<br />

Arbeitsplätze des Kreises. 200 davon entstanden im verarbeitenden Gewerbe, weitere 80 sollen in der<br />

Fleischfabrik entstehen.<br />

Dennoch liegt ein zentrales Problem des Rayons in der hohen Fluktuation. Wie alle Siedlungsgebiete in<br />

der ehemaligen Sowjetunion wurde auch das Rayongebiet von der Ausreisewelle erfasst. So wanderte<br />

ein großer Teil der alteingesessenen Bevölkerung, insbesondere fast alle Mennoniten, ab. 1996 lebten<br />

nur noch circa 40 Prozent der alteingesessenen Bevölkerung von 1992 im Rayon. Die Abwanderung wird<br />

durch Neusiedler (darunter auch russische Familien) kompensiert, die überwiegend aus Kasachstan und<br />

Kirgisistan kommen. Jährlich erfolgt ein Bevölkerungsaustausch von circa 15 Prozent bei gleich bleibender<br />

Gesamtbevölkerung des Rayons. Die Anteile der deutschen Bevölkerung schwankten 1996 in den<br />

einzelnen Ortschaften zwischen 28 Prozent und bis zu 88 Prozent (Klaube, 1997).<br />

Die Fluktuation zeigt Wirkung auf kulturellem Gebiet. Das Bundesministerium des Innern beschreibt die<br />

Situation in ihrer Informationsschrift „Deutscher nationaler Rayon Halbstadt nach fünf Jahren“ wie folgt:<br />

„Aufgrund der anhaltenden Migration unterliegt die nationale Zusammensetzung des Rayons Halbstadt<br />

einem ständigen Wandel, der sich auch auf die Pflege der deutschen Sprache und Kultur auswirkt. Zwar<br />

findet sich unter den Neuankömmlingen aus Kasachstan, Kirgisistan und anderen Republiken der ehemaligen<br />

Sowjetunion ein hoher Prozentanteil von Deutschstämmigen, doch die meisten von ihnen sind seit<br />

einer oder mehreren Generationen kulturell assimiliert und nicht mehr gewohnt, die eigene Muttersprache<br />

zu gebrauchen. Obwohl viele Kulturträger und Personen in fast allen Ortschaften daran mitwirken,<br />

der deutschen Sprache ihren traditionellen Stellenwert im Rayon zu erhalten, bedarf es dennoch weiterer<br />

Initiativen.“ Diese zielen mehr denn je darauf ab, das Neben- und Miteinander der russischen und der<br />

deutschen Kultur zu festigen.


AUTONOMIEBEWEGUNG – DIE SITUATION IN DER<br />

GEMEINSCHAFT UNABHÄNGIGER STAATEN (GUS) – BS 19<br />

Im April 1999 wurde in Gesprächen des Aussiedlerbeauftragten der Bundesregierung Jochen Welt und<br />

der politischen Vertretung des Altaiskij Kraj vereinbart, die Förderung über den Rayons hinaus auf den<br />

gesamten Altaijski Kraj auszudehnen. Ein Kraj ist eine Region mit einer starken Minderheit und besonderen<br />

Kompetenzen auf kulturellem Gebiet. Damit werden etwa 150000 Russlanddeutsche erreicht.<br />

Asowo<br />

Der Rayon Asowo bei Omsk wurde nach überwältigender Zustimmung der Bevölkerung in einem Referendum<br />

am 17. Februar 1992 durch die Zusammenlegung von acht Gemeinden. Zum Verwaltungszentrum<br />

wurde das Dorf Asowo bestimmt.<br />

Die Lage des Rayons in einem Gebiet mit rund 100.000 Deutschen machte ihn schnell zu einem Anziehungspunkt<br />

für Neusiedler aus Mittelasien und Kasachstan. Dabei verfolgte der Rayon Asowo eine von<br />

Halbstadt abweichende Ansiedlungspolitik. Während in Halbstadt Neusiedler nur in dem Maße aufgenommen<br />

wurden, wie Wohnraum und Arbeitsplätze vorhanden waren, gab es in Asowo keine derartige<br />

Beschränkung. Mit Unterstützung der Bundesrepublik Deutschland wurden Wohncontainer als<br />

Übergangsunterkünfte aufgestellt. Als problematisch erwies sich bei diesem Vorgehen jedoch, dass die<br />

Schaffung von Arbeitsplätzen durch die russischen Behörden nicht mit dem Zuzug der Neusiedler Schritt<br />

hielt. So wurden Arbeitslosigkeit und Mangel an Wohnraum, der trotz umfangreicher Bautätigkeit und<br />

der Vergabe von Krediten zum Wohnungserwerb noch nicht bewältigt werden konnte, zum Problem.<br />

Deshalb ist es nicht selten, dass Familien mehrere Jahre in Containern leben.<br />

Zu den mit deutscher Hilfe durchgeführten Maßnahmen zählten auch große Infrastrukturprojekte wie<br />

Straßenbau sowie die Strom- und Wasserversorgung. Die wirtschaftliche Entwicklung des Rayons blieb<br />

hinter den Erwartungen zurück, so dass der Kreishaushalt fünf Jahre nach der Gründung des Rayons<br />

defizitär war. Die Industrieproduktion sank von 1995 bis 1996 auf 93,6 Prozent, die Produktion von<br />

Konsumwaren auf 77 Prozent und die der Nahrungsmittel auf 72,3 Prozent. Ebenso rückläufig waren<br />

Ackerbau und Viehzucht, wie „Ihre Zeitung“, die wöchentlich erscheinende Zeitung des Rayons, in ihrer<br />

Ausgabe Nr. 15/1997 berichtet. Erfolge sind dagegen auf kulturellem Gebiet und bei der Versorgung der<br />

Bevölkerung mit medizinischen Einrichtungen zu verzeichnen.<br />

Auch im Landkreis Asowo gibt es eine starke Fluktuation. Insbesondere durch Zuwanderer, die in national<br />

gemischten Ehen leben, verändert sich die Bevölkerungsstruktur. Waren 1992 noch 63 Prozent der<br />

Einwohner Deutsche, sank ihr Anteil bis Januar 1998 nach Angaben von Landrat Bruno Reiter auf circa<br />

50 Prozent.<br />

Die Entscheidung der neuen Bundesregierung, zugunsten einer Breitenförderung in den Bereichen<br />

Sprache, Kultur und Bildung nicht weiter an Großprojekten festzuhalten, betrifft auch die beiden Rayons.<br />

So soll in Asowo der Bau einer Ziegelei zu einem verträglichen Abschluss gebracht werden. Wirtschaftliche<br />

und Existenzgründungsbeihilfen werden nur auf dem Weg der Kreditvergabe erfolgen.<br />

Quelle: http://www.bpb.de/publikationen<br />

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DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />

Auszüge<br />

20 Jahre Perestroika<br />

Aus Anlass des Jubiläums zeigte PHOENIX am 06. Juli 2005 ab 14.45 Uhr die Festveranstaltung des Petersburger<br />

Dialogs. Gäste sind u.a. der ehemalige Präsident der Sowjetunion Michail Gorbatschow und<br />

der ehemalige Bundespräsident Richard von Weizsäcker.<br />

Am 11. März 1985 wurde Michail Gorbatschow zum Generalsekretär der KPdSU gewählt. Es war der<br />

Beginn einer neuen politischen Entwicklung, die grundlegenden Einfluss auf unsere heutige Weltordnung<br />

haben sollte.<br />

Glasnost und Perestroika<br />

Zwei Leitbegriffe prägen die 1985 von Michail Gorbatschow eingeführte Reformpolitik: Perestroika und<br />

Glasnost. Mit ihrer Verkündung will der damalige Generalsekretär der Kommunistischen Partei der Sowjetunion<br />

(KPdSU) einschneidende Veränderungen innerhalb der kommunistischen Ordnung durchsetzen.<br />

Beide Begriffe werden in den internationalen Sprachgebrauch eingehen.<br />

Umbau und Offenheit<br />

„Perestroika“, der russische Ausdruck für „Umbau“ beschreibt den wirtschaftlichen Aspekt der Reformen.<br />

Entscheidungsprozesse in der Wirtschaft sollen für die Bürger transparenter gemacht und ihre<br />

Mitbestimmungsrechte ausgeweitet werden. Handel und Industrie sollen vorangetrieben werden und<br />

die Betriebe mehr Selbständigkeit erhalten.<br />

Zitat: „Die Umgestaltung ist kein Spaziergang auf einem planierten Weg. Es ist die Besteigung eines Berges,<br />

häufig auf Pfaden, die noch nie jemand begangen hat.“ (Michail Gorbatschow im Januar 1987)<br />

Die einhergehende gesellschaftliche Öffnung der UdSSR wird als „Glasnost“ (russ.: Offenheit) bezeichnet.<br />

Sie steht für die Einführung des Rechts auf freie Meinungsäußerung und Pressefreiheit. Glasnost soll den<br />

Bürgern eine gewisse öffentliche Kontrolle über den Partei- und Staatsapparat ermöglichen und helfen,<br />

die beabsichtigten Reformen durchzusetzen.<br />

Demokratie und Veränderung im bestehenden System<br />

Gorbatschow will das kommunistische System nicht abschaffen, sondern erneuern, es im Innern demokratisieren.<br />

Er fordert betriebliches Mitbestimmungsrecht in den Belegschaften und Eigentum an Produktionsmitteln<br />

im Sinne der freien Marktwirtschaft. Die Produktion soll sich stärker an der Nachfrage<br />

orientieren und ein demokratisches Wahlsystem die totalitären Machtstrukturen aufweichen.<br />

Die Sinatra-Doktrin<br />

In Anspielung auf dessen Lied „My Way“ wurde die Doktrin nach Frank Sinatra benannt. Der Name<br />

der Doktrin betonte, dass die Warschauer Pakt-Staaten von nun an ihren Weg gehen konnten, sie Souveränität<br />

in inneren Angelegenheiten erlangten und politische, wirtschaftliche und soziale Reformen<br />

durchführen konnten. Die bis zu diesem Zeitpunkt gültige Breschnew-Doktrin, welche die sozialistischen<br />

Staaten unter die Kontrolle und Bevormundung Moskaus gestellt hatte, wurde von der Sinatra-Doktrin<br />

abgelöst.<br />

Außenpolitischer Wandel<br />

Zu Gorbatschows wichtigsten Zielen gehört die Verbesserung der internationalen Beziehungen, vor allem<br />

die Entspannung zwischen Ost und West. 1986 erklären Gorbatschow, der seit 1985 auch Vorsitzender<br />

des Nationalen Verteidigungsrates der UdSSR ist, und US-Präsident Ronald Reagan ihren Willen zur<br />

Abrüstung.


DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />

Im folgenden Jahr unterzeichnen beide den INF-Vertrag (Intermediate Range Nuclear Forces Treaty). Dieser<br />

sieht den Abbau aller nuklearen Mittelstreckenraketen vor.<br />

1989 ermöglicht es Gorbatschows so genannte Sinatra-Doktrin den Warschauer Pakt-Staaten ihre inneren<br />

Angelegenheiten souverän zu regeln. Sie führt letztendlich zum Fall der Mauer und zum Ende des<br />

Kalten Krieges.<br />

Im folgenden Jahr wird Michail Gorbatschow der erste gewählte Präsident der Sowjetunion. Er verkündet<br />

das Ende des Warschauer Paktes und zieht die in der DDR, Polen, Tschechoslowakei und Ungarn stationierten<br />

Sowjet-Truppen ab.<br />

Mit Präsident Reagan verhandelt er über den beidseitigen Abbau von Atomwaffen. Im START-Vertrag<br />

(Strategic Arms Reduction Treaty) einigen sie sich 1991 auf den 50prozentigen Abbau der strategischen<br />

Atomwaffen. Im selben Jahr wird Gorbatschow für seine Bemühungen im Abrüstungsprozess und die<br />

Auflösung des Warschauer Paktes mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet.<br />

Das Ende der Sowjetunion<br />

Konservative, reformfeindliche Kräfte versuchen im August 1991 Gorbatschow zu stürzen. Sie wollen die<br />

UdSSR und die Macht der KPdSU erhalten. Der Putschversuch scheitert jedoch, nicht zuletzt, weil Boris<br />

Jelzin, damaliger Parlamentspräsident Russlands, sich öffentlich gegen den Aufstand ausspricht. Das<br />

mangelnde Konzept und der Widerstand der Bevölkerung tun ein Übriges.<br />

Dennoch hat der Putsch weit reichende Konsequenzen. Boris Jelzin beansprucht in Folge des Aufstandes<br />

die Staatsgewalt. Gorbatschows Einfluss ist durch den Putsch und Jelzins Machtdemonstration geschwunden.<br />

Gorbatschow reagiert. Er vereinbart mit Jelzin die Auflösung der UdSSR zum 21. Dezember<br />

1991.<br />

Mit der anschließenden Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) „stirbt“ die UdSSR.<br />

Gorbatschow tritt am 25. Dezember von seinem Amt als deren Präsident zurück. Russland wird Rechtsnachfolger<br />

der UdSSR.<br />

Nicht die Perestroika, der Umbau der Sowjetunion, hatte stattgefunden, sondern ihr Zerfall. Für die internationalen<br />

Beziehungen und die Weltordnung waren Gorbatschows Reformen dennoch ein großer<br />

Erfolg: Sie trugen maßgeblich zur Entspannung zwischen Ost und West bei, beendeten den Kalten Krieg<br />

und legten den Grundstein zur Wiedervereinigung Deutschlands.<br />

Inga Schwer, PHOENIX.online<br />

Quelle: http://www.russlanddeutschegeschichte.de/deutsch4/perestroika_glasnost.htm<br />

Perestroika, Glasnost und die Russlanddeutschen<br />

Perestroika und Glasnost, die mit der Wahl Michail Gorbatschows zum Generalsekretär der KPdSU und<br />

Ministerpräsidenten der UdSSR 1985 eingeleitete Politik, brachten den Russlanddeutschen positive<br />

Veränderungen.<br />

Für seine Bestrebungen, das gesellschaftliche Leben in der UdSSR zu demokratisieren und die Wirtschaftskraft<br />

zu erhöhen, suchte er Akzeptanz und Unterstützung der eigenen Bevölkerung und der<br />

westlichen Welt.<br />

Den Russlanddeutschen wurden Zugeständnisse gemacht. Im Zuge innenpolitischer Veränderungen<br />

konnten nun auch bisherige Tabuthemen aus der Geschichte der Russlanddeutschen wie Deportation,<br />

Arbeitslager oder Autonomiebewegung öffentlich diskutiert werden.<br />

Russlanddeutschen entfalteten rege Aktivitäten in allen Bereichen des kulturellen Lebens, wobei sie die<br />

Probleme des Schulwesens (Mangel an Lehrbüchern und Arbeitsmaterialien, ausgebildeten Lehrkräften<br />

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39,2<br />

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39,3<br />

68<br />

DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />

für den Deutschunterricht) aber nicht überwinden konnten.<br />

Die Entspannungspolitik Gorbatschows machte schließlich die Übersiedlung vieler Russlanddeutscher in<br />

die BRD erst möglich.<br />

1986 wurden die Ausreisebestimmungen liberalisiert und ein ganzes Paket von Maßnahmen für die<br />

Russlanddeutschen 1986 beschlossen.<br />

Einige Vertreter der Russlanddeutschen griffen die Autonomiebestrebungen wieder auf, wobei sie die<br />

frühere Wolgarepublik vor Augen hatten. Auch dieses Thema konnte nun öffentlich diskutiert werden.<br />

Im Zuge der dabei in Gang gekommenen Diskussion wurde im März 1989 die Gesellschaft "Wiedergeburt"<br />

gegründet.<br />

Das Scheitern der Perestroika und der Zerfall der UdSSR Ende 1991bedeuteten auch das Scheitern der<br />

Autonomiebewegung. Lediglich zwei deutsche Landkreise (Rayons) wurden gebildet: Halbstadt und<br />

Asowo.<br />

Diese Entwicklung ließ die Zahl der Aussiedler erneut in die Höhe schnellen.<br />

Maßnahmen für Russlanddeutsche (1986)<br />

1990 antwortete der damalige sowjetische Staatspräsident Michail Gorbatschow auf die Frage nach der<br />

Situation der Russlanddeutschen:<br />

"Die Sowjetdeutschen werden aus vielen Gründen sehr geschätzt, und niemand will, dass sie das Land<br />

verlassen. Wo immer heute Deutsche in der Sowjetunion leben, möchten ihre Mitbürger sie als Nachbarn<br />

behalten und sind besorgt, dass sie in andere Regionen unseres Landes umsiedeln könnten…"<br />

Um die Deutschen zum Bleiben in der Sowjetunion zu bewegen, wurden in der zweiten Hälfte der achtziger<br />

Jahre eine Reihe staatlicher Maßnahmen ergriffen.<br />

Ein wichtiger Punkt betraf den Muttersprachenunterricht. Dafür wurde 1986 ein "Pogramm für den muttersprachlichen<br />

Deutsch- und Literaturunterricht in den Klassen 5 bis 11" neu erarbeitet. Das Ansehen<br />

von Institutionen und Kultureinrichtungen der deutschen Minderheit sollte erhöht werden.<br />

Das kirchliche Leben verbunden mit der legalen Etablierung von evangelisch-lutherischen und katholischen<br />

Gemeinden bekam unter der Politik von Glasnost und Perestroika einen neuen Aufschwung.<br />

Muttersprachenunterricht<br />

Die Situation des muttersprachlichen Deutschunterrichts in Kasachstan in jener Zeit wird von D. Friesen<br />

(von 1960-63 Schulinspektor im Bildungsministerium Kasachstans für den fremd- bzw. muttersprachlichen<br />

Deutschunterricht) folgendermaßen geschildert:<br />

"[Es] bestand der größte Mangel damals (und besteht heute noch) darin, daß die Schulen, die Bildungsämter<br />

sowie die örtlichen Partei- und Sowjetorgane die Bedeutung, die das Erlernen der deutschen<br />

Muttersprache mit sich bringt, unterschätzen und diesbezüglich keine genügende Aufklärungsarbeit<br />

leisten. Es fehlte und fehlt die materielle Basis: Programme, entsprechende Lehrbücher, methodische<br />

Hilfs-, Anschauungs- und technische Unterrichtsmittel. Besonders große Schwierigkeiten bereitete aber<br />

das Fehlen fachkundiger Lehrkräfte.<br />

In vielen Achtklassen- und Mittelschulen der Republik wurde im Schuljahr 1957-1958 sogar das Fach<br />

Fremdsprache nicht unterrichtet, denn es gab dafür einfach keine Lehrer".


DER ZERFALL DER SOWJETUNION – BS 20<br />

Neue Ausreisebestimmungen<br />

Bereits 1957 lagen den sowjetischen Behörden ca. 80.000 bis 100.000 Ausreiseanträge von Russlanddeutschen<br />

vor. Am 16. August 1958 durften die ersten 1.000 Deutschen vorwiegend aus Gründen der<br />

Familienzusammenführung ausreisen.<br />

Aber die sowjetischen Behörden entschieden über Genehmigung oder Ablehnung willkürlich. Dabei<br />

spielte der aktuelle Stand der Beziehungen zwischen der UdSSR und der BRD immer eine wesentliche<br />

Rolle.<br />

Anfang der siebziger Jahre war es zu verstärkten Ausreiseforderungen gekommen, auf die die Behörden<br />

hart reagierten. Die Zahl der Ausreisegenehmigungen ging zurück. In dieser Zeit gelangten Russlanddeutsche,<br />

deren Ausreiseanträge abgelehnt worden waren, zum Teil über die baltischen und die Moldauische<br />

Sowjetrepubliken ins westliche Ausland. Die Behörden handhabten hier die Ausreiseanträge weniger<br />

streng. Anfang der achtziger Jahre gelang es aber weniger als 1.000 Personen pro Jahr, die Sowjetunion<br />

auf diesem Wege zu verlassen.<br />

Nach Gorbatschows Machtantritt 1985 wurden die Ausreiseanträge liberaler gehandhabt, dadurch stieg<br />

die Zahl der Aussiedler von Jahr zu Jahr. Am 28. August 1987 wurde das "Gesetz über Ein- und Ausreise"<br />

verabschiedet. Es kam nun zu einem enormen Anstieg der Ausreisebewilligungen in die BRD.<br />

Im Oktober 1989 bewilligte der Oberste Sowjet dazu ein Reisegesetz, das das Recht auf freie Ausreise<br />

anerkannte und nicht nur zum Zweck einer Familienzusammenführung zuließ. Im Mai 1991 wurde das<br />

Gesetz unter dem neuen Präsidenten Russlands, Boris Jelzin, bestätigt und ab 1. Januar 1993 in Kraft<br />

gesetzt.<br />

Quelle: http://www.phoenix.de/27442.htm<br />

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39,4<br />

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40,1<br />

70<br />

HEIMAT, WO BIST DU? – BS 21<br />

Verantwortung für die Schicksalsgemeinschaft der Russlanddeutschen<br />

Im April 1991 verabschiedete der Oberste Sowjet der Russischen Sowjetrepublik ein Gesetz „Über die<br />

Rehabilitierung der repressierten Völker“, das nach dem Zerfall der Sowjetunion in den Rechtsbestand<br />

der Russischen Förderation übernommen wurde und zur Aufarbeitung von Unrechtsakten aufforderte,<br />

die der sowjetische Staat gegen bestimmte Nationalitäten seines Staatsgebietes ausgeübt hatte. Durch<br />

die Überwindung der Folgen früherer Willkür gegen eigene Völkerschaften sollten Grundlagen für zukünftige<br />

gerechte und stabile interethnische Beziehungen in Russland gelegt werden.<br />

Zu den Betroffenen der aufzuarbeitenden national motivierten Diskriminierung und Entrechtung gehören<br />

die Deutschen, die sich als Russlanddeutsche (Sowjetdeutsche) im Laufe von über 250 Jahren beträchtliche<br />

Verdienste um Wirtschaft, Wissenschaft, Kultur und Staatsaufbau des Landes erworben hatten und<br />

dennoch besonderen Repressionen ausgesetzt waren.<br />

Das Anliegen dieser Gesetzgebung ist bisher nur teilweise eingelöst.<br />

Inzwischen liegt der russischen Duma bereits die neunte Version eines Gesetzes zur Rehabilitierung der<br />

Russlanddeutschen vor. Das russische Parlament tut sich mit einer Entscheidung zugunsten der deutschen<br />

Volksgruppe schwer, die vor allem nach Hitlers Überfall auf die Sowjetunion zu unschuldigen und wehrlosen<br />

Opfern von Stalins Rache wurde - einer Rache, die er wahllos an allen übte, die im sowjetischen<br />

Pass den Eintrag der deutschen Nationalität trugen.<br />

So notwendig uns eine gesetzliche Rehabilitierung der Russlanddeutschen erscheinen mag, der deutsche<br />

Staat kann auf den russischen Gesetzgeber kaum Einfluss nehmen. Während aber das russische Parlament<br />

um Rehabilitierung für die Russlanddeutschen ringt, muss sich die deutsche Politik kritisch die Frage<br />

stellen, ob sie die Aufgabe noch ernst nimmt, das schwere Kriegsfolgenschicksal dieser Deutschen in den<br />

Nachfolgestaaten der Sowjetunion überwinden zu helfen.<br />

Gewiss, es hat in diesem Zusammenhang beachtliche Leistungen zur Verbesserung der Lebenssituation<br />

gegeben, um den Bleibewillen der Deutschen in den Herkunftsgebieten zu stärken. Man mag zu Recht<br />

auf die Aufnahme und Unterstützung der Spätaussiedler verweisen, die zur erfolgreichen Integration<br />

von über 2 Mio. Deutschen aus Russland in unsere Gesellschaft geführt hat. Aber gerade vor dem Hintergrund<br />

erfolgreicher Bemühungen der Vergangenheit erscheint manche Diskussion, die dieser Tage<br />

sogar von Länderinnenministern geführt wird, den grundsätzlichen Verpflichtungen zur Hilfe bei der<br />

Überwindung der Folgen des Kriegsschicksals wenig angemessen.<br />

In den Wirbeln einer allgemeinen Integrationsdebatte, die vor allem von den Fragen der Integration von<br />

Zuwanderern aus muslimisch geprägten Kulturkreisen bestimmt wird, droht die spezifische Verantwortung<br />

unterzugehen, die der deutsche Staat gegenüber den Deutschen aus den Nachfolgestaaten der<br />

Sowjetunion übernommen hat.<br />

Unleugbare Probleme, die es auch bei der Integration von Russlanddeutschen in der Bundesrepublik gibt,<br />

werden eher verschärft als gelöst, wenn man bei ihrer Erörterung die spezifischen Voraussetzungen des<br />

Zuzugs von Spätaussiedlern missachtet.


HEIMAT, WO BIST DU? – BS 21<br />

Ausländerrechtliche Beschränkungen, die etwa der Unterbindung des Familiennachzuges von Zwangsverheirateten<br />

aus Anatolien dienen sollen, drohen unversehens zum Hinderungsgrund für die integrationspolitisch<br />

wünschenswerte gemeinsame Ausreise russlanddeutscher Kernfamilien zu werden.<br />

Wer im gesellschaftlichen Leben unseres Landes heimisch werden will, braucht deutsche Sprachkenntnisse.<br />

Die apodiktische Forderung an russlanddeutsche Familien nach dem Nachweis eines bestandenen<br />

Sprachtestes als Voraussetzung für eine Aufnahme in Deutschland verkennt aber wesentliche Aspekte<br />

der Entwicklung dieser Volksgruppe. Es war die stalinsche Repressionspolitik, die dazu führte, dass die<br />

Menschen trotz ihrer im Pass und Namen erkennbaren Nationalität vielerorts nicht mehr als deutsche<br />

Sprachgemeinschaft – wohl aber als deutsche Schicksalsgemeinschaft leben.<br />

Wir stehen also vor der Frage, ob wir bei unseren Bemühungen um nachhaltige Integration von Zuwanderern<br />

bereit sind, der besonderen Verantwortung für Spätaussiedler den erforderlichen Raum zu<br />

geben.<br />

Die Bereitschaft der Bundesrepublik Deutschland, nach Holocaust und Weltkriegskatastrophe im Bewusstsein<br />

nationaler Verantwortung eine Politik aktiver Kriegsfolgenbewältigung zu betreiben, war zweifellos<br />

ein moralisches Gebot. Diese Politik hat sich aber auch als außerordentlich erfolgreich erwiesen. Ihre<br />

Resultate reichen vom europäischen Einigungsprozess bis zur Wiedererlangung der deutschen Einheit.<br />

Aussiedlerpolitik hat als Beitrag zur Bewältigung von Kriegsfolgen immer einen besonderen Stellenwert<br />

gehabt und verdient ihn auch weiterhin. Es war das besondere Verdienst der damaligen Bundesregierung,<br />

namentlich von Horst Waffenschmidt, dass sie unmittelbar nach dem Fall des Eisernen Vorhanges<br />

unseren besonderen Verpflichtungen gegenüber den Russlanddeutschen engagiert nachgegangen ist.<br />

Diese Politik braucht unter den gegebenen Umständen eine angemessene Fortsetzung. Ihr besonderes<br />

Anliegen darf im Getöse einer undifferenzierten Integrationsdebatte nicht untergehen.<br />

Nur so werden wir auch die Chancen dieser Politik nutzen können, die darin besteht, dass Russlanddeutsche<br />

kulturelle und wirtschaftliche Brücken zwischen Deutschland und Russland, aber auch zu den<br />

mittelasiatischen Staaten der ehemaligen Sowjetunion schlagen können.<br />

Solche Brücken schaffen ein authentisches Band menschlicher Beziehungen und befördern damit eine<br />

staatliche Partnerschaft, die in unser aller Interesse liegt.<br />

Quelle: http://www.bmi.bund.de/cln_028/nn_122304/Internet/Content/Themen/Aussiedlerbeauftragter/Daten-<br />

undFakten/Verantwortung__fuer__Schicksalsgemeinschaft__Russlanddeutsche.html<br />

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71


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41,1<br />

72<br />

MUTTERSPRACHE – BS 23<br />

Muttersprache - omdlm gzi (Heimatsprache)<br />

Bildquelle: www.auslandsjahr.eu/.../10/russische-woerter.jpg<br />

Das Lexikon<br />

Muttersprache, die beim primären Spracherwerb des Kindes gelernte Sprache im Unterschied zur später<br />

erlernten Fremdsprache. Im Allgemeinen hat der Mensch nur eine Muttersprache; bei Mehrsprachigkeit<br />

werden zwei Sprachen häufig nicht in gleicher Weise vollständig beherrscht, sondern in verschiedenen<br />

Bereichen angewendet: die eigentliche Muttersprache z. B. im privaten, eine zweite Sprache im öffentlichen<br />

Bereich.<br />

http://lexikon.meyers.de/meyers/Muttersprache<br />

Das Thüringische Landesministerium<br />

Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund<br />

1 Allgemeine Grundsätze<br />

Diese Verwaltungsvorschrift gilt für den Unterricht von Schülerinnen und Schülern mit Migrationshintergrund,<br />

deren Muttersprache oder Herkunftssprache nicht Deutsch ist.<br />

Das Ziel dieser besonderen Bestimmungen ist es einerseits, eine möglichst gute Integration in das Schulwesen<br />

und das Erreichen schulischer Abschlüsse zu fördern (§1 Abs. 2 Satz 3 SchG) und andererseits<br />

einen Beitrag zur Persönlichkeitsbildung von Schülerinnen und Schülern unter bikulturellen Bedingungen<br />

zu leisten. Zugleich sollen alle Schülerinnen und Schüler ihre Fähigkeiten stärken, mit Menschen verschiedener<br />

Sprachen und Kulturen zu leben und zu lernen.<br />

Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Frauen und Jugend in Thüringen vom 22. November<br />

2006 (943 B – Tgb.Nr. 3097/05) Bezug: Verwaltungsvorschrift des Ministeriums für Bildung, Wissenschaft<br />

und Weiterbildung in Thüringen vom 28. August 2000 (1544 B - Tgb. Nr. 3578/00, GAmtsbl. S.454,<br />

berichtigt S. 694)


MUTTERSPRACHE – BS 23<br />

Die Russlanddeutschen und die Sprache<br />

Die Alltagssprache der Kolonisten blieb lange Zeit Deutsch - geprägt durch die Mundart der jeweiligen<br />

Gegend, aus der sie kamen. Im Lauf der Zeit vermischten sich diese Mundarten miteinander. In den<br />

Schulen wurde auf Deutsch unterrichtet, in der Kirche und zu Hause wurde Deutsch gesprochen. Durch<br />

die Abgeschlossenheit der Siedlungen entstanden regelrechte "Sprachinseln". Sprachkontakte zur<br />

russischen Bevölkerung waren spärlich. Die ständige Verschlechterung der Schulsituation, vor allem der<br />

Lehrermangel, führte dazu, dass in den 30er Jahren des 19. Jahrhunderts Zentralschulen für die Russlanddeutschen<br />

gegründet wurden. Hier wurde zwar schon auf Russisch unterrichtet, Deutsch gehörte<br />

aber nach wie vor zu den Schulfächern.<br />

•<br />

•<br />

•<br />

•<br />

Ab 1871 wurden an den deutschen Schulen nur noch Lehrer mit russischem Examen zugelassen.<br />

Dies führte dazu, dass Schüler und Lehrer sich oft nicht einmal verständigen konnten. Erst 1905<br />

durfte Deutsch wieder unterrichtet werden.<br />

1914 erfolgte das Verbot der deutschen Sprache in der Öffentlichkeit. 1915 mussten deutsche Zeitungen<br />

eingestellt werden, deutsche Bücher durften nicht mehr gedruckt werden. Als Alltagssprache<br />

wurde dennoch weiter der jeweilige deutsche Dialekt verwendet. Nach der Oktoberrevolution änderten<br />

sich die Verhältnisse: Das deutschsprachige Bildungswesen lebte wieder auf, Theater und Verlage<br />

wurden gegründet. 1933 nahmen die Bemühungen der Regierung um eine Russifizierung wieder zu.<br />

Die Tatsache, dass viele der Russlanddeutschen nur wenig Russisch beherrschten, wurde gerügt.<br />

Während des Zweiten Weltkriegs wurde die Sprache der Russlanddeutschen zur "Sprache der Faschisten"<br />

erklärt. Im Juli 1941 begann dann die massenhafte Deportation der Deutschen nach Sibirien<br />

und Mittelasien. Geschlossene deutsche Siedlungen gab es ab diesem Zeitpunkt nicht mehr, die<br />

öffentliche Sprache in allen Siedlungen war russisch.<br />

Deutsch als Muttersprache: 1926 gaben dies noch 95 Prozent der Russlanddeutschen an. 1959<br />

waren es noch 75 Prozent, 1989 nur noch 48,7 Prozent. Von denjenigen, die inzwischen als Spätaussiedler<br />

nach Deutschland kommen, haben nur 20 Prozent Deutschkenntnisse. Grund dafür ist<br />

unter anderem die hohe Zahl der nicht-deutschstämmigen Familienangehörigen.<br />

http://www.wissen.swr.de/sf/wissenspool/bg0074/deutsch_als_zweitsprache/wissen/russlanddeutsche_sprache.<br />

html<br />

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41,2<br />

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MUTTERSPRACHE – BS 23<br />

Ein Gedicht der russlanddeutschen Dichterin Erna Hummel<br />

An meine Muttersprache<br />

Durch dich verlor ich einst mein Vaterhaus.<br />

Erniedrigt mußt’ ich in die Welt hinaus<br />

Doch deiner Lieder traute Melodien<br />

Ließ leise ich in meine Seele zieh.<br />

Als deinetwegen ich im Staube lag,<br />

warst du es doch, die neue Kraft mir gab.<br />

Und wenn man deinetwegen mich verhöhnt,<br />

hab ich mit meiner Liebe dich gekrönt.<br />

Und als der Tod durch Menschenreihen schlich<br />

und Grab um Grab sich öffnete für dich,<br />

du bliebst mir nah, ich habe dich geliebt,<br />

du warst für mich mein allerschönstes Lied.<br />

Wo man verächtlich dreimal dich verflucht,<br />

hab´ ich dein Wort, dein zärtlich Wort gesucht.<br />

Und wenn kein Freund mehr klopfte an die Tür,<br />

warst du mein Trost – ich flüchtete zu dir.<br />

Im tiefsten Elend und im größten Schmerz<br />

Gehörte dir mein schuldlos schuldig Herz.<br />

Ein Tränenmeer hat meinen Blick getrübt,<br />

wenn Freveltaten man an dir geübt.<br />

Auch hier warst du und sagtest: „Weine nicht!<br />

Die Wahrheit siegt, wirft über mich ihr Licht.<br />

Still eine Träne, denn der Tag ist nah,<br />

wo du erfährst, wie Unrecht mir geschah.“<br />

Ich glaubte dir und jubelte dir zu<br />

Und fand durch dich auch die ersehnte Ruh´.<br />

Aus deinen Quellen schöpfte ich den Saft,<br />

der mich gesund und lebensfroh gemacht.<br />

Wenn ich im Staub auch deinetwegen lag,<br />

bliebst du die Kraft, die neue Hoffnung gab,<br />

wenn ich auch tausendmal durch dich verlor,<br />

ein Hoch dem Glück, das ich durch dich erkor!<br />

Und was bedeutet die Muttersprache für Sie? Diskutieren Sie in der Gruppe.<br />

Erstellen und gestalten Sie gemeinsam eine Mindmap als Präsentation!<br />

„Zwischen den Kulturen“, 6. Auflage – 2002, Seite 13


SCHLÜSSEL ZUM ERFOLG IST DIE SPRACHE – ZEITUNGSARTI-<br />

KEL LAHNDILL – BS 24<br />

„Schlüssel zum Erfolg ist die Sprache“<br />

Schulen entwickeln Konzepte<br />

Von Maike Sophie Wessolowski (0 64 41) 95 95 58<br />

m.wessolowski@mittelhessen.de<br />

Wiesbaden/Bad Endbach/Mengerskirchen. In ihrem Pass steht „deutsch“, doch die achtjährige Helena ist in Kasachstan aufgewachsen und spricht<br />

kein Wort in dieser für sie fremden Sprache. „Es gibt keine Zahlen über Russlanddeutsche an hessischen Schulen, da diese als Deutsche gelten<br />

und nicht gesondert erfasst werden“, sagt Christian Boergen, Sprecher des hessischen Kultusministeriums. Helena hilft das nicht. Sie muss schnell<br />

Deutsch lernen, um mit den anderen Kindern mithalten zu können. Schulen in Mittelhessen mit einem hohen Anteil an Aussiedlerkindern haben<br />

ihre eigenen Integrationsprogramme entwickelt – mit Tanzunterricht, Russisch als erster Fremdsprache und Lehrern, die aus der ehemaligen Sowjetunion<br />

stammen.<br />

„Alle Kinder mit Sprachproblemen können am Förderkonzept teilnehmen“,<br />

sagt Ministeriumssprecher Boergen (siehe „Stichwort: Förderkonzept“).<br />

„Die Schulen müssen dieses Konzept selbst mit Leben füllen, das ist das<br />

Prinzip der eigenverantwortlichen Schule. Wir geben nur die Zielvorgabe“,<br />

sagt Boergen weiter.<br />

„Ich kümmere mich drum“, hatte Uwe Rademer, Mitte der 90er Jahre Konrektor<br />

der Mittelpunktschule in Hartenrod im Landkreis Marburg-Biedenkopf,<br />

gesagt, als die ersten Aussiedler in die Gemeinde Bad Endbach kamen.<br />

„Es kamen aber nicht zwei, drei Schüler sondern über 100. Unsere Schülerzahl<br />

stieg von etwa 400 auf 600 an“, erinnert sich der heute 65- Jährige.<br />

Rademer und seine Kollegen mussten eigene Regeln aufstellen: „Ich habe<br />

versucht, so viele Kinder wie möglich in den Realschulklassen unterzubringen,<br />

da ist das soziale Klima besser. Vielen Schülern konnte man dort besser<br />

vermitteln, dass sie Rücksicht auf ihre neuen Mitschüler nehmen“, sagt der<br />

ehemalige Deutschlehrer.<br />

Sprachkurse gaben er oder Kollegen teilweise am Nachmittag. Rademer,<br />

inzwischen pensioniert, aber noch als Vertretungslehrer an der Schule tätig,<br />

ist stolz, dass viele von seinen ehemaligen Schützlingen voll integriert sind,<br />

teilweise studieren, und viele Kontakt zu ihrem ehemaligen Lehrer halten.<br />

Christian Boergen ist erfreut, dass eine wachsende Zahl Eltern freiwilligen<br />

Integrationsprogrammen zustimmt: „96 Prozent aller Eltern, die Kinder mit<br />

Sprachproblemen haben, stimmen freiwilligen Förderkonzepten im Vorschulalter<br />

zu“, heißt es aus dem Ministerium.<br />

Für die aus Lettland stammende Deutschlehrerin Lili Gede (51) liegt genau<br />

dort ein aktuelles Problem der Zuwandererkinder: „Die ersten Familien, die<br />

aus der ehemaligen Sowjetunion kamen, sprachen noch deutsch oder hatten<br />

den Willen, dass ihre Kinder die Sprache lernen. Viele der Eltern die jetzt<br />

kommen, unterstützen ihre Kinder nicht und sprechen zu Hause viel russisch.<br />

Das können wir nicht auffangen“, sagt die Lehrerin, die seit 1995 an der<br />

Fritz-Leuninger-Grundschule in Mengerskirchen im Landkreis Limburg-<br />

Weilburg Deutsch-Förderkurse und Hausaufgabenhilfe leitet. 325 Kinder<br />

besuchen die Schule, etwa 20 Prozent stammen aus Aussiedlerfamilien.<br />

■ „Die Eltern heute erwarten, dass wir die schulische Betreuung<br />

ganz übernehmen“<br />

„Diese Eltern sehen nicht, dass die Hausaufgabenhilfe eine freiwillige Leistung<br />

der Schule ist, sondern fordern quasi, dass wir die ganze Schülererziehung<br />

ihrer Kinder übernehmen“, sagt Gedes aus Kasachstan stammende<br />

Kollegin Katharina Becker (49), die seit 2001 an der Grundschule arbeitet.<br />

Finanziert wird der zusätzliche Förderunterricht über den Förderverein der<br />

Schule. Nur eine der beiden befristeten Lehrer-Stellen bezahlt der Kreis. Die<br />

Rektorin der Fritz-Leuninger-Schule, Nicole Wegmann (36), hat gemeinsam<br />

mit den Kindergärten der Umgebung und der Westerwaldschule im Nachbarort<br />

Waldernbach (Kreis Limburg-Weilburg) ein Lern- und Integrationskonzept<br />

erstellt, das eine einheitliche Förderung von 0 bis 16 Jahren ermöglicht.<br />

„Integration findet auch außerhalb des Unterrichts statt. Wir bieten 17 Arbeitsgemeinschaften<br />

an. Tanz-AGs und Mathematik für Asse werden von<br />

den Aussiedlerkindern besonders gerne belegt.“ Manuela Gros, Leiterin der<br />

Westerwaldschule in Waldernbach freut sich über Kinder aus der Grundschule<br />

in Mengerskirchen. „Wir profitieren von der guten Vorarbeit“, sagt<br />

sie.<br />

Deutschintensivkurse, die teilweise parallel zum regulären Unterricht laufen,<br />

werden auch dort angeboten. Ein Drittel der Jugendlichen an der Schule<br />

stammt aus Zuwandererfamilien mehrerer Generationen. Betreut werden<br />

die Familien von Maria Anselm (50), Lehrerin aus Kasachstan. „Ich bin die<br />

Brücke zwischen Schule, Eltern und Kindern“, sagt die Lehrerin. Sie erarbeitet<br />

für jedes Kind einen eigenen Förderplan. In Mathematik seien die<br />

Schüler, die schon in Russland eine Schule besucht haben, oft viel weiter<br />

im Stoff, sagt sie.<br />

„Die Sprache ist der Schlüssel zur Integration und zum Schulerfolg, darauf<br />

basiert das Förderungskonzept“, heißt es im Ministerium. Die Lehrer an der<br />

Basis müssen diese Maxime auch an Eltern und Schüler vermitteln.<br />

„Wir versuchen, die Eltern der Aussiedlerfamilien mehr für die Schule zu<br />

interessieren“, sagt NicoleWegmann.<br />

Deutschkurse für Eltern hatte eine Lehrerin in Zusammenarbeit mit der<br />

Volkshochschule bereits angeboten. Nun werden Einladungen zu Elternabenden<br />

auch auf russisch verfasst, um die Eltern zur Mitarbeit zu gewinnen<br />

– obwohl die Kinder mit den russischsprachigen Lehrerinnen ausschließlich<br />

deutsch sprechen dürfen.<br />

„Wenn es um Kuchen backen und Hilfsarbeiten geht, sind die Eltern immer<br />

dabei, aber sie haben oft nicht den Mut, sich zu engagieren“, sagt Wegmann.<br />

Doch, ergänzt Lili Gede, ohne elterliche Mitarbeit hätten die Kinder wenig<br />

Chancen auf eine hohe Schulbildung. „Ich habe den Kindern immer gesagt,<br />

ihr müsst doppelt so viel lernen wie die deutschen Kinder hier“, erinnert sich<br />

Rademer. „Die erben ein Haus und haben Beziehungen, ihr könnt nur über<br />

schulische Leistung euren Weg machen.“<br />

________________________________________________ Förderkonzept<br />

Das Gesamt-Förderkonzept des hessischen Kultusministeriums für Kinder<br />

nichtdeutscher Herkunftssprache umfasst:<br />

■ Freiwillige Vorlaufkurse für noch nicht schulpflichtige Kinder, die vor<br />

ihrer Einschulung nicht über die erforderlichen Deutschkenntnisse für den<br />

Unterricht einer ersten Klasse verfügen.<br />

■ Verpflichtende schulische Sprachkurse oder verpflichtender Besuch einer<br />

Vorklasse für schulpflichtige Kinder bei Zurückstellung vom Schulbesuch<br />

wegen nicht hinreichender Sprachkenntnisse. Werden diese Kurse nicht belegt,<br />

besteht die Gefahr, dass das Kind nicht auf einer allgemeinbildenden<br />

Grundschule eingeschult werden kann.<br />

■ Intensivklassen/-kurse für Seiteneinsteiger, die über keine oder nur geringe<br />

Deutschkenntnisse verfügen und dem Unterricht in einer Regelklasse<br />

nicht folgen können.<br />

■ Alphabetisierungskurse für Schüler ohne schulische Vorbildung.<br />

■ Deutsch-Förderkurse für Schüler, die sich zwar verständigen können, die<br />

deutsche Sprache jedoch in Wort und Schrift noch nicht so beherrschen, dass<br />

sie die Anforderungen des Regelunterrichts problemlos erfüllen können.<br />

■ Im laufenden Schuljahr stehen laut des Hessischen Kultusministeriums<br />

für das Sprach-Förderkonzept 1013 Stellen für Lehrkräfte zur Verfügung.<br />

Hinzu kommen jährlich rund 520 000 Euro an Sachmitteln insbesondere für<br />

Deutsch-Förderkurse.<br />

■ Freie Träger bieten, gefördert von Mitteln des Landes, außerschulische<br />

Hausaufgabenhilfe an. Die Förderung in 2005 betrug 764 000 Euro.<br />

■ Seit 2000 gibt es Deutsch-Förderung an Grundschulen mit hohem Zuwandereranteil,<br />

wie im Projekt „Deutsch & PC“. In 60 Grundschulen investiert<br />

das Land 5,5 Millionen Euro jährlich für diesen Unterricht. Das Projekt ist<br />

eine Kooperation mit der Hertie-Stiftung, die bis 2008 zwei Millionen Euro<br />

zur Verfügung stellt. (wes)<br />

Quelle: Zeitungsgruppe lahndill, 30.05.2006,Seite 3 „Hessen und<br />

Hintergrund“<br />

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FÜR UNS FÜHRT KEIN WEG ZURÜCK – MUSTER-ARTIKEL LAHN-<br />

DILL – BS 25<br />

„Für uns führt keinWeg zurück“<br />

Die Familie Leichner will als Deutsche in Deutschland leben<br />

Von Klaus Birk<br />

(0 64 71) 93 80 24<br />

k.birk@mittelhessen.de<br />

Mengerskirchen-Waldernbach. Am 25. Mai 1992 sind Ludwig und Pauline Leichner in Deutschland angekommen. Aus Kasachstan hat sie ihr Weg<br />

über das Aufnahmelager Empfingen bei Stuttgart direkt in den Westerwald nach Waldernbach geführt. Das Ehepaar Leichner hat zwei Kinder,<br />

Waldemar und Alexander, damals, als sie hier ankommen, sind die Buben 17 und 15 Jahre alt. Die Leichners wollen nicht länger als Deutsche in<br />

Russland leben. Sie wollen da leben, wo ihre Vorfahren herkamen. Aber sie kommen nicht in ihrem Vaterland an; sie kommen an in Deutschland. In<br />

einem Land, in dem sie nicht als Landsleute empfangen werden: Jetzt plötzlich sind sie Russen.<br />

Ludwig und Pauline Leichner sind nicht<br />

unbedingt eine durchschnittliche russische<br />

Familie mit deutschem Stammbaum: Beide<br />

haben die Universität besucht, beide haben<br />

hervorragende Abschlüsse. Pauline, geborene<br />

Meissner, ist Deutschlehrerin. Ludwig ist<br />

zum Generaldirektor einer staatlichen Handelskette<br />

aufgestiegen.<br />

„Wir hatten ein gutes Leben in Kasachstan.<br />

Wir hatten, was wir brauchten. Es ging uns<br />

gut“, sagt Ludwig Leichner. Sie haben viel<br />

aufgegeben.<br />

Als sie gingen, da hoffte Ludwig Leichner,<br />

dass er Glück haben und vielleicht in einem<br />

deutschen Geschäft würde Arbeit finden<br />

können; sozusagen vom Chef zum Angestellten.<br />

Trotzdem: „Wir wollten das so“,<br />

sagt er. Und wenn sie und ihre Vorfahren<br />

etwas gelernt haben in Russland, dann dies:<br />

Bei Null anzufangen.<br />

Ludwig Leichner erzählt. Er kann gut erzählen<br />

– und viel. Er erzählt zum Beispiel davon,<br />

wie sie in Kasachstan gefeiert haben.<br />

Und wie es auf ihn und „unsere Leute“<br />

wirkt, wie in Deutschland gefeiert wird. „In<br />

unserem Dorf haben alle für das Dorf gearbeitet.<br />

In der Landwirtschaft, als Lastwagenfahrer,<br />

in den Betrieben, in den Geschäften.<br />

Im Frühjahr, wenn die Felder bestellt und die<br />

Saat ausgebracht war, dann haben sich alle<br />

getroffen, zusammen gesessen, gegessen,<br />

getrunken, geredet. Es wurde ein Schwein<br />

oder ein Rind geschlachtet, es wurden Prämien<br />

verteilt. Und im Herbst, nach der Ernte,<br />

wieder.“ Es war: Gemeinsamkeit.<br />

In Deutschland wird auch gefeiert, Kirmes<br />

zum Beispiel. „Da sitzt du am Tisch und<br />

weißt nicht, worüber du mit deinem Gegenüber<br />

sprechen sollst, wenn es nicht zufällig<br />

ein Arbeitskollege oder Bekannter ist.“ Es<br />

fehlt: Gemeinsamkeit.<br />

Es schimmert Wehmut durch zwischen den<br />

Worten, „Nostalgie“, wie Ludwig Leichner<br />

es nennt; wir würden Heimweh dazu sagen.<br />

„Nostalgie hat jeder, der aus Russland nach<br />

Deutschland gekommen ist. Wer das Gegenteil<br />

behauptet, lügt“, sagt er. Und fügt hinzu:<br />

„Aber was ist denn, wenn du zurückkehrst:<br />

Was willst du dann dort?“ Für ihn steht fest:<br />

„Es gibt keinen Weg zurück.“ So wie für<br />

kaum jemanden, der den Schritt gewagt hat<br />

in das Land seiner „Urväter“, wie Leichner<br />

Deutschland nennt. Dabei kennt die Familie<br />

ihre Urväter gar nicht. Wann die Familien<br />

von Deutschland nach Russland kamen?<br />

„Wir wissen es nicht.“ Vielleicht, als Katharina<br />

die Große Mitte des 18. Jahrhunderts<br />

Deutsche Handwerker rief? Vielleicht<br />

sogar früher, vielleicht auch später. Sicher<br />

ist (Ludwig Leichner hat inzwischen die<br />

Dokumente aus geheimen Archiven): Sein<br />

Großvater wurde am 23. März 1938 zum<br />

Tode verurteilt, knapp vier Wochen später<br />

erschossen. Weil er ein Konterrevolutionär<br />

gewesen sei; vor allem aber wohl, weil er<br />

Deutscher war. Am 1. März 1960 wurde er<br />

rehabilitiert.<br />

■ Mit dem Zweiten Weltkrieg beginnt<br />

die Odyssee durch Russland<br />

Ludwig Leichners Vater, er hieß auch Ludwig<br />

und wurde 1904 im Raum Saratov in<br />

der Wolgadeutschen Republik geboren, wird<br />

1941 mit seiner Familie zwangsdeportiert –<br />

weit in den russischen Osten in die Gegend<br />

um Krasnojarsk. Es ist Krieg, Hitler hat Russland<br />

überfallen, Stalin lässt die Deutschen,<br />

die in Russland leben, verschleppen, verfolgen,<br />

umbringen. Ludwig Senior verliert alles,<br />

was er besaß. In der Verbannung sterben<br />

zudem seine erste Frau und sein Vater.<br />

1946 wird Ludwig Senior dann zurück nach<br />

Solikamsk, die Salzstadt im Ural, verwiesen.<br />

Dort, an der Perm, fängt er wieder bei<br />

Null an, dort heiratet er später seine zweite<br />

Frau Maria, dort wird am 28. Dezember<br />

1949 Sohn Ludwig geboren.<br />

1962 siedelt die Familie erneut um in die<br />

Gegend von Koktschetau im nördlichen<br />

Kasachstan. Ludwig Junior besucht dort<br />

zunächst das Technikum, später die Universität.<br />

Er wird das, was wir heute Betriebswirt<br />

nennen. Er fängt in der staatlichen Handelskette<br />

an, steigt auf zum Bezirksleiter, heiratet<br />

1973 seine Frau Pauline Meissner, deren<br />

Familie ein ganz ähnliches Schicksal zu erleiden<br />

hatte. Ihr Vater war Bauer in der Gegend<br />

von Saratow, ihre Familie wurde 1941<br />

in die Region Koktschetau deportiert.<br />

1977 ziehen Ludwig und Pauline zusammen<br />

mit ihren Söhnen Waldemar und Alexander<br />

aus dem Dorf in die Stadt, nach Koktschetau.<br />

Er wird dort Chef der Handelskette,<br />

sie unterrichtet Deutsch an einer Schule.<br />

1991 trifft Ludwig Leichner unter anderem<br />

Michail Gorbatschow und dessen verstorbene<br />

Frau Raissa, die seine Handelszentrale<br />

besuchen.<br />

„Wir haben dort nicht schlecht gelebt“, sagt<br />

Ludwig Leichner im Rückblick noch einmal.<br />

Eine schöne Wohnung hatten sie, einen<br />

gefüllten Kühlschrank, ein Auto, eine Datsche.<br />

Alles.<br />

„Aber wir waren trotzdem Fremde in diesem<br />

Land. Weil wir Deutsche waren.“ Und Ludwig,<br />

später selbst Mitglied im Prüfungsausschuss<br />

am Technikum, denkt an die Zukunft<br />

seiner Kinder: Als Deutsche würden auch<br />

sie es immer schwer haben in Russland. Und<br />

Kasachstan will in den 90er Jahren Kasachisch<br />

als Amtssprache einführen. Er ist zu<br />

diesem Zeitpunkt über 40 Jahre alt, er kann<br />

diese Sprache nicht; es würde ihm schwer<br />

fallen, Kasachisch zu lernen.<br />

Als die Einreiseerlaubnis nach Deutschland<br />

gekommen sei, da hätten sie schlecht<br />

geschlafen, er und seine Frau. Was ist richtig?<br />

Was ist falsch? Viel geredet hätten sie,<br />

nachgedacht – und dann, im Mai 1992, sind<br />

sie doch gegangen. In Waldernbach bekommen<br />

sie eine Notunterkunft zugewiesen,<br />

fast ein Jahr wohnt die Familie dort. „Wir<br />

hatten Glück, dass wir nach Waldernbach<br />

gekommen sind. Wir sind dort sehr gut aufgenommen<br />

worden“, sagt Ludwig Leichner<br />

im Rückblick.<br />

Auf den Sprachkurs muss Ludwig bis zum<br />

Herbst warten. Sie machen unliebsame Erfahrungen<br />

mit der deutschen Bürokratie und<br />

Ludwig Leichner ärgert sich, dass er nicht<br />

die Sprachkenntnisse seiner Frau hat, um auf<br />

seine Ansprüche pochen zu können.<br />

Der älteste Sohn Waldemar, der bereits am<br />

Technikum in seiner Heimatstadt seinen Abschluss<br />

als Bürokaufmann gemacht hat, und<br />

in die Fußstapfen seines Vaters treten will,<br />

hat hier keine Chance auf eine Banklehre;<br />

mangelnde Sprachkenntnisse stehen dem im<br />

Weg. Trotzdem beginnt er gleich zu arbeiten.<br />

Nach einem Jahr fängt eine Schreinerlehre<br />

in Mengerskirchen an, findet danach Arbeit<br />

bei Beck und Heun, beginnt dort eine weitere<br />

Lehre als Industriekaufmann, die er inzwischen<br />

abgeschlossen hat. Er ist von dem<br />

Waldernbacher Unternehmen übernommen<br />

worden. Alexander, der jüngere Sohn, lernt<br />

Feinblechkonstrukteur und ist inzwischen<br />

Projektleiter in einem Metallbetrieb.<br />

Auch Ludwig Leichner bekommt bald einen<br />

Job bei Beck und Heun, allerdings, sagt er,<br />

„nicht als Generaldirektor, denn den hatten<br />

sie da schon“. Er ist dort seit etlichen Jahren<br />

als Arbeiter beschäftigt. „Wie gesagt, wir<br />

sind es gewohnt, bei Null anzufangen. Mein<br />

Vater war Arbeiter und ich habe auch keine<br />

Angst vor Arbeit.“<br />

Stolz ist er auf das, was er sich in Waldernbach<br />

inzwischen geschaffen hat: Zunächst<br />

hat er eine neue Wohnung für seine Familie<br />

gefunden, dann eine für seine Schwiegereltern,<br />

die 1995 ebenfalls nach Deutschland<br />

kommen. Und schließlich hat er zusammen<br />

mit seinem Sohn ein Haus gebaut in Waldernbach,<br />

in dem sie jetzt wohnen.<br />

In Kasachstan ist Kasachisch übrigens bis<br />

heute keine Amtssprache geworden; es wird<br />

weiter Russisch gesprochen. Ludwig Leichner<br />

hätte seinen Direktorenposten behalten,<br />

dort in Rente gehen und mit seiner Familie<br />

weiter leben können. Aber, sagt er: „ Wir<br />

wollten als Deutsche in Deutschland leben.<br />

Und zurückkehren? Was soll ich denn in Kasachstan?“<br />

Hier in Deutschland sehen er und<br />

seine Familie die Zukunft.<br />

Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche<br />

aus Russland – Russen in Deutschland“<br />

v. 22. Mai 2006, Seite 11


AUF DER SUCHE NACH DER WIRKLICHEN HEIMAT – ARTIKEL<br />

LAHNDILL – BS 25<br />

„Auf der Suche nach der wirklichen Heimat“<br />

Die Wege der Familie Leichner quer durch Russland<br />

Mengerskirchen-Waldernbach (kbi).<br />

Viel ist es nicht, was Ludwig Leichner<br />

über seine Vorfahren weiß. Bis zu<br />

seinen Großeltern reicht das familiäre<br />

Gedächtnis zurück.<br />

Die Großeltern lebten im Wolgagebiet<br />

in der Region Saratow. Wann seine<br />

Vorfahren dorthin kamen, kann er nur<br />

vermuten: Es um das Jahr 1763,gewesen<br />

sein, als Katharina die Große ,<br />

die erste Deutsche auf demZarenthron,<br />

planmäßig Deutsche im Russischen<br />

Reich anzusiedeln begann.<br />

Siedler aus Hessen kamen dabei vorwiegend<br />

in die Wolga-Region zwischen<br />

Saratow und Samara. Ludwig Leichner<br />

vermutet, dass seine Familie in Hessen<br />

ihren Ursprung hat: Im überlieferten<br />

deutschen Wortschatz finden sich typisch<br />

hessische Dialekte-Worte. Für<br />

die Deutschen in Russland beginnt sich<br />

das Blatt mit dem Ersten Weltkrieg zu<br />

wenden, die Lage verschärft sich 1941<br />

mit dem Einmarsch der Hitler-Armee.<br />

Das trifft auch Leichners Familie: Im<br />

gleichen Jahr wird sein Vater nach<br />

Kransnojarsk deportiert, weit im Osten<br />

Russlands.<br />

1946wird er zurück nach Solikamsk<br />

verwiesen. 1962 siedelt die Familie in<br />

die Gegend von Koktschetau in Kasachstan<br />

um.<br />

Ludwig Leichner junior heiratet 1973<br />

seine Frau Pauline Meissner, deren Familie<br />

1941 ebenfalls aus Saratow nach<br />

Koktschetau verwiesen wurde.<br />

Ludwig und Pauline ziehen 1977 vom<br />

Dorf in die Stadt Koktschetau. Von dort<br />

tritt die Familie Leichner am 20. Mai<br />

1992 die Reise nach Deutschland an,<br />

das Land der „Urväter“, wie Leichners<br />

sagen.<br />

Eine Odyssee vonWest nach Ost – und zurück:<br />

Die Reisewege der Familie Leichner in den vergangenen Zeiten bis zur Ausreise im Mai 1992 zurück nach Deutschland.<br />

Heute lebt Ludwig Leichner mit seiner Familie in Waldernbach.<br />

Quelle: Zeitungsgruppe lahndill „Deutsche aus Russland – Russen in Deutschland“ v. 22. Mai 2006, Seite 11<br />

<strong>TB</strong><br />

43,2<br />

77


KV<br />

78<br />

DEUTSCHE AUSWANDERUNG NACH RUSSLAND<br />

IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT


QUELLENVERZEICHNIS - LINKLISTE<br />

1. Zwischen den Kulturen – Russlanddeutsche gestern und heute. Hrsg.: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland<br />

e.V. und Kulturrat der Deutschen aus Russland e.V., Stuttgart 2002<br />

Die Broschüre kann als pdf-Datei im Internet heruntergeladen werden:<br />

http://www.deutscheausrussland.de/zdk/index.htm<br />

2. Krieger, V./Kampen, H./Paulsen, N.. Deutsche aus Russland gestern und heute.<br />

Hrsg.: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V., Stuttgart 2006<br />

3. Eisfeld, A.: 200 Jahre Ansiedlung der Deutschen im Schwarzmeergebiet.<br />

Hrsg.: Landsmannschaft der Deutschen aus Russland e.V. mit Unterstützung der baden-württembergischen Landesregierung.<br />

Abrufbar im Internet unter der Adresse: www.deutscheausrussland.de<br />

4. Deutsche aus Russland – Russen in Deutschland.<br />

Eine Serie der Zeitungsgruppe lahndill, Mai 2006<br />

5. Gesellschaft für Pädagogik und Information e.V.. Die Geschichte der Russlanddeutschen.<br />

Präsentiert im Internet vom Bildungsverein Die Linde e.V. unter: www.russlanddeutschegeschichte.de<br />

6. Aussiedler und Aussiedlermigration in Deutschland.<br />

Informationen zur politischen Bildung. Heft 267, 2000<br />

Hrsg.: Bundeszentrale für politische Bildung<br />

http://www.bpb.de/publikationen/08604866861222132867858162468689,0,Zuwanderung_und_Integration_in_der_Bundesrepublik_Deutschland.html<br />

7. Bundesministerium des Innern.<br />

www.bmi.bund.de<br />

8. Lexikon der Innenpolitik.<br />

http://www.bmi.bund.de/cln_012/nn_122688/Internet/Navigation/DE/Service/Lexikon/LexikonDerInnenpolitik.html__<br />

nnn=true<br />

9. Statistiken zum Aussiedleraufnahmeverfahren:<br />

www.bva.bund.de/nn_376880/DE/Aufgaben/Abt__III/Spaetaussiedler/statistik/statistik-node.html<br />

10. Bekanntmachung der Neufassung des Gesetzes über die Angelegenheiten der Vertriebenen und Flüchtlinge vom 10.<br />

August 2007.<br />

Der Bundesminister des Innern, Dr. Wolfgang Schäuble:<br />

www.ornis-press.de/asb/files/bundesvertriebenengesetz_neu.pdf<br />

11. Beiträge zum Alltag russlanddeutscher Aussiedler:<br />

www.ornis-press.de/dossier.7.0.html<br />

Stand: Dezember 2007<br />

Weitere Linkangaben sind integriert in die Verlaufsmodule und Textblätter<br />

Zahlreiche Links führen zu nützlichen Seiten im Internet. Für alle Seiten gilt:<br />

§3 - Mit Urteil vom 12. Mai 1998 hat das Landgericht Hamburg entschieden, dass man durch die Ausbringung eines Links die Inhalte der gelinkten Seite ggf. mit zu<br />

verantworten hat. Dies kann - so das Landgericht - nur dadurch verhindert werden, dass man sich ausdrücklich von diesen Inhalten distanziert. Für all diese Links gilt:<br />

Wir möchten ausdrücklich betonen, dass wir keinerlei Einfluss auf die Gestaltung und die Inhalte der genannten Links haben. Deshalb distanzieren wir uns hiermit<br />

ausdrücklich von allen Inhalten aller Links in diesem Arbeitsheft.<br />

79


© Konferenz der <strong>Landesfilmdienst</strong>e | Bonn | www.landesfilmdienste.de

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