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Der entwaffnende Blick - Zeitung Heute - Tagesspiegel<br />
sagt Dao, „kann die Sicherheit erhöhen.“ Aber eigentlich werde Sicherheit damit wieder<br />
delegiert. Wer delegiert, bleibt passiv. Besser ist es, Sicherheit in sich selbst zu finden. Wer<br />
will sich auch darauf verlassen, dass zufällig ein Polizist in der Nähe ist?<br />
Der Bahnsteig an der U 7, Parchimer Allee, ist vollkommen verwaist. Das<br />
Benachrichtigungssystem Daisy verspricht eine U-Bahn in Richtung Rathaus Spandau in<br />
acht Minuten. „Soll ich mich umdrehen, wenn ich hinter mir Schritte höre?“, fragen ihn<br />
Frauen oft, denn das werde bereits als Angst interpretiert. Auf jeden Fall umdrehen, sagt<br />
er dann. Wichtig ist, dass man natürlich bleibt. Es ist unnatürlich, krampfhaft<br />
wegzugucken. „Wie lange soll ich gucken?“, fragen die Frauen. Gucke interessiert, gucke<br />
selbstverständlich, sagt Dao. So, als würdest du dich in einem Café umgucken, ob du<br />
jemanden kennst.<br />
Lange, sagt Dao, habe man an den Ursachen von Gewalt geforscht, an Arbeitslosigkeit,<br />
Motiven in der Kindheit, „möglichst weit weg vom Phänomen“. Inzwischen wendet man<br />
sich den Situationen zu, in denen Gewalt entsteht. Die Täter müssen sich zum Beispiel<br />
einen würdigen Gegner erst aufbauen. „Ein Täter muss ungeheuer viel Energie aufbringen,<br />
um jemanden anzugehen, der sich gar nicht provozieren lässt.“<br />
Die Gewalt in den U-Bahnen, sagt Dao, ist deshalb hauptsächlich ein Männerproblem. Sie<br />
geraten schneller „in den vermeintlichen Zwang, den Hahnenkampf bis zum Ende<br />
durchspielen zu müssen“. Sie haben ein größeres Problem damit, in der Öffentlichkeit zu<br />
„verlieren“.<br />
Die U 7 unterquert ratternd Berlin. An jedem Bahnhof spülen Menschen hinein und<br />
hinaus. Dao wird von einem Schüler erkannt. Am U-Bahnhof Hermannplatz steigt ein<br />
weinendes Mädchen mit seiner Mutter ein. Die Bühne ist bestens beleuchtet, es wird<br />
gefilmt. Routinemäßig zeichnen die Kameras in der Decke auf. In irgendeiner<br />
Überwachungszentrale wird ein Mitarbeiter sehen, wie eine Mutter ihre Tochter schaukelt.<br />
Die Mitreisenden rutschen zusammen. Wegen des allgemeinen Friedens dieser Szene wird<br />
sie natürlich niemals bei Youtube abzurufen sein.<br />
Die tausendfach hochgeladenen Gewalt-Videos jedoch wurden unter den Blicken im Netz<br />
zur Massen-Unterhaltung. Philip Dao klickt sie mit analytischem Interesse an: typisch das<br />
Verhalten des Opfers in der Friedrichstraße. Man sieht gut, wie sich bei einer Bedrohung<br />
sofort der Blick verengt und der 29-Jährige nur noch in das Gesicht des Angreifers schaut.<br />
Nach unten hängen die Hände, die er bräuchte, um die Flasche abzuwehren, die der Täter<br />
lange in der rechten Hand schwenkt, den richtigen Moment abwartend, um sie ihm voll<br />
ins Gesicht zu schlagen. „Immer auf die Hände gucken“, sagt Dao. Obwohl dieser Gedanke<br />
so naheliegend ist, müsse man ihn sich einprägen, bevor im entscheidenden Fall Angst die<br />
Oberhand gewinnt.<br />
Dao sieht sich im Januar an, wie erst zwei Rentner den Schützen stoppen, der in Tucson,<br />
Arizona, auf die US-Kongressabgeordnete Gabrielle Giffords schießt. Er schaut im Februar<br />
das Video von der alten Dame in Northampton, England, die mit ihrer Handtasche ganz<br />
alleine mehrere behelmte Angreifer in die Flucht schlägt, die einen Juwelier überfallen. Er<br />
schaut, um zu lernen.<br />
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/der-entwaffnende-blick/v_print,4289460.html?p=<br />
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16.06.2011