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Der entwaffnende Blick - Zeitung Heute - Tagesspiegel<br />

http://www.tagesspiegel.de/zeitung/der-entwaffnende-blick/4289460.html<br />

15.06.2011 19:22 Uhr | Von Deike Diening<br />

Der entwaffnende Blick<br />

Kann man in Berlin überhaupt noch entspannt U-Bahn fahren, wenn jeder<br />

neue Übergriff die Erinnerung an die Höhepunkte der Gewalt weckt, an<br />

Totgeschlagene, an Schwerverletzte, an Menschen im Koma? Ein<br />

Antigewalttrainer sagt: Ja, man kann, aber man sollte sich vorbereiten<br />

Menschen in der U-Bahn. An den Blicken der Fahrgäste<br />

erkennt Trainer Dao die Lage. Auf drohende Eskalationen<br />

reagierten die meisten mit dem „Kaninchenblick“. Foto: laif -<br />

FOTO: ANTONIO ZAMBARDINO/CONTRASTO/LAI<br />

Variationen in der U-Bahn: Gucken und<br />

zugleich nicht gucken. Aus den<br />

Augenwinkeln wahrnehmen. Sich im Buch<br />

verkriechen. Mit dem iPod Gespräche<br />

vermeiden. Mit Blicken ausziehen. Die<br />

Augen schließen. Die Zeitung entfalten.<br />

Simsen. Dumm anmachen. Sich tot stellen.<br />

Sich vergessen. Sterben auch?<br />

An einem Freitag im Frühjahr 2011 wartet<br />

Philip Dao, 38, Körperspannung, um kurz<br />

vor zehn Uhr abends am U-Bahnhof<br />

Mehringdamm am Gleis der U 7 Richtung<br />

Rudow. Das gelbe Geschoss fährt ein, saugt<br />

die Fahrgäste von der Bahnsteigkante, Dao<br />

blickt sich kurz im Wagen um, nimmt jeden wahr, stellt seine Tasche rechts neben sich<br />

und drückt seinen langen Rücken in den Graffiti-Schutz.<br />

Mit wem sonst sollte man U-Bahn fahren in diesen Tagen? Jeder neue Übergriff weckt die<br />

Erinnerung an die Höhepunkte der Gewalt: An den Mann, der am Himmelfahrtstag auf<br />

einem Bahnsteig in Rostock-Warnemünde erschlagen wurde, an den<br />

Zusammengetretenen aus der Berliner Friedrichstraße vom April und den Verprügelten<br />

vom U-Bahnhof Lichtenberg im Februar und an <strong>Dominik</strong> <strong>Brunner</strong>, der 2009 auf einem<br />

Münchner S-Bahnhof starb.<br />

Philip Dao, Ninjutsu-Kämpfer, lehrt seit zehn Jahren in einem Studio am Hermannplatz,<br />

wo sich die U 7 und die U 8 kreuzen. Er hat hunderte Berliner in Selbstverteidigung<br />

geschult. In seiner Eigenschaft als Diplom-Psychologe beurteilte er jahrelang schwere<br />

Gewalttäter. Er erkennt Waffenträger an den spezifischen Ausbeulungen ihrer Kleidung.<br />

Sein Blick ist tastend, nicht aufdringlich. Vielleicht kann man sich diesen Blick leihen.<br />

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Freitagabends, hatte er gesagt, ist die richtige Zeit. Da fängt es manchmal an zu vibrieren.<br />

Wenn die Leute in Gruppen losziehen, um etwas zu erleben, voller Erwartung und<br />

manchmal voller Alkohol. Als eine lärmende Gruppe Jugendlicher samt Getränken den<br />

Wagen verlässt, sacken die anderen Passagiere erleichtert in ihre Sitze zurück. In sich<br />

selbst versunken schaukeln die Körper der bunten Sommermenschen 2011 aufgereiht in<br />

einem dieser endlosen Waggons wie Algen im Wasser. Dao ist ganz in Schwarz,<br />

breitbeinig, raumgreifend. „Aufmerksamkeit“, sagt Dao, ist das Wichtigste. Und<br />

Vorbereitung.<br />

Denn im Gegensatz zum Vollkasko-Leben der Autofahrer in ihren schützenden Karossen,<br />

ist der U-Bahn-Fahrgast zurückgeworfen auf seinen eigenen Körper, auf dessen<br />

Ausstrahlung und manchmal sogar auf seine Kraft. Und das ist so ungeheuerlich, weil es<br />

jede gesellschaftliche Verabredung aufkündigt. Wer ist schon vorbereitet auf ein<br />

körperliches Kräftemessen? Auf Gewalt auf freier Strecke?<br />

Aber die Vorbereitung auf das U-Bahnfahren in Zeiten der Unsicherheit beginnt viel<br />

früher, sagt Dao. Lange vor einem Körpereinsatz. Es mache schon einen Unterschied, wie<br />

man Blicken begegnet. Der andere spüre, ob man noch Reserven hat, im Notfall auch noch<br />

Kraft für einen Kampf.<br />

Vertraute Bahnhöfe schießen vorbei. Vor der Scheibe gewittern die Farben: das Blau der<br />

Gneisenaustraße, das Gelb vom Hermannplatz. Blau, gelb, bunt, wie ein riesiger,<br />

schillernder blauer Fleck. Ist es nicht eine Illusion, dass man sich mit der richtigen<br />

Ausstrahlung schützen kann? Kann einer entwaffnend gucken? Dao muss einige U-Bahn-<br />

Stationen weit ausholen, um das zu erklären.<br />

Selbst er dachte lange, Gewalttäter seien irgendwie „die anderen“. Sein Büro in einem<br />

Berliner Gefängnis war eingekeilt zwischen den Zellen, sein Blick fiel durch ein vergittertes<br />

Fenster auf Mauer und Stacheldraht. Wenn die Tür aufflog, standen vor seinem<br />

Schreibtisch die Männer von den Titelseiten des Boulevards. Doch später, wieder draußen,<br />

als er in der U-Bahn umherblickte, wie er es immer tut, grüßten ihn auch dort überall<br />

Ehemalige und Gewalttäter auf Freigang. Er verstand: Diese Menschen sind unter uns.<br />

Wer sich wappnen will, muss akzeptieren, dass Aggression und Gewalt zum Menschsein<br />

gehören, sagt Dao. Erst dann sei man bereit für die Vorbereitung. „Wir wissen, es sind<br />

nicht gewisse Menschen, die ständig gewalttätig sind, sondern gewisse Situationen, die bei<br />

Menschen Gewaltpotenzial eröffnen.“ Und Situationen sind lange ambivalent. Erst durch<br />

ihren Ausgang werden sie eindeutig, entscheidet sich, wer hinterher als Opfer gilt und wer<br />

als Täter. Es muss darum gehen, diese Situationen zu beeinflussen.<br />

Obwohl Dao ohne genaue Zahlen nicht behaupten will, dass die Gewalt zugenommen hat,<br />

bemerkt er doch, dass man in der Berliner U-Bahn seit einigen Wochen angespannter<br />

reagiert, sobald irgendetwas im Waggon zu knistern beginnt. Die Leute starren dann<br />

angestrengt geradeaus. Er nennt es den Kaninchenblick. Ein sicheres Indiz, dass etwas<br />

nicht stimmt.<br />

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Aber ist die Gewalt nicht zuletzt brutaler und hemmungsloser geworden? „Das wird seit<br />

100 Jahren festgestellt. Wenn dem so wäre, müssten wir jetzt im Kriegszustand sein.“<br />

Sind wir aber nicht. Vielmehr finden wir in der U-Bahn noch immer das Destillat der<br />

Großstadt. Hier wurzelt die Stadt. Hier zeigt sie ihren Charakter, hier lässt sich die<br />

Verfassung ihrer Bewohner ab<strong>lesen</strong>. Es ist ein großes, ständig gefährdetes zivilisatorisches<br />

Wunder, dass so viel körperliche Nähe bei so viel sozialer Distanz möglich ist. 1,4<br />

Millionen Mal wird in Berlin täglich eine friedliche U-Bahn-Fahrt unternommen. Und wie<br />

wurden die Londoner bewundert, als sie nach tödlichen Bombenanschlägen 2005 stoisch<br />

weiter U-Bahn fuhren und sich ihren öffentlichen Raum nicht nehmen ließen.<br />

Am liebsten, sagt Dao, sitzt er auf einem Platz längs zum Wagen. Da hat man niemanden<br />

im Rücken und alle im Blick. Vier frisch geduschte Jungs, die vermutlich aus genau den<br />

gleichen Gründen dort sitzen, reden lauter, als sie müssten. „Aufmerksamkeit darf keine<br />

Paranoia werden“, sagt Dao. „Man kann sonst sein ganzes Leben im Panic Room<br />

verbringen.“ Die Arme der Mitreisenden wandern krakenhaft über die Rückenlehnen.<br />

Einer steigt unvermittelt aus, die anderen krakeelen hinterher.<br />

„Das sind ganz normale Jungs“, sagt Dao. „Die wollen was erleben.“<br />

Was ist denn in der U-Bahn zu erleben?<br />

„Das Gefühl, mittendrin zu sein“, sagt Dao. Pöbeleien sind eine Erfahrung mit ungewissem<br />

Ausgang. Das lockt. Manchmal reizt eine körperliche Sensation. Die Aufmerksamkeit<br />

Fremder. Anerkennung der Peer-Group. „Hey, ich bestimme eine Situation.“ Im<br />

Waggon: Kaninchenblick.<br />

Ein Irrtum der klassischen Selbstverteidigung sei deshalb die Konzentration auf den<br />

Kampf. „Es sieht dann so aus, als seien Schläge die einzige Möglichkeit.“ Dabei sei der<br />

gewonnene Kampf derjenige, den man gar nicht kämpfen muss. Es gibt, sagt Dao, ganze<br />

Berufsgruppen, die dauerhaft mit aggressiven Menschen zu tun haben: Ärzte,<br />

Sozialarbeiter, Jugendamtssachbearbeiter. Menschen sind wütend auf Vollzugsbeamte<br />

und auf Mitarbeiter der Jobcenter. „Die können ja schlecht ihre Kunden ausschalten.“ Es<br />

muss also andere Möglichkeiten geben.<br />

Einmal wollte Dao in eine U-Bahn einsteigen, deren sich öffnende Tür nur den Blick auf<br />

einen breiten Rücken freigab. Die Arme ruhten rechts und links auf den Stangen. Er<br />

wartete eine Weile, der Mann drehte sich um, trat aus der Tür, schubste ihn zur Seite und<br />

ging seines Weges. Dao hat gar nichts gemacht, außer sich um sein eigenes Gleichgewicht<br />

zu kümmern.<br />

„Das Ziel muss sein: Lösungen finden, wie der andere ohne Schläge sein Gesicht wahren<br />

kann.“ Da beginnt für Dao Kampfkunst. Man müsse es psychologisch schaffen, so eine<br />

Situation als Sieg zu begreifen.<br />

200 zusätzliche Polizisten stehen nach den jüngsten Zwischenfällen für die Berliner U-<br />

Bahn in Aussicht, außerdem soll es Lautsprecherdurchsagen schon während eines<br />

Zwischenfalls geben. Als eine Art Stimme des Gewissens aus dem Off. „Jegliche Präsenz“,<br />

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sagt Dao, „kann die Sicherheit erhöhen.“ Aber eigentlich werde Sicherheit damit wieder<br />

delegiert. Wer delegiert, bleibt passiv. Besser ist es, Sicherheit in sich selbst zu finden. Wer<br />

will sich auch darauf verlassen, dass zufällig ein Polizist in der Nähe ist?<br />

Der Bahnsteig an der U 7, Parchimer Allee, ist vollkommen verwaist. Das<br />

Benachrichtigungssystem Daisy verspricht eine U-Bahn in Richtung Rathaus Spandau in<br />

acht Minuten. „Soll ich mich umdrehen, wenn ich hinter mir Schritte höre?“, fragen ihn<br />

Frauen oft, denn das werde bereits als Angst interpretiert. Auf jeden Fall umdrehen, sagt<br />

er dann. Wichtig ist, dass man natürlich bleibt. Es ist unnatürlich, krampfhaft<br />

wegzugucken. „Wie lange soll ich gucken?“, fragen die Frauen. Gucke interessiert, gucke<br />

selbstverständlich, sagt Dao. So, als würdest du dich in einem Café umgucken, ob du<br />

jemanden kennst.<br />

Lange, sagt Dao, habe man an den Ursachen von Gewalt geforscht, an Arbeitslosigkeit,<br />

Motiven in der Kindheit, „möglichst weit weg vom Phänomen“. Inzwischen wendet man<br />

sich den Situationen zu, in denen Gewalt entsteht. Die Täter müssen sich zum Beispiel<br />

einen würdigen Gegner erst aufbauen. „Ein Täter muss ungeheuer viel Energie aufbringen,<br />

um jemanden anzugehen, der sich gar nicht provozieren lässt.“<br />

Die Gewalt in den U-Bahnen, sagt Dao, ist deshalb hauptsächlich ein Männerproblem. Sie<br />

geraten schneller „in den vermeintlichen Zwang, den Hahnenkampf bis zum Ende<br />

durchspielen zu müssen“. Sie haben ein größeres Problem damit, in der Öffentlichkeit zu<br />

„verlieren“.<br />

Die U 7 unterquert ratternd Berlin. An jedem Bahnhof spülen Menschen hinein und<br />

hinaus. Dao wird von einem Schüler erkannt. Am U-Bahnhof Hermannplatz steigt ein<br />

weinendes Mädchen mit seiner Mutter ein. Die Bühne ist bestens beleuchtet, es wird<br />

gefilmt. Routinemäßig zeichnen die Kameras in der Decke auf. In irgendeiner<br />

Überwachungszentrale wird ein Mitarbeiter sehen, wie eine Mutter ihre Tochter schaukelt.<br />

Die Mitreisenden rutschen zusammen. Wegen des allgemeinen Friedens dieser Szene wird<br />

sie natürlich niemals bei Youtube abzurufen sein.<br />

Die tausendfach hochgeladenen Gewalt-Videos jedoch wurden unter den Blicken im Netz<br />

zur Massen-Unterhaltung. Philip Dao klickt sie mit analytischem Interesse an: typisch das<br />

Verhalten des Opfers in der Friedrichstraße. Man sieht gut, wie sich bei einer Bedrohung<br />

sofort der Blick verengt und der 29-Jährige nur noch in das Gesicht des Angreifers schaut.<br />

Nach unten hängen die Hände, die er bräuchte, um die Flasche abzuwehren, die der Täter<br />

lange in der rechten Hand schwenkt, den richtigen Moment abwartend, um sie ihm voll<br />

ins Gesicht zu schlagen. „Immer auf die Hände gucken“, sagt Dao. Obwohl dieser Gedanke<br />

so naheliegend ist, müsse man ihn sich einprägen, bevor im entscheidenden Fall Angst die<br />

Oberhand gewinnt.<br />

Dao sieht sich im Januar an, wie erst zwei Rentner den Schützen stoppen, der in Tucson,<br />

Arizona, auf die US-Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schießt. Er schaut im Februar<br />

das Video von der alten Dame in Northampton, England, die mit ihrer Handtasche ganz<br />

alleine mehrere behelmte Angreifer in die Flucht schlägt, die einen Juwelier überfallen. Er<br />

schaut, um zu lernen.<br />

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„Kriminelle sind keine guten Kämpfer“, sagt Dao. Sie wollen Erfolge erzwingen. Sie<br />

zeichnen sich deshalb durch zweierlei aus: Hemmungslosigkeit und einen Mangel an<br />

Geduld. Weil sie keine Geduld haben, durch Arbeit zu Geld zu kommen, rauben sie. Weil<br />

sie keine Geduld haben, Jahre in eine Kampftechnik zu investieren, schlagen sie mit der<br />

Bierflasche zu. Das zu wissen sei unter Umständen nützlicher als ein eingeübter<br />

Karategriff.<br />

Er selbst war „eher der Junge, der auf die Mütze bekommen hat“. Bis er mit zwölf Jahren<br />

Karate entdeckte. Vor lauter Begeisterung klebte er die Plakate seines Studios in der<br />

ganzen Schule an. Im Bild war ein fliegender Kämpfer in der Luft. Dazu schrieb er: „Wenn<br />

ihr mehr wissen wollt, fragt Philip aus der 5C.“ Man könnte sagen, schlagartig hörte die<br />

Belästigung auf. Es war die erste Lektion im Thema: gewinnen ohne zu kämpfen.<br />

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