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Der entwaffnende Blick - Zeitung Heute - Tagesspiegel<br />
Aber ist die Gewalt nicht zuletzt brutaler und hemmungsloser geworden? „Das wird seit<br />
100 Jahren festgestellt. Wenn dem so wäre, müssten wir jetzt im Kriegszustand sein.“<br />
Sind wir aber nicht. Vielmehr finden wir in der U-Bahn noch immer das Destillat der<br />
Großstadt. Hier wurzelt die Stadt. Hier zeigt sie ihren Charakter, hier lässt sich die<br />
Verfassung ihrer Bewohner ab<strong>lesen</strong>. Es ist ein großes, ständig gefährdetes zivilisatorisches<br />
Wunder, dass so viel körperliche Nähe bei so viel sozialer Distanz möglich ist. 1,4<br />
Millionen Mal wird in Berlin täglich eine friedliche U-Bahn-Fahrt unternommen. Und wie<br />
wurden die Londoner bewundert, als sie nach tödlichen Bombenanschlägen 2005 stoisch<br />
weiter U-Bahn fuhren und sich ihren öffentlichen Raum nicht nehmen ließen.<br />
Am liebsten, sagt Dao, sitzt er auf einem Platz längs zum Wagen. Da hat man niemanden<br />
im Rücken und alle im Blick. Vier frisch geduschte Jungs, die vermutlich aus genau den<br />
gleichen Gründen dort sitzen, reden lauter, als sie müssten. „Aufmerksamkeit darf keine<br />
Paranoia werden“, sagt Dao. „Man kann sonst sein ganzes Leben im Panic Room<br />
verbringen.“ Die Arme der Mitreisenden wandern krakenhaft über die Rückenlehnen.<br />
Einer steigt unvermittelt aus, die anderen krakeelen hinterher.<br />
„Das sind ganz normale Jungs“, sagt Dao. „Die wollen was erleben.“<br />
Was ist denn in der U-Bahn zu erleben?<br />
„Das Gefühl, mittendrin zu sein“, sagt Dao. Pöbeleien sind eine Erfahrung mit ungewissem<br />
Ausgang. Das lockt. Manchmal reizt eine körperliche Sensation. Die Aufmerksamkeit<br />
Fremder. Anerkennung der Peer-Group. „Hey, ich bestimme eine Situation.“ Im<br />
Waggon: Kaninchenblick.<br />
Ein Irrtum der klassischen Selbstverteidigung sei deshalb die Konzentration auf den<br />
Kampf. „Es sieht dann so aus, als seien Schläge die einzige Möglichkeit.“ Dabei sei der<br />
gewonnene Kampf derjenige, den man gar nicht kämpfen muss. Es gibt, sagt Dao, ganze<br />
Berufsgruppen, die dauerhaft mit aggressiven Menschen zu tun haben: Ärzte,<br />
Sozialarbeiter, Jugendamtssachbearbeiter. Menschen sind wütend auf Vollzugsbeamte<br />
und auf Mitarbeiter der Jobcenter. „Die können ja schlecht ihre Kunden ausschalten.“ Es<br />
muss also andere Möglichkeiten geben.<br />
Einmal wollte Dao in eine U-Bahn einsteigen, deren sich öffnende Tür nur den Blick auf<br />
einen breiten Rücken freigab. Die Arme ruhten rechts und links auf den Stangen. Er<br />
wartete eine Weile, der Mann drehte sich um, trat aus der Tür, schubste ihn zur Seite und<br />
ging seines Weges. Dao hat gar nichts gemacht, außer sich um sein eigenes Gleichgewicht<br />
zu kümmern.<br />
„Das Ziel muss sein: Lösungen finden, wie der andere ohne Schläge sein Gesicht wahren<br />
kann.“ Da beginnt für Dao Kampfkunst. Man müsse es psychologisch schaffen, so eine<br />
Situation als Sieg zu begreifen.<br />
200 zusätzliche Polizisten stehen nach den jüngsten Zwischenfällen für die Berliner U-<br />
Bahn in Aussicht, außerdem soll es Lautsprecherdurchsagen schon während eines<br />
Zwischenfalls geben. Als eine Art Stimme des Gewissens aus dem Off. „Jegliche Präsenz“,<br />
http://www.tagesspiegel.de/zeitung/der-entwaffnende-blick/v_print,4289460.html?p=<br />
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16.06.2011