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14 Tamilen in der Schweiz

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<strong>14</strong> <strong>Tamilen</strong><strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> Migros-Magaz<strong>in</strong> 35, 28. August 2006<br />

Bodenständig: Der Tamile Kavithas Jeyabalan, den alle nur Kavi nennen, betreibt im bündnerischen Schanfigg e<strong>in</strong>e Schre<strong>in</strong>erei.


Migros-Magaz<strong>in</strong> 35, 28. August 2006<br />

<strong>Tamilen</strong><strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

In Sorge um die Familie<br />

In Sri Lanka wird wie<strong>der</strong> gekämpft. Die 35 000 <strong>Tamilen</strong><strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> bangen umihreAngehörigen.<br />

Wie empf<strong>in</strong>det e<strong>in</strong> Tamile, <strong>der</strong> e<strong>in</strong>st <strong>in</strong> die <strong>Schweiz</strong> fl üchtete und noch Geschwister <strong>in</strong> Sri Lanka hat?<br />

Peist im Schanfigg, Graubünden:<br />

210 E<strong>in</strong>wohner,<br />

davon zwei Auslän<strong>der</strong>,<br />

10 Bauernbetriebe, 231<br />

Grossviehe<strong>in</strong>heiten, zwei Restaurants,<br />

zwei Schre<strong>in</strong>ereien. E<strong>in</strong>e gehört<br />

dem Mann mit dem nicht eben<br />

e<strong>in</strong>heimisch kl<strong>in</strong>genden Namen<br />

Kavithas Jeyabalan, kurz Kavi.<br />

Kavi (42) kam 1984 als Flüchtl<strong>in</strong>g<br />

aus Sri Lanka <strong>in</strong> e<strong>in</strong> Durchgangsheim<br />

<strong>in</strong> Chur. Schon nach e<strong>in</strong><br />

paar Monaten konnte er arbeiten,<br />

als Schre<strong>in</strong>er: erst <strong>in</strong> Chur, dann <strong>in</strong><br />

Arosa, schliesslich <strong>in</strong> Peist. Er hat<br />

geschafft, was den meisten Asylsuchenden<br />

verwehrt bleibt. Welcher von ihnen kann sich<br />

schon damit brüsten, e<strong>in</strong> Geschäft mit je nach<br />

Saison vier bis acht Angestellten aufgebaut,<br />

mit se<strong>in</strong>er <strong>Schweiz</strong>er Ehefrau fünf K<strong>in</strong><strong>der</strong> gezeugt,<br />

e<strong>in</strong> Ferienhaus gebaut zu haben und<br />

<strong>der</strong>art <strong>in</strong>tegriert zu se<strong>in</strong>, dass se<strong>in</strong> kerniger<br />

Schanfigger Dialekt sich nicht mehr von dem<br />

<strong>der</strong> E<strong>in</strong>heimischen unterscheidet? 1997 hat er<br />

sich selbständig gemacht.<br />

E<strong>in</strong>e zerstörte Hoffnung<br />

Wie die grosse Mehrheit <strong>der</strong> heute rund 35 000<br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> lebenden <strong>Tamilen</strong> dachte auch<br />

Kavi, dass se<strong>in</strong> Aufenthalt <strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong> nur<br />

von kurzer Dauer sei, dass er, sobald <strong>der</strong> Krieg<br />

<strong>in</strong> Sri Lanka zu Ende ist, wie<strong>der</strong> auf die Insel<br />

zurückkehren würde. «Ich und alle me<strong>in</strong>e<br />

Freunde, die <strong>in</strong> die <strong>Schweiz</strong> o<strong>der</strong> an<strong>der</strong>swoh<strong>in</strong><br />

gefl üchtet s<strong>in</strong>d, hatten diese Hoffnung», sagt<br />

Kavi. Jetzt habe er diese aufgegeben. «Ich<br />

zweifle daran, ob es auf Sri Lanka <strong>in</strong> absehbarer<br />

Zeit Frieden gibt und die <strong>Tamilen</strong> zu<br />

e<strong>in</strong>em eigenen Staat kommen.»<br />

Kavi glaubt nicht, dass die gegenwärtige<br />

Lage <strong>in</strong> Sri Lanka erneut zu e<strong>in</strong>er Flüchtl<strong>in</strong>gswelle<br />

führt. «Die wollen alle bleiben und das<br />

Land wie<strong>der</strong> aufbauen», vermutet er.<br />

Voll <strong>in</strong>tegriert: Kavi mit se<strong>in</strong>er Frau Vreni und den Söhnen Nando (11,<br />

rechts) und Andri (9) beim Mittagessen <strong>in</strong> <strong>der</strong> Wohnküche.<br />

Die Hoffnung auf Frieden blieb Wunschdenken,<br />

denn die Kämpfe zwischen den Regierungstruppen<br />

und <strong>der</strong> tamilischen Guerilla<br />

Tamil Tigers brachen immer wie<strong>der</strong> auf, erbarmungslos<br />

und brutal. Wie erklärt sich <strong>der</strong><br />

e<strong>in</strong>stige Flüchtl<strong>in</strong>g, <strong>der</strong> seit 1995 Bürger von<br />

Peist ist, diese Brutalität <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em Ursprungsland?<br />

«Beide Seiten bleiben hart. Es geht nach<br />

dem Grundsatz ‹Auge um Auge, Zahn um<br />

Zahn›. Auf jede bewaffnete Aktion erfolgt e<strong>in</strong>e<br />

erbarmungslose Reaktion, auf Seiten <strong>der</strong><br />

Tamil Tigers auch durch Selbstmordattentäter»,<br />

sagt Kavi.<br />

Angst um die Angehörigen<br />

Er war das jüngste von sieben K<strong>in</strong><strong>der</strong>n. E<strong>in</strong><br />

Bru<strong>der</strong> lebt nun <strong>in</strong> England, e<strong>in</strong>e Schwester <strong>in</strong><br />

Toronto. Zwei Brü<strong>der</strong> und zwei Schwestern<br />

blieben <strong>in</strong> Sri Lanka. «Die haben Angst um ihr<br />

Leben. Und ich habe Angst um sie. Man weiss<br />

nie, was geschieht», sagt er. Was ihm ausserdem<br />

Sorge bereitet: «Je länger dieser Konflikt<br />

dauert, desto mehr schw<strong>in</strong>det das Interesse <strong>der</strong><br />

Weltöffentlichkeit.»<br />

Noch bis vor Kurzem hat Kavi wöchentlich<br />

mit se<strong>in</strong>er Schwester telefoniert und sich<br />

über die Lage im Land aufklären lassen. Jetzt<br />

sei dies nicht mehr möglich, weshalb er noch<br />

15<br />

mehr um se<strong>in</strong>e Angehörigen bange.<br />

Die privaten Telefone im <strong>Tamilen</strong>gebiet<br />

seien von den Regierungstruppen<br />

stillgelegt worden. Es bestehe<br />

e<strong>in</strong> Ausgangsverbot, sodass<br />

man nur unter Gefahr zum Büro <strong>der</strong><br />

staatlichen Telefongesellschaft gehen<br />

könne, um Familienmitglie<strong>der</strong><br />

im Exil anzurufen.<br />

Kavi unterstützt mit eigenen<br />

und teilweise auch im Tal gesammelten<br />

Hilfsgel<strong>der</strong>n e<strong>in</strong> von se<strong>in</strong>er<br />

Schwester geführtes Waisenhaus <strong>in</strong><br />

<strong>der</strong> Stadt Jaffna. 17 Kriegs- und<br />

Tsunamiwaisen werden dort betreut.<br />

Jetzt muss das Heim aus Sicherheitsgründen<br />

schliessen. Manchmal überweist er<br />

Geld an se<strong>in</strong>e Schwester. – Das dann, wie man<br />

immer wie<strong>der</strong> hört, von den Aufständischen<br />

für Kriegszwecke e<strong>in</strong>gesetzt wird? – Ne<strong>in</strong>, er<br />

sei «hun<strong>der</strong>tprozentig sicher», dass es am richtigen<br />

Ort ankomme. Denn: «Ich erhalte stets<br />

e<strong>in</strong>e Empfangsbestätigung von me<strong>in</strong>er Schwester»,<br />

beteuert er. Wird denn von dem erfolgreichen<br />

Geschäftsmann durch tamilische<br />

Funktionäre manchmal Geld erpresst, wie man<br />

solche Geschichten gerüchteweise vernimmt?<br />

«Ne<strong>in</strong>», sagt er bestimmt.<br />

Der Schre<strong>in</strong>er kniet <strong>in</strong> se<strong>in</strong>er Werkstatt<br />

zwischen Brettern aus Engad<strong>in</strong>er Arvenholz.<br />

Es wird gesägt, gefräst, geschliffen, gebohrt<br />

und angepasst. Voller Handwerkerstolz kann<br />

er e<strong>in</strong>e Kassettendecke für e<strong>in</strong> Privathaus <strong>in</strong><br />

Arosa bauen. «So was macht man nicht jeden<br />

Tag», sagt er. Manchmal, wenn se<strong>in</strong>e Zeit es<br />

zulässt, widmet er sich e<strong>in</strong>er ganz speziellen<br />

Tätigkeit: Er fertigt aus Eschenholz Schanfigger<br />

Schlitten. E<strong>in</strong> solches Gefährt erfor<strong>der</strong>t<br />

sechs bis acht Stunden Arbeit.<br />

Kavi, ganz Geschäftsmann, hängt öfters<br />

an se<strong>in</strong>em Handy – spricht mit Lieferanten und<br />

Kunden, organisiert Baustellen von Arosa bis<br />

Bülach. Kavi, <strong>der</strong> nicht mehr praktizierende


Migros-Magaz<strong>in</strong> 35, 28. August 2006<br />

Konzentriert: Kavi baut e<strong>in</strong>en se<strong>in</strong>er traditionellen Schanfigger Schlitten zusammen.<br />

E<strong>in</strong> seit Langem schwelen<strong>der</strong> Konflikt<br />

Die Anfänge <strong>der</strong> ethnischen Unruhen zwischen<br />

<strong>der</strong> ursprünglich aus Indien stammenden<br />

tamilischen M<strong>in</strong><strong>der</strong>heit und <strong>der</strong> e<strong>in</strong>heimischen<br />

Mehrheit <strong>der</strong> S<strong>in</strong>ghalesen auf Sri Lanka liegen<br />

weit zurück.<br />

Während <strong>der</strong> britischen Kolonialherrschaft<br />

werden die als tüchtig und schreibgewandt<br />

geltenden <strong>Tamilen</strong> von <strong>der</strong> Kolonialmacht<br />

bevorzugt, geför<strong>der</strong>t und mit Verwaltungsstellen<br />

bedacht.<br />

1948 erhält Sri Lanka die Unabhängigkeit. Die<br />

neue Regierung beschneidet die Rechte <strong>der</strong><br />

<strong>Tamilen</strong>, verwehrt ihnen die Staatsbürgerschaft<br />

und das Wahlrecht und verbannt die tamilische<br />

Sprache.<br />

1972 werden die ersten tamilischen Parteien<br />

gegründet. Im gleichen Jahr wird, als Antwort<br />

auf die permanente s<strong>in</strong>ghalesische Unterdrückung,<br />

die erste Untergrundorganisation Tamil<br />

New Tigers (TNT) gegründet, <strong>der</strong> sich hauptsächlich<br />

Jugendliche anschliessen. Seit 1976<br />

nennt sie sich Liberation Tigers of Tamil Eelam<br />

(LTTE). Ihr erklärtes Ziel ist es, im Norden und<br />

Osten <strong>der</strong> Insel e<strong>in</strong>en eigenen Staat zu gründen.<br />

1983 eskaliert <strong>der</strong> Konflikt, nachdem tamilische<br />

Separatisten als Rache für den Tod e<strong>in</strong>es<br />

militanten <strong>Tamilen</strong> 13 Soldaten ermorden.<br />

S<strong>in</strong>ghalesen machen grausame Jagd auf <strong>Tamilen</strong>,<br />

von denen 3000 umgebracht werden. 20<br />

Jahre lang dauert <strong>der</strong> Bürgerkrieg. Etwa<br />

<strong>Tamilen</strong><strong>in</strong><strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong><br />

17<br />

H<strong>in</strong>du, <strong>der</strong> mit se<strong>in</strong>em Vreni (37) <strong>in</strong> <strong>der</strong> örtlichen<br />

Trachtengruppe mittanzt, <strong>der</strong> «<strong>in</strong> die<br />

Pilze geht», auf se<strong>in</strong>em Maiensäss Hudigäggeler<br />

hört und von den Alte<strong>in</strong>gesessenen sofort<br />

akzeptiert wurde und heute manchmal auch<br />

bewun<strong>der</strong>t wird – dieser Kavi ist längst ke<strong>in</strong><br />

Exot mehr, son<strong>der</strong>n «a<strong>in</strong>a vo ünsch», wie die<br />

Schanfigger sagen, «e<strong>in</strong>er von uns».<br />

Mitleiden <strong>in</strong> e<strong>in</strong>er heilen Welt<br />

Das Bergbauerndorf Peist im August: Tibetische<br />

Gebetsfahnen flattern im Schanfigger<br />

W<strong>in</strong>d. Rocksuperstar Robbie Williams grüsst<br />

lebensgross und verschmitzt von e<strong>in</strong>em Balkon<br />

<strong>in</strong> die Bergwelt. Der Schützenvere<strong>in</strong> lädt<br />

zum Tanz mit den St. Antönier Ländlerfründa.<br />

Die Welt ist hier oben noch <strong>in</strong> Ordnung, <strong>in</strong><br />

Kavis ehemaliger Heimat aber nicht. Manchmal<br />

schaut das Ehepaar Vreni und Kavi Jeyabalan-Jäger<br />

die Fernsehnachrichten, die von<br />

Exiltamilen aus London gesendet und an Kavis<br />

Landsleute gerichtet s<strong>in</strong>d. Dann bricht das<br />

ganze Elend selbst <strong>in</strong> die friedliche Stube im<br />

Schanfigg here<strong>in</strong>. Text CarlBieler<br />

Bil<strong>der</strong> Andreas Eggenberger<br />

Neue Heimat: Das Bündner Bergdorf Peist bef<strong>in</strong>det<br />

sich zwischen Chur und Arosa im Schanfigg.<br />

700 000 <strong>Tamilen</strong> treibt er <strong>in</strong>s Exil. Nach<br />

Schätzungen sterben 60 000 Menschen.<br />

2002 kommt es zu e<strong>in</strong>em Waffenstillstand, <strong>der</strong><br />

jedoch von beiden Seiten (zum überwiegenden<br />

Teil von <strong>der</strong> LTTE) immer wie<strong>der</strong> verletzt wird.<br />

2006: Im Juli flammen die Kämpfe wie<strong>der</strong> auf,<br />

nachdem es zu Schiessereien um die Schleusen<br />

e<strong>in</strong>es Wasserteichs gekommen war. Seither hat<br />

es bereits wie<strong>der</strong> mehr als 1000 Tote gegeben.<br />

Im August hat sich die humanitäre Lage im<br />

Norden des Landes dramatisch verschlechtert.<br />

Quellen: Vera Markus, «In <strong>der</strong> Heimat ihrer K<strong>in</strong><strong>der</strong> – <strong>Tamilen</strong><br />

<strong>in</strong> <strong>der</strong> <strong>Schweiz</strong>, Offi z<strong>in</strong> Verlag, Fr. 68.–<br />

L<strong>in</strong>da von Euw, «Bürgerkrieg und Wirtschaft <strong>in</strong> Sri Lanka»,<br />

Diplomarbeit.

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