Der Barmherzige Samariter - Good Samaritan
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BEITRÄGE ZUR<br />
GESCHICHTE DER BIBLISCHEN EXEGESE<br />
Herausgegeben von<br />
OSCAR CULLMANN, BASEL/PARIS ˙ ERNST KÄSEMANN, TÜBINGEN<br />
HANS-JOACHIM KRAUS, HAMBURG-VOLKSDORF<br />
HARALD RIESENFELD, UPSALA<br />
KARL HERMANN SCHELKE, TÜBINGEN ˙ PAUL SCHUBERT, NEW HAVEN<br />
ERNST WOLF, GÖTTINGEN<br />
5<br />
<strong>Der</strong> <strong>Barmherzige</strong> <strong>Samariter</strong><br />
Eine auslegungsgeschichtliche Untersuchung<br />
Zu Lukas 10, 25–37<br />
von<br />
WERNER MONSELEWSKI<br />
1967<br />
J.C.B. MOHR (PAUL SIEBECK) TÜBINGEN
VORWORT<br />
Diese Untersuchung ist die überarbeitete Dissertation, mit der der Unterzeichnete im<br />
Jahre 1965 bei der Ev.-Theol. Fakultät der Universität Münster zum Dr. theol. Promovierte. Sie<br />
will an einem Modellfall den Problemen der “christologischen” Auslegung von<br />
Beispielerzählungen und Gleichnissen nachgehen.<br />
Besonders gedankt sei an dieser Stelle der Universitätsbibliothek Münster für alle<br />
Mithilfe bei der Beschaffung der Literatur sowie der Ev.-luth. Landeskirche Hannovers für eine<br />
mehrjährige Beurlaubung und für die Gewährung eines namhaften Druckkostenzuschusses zur<br />
Veröffentlichung dieser Untersuchung.<br />
Vor allem aber gebührt mein Dank Herrn Professor D. Karl Heinrich Rengstorf, Teol. D.<br />
r. h. c. DD, Münster, der mir nicht nur entscheidende Impulse während meines Studiums<br />
vermittelte, sondern mir auch bei der Fertigstellung dieser Arbeit in vielfältiger Weise zur Seite<br />
gestanden hat.<br />
Sadtoldendorf, den 1. November 1966<br />
Werner Monselewski
INHALT<br />
Kapitel 1<br />
EINLEITUNG ...........................................................................................................................1<br />
I. Die Probleme der Auslegung ....................................................................................1<br />
a) Die Auslegung der Perikope bei B. Gerhardsson, J. Daniélou<br />
und H. Binder ...................................................................................................1<br />
b) <strong>Der</strong> auslegungsgeschichtliche Hintergrund der Auslegungen<br />
von B. Gerhardsson, J. Daniélou und H. ...........................................................7<br />
II. Die Fragestellung ....................................................................................................14<br />
a) Die allegorische Auslegung in der Gegenwart...................................................14<br />
b) “Allegorie” und “christologische” Auslegungsmethode ....................................15<br />
c) Die leitenden Gesichtspunkte für weitere Arbeit ...............................................16<br />
Kapitel 2<br />
DIE AUSLEGUNG IM ZEITALTER DER KIRCHENVÄTER................................................18<br />
A. Die frühest erreichbare Auslegung.....................................................................................18<br />
B. Die Auslegung seit Irenäus................................................................................................29<br />
I. Die Einzelwendungen im Zusammenhang christologischer Auslegung ..................29<br />
Zusammenfassung .................................................................................................49<br />
II. Die Hauptlinien der Auslegung..............................................................................51<br />
a) Die christologische Hauptlinie ..........................................................................52<br />
b) Die christologisch-ethische Hauptlinie .............................................................53<br />
c) Die rein ethische Hauptlinie..............................................................................57<br />
Zusammenfassung ................................................................................................60<br />
Kapitel 3<br />
DIE AUSLEGUNG IM ZEITALTER DER SCHOLASTIK......................................................63<br />
A. <strong>Der</strong> Ausbau des bisherigen Schemas .................................................................................63<br />
I. Die Einzelwendungen im Zusammenhang christologischer Auslegung ..................63<br />
II. Die Hauptmotive im Gesamtzusammenhang der Auslegung ..................................67<br />
a) Das christologische Hauptmotiv........................................................................67<br />
b) Das ethische Hauptmotiv..................................................................................68<br />
c) Die beiden Hauptmotive in den verschiedenen “Literatur”-Formen...................70<br />
d) Die beiden Hauptmotive im Verhältnis zu Einleitung und Kontext ...................70
B. Die Veränderung des bisherigen Schemas im ganzen ........................................................74<br />
I. Moralische Auslegungen .......................................................................................74<br />
II. Christologische Auslegungen ................................................................................79<br />
Zusammenfassung .................................................................................................84<br />
Kapitel 4<br />
DIE AUSLEGUNG IM ZEITALTER DER REFORMATION UND<br />
GEGENREFORMATION.........................................................................................................85<br />
A. Luther ..............................................................................................................................85<br />
I. Die Hauptmotive in den Predigten .........................................................................85<br />
II. Die Predigten im Vergleich mit den Einzelbemerkungen ......................................93<br />
B. Calvin ..............................................................................................................................97<br />
C. Die reformatorische Auslegung neben und im Gefolge von Luther und Calvin, sowie die<br />
evangelische Auslegung in der Zeit der Gegenreformation ............................................. 101<br />
I. Das christologische Hauptmotiv .......................................................................... 101<br />
II. Das ethische und das hamartologische Hauptmotiv ............................................. 102<br />
III. Zusammenfassung .............................................................................................. 103<br />
D. Die Auslegung der “römischen” Theologen .................................................................... 112<br />
Kapitel 5<br />
DIE AUSLEGUNG IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT ........................................................ 115<br />
A. Die evangelischen und evangelisch beeinflußten Auslegungen ....................................... 115<br />
I. Das christologische Motiv ................................................................................... 115<br />
II. Die Ablehnung der christologischen Auslegung................................................... 118<br />
III. Die nichtchristologischen Hauptmotive................................................................ 121<br />
a) Das ethische Motiv ........................................................................................ 121<br />
b) Das soteriologische Motiv ............................................................................. 125<br />
IV. <strong>Der</strong> christliche Charakter unseres Textes ............................................................. 126<br />
V. Zusammenfassung .............................................................................................. 112<br />
B. Die römisch-katholische Auslegung ............................................................................... 132<br />
Kapitel 6<br />
DIE WICHTIGSTEN ZÜGE DER AUSLEGUNG SEIT JÜLICHER .................................... 134<br />
I. Die Ablehnung der christologischen Auslegung .................................................. 134<br />
II. Die nichtchristologischen Hauptmotive ............................................................... 137<br />
a) Das ethische Motiv ..................................................................................... 137<br />
b) Das soteriologische Motiv ........................................................................... 143
III. <strong>Der</strong> christliche Charakter unseres Textes ............................................................. 145<br />
IV. Das überlieferungsgeschichtliche Problem .......................................................... 153<br />
Kapitel 7<br />
ERGEBNIS UND AUSBLICK............................................................................................... 158<br />
VERZEICHNIS DER BENUTZTEN QUELLEN .................................................................. 182<br />
VERZEICHNIS DER ZITIERTEN AUTOREN ..................................................................... 201
Kapitel 1<br />
E I N L E I T U N G<br />
1. Die Probleme der Auslegung<br />
Die Probleme der Auslegung von Lk 10, 25-37 sollen umrissen werden, indem wir<br />
uns zunächst drei exegetische Arbeiten der jüngsten Zeit vor Augen führen, die für die<br />
gegenwärtige Lage besonders charakteristisch sind, und uns dann den Hintergrund dieser<br />
Arbeiten in der Auslegungsgeschichte seit Jülicher l ) vergegenwärtigen.<br />
a) Die Auslegung der Perikope bei B. Gerhardsson, J. Daniélou und H. Binder<br />
1. Birger Gerhardssons Ansatz 2 ) wird deutlich, wenn er bereits einleitend feststellt :<br />
„ . . . early church fathers all interpreted this parable Christologically“ 3 ). In der Tat, die<br />
christologisehe Auslegung reicht über Origenes zurück, findet sich bei Klemens und<br />
Irenäus und läßt sich also auf alle Fälle schon in der zweiten Hälfte des zweiten Jahrhunderts<br />
für Ä g y p t e n und Kleinasien nachweisen. Von daher stellt Gerhardsson die<br />
Frage, ob unsere ,,Parabel“ nicht überhaupt ,,christologisch“ interpretiert worden sei,<br />
womöglich schon von Jesus Christus selbst 4 ). Er versucht, diese Frage zu klären, indem<br />
er eine Anzahl von Argumenten anführt, von denen sich der größte Teil, wie wir noch<br />
sehen werden, in der früheren Auslegungsgeschichte wieder-<br />
1) Genauer seit 1899, s. dazu unten S. 134, Anm. 1.<br />
2) In: B. Gerhardsson, The <strong>Good</strong> <strong>Samaritan</strong>. Die Titel der Quellen sind in der Regel abgekürzt zitiert,<br />
vollständige Angaben s. Literaturverzeichnis, unten S. 182ff.<br />
3) AaO S. 3.<br />
4) AaO.
2<br />
findet, ohne daß Gerhardsson sich im einzelnen auf sie bezieht. – Zunächst allerdings<br />
finden wir ein hermeneutisches Argument. Gerhardsson weist darauf hin, daß nach der<br />
neuesten Forschung – er bezieht sich besonders auf Joachim Jeremias – die „Parabeln“<br />
Jesu, wenn man nach ihrem ursprünglichen Sinn frage, nicht ,,moralisch“ zu verstehen<br />
seien, sondern von Hause aus ohne Ausnahme „verhüllte christologische<br />
Selbstzeugnisse“ 1 ) darstellen. Als gewichtigsten Grund für eine christologische<br />
Auslegung führt er die Ä hnlichkeit von Lk 10, 30–37 mit den „Hirten“-Texten des<br />
Neuen Testamentes an 2 ). Die allgemeine Struktur der Erzählung vom barmherzigen<br />
<strong>Samariter</strong> einerseits und der „Hirten“-Texte andererseits weise dieselben Elemente auf 3 ).<br />
Ferner betont er, daß Jesus selbst Joh. 8, 48 als <strong>Samariter</strong> bezeichnet wird und daß<br />
Σαµαρίτης ( = hebr. šomron) bereits in der Alten Kirche und sogar bei den <strong>Samariter</strong>n<br />
selbst mit dem hebräischen Wort „šomer“ im Sinne von „Wächter, Hirte“<br />
zusammengebracht worden ist. Schon von da aus lege sich ein Verständnis der „Parabel“<br />
vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> im Sinne der „Hirten“-Perikopen nahe 4 ). Weiter findet er<br />
eine christologische Interpretation von Lk 10, 30–37 nahegelegt durch den Gebrauch von<br />
σπλαγχνίζεσθαι, das seiner Meinung nach überall im biblischen Schrifttum, abgesehen<br />
von einer Ausnahme, im Blick auf Gott gebraucht wird 5 ). Auch die Erwähnung von Öl<br />
und Wein in Lk 10, 34 hält er für eine Stütze seiner These, da er in ihnen messianische<br />
Symbole sieht 6 ). So kommt Gerhardsson auf Grund seiner Überlegungen zu dem Schluß:<br />
,,The import of these observations is that the patristic exposition may have preserved,<br />
underneath its florid allegorising, the original sense of the parable, namely that its subject<br />
was Christ himself.“ 7 )<br />
Zusätzlich sieht Gerhardsson in der von ihm vorgesehlagenen „christologischen“ 8 )<br />
Auslegung eine wichtige Handhabe, den auch<br />
1) AaO S. 8.<br />
2) Vor allem Mt 9, 36 und Joh. 10, 1–16.<br />
3) Wehrlose Herde – verwundeter Mann; falsehe Hirten – Priester und Levit; treuer Hirte – <strong>Samariter</strong>.<br />
4) AaO S. 16.<br />
5) AaO S. 18.<br />
6) AaO.<br />
7) AaO.<br />
8) „Christologically ” , so aaO S. 3 u. ö.
3<br />
für ihn bestehenden Bruch zwischen Lk 10, 25–29 und Lk 10, 30–37 zu erklären.<br />
Ursprünglich könnte nämlich, so meint er, eine bewußte Umakzentuierung durch Jesus<br />
im Sinne der rabbinischen ’al-tigre-Methode 1 ) stattgefunden haben. Dabei stellt er sich<br />
die Situation so vor, daß der Schriftgelehrte in dem ursprünglich hebräisch geführten<br />
Gespräch zwar frage: ,,Wer ist mein ( = Nächster)“, daß Jesus diese Frage aber<br />
stillschweigend in die andere zunächst zu stellende Frage verwandelt: ,,Wer ist mein (=<br />
Hirt).“ Jesus gehe also strenggenommen gar nicht auf die Frage des Schriftgelehrten ein,<br />
sondern suche ihm in der Erzählung Lk 10, 30ff. vielmehr klarzumachen: ,,Dein bin<br />
ich.“ 2 ) Indes drängt sich an dieser Stelle sofort die Frage auf, warum in unserer Perikope,<br />
wie sie heute im Lukas-Evangelium vorliegt, keinerlei Anzeichen für eine so<br />
weitgehende Umwandlung der Frage des Schriftgelehrten mehr zu finden sind.<br />
2. Eine der Exegese Gerhardssons in gewisser Weise verwandte Auslegung hat Jean,<br />
Danielou 3 ) gegeben. Auch für ihn ist entscheidend, daß die älteste nachweisbare<br />
Überlieferung Lk 10, 30–37 nicht in erster Linie ,,moralisch“ interpretiert, sondern als<br />
,,eine Offenbarung des Geheimnisses des Reiches“ 4 ) versteht. Daniélou vertritt die These,<br />
daß es sich in dieser Auslegung der Alten Kirche nicht um ein Ergebnis der Arbeit der<br />
Alexandrinischen Schule handele 5 ), sondern um eine Auslegung, die in den Grundzügen<br />
noch auf die erste judenchristliche Gemeinde in Jerusalem zurückgehe und darum sehr<br />
wohl Jesu eigene Intention treffen könnte. Er stützt dies darauf, daß sich Origenes in<br />
seiner 34. Lukas-Homilie s ) für diese Auslegung auf einen „Presbyter“ beruft. In diesem<br />
,,Presbyter“ sieht Daniélou, entgegen der sonst üblichen Auffassung, nicht einfach einen<br />
der „ältesten und angesehensten Glieder der Gemeinde“, sondern im Sinne des Irenäus<br />
„eine Persönlichkeit von ehemals “ , „ein Glied der jüdisch-christlichen Gemeinde“ 7 ).<br />
1) AaO S. 29f.<br />
2) AaO.<br />
3) J. Daniélou., Le bon Samaritain, in: Mélanges Bibliques, rédigés en l’honneur de André Robert,<br />
1955, S. 454–493.<br />
4) AaO S. 457.<br />
5) So z. B. D. Buzy, Les Paraboles, S. 458.<br />
6) Vgl. GCS Orig. 9, 188ff., s. dazu unten vor allem S. 27 f.<br />
7) J. Daniélou, Le bon Samaritain, S. 458.
4<br />
Im zweiten Abschnitt seiner Darlegungen geht Daniélou noch einen Schritt weiter.<br />
Er versucht, in unserer „Parabel“ selbst Anzeichen ihres „heilsgeschichtlichen“<br />
Verständnisses aufzuzeigen. Allerdings kann er das nur, nachdem er auf Grund des<br />
„Mangels an Übereinstimmung zwischen dem Gleichnis selbst und der Frage, die es<br />
einleitet“ Lk 10, 25–29 und 30–37 zu einer „sekundären Zusammenordnung“ erklärt<br />
hat 1 ). An exegetischen Gründen für eine heilsgeschichtliche Auslegung nennt er außer<br />
der Ähnlichkeit von Lk 10, 30–37 mit Joh. 10, 1 ff. und dem Gebrauch von<br />
έσπλαγχνίσθη für eine hier gemeinte „Bewegung Gottes“ folgendes: 1. Nur eine<br />
,,heilsgeschichtliche“ Auslegung würde sich zwanglos an die im ursprünglichen Kontext<br />
der ,,Parabel“ unmittelbar vorausgehenden Verse 21–24 anschließen 2 ). 2. έπανέρχεσθαι<br />
in Vers 35 sei ein ausgesprochener Terminus des Redens von der βασιλεία und meine im<br />
übrigen auch Lk 19, 15 die Rückkehr des Herrn. 3. Die ,,zwei Denare“ Vers 35, von<br />
denen jeder einem Tageslohn entspricht, könnten in diesem Zusammenhang bedeuten,<br />
daß der Herr nach Ablauf der zwei Tage, also am „dritten Tage“ wiederkomme. So<br />
findet Daniélou in unserer „Parabel “ eine Struktur, wie sie nicht nur im Gleichnis vom<br />
guten Hirten, sondern auch in denen vom verlorenen Sohn, vom verirrten S c h a f und<br />
von den Mördern im Weinberge vorliegt. Jedesmal werde „ein symbolischer Abriß über<br />
den Zweck der göttlichen Liebe“ gegeben, einer Liebe, die sich durch die Etappen der<br />
Heilsgeschichte hin manifestiere.<br />
In einem dritten Teil sucht• Daniélou dann durch einen Vergleich verschiedener<br />
Texte von Kirchenvätern zu erweisen, daß in der alten Auslegung unserer Perikope die<br />
Hauptzüge stabil sind, d. h. immer wiederkehren, während die Nebenzüge sich stark<br />
verändern 3 ). Die Hauptzüge möchte er auf die Urgemeinde zurückführen, die Nebenzüge<br />
aber auf gnostischen Einfluß. Abschließend sagt er über die bisherige Auslegung: „Es<br />
bleibt legitim, dieses Gleichnis in dem<br />
1) AaO S. 460.<br />
2) Vgl. hierzu und zu.m folgenden aaO S. 460f.<br />
3) AaO S. 462ff. Die Hauptzüge sind für Daniélou vor allem die Auslegungen der Kirchenväter zu<br />
den Wendungen: „ein Mensch “ , V. 30 ; ,,Jerusalem“, V. 30; „Priester“ u. ,,Levit“, V. 32; „<strong>Samariter</strong>“,<br />
V. 33; „Wirtshaus“, V. 34; – dagegen zählt er zu den Nebenzügen u. a. die Interpretation von:<br />
„halbtot“, V. 30; „Öl und Wein“, V. 34; insbesondere aber auch die der Wendungen „Wirt“, V. 35<br />
und „Denare“, V. 35; s. zum Ganzen unten S. 49 ff.
5<br />
Sinne zu interpretieren, daß ein verachteter <strong>Samariter</strong>, der Liebe praktiziert, höher ist als<br />
ein geachteter Levit, der sie nicht praktiziert . . . . Aber es ist auch legitim, in dem<br />
Gleichnis eine der erstaunlichsten Ausdrucksweisen des Heilswirkens zu sehen. . . . "1 )<br />
3. Wiederum stark verwandt mit der Auslegung Gerhardssons und Daniélous und<br />
doch von anderer Art ist die Exegese unserer Perikope durch Hermann Binder 2 ).<br />
Er gibt zwar zu, daß das „Gleichnis“ Lk 10, 29–37a 3 ) durch die Verbindung mit Lk<br />
10, 25–28 vom Evangelisten in ein ,,ethisierendes Verständnis“ eingeordnet worden<br />
sei 4 ); das Gleichnis selbst scheint ihm aber einen völlig anderen Sinn als den der<br />
Aufforderung zur Nächstenliebe zu haben, wie ihn die meisten Ausleger in ihm finden.<br />
Angelpunkt seiner eigenen Exegese ist die Wendung Vers 36 τίς τούτων τών τριών<br />
πλησίον δοκεί σοι γεγονέναι του έµπεσόντος είς τούς ληστάς; dies aber nun so, daß er<br />
besonderes Gewicht auf das γεγονέναι legt, das ,,exakterweise mit ,Gewordensein’<br />
übersetzt werden muß“, so daß also hier ,,nicht das Problem, wie man Freund oder<br />
Feind sein muß“ erörtert werde, sondern die Frage, ,,wer von den dreien . . . Freund<br />
oder Nächster geworden ist“ 5 ). Dadurch, so heißt es später, werde angedeutet, daß die<br />
drei Personen, – der Priester, der Levit und der <strong>Samariter</strong> –, in ein besonderes<br />
Verhältnis zu dem unter die Mörder Gefallenen getreten seien, innerhalb dessen nicht<br />
mehr sie selbst entscheidend sind, sondern der halbtote Mann auf dem Wege. So<br />
übernehme im Duktus der Perikope die ,,Initiative“ gänzlich jener andere, der bis dahin<br />
der Empfangende war 6 ). Er sei es ja, der denjenigen zum ihm am nächsten Stehenden<br />
erklärt, der sich seiner angenommen hat und der die anderen, die ihm nicht geholfen<br />
haben, unter die Fernstehenden einreiht 7 ).<br />
Zur Verständnis der besonderen These Binders, auf die wir zu-<br />
1) AaO S. 465.<br />
2) H. Binder, Das Gleichnis vom barmh. Sam., in: Theologische Zeitschrift, herausgegeben von der<br />
Theologischen Fakultät der Universität Basel, 1959, S. 176–194.<br />
3) V. 37b ist für ihn wieder lukanisch.<br />
4) AaO S. 179.<br />
5) AaO.<br />
6) AaO S. 182, vgl. dazu K. Scheitlin, Das Gleichnis vom Mann, der unter die Räuber fiel, in:<br />
Kirchenblatt f. d. ref. Schweiz, 1945, S. 322ff.<br />
7) AaO S. 184.
6<br />
gehen, ist noch darauf hinzuweisen, daß es für ihn in unserer Perikope vor allem anderen<br />
um kultische Probleme geht. Priester und Levit sind für ihn eindeutig „Repräsentanten<br />
kultischer Religionen“ 1 ). Von seinem kultischen Verständnis von Priester und Levit her<br />
folgert Binder dann für den <strong>Samariter</strong>, der als Dritter und Letzter dem Halbtoten<br />
begegnet: ,,Damit sollte an ihm dies eine deutlich werden, daß der ,<strong>Samariter</strong>’ nicht in<br />
der Zwangsjacke kultischer Vorurteile steckt, daß das samaritanische Volk, als . . .<br />
Repräsentant aller ,einfachen’ Völker . . ., von hieraus betrachtet, frei ist zur Begegnung<br />
mit dem, der gemäß jüdisch-kultischen Denken als ein Unreiner gewertet wird, daß es<br />
frei ist zur Gottesbegegnung in Jesus Christus.“ 2 ) Damit aber ist Binder bei seiner<br />
eigenen Auslegungsthese: ,,Ja, im Bilde jenes Unreinen ist kein anderer dargestellt als<br />
Christus selbst, der von den Repräsentanten des jüdischen Kultus mißachtete, unreine,<br />
abgelehnte Mann von Nazareth.“ 3 )<br />
So zeigt nach Binders Ansicht Jesus durch Lk 10, 30–37, vollends wenn man den<br />
Zusammenhang mit dem großen Erfolg der ausgesandten Jünger in Samarien<br />
berücksichtigt, ,,daß seine (scil. Jesu) Zuwendung zum samaritanischen Volk seiner<br />
Freude über das von kultischen Vorurteilen unbeschwerte Entgegenkommen der<br />
<strong>Samaritan</strong>er entspringe“ 4 ).<br />
4. Zusammenfassung. Bevor wir nun zunächst nach dem auslegungsgeschichtlichen<br />
Hintergrunde der drei dargestellten Exegesen fragen, müssen schon an dieser Stelle zwei<br />
für die Beurteilung wichtige Beobachtungen hervorgehoben werden.<br />
Die erste betrifft das spezielle theologische Interesse, das sich Binders Auslegung<br />
entnehmen läßt. ,,Diejenigen“, so heißt es bei ihm in seiner Kritik an den ethischen<br />
Auslegungen 5 ), ,,die hier laut ,christliche Nächstenliebe’ rufen, täten gut, einmal darüber<br />
nachzusinnen, ob sie mit dieser Überschrift mehr meinen, als ein Teilthema einer<br />
humanitären Ethik “ . Danach ist Binder der Überzeugung, daß der eindeutig christliche<br />
Charakter unserer Perikope nur durch eine „allegorische Auslegung“ 6 ), wie er sie<br />
vertritt, gesichert werden<br />
1) Zu den Wurzeln dieser Auffassung s. u. S. 141 f.<br />
2) AaO S. 190.<br />
3) AaO S. 191.<br />
4) AaO S. 193.<br />
5) AaO S. 186.<br />
6) So Binder selbst aaO S. 194.
7<br />
kann. Er bringt damit am deutlichsten einen Standpunkt zum Ausdruck, der im Grunde<br />
von alien drei Exegeten vertreten wird.<br />
Die zweite Beobachtung betrifft einen Einzelpunkt. Binders Auslegung steht und fällt<br />
mit seiner Interpretation des γεγονέναι Vers 36. Dabei darf keinesfalls übersehen<br />
werden, daß Scheitlin l ) durchaus nicht zu einer ,,allegorischen“ Auslegung kommt,<br />
obwohl auch er von der Beobachtung ausgeht, daß der am Boden Liegende und nicht<br />
der <strong>Samariter</strong> die entscheidende Beispielsperson ist 2 ). Daneben ist die Tatsache zu<br />
stellen, daß Binder sich polemiseh nicht nur gegen die ethische Auslegung unserer<br />
Perikope wendet, sondern auch gegen die klassische ,,allegorische“ Auslegung, die<br />
Christus mit dem <strong>Samariter</strong> gleichsetzt. Die Art und Weise, in der Binder seine eigene<br />
These exegetisch begründet und zugleich gegen andere Auslegungen, besonders die<br />
klassische Auslegung des <strong>Samariter</strong>s auf Christus, polemisiert, legen die Annahme<br />
nahe, daß er vor allem auf Grund eben dieser klassischen „allegorischen“ Auslegung zu<br />
seiner eigenen These gekommen ist 3 ). Obwohl sich die Auslegung Binders von der<br />
Gerhardssons und Daniélous stark unterseheidet, liegt sie Ietzten Endes doch auf<br />
derselben Ebene mit ihnen.<br />
b) <strong>Der</strong> auslegungsgeschichtliche Hintergrund der Auslegungen von B. Gerhardsson,<br />
J. Daniélou und H. Binder<br />
I. Hinsichtlich des auslegungsgeschichtlichen Hintergrundes der oben angeführten<br />
Auslegungen ist ein Gesichtspunkt wichtig, den uns einige Ausleger dieses Jahrhunderts<br />
an die Hand geben und der für unsere Untersuchung von grundsätzlicher Bedeutung ist.<br />
Am besten verdeutlicht man sich mit Hilfe von A. Plummer, worum es hierbei geht. Er<br />
läßt zwar das durchaus zu, was er selbst eine „Allegorisierung“ 4 ) unserer Perikope<br />
nennt, bestimmt aber sofort auch deren Grenzen: Für ihn ist ein allegorisierendes<br />
Verständnis einer Parabel erlaubt, ,,solange es nicht als die Meinung vertreten wird,<br />
1) K. Scheitlin, Das Gleichnis vom Mann, der unter die Räuber fiel, in: Kirchenbl. f. d. ref. Schweiz,<br />
1945, S. 322ff., s. auch unten S. 141f.<br />
2) Dazu, daß γεγονέναι keineswegs zwingend mit ,,geworden sein“ übersetzt werden rnuß,s. W. Bauer.<br />
Griechisch-deutsehes Wörterbuch zum N.T., 4. Aufl., 1952, S. 289 und A. Jülicher, Die<br />
Gleichnisreden Jesu, 2. Teil, 2. Aufl., S. 593.<br />
3) S. dazu auch unten S. 10.<br />
4) A. Plummer, Commentary on the Gospel according to S. Luke, S. 289.
8<br />
die der Erzähler der Parabel durch sie ausgedrückt wissen wollte. Daß Christus selbst<br />
eine einzigartige Verwirklichung des barmherzigen <strong>Samariter</strong>s war, steht außer Frage.<br />
Daß er beabsichtigte, den barmherzigen <strong>Samariter</strong> sich ihn selbst in seinem Umgang mit<br />
der gefallenen Menschheit darstellen zu lassen, ist mehr als wir wissen“ 1 ). Schon vor<br />
Plummer hatte neben anderen L. Fonck erklärt, die meisten Vertreter einer Auslegung<br />
unseres Textes „auf Christus und die Erlösung des Menschengeschlechts hin“ wüßten<br />
sehr wohl „zwischen dem eigentlichen, von Christus gemeinten Sinn und einer<br />
mystischen Anwendung der Parabel zu scheiden“ 2 ). Wir werden im Laufe der Arbeit zu<br />
prüfen haben, ob Foncks Beobachtung in der Allgemeinheit zu halten ist, in der er sie<br />
mitteilt. Jedenfalls sind keineswegs alle Bemerkungen zu unserer Perikope, die auf<br />
Christus und die Heilsgeschichte anspielen, gleich zu werten. Sie können nämlich<br />
exegetischer Art sein; sie können aber auch systematisch-theologischen 3 ) oder praktischtheologischen<br />
Erwägungen entstammen 4 ). In diesen Fällen werden in der Regel<br />
entsprechende Gedankengänge von der eigentlichen Exegese deutlich geschieden<br />
gebracht, und zwar im Zusammenhang mit dem Bemühen, unsere Perikope in den<br />
Gesamtrahmen des Wirkens Jesu hineinzustellen und sie gegebenenfalls auch für sein<br />
Selbstverständnis fruchtbar zu machen. So verfahren etwa unter den modernen Exegeten<br />
M. Albertz 5 ), K. H. Rengstorf 6 ), J. Pirot 7 ), W. Bartelt 8 ) und H. Simòn 9 ).<br />
Es kann nun im Rahmen dieser Arbeit nicht unsere Aufgabe sein, die<br />
Sachgemäßigheit solcher Hinweise auf Christus in applikativer Redeweise zu unserer<br />
Erzählung zu untersuchen. Wichtig ist uns nur, daß solche Hinweise keineswegs schon<br />
als Neuansätze einer Auslegung, wie wir sie bei Gerhardsson, Daniélou und Binder<br />
fanden, anzusehen sind.<br />
Doch auch dann bleiben in der Moderne eine Anzahl von Exegesen<br />
1) AaO.<br />
2) L. Fonck, Die Parabeln des Herrn, S. 588.<br />
3) So bei Plummer.<br />
4) So bei Fonck.<br />
5) M. Albertz, Die Botschaft des Neuen Testaments, Bd. II, 2, S. 87.<br />
6) K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10 Aufl., S. 142.<br />
7) J. Pirot, Paraboles, S. 176.<br />
8) W. Bartelt, Das Ev. des hl. Lukas, S. 120.<br />
9) H. Simòn, Introductio et Commentarius in quatuor Evangelia, S. 445.
9<br />
übrig, die als Vorläufer jener neuen Versuche bezeichnet werden müssen. Vor allem<br />
gehören in diesen Zusammenhang die Äußerungen Barths und der von ihm beeinflußten<br />
Exegeten zu Lk 10, 25–37.<br />
Beginnen wir mit ihm selbst, so bietet sich als Ausgangspunkt seiner exegetischen<br />
Ausführungen zu unserer Perikope an: KD 10 ) IV, 2, S. 933f. Zunächst fragt Barth: „Wer<br />
ist denn der von Gott geliebte und Gott wiederliebende Mensch, der seinem Mitmenschen<br />
als solcher Nächster und Bruder ist, der ihm nämlich Zeuge und Bürge dafür ist, daß Gott<br />
auch ihn liebt . . . ?“ Seine Antwort lautet: Kein anderer als Jesus selbst: „Eigentlich Er<br />
ist der <strong>Samariter</strong>. . . . Eigentlich Er erfüllt das Gebot Deut. 6, 4 und das Gebot Lev. 19,<br />
18. Eigentlich Er tut die Tat der Liebe in der einen und der anderen ihrer Dimensionen.“<br />
Ergänzt wird diese Äußerung durch die eingehendste Ausführung zu Lk 10, 37, die Barth<br />
in KD I, 2, S. 462 bietet. Er wirft die Frage auf, wie Jesus den Schriftgelehrten mit seiner<br />
Aufforderung entlassen könne, hinzugehen und ebenso zu tun, und antwortet: „Nun, . . .<br />
der barmherzige <strong>Samariter</strong>, der Nächste als Helfer, der ihn selbst zum Helfer machen<br />
will, ist dem Gesetzeslehrer nicht ferne. Er steht—die altkirchliche Exegese des Textes<br />
war grundsätzlich doch im Recht—verborgen unter der Gestalt eines solchen, den er<br />
hassen zu sollen glaubte . . . , aber leibhaftig vor ihm.“ Für Barth handelt es sich hier<br />
keineswegs, wie man zunächst meinen könnte, nur um dogmatische Rede, die sich des<br />
Bildes vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> bedient: Jeder Zweifel daran wird beseitigt, wenn<br />
man sieht, wie er selbst die zitierten Sätze begründet. Er findet eine starke Stütze in der<br />
Tatsache, daß in Lk 10, 37, abgesehen von έσπλαγχνίσθη (Vers 33) 11 ), nicht „der arme<br />
Verwundete mit seinem Anspruch auf Hilfe als der Nächste bezeichnet wird, sondern daß<br />
es heißt: <strong>Der</strong>, der die Barmherzigkeit tat, sei der Nächste“ 12 ). In dieser Formulierung ist<br />
es nach Barth gewissermaßen mit Händen zu greifen, daß der Text letztlich auf Christus<br />
selbst abzielt, denn im umfassendsten Sinne sei ja er es, der Barmherzigkeit am anderen<br />
tue. Von da aus bezieht Barth auch das ποίει δµοίως in Lk 10, 37 auf Christus: „Im<br />
δµοίωµα im Gleichnis der Tat der Liebe Christi, wird er . . . die Tat der Liebe nicht nur<br />
tun können, nicht nur tun wollen, sondern fak-<br />
10) K. Barth, Die Kirchliche Dogmatik, 1932ff.<br />
11) Ausgelegt wie oben S. 4.<br />
12) KD IV, 2, S. 935.
10<br />
tisch tun.“ 13 ) In diesen Zusammenhang gehört es auch, wenn Barth die zitierte Wendung<br />
unserer Perikope gleichsetzt mit dem: „Folge mir nach“ Jesu bei seinen Jüngerberufung<br />
(Lk 5, 27. 28 u. ö.) 14 ), denn: „Wer sein Nächster ist, das wird sich finden, wenn er dem<br />
Menschen Jesus nachfolgt.“ 15 ) Auch die Situationsbezogenheit der Nächstenliebe, wie sie<br />
aus dem eben gebrachten Zitat deutlich wird, ist für Barth ein Argument für die<br />
Gleichsetung Jesu mit dem <strong>Samariter</strong> 16 ). Von hieraus dürfte sich unter anderem Barthe<br />
scharfe Zurückweisung des „statischen“ Verhältnisses der Nächstenliebe in der<br />
Auslegung von Lk 10, 25ff. durch Calvin erklären 17 ).<br />
Schließlich bringt Barth sogar selber Gedanken, die in die Richtung Binders 18 ) gehen.<br />
So erklärt er z.B., indem er von dem Verwundeten von Lk 10, 30 ausgeht, im Blick auf<br />
alle Notleidenden, alle „Zeugen der Armut“: In ihrer Person repräsentierten sie Christus<br />
selbst, und zwar zugleich als den unter die Räuber Gefallenen und als den barmherzigen<br />
<strong>Samariter</strong> 19 ). Zu dieser Feststellung, auch in bezug auf den unter die Räuber Gefallenen,<br />
kommt Barth vermutlich, wie Cranfield es ausdrücklich erklärt, unter dem Einfluß von<br />
Mt 25, 40 20 ).<br />
In unmittelbarer Nachbarschaft zu K. Barth ist H. Gollwitzer zu nennen. In seiner<br />
Auslegung des Lukas-Evangeliums 21 ) erklärt er abschließend, der letzte Sinn der<br />
Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> öffne sich erst dann, wenn man in ihr „eine<br />
Predigt Jesu von seinem eigenen Werk“ erkenne 22 ). Exegetischer Ausgangspunkt für<br />
13) AaO.<br />
14) KD I, 2, S. 462.<br />
15) KD III, 2, S. 250.<br />
16) S. das Verständnis dieses Zusammenhanges bei A. M. Brouwer, De Gelijkenissen, S. 207: Barth<br />
meine, das „hic et nunc“ des Gebotes der Nächstenliebe käme richtig nur zur Geltung, wenn<br />
unsere Perikope christologisch ausgelegt werde.<br />
17) Vgl. KD I, 2, S. 462f.<br />
18) S. o. S. 5f.<br />
19) KD IV, I, S. 115.<br />
20) C. E. B. Cranfield, The <strong>Good</strong> <strong>Samaritan</strong>, in: Theology today 1954/55, S. 368–372, bietet eine den<br />
Ausführungen Barthe sehr ähnliche Exegese dar und beruft sich dafür auch ausdrücklich auf ihn.<br />
21) H. Gollwitzer, Die Freude Gottes, 2. Aufl., S. 121ff.<br />
22) AaO S. 124.
11<br />
diese Auffassung ist für ihn Lk 9, 56 23 ). Von da aus versteht er unsere Perikope streng<br />
eschatologisch: „In der äußersten Not des Gerichts werden alle, mit denen wir Liebe in<br />
einem gegenseitigen Handel hier auf Erden tauschen, vorübergehen, allein ER, Jesus, auf<br />
dem Weg nach Jerusalem, wo er bald für diesen Schriftgelehrten ein Ausgestoßener sein<br />
wird . . . , ER geht diesen Todesweg, um in jener äußersten Stunde diesem<br />
Schriftgelehrten der Nächste zu sein. . . . “ 24 ) In seiner Spezialstudie „Das Gleichnis vom<br />
barmherzigen <strong>Samariter</strong>“ bringt Gollwitzer neben diesem Argumenten für die<br />
„christologische Grundstruktur“ 25 ) unseres Textes dann noch die folgenden: Eine<br />
christologische Grundstruktur lege sich auch insofern nahe, als die Erzählung vom<br />
barmherzigen <strong>Samariter</strong> zu dem Bericht über Jesu „Wanderung nach Jerusalem zum<br />
Kreuz (9, 51)“ 26 ) gehöre, auf der durch die Perikope 9, 52–56 zum Ausdruck komme, daß<br />
„nicht das Gericht, . . . sondern die Rettung“ seine Aufgabe sei 27 ). Auch der engere<br />
Zusammenhang, in dem unsere Erzählung steht, spricht nach Gollwitzer für die<br />
„allegorische“ Auslegung der Kirche, nicht nur, indem unmittelbar vorher Lk 10, 17–24<br />
„die Verborgenheit des Herrn einen Augenblick durchbrochen wird“, sondern auch, weil<br />
unmittelbar nach unserer Erzählung Jesus als das „Eine, was not ist,“ das Hören auf seine<br />
Worte bezeichnet 28 ).<br />
Deutlich ist, daß Gollwitzer nicht etwa Barth kopiert, daß er aber Barths Anregungen<br />
aufnimmt, was er im übrigen auch selbst betont 29 ).<br />
Die Schwierigkeiten für eine „allegorische“ Auslegung unserer Perikope von der<br />
Exegese her empfindet G. Eichholz schon in seiner Arbeit: „Jesus Christus und der<br />
Nächste“. 30 ) Trotz gewisser Vorbehalte auf seiner Seite gehörte seine Arbeit jedoch<br />
ebenfalls in diesen Zusammenhang. Auch er setzt sich ausdrücklich mit der „sehr frühen<br />
Auslegungstradition unseres Gleichnisses“ auseinander und kommt<br />
23) Nach der Koine usw.<br />
24) AaO S. 124.<br />
25) H. Gollwitzer, Das Gleichnis vom barmh. Sam., S. 92.<br />
26) AaO S. 69.<br />
27) AaO.<br />
28) AaO.<br />
29) Vgl. In Göttinger Predigtmeditationen 1954/55, S. 213ff. und in: Das Gleichnis vom barmh. Sam.,<br />
S. 110, Anm. 47.<br />
30) G. Eichholz, Jesus Christus und der Nächste.
12<br />
zu dem Ergebnis: „Wir können diese Auslegung . . . heute nicht wiederholen. Sie läßt<br />
sich exegetisch auch in ihrer Spitze, in der Gleichung zwsichen <strong>Samariter</strong> und Christus,<br />
nicht einfach in solcher Direktheit vollziehen.“ Er fährt dann aber fort: „Wir müssen nun<br />
aber fragen, ob die allegorische Auslegung nicht gerade in dieser ihrer Spitze<br />
Entscheidendes sah, zumal wir in unserer Exegese inzwischen selbst in die Nähe dieser<br />
Spitze gekommen sind.—Sollte es nicht so sein, daß in der Nächstenschaft in der Tat das<br />
Geheimnis Jesu Christi verborgen ist, daß er verborgen zugegen ist? Wenn in der<br />
nächstenhaften Zuwendung des barmherzigen <strong>Samariter</strong>s zu dem Überfallenen das<br />
Geschehen der Freudenbotschaft abgeschattet ist, kommt das nicht daher, daß alle<br />
Nächstenschaft für uns Hinweis auf die Nächstenschaft Jesu Christi ist, darauf, daß er<br />
unser Nächster, unser hilfreicher Nächster wurde?“ 31 )<br />
Eichholz führt zwar nicht über diese Fragen hinaus, in der Art und Weise, wie er sie<br />
stellt, verrät er aber doch seine Zusammengehörigkeit mit Gollwitzer und über ihn hinaus<br />
mit Barth. Neuerdings hat Eichholz allerdings seinen Standpunkt geändert 32 ).<br />
Von großer Bedeutung ist eine kurze Bemerkung von E. C. Hoskyns, auf die<br />
Gehardsson verweist. Hoskyns hat nämlich in seinem Kommentar zum Johannes-<br />
Evangelium 33 ) auf die strukturelle Ähnlichkeit von Joh. 10, 12–15 und Lk 10, 25–36<br />
aufmerksam gemacht 34 ), wobei ihm u. a. das Erscheinen von ληστής in beiden<br />
Abschnitten wesentlich ist. Außerdem stellt er fest: „It is difficult to interpret the Lucan<br />
parable as mere an exhortation to human kindness because of the passage which<br />
immediately precedes it (Lk 10, 21–24)“ 35 ). Hier werden ohne Frage methodische<br />
Einflüsse des frühen Barth fruchtbar gemacht 36 ). Einfluß Barths mag auch bei den<br />
hierher gehörigen reformierten Auslegern Javet und Brémond vorliegen. J. Javets<br />
Erklärung geht von der Voraussetzung aus, daß keine „Unterweisung Jesu von seiner<br />
Person getrennt werden dürfe“ 37 ).<br />
31) AaO S. 45.<br />
32) Vgl. unten S. 134.<br />
33) E. C. Hoskyns, The Fourth Gospel.<br />
34) S. o. S. 2.<br />
35) AaO S. 377.<br />
36) Über die Verbindung Hoskyns zu Barth s. W. G. Kümmel, Das Neue Testament, Geschichte und<br />
Erforschung seiner Probleme, 1948, S. 569.<br />
37) J. S. Javet, L’Evangile de la Grâce, S. 144.
13<br />
Daher träfe die „alte Interpretation der Parabel in ihrem wichtigsten Punkte“ zu 38 ), und es<br />
handele sich hier also „auch“ um eine Offenbarung über Jesus Christus und das Heil, das<br />
er der Welt bringt 39 ). Das Interesse A. Brémonds 40 ) gilt dem Bemühen, zu vermeiden, daß<br />
unsere Perikope „nur als kleine moralische Lektion“ zu stehen kommt 41 ). Was Brémond<br />
bietet, ist eine Meditation, hinter der allerdings unverkennbare exegetische Positionen<br />
erscheinen. Besonders beachtlich ist eine gewisse Verwandtschaft seiner Ausführungen<br />
mit denen von Daniélou 42 ).<br />
Im Rahmen einer Auslegung Perikope, die sie ethisch versteht, macht T. W. Manson<br />
eine überraschende, leider nicht näher begründete Einzelbemerkung hinsichtlich der<br />
Einführung des unter die Räuber Gefallenen als „ein Mensch“ (άνθρωπός τις): „It has<br />
been suggested“, so heißt es bei ihm, „that Jesus Himself was ,the certain man’ who fell<br />
among thieves. In support of this hypothesis it could be urged, that in Aramic ,that man’,<br />
which is practically equivalent to ,a certain man’ is used as a polite periphasis of the<br />
personal pronoun. But the theory cannot be proved und should not be regarded as more<br />
than a possibility“ 43 ). Manson selbst ist dem, was er hier bemerkt, nicht näher<br />
nachgegangen, aber auch von anderer Seite ist, wie es scheint, sein Gedanke nicht positiv<br />
aufgenommen worden.<br />
3. Betrachten wir die Auslegung unserer Erzählung unter dem konfessionellen<br />
Gesichtspunkt, so wird man sagen können, daß bei den katholischen Exegeten die<br />
Auslegung auf Christus hin jedenfalls nicht weiter verbreitet ist als bei den evangelischen<br />
Exegeten. Sie findet sich bei H. Perroy 44 ), H. de Lubac 45 ), Fr. Quievreux 46 ), J.<br />
Dillersberger 47 ), Th. Innitzer 48 ) und R. Riezler 49 ). Auch prinzipiell sind Unterschiede der<br />
evangelsichen zu den katholischen Auslegungen von<br />
38) AaO S. 143.<br />
39) AaO S. 144.<br />
40) A. Brémond, Paraboles de la Table Sainte, vgl. vor allem S. 26/27.<br />
41) AaO Vorrede.<br />
42) S. o. S. 3ff.<br />
43) T. W. Manson, The Sayings of Jesus, Neudruck 1951, S. 262.<br />
44) H. Perroy, Les Paraboles, S. 75ff.<br />
45) H. de Lubac, Katholizismus als Gemeinschaft, S. 348.<br />
46) Fr. Quievreux, Les Paraboles, S. 75ff.<br />
47) J. Dillersberger, Das Ev. des hl. Lk., S. 73ff.<br />
48) Th. Innitzer, Kom. zum Ev. d. Lk., S. 250.<br />
49) R. Riezler, Das Ev. . . . n. Lk, S. 333.
14<br />
Lk 10, 25ff. nicht zu beobachten. Man könnte jedoch fragen, ob die Art und Weise, in der<br />
hier relativ häufig auf die Kirchenväter rekurriert wird, nicht näher an eine<br />
Unterscheidung von exegetischen und systematischen bzw. praktisch-theologischen<br />
Erwägungen heranführt, als das in der Regel bei den evangelischen Auslegungen der Fall<br />
ist 50 ).<br />
II. Die Fragestellung<br />
a) Die allegorische Auslegung in der Gegenwart<br />
Wir sind nun in der Lage, die bisherigen Ausführungen zusammenzufassen und<br />
daraus die Folgerungen für die Behandlung unseres Themas zu ziehen.<br />
Es hat sich ergeben, daß die Auslegungen von Gehardsson, Daniélou und Binder, die<br />
den Anspruch erheben, neue Wege zu gehen, keineswegs in allem alleinstehen. Bei<br />
verschiedenen modernen Auslegern findet sich vielmehr eine ganze Anzahl von<br />
Bemerkungen und Partien ähnlicher Art. Hier sind vor allem Barths eigene Arbeiten<br />
sowie die von ihm—mehr oder weniger—beeinflußten Auslegungen zu nennen. Soweit<br />
dazu überhaupt etwas gesagt werden kann, scheint die Zahl der so beeinflußten<br />
Auslegungen in der letzten Zeit eher zu- als abzunehmen. Ein Trend zur „allegorischen“<br />
bzw. „christologischen“ Exegese der Perikope vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> scheint<br />
unverkennbar zu sein.<br />
Wie sich immer wieder zeigen ließ, sind die in dieser Richtung gehenden<br />
Auslegungen geneigt, für ihr Recht auch die Auslegungstradition, vor allem die der Alten<br />
Kirche, in Anspruch zu nehmen. Es ist charakteristisch, daß häufig die Frage gestellt<br />
wird, ob nicht die sehr frühe Deutung des barmherzigen <strong>Samariter</strong>s auf Christus dafür<br />
spreche, daß diese mit der ursprünglich von der Erzählung intendierten Aussage<br />
zusammenfalle. Diese Situation erfordert es, die gesamte Geschichte der Auslegung<br />
unserer Perikope daraufhin zu überprüfen, wo und in welchem Umfange das damit<br />
skizzierte Grundverständnis sich findet und wie es begründet wird. Das kann<br />
50) Bemerkungen ausgesprochen systematischen oder praktisch-theologischen Charakters, die<br />
keinesfalls mit „allegorischer“ Auslegung verwechselt werden dürfen, finden sich unter den<br />
katholischen Exegeten bei Pirot, Bartelt, Simòn und Fonck. (s. o. S. 8).
15<br />
natürlich nur im Rahmen einer umfassenden auslegungsgeschichtlichen Untersuchung<br />
geschehen.<br />
b) „Allegorie“ und „christologische“ Auslegungsmethode<br />
Zur Erleichterung der Arbeit bedarf es der Verständigung über einige Begriffe.<br />
In der Auslegung der Gleichnisse und Beispielserzählungen spielt eine ganze Reihe<br />
von methodischen Termini eine maßgebenede Rolle. Das beginnt bereits relativ früh in<br />
der Alten Kirche, sobald man verschiedene Schriftsinne unterschied, und setzt sich fort<br />
im Mittelalter in der ausgeprägten Lehre vom vierfachen Schriftsinn, die die „literale“,<br />
die „allegorische“, d. h. die „tropologische“ bzw. die „moralische“, und die<br />
„anagogische“ Auslegung zum Inhalt hatte.—Andererseits wurde das Wort „allegorisch“<br />
auch generell für alle nicht „literale“ Auslegung gebraucht. Es war also damals schon<br />
nicht eindeutig. Von dieser ganzen, mannigfaltigen Terminologie ist heute im<br />
wesentlichen nur noch das Wort „allegorisch“ übriggeblieben. Schon allein dadurch<br />
dürfte eine Veränderung dieses Begriffs gegeben sein. Weiter ist zu fragen, ob er sich seit<br />
der Alten Kirche und dem Mittelalter unter dem Einfluß der historisch-kritischen<br />
Methode in seinem Sinne nicht überhaupt gewandelt hat. Offenbar wird das Wort<br />
„allegorisch“ heute häufig mit einer anderen Nuance gebraucht, als das in der Alten<br />
Kirche und im Mittelalter der Fall war.<br />
Es ist deshalb unerläßlich, an dieser Stelle schon deutlich zu sagen, in welchem Sinne<br />
dieser Begriff in der vorliegenden Arbeit gebraucht wird. Wir verstehen „Allegorie“ in<br />
Anlehnung an Bultmann und Ebeling folgendermaßen: Während im Gleichnis der an sich<br />
neutrale Stoff zur Übertragung eines Urteils auf ein anderes, zur Diskussion stehendes<br />
Gebiet verwendet wird, spielt in der Allegorie der Text die Rolle einer geheimnisvollen,<br />
verhüllend-offenbarenden Verkleidung eines dahinterstehenden Sachverhaltes, wobei die<br />
eigentlichen Worte und Glieder des Textes nun mehr oder weniger vollständig durch<br />
Begriffe zu ersetzen sind, die diesen „anderen“ d. h. im Text nicht expressis verbis<br />
vorliegenden Sachverhalt wiedergeben 51 ).<br />
51) Vgl. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl., 1957, S. 214, und G.<br />
Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, Neudruck 1962, S. 48.
16<br />
Bei der Lage der Dinge ist es allerdings mehr als fraglich, ob in einer<br />
auslegungsgeschichtlichen Untersuchung, die zugleich ein methodologisches Problem<br />
aufwirft, mit Wort und Begriff „Allegorie“ allein durchzukommen ist. Es scheint deshalb<br />
notwendig und richtiger zu sein, gerade auch im Blick auf das neueste Stadium der<br />
Auslegung der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong>, den Begriff der „christologischen<br />
Auslegung“ aufzunehmen, und zwar in einer durchaus nicht allgemein üblichen Weise<br />
seines Bezuges auf die Arbeit des neutestamentlichen Exegeten. Unseres Erachtens ist<br />
nämlich die Frage, worin der christliche Charakter unseres Textes, das spezifisch<br />
Christliche, liegt, noch keineswegs per se eine „christologische“ Fragestellung. Die Züge,<br />
die für Jesus als den Christus charakteristisch sind, müssen noch keineswegs<br />
„christologische“ Züge sein.—Wir werden im folgenden häufig nach dem „christlichen<br />
Charakter“ unseres Textes fragen im Unterschied 52 ) zu einer christologischen Auslegung.<br />
Unter „christologischer“ Auslegung verstehen wir dabei speziell die Erklärung, die<br />
Christus selber mit einer der Personen unserer Erzählung zu identifizieren suchen, d. h.<br />
in deren Zentrum eine Gleichsetzung von Christus und <strong>Samariter</strong> bzw. Verwundetem<br />
geschieht.<br />
<strong>Der</strong> Begriff „allegorisch“ zeigt für uns also einen komplexen Sachverhalt an, aus dem<br />
das Wort „christologisch“ in dem ebengenannten Sinne einen bestimmten, für unsere<br />
Untersuchung besonders wichtigen Aspekt heraushebt.<br />
c) Die leitenden Gesichtspunkte für die weitere Arbeit<br />
Nach allem bisher Gesagten kann das methodische Ziel dieser Arbeit nur darin<br />
bestehen, der Auslegungsgeschichte der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong><br />
nachzugehen, ob wirklich deren christologisches Verständnis in dem Umfange mit dem<br />
Gegenstande selbst gegeben ist, wie das neuerdings vor allem durch Gerhardsson und<br />
Daniélou, aber auch etwa durch Barth behauptet wird. Mit anderen Worten: Es sind<br />
folgende Fragen zu stellen und zu beantworten:<br />
1. Wo und in welcher Form taucht eine christologische Auslegung unserer Perikope<br />
erstmals auf, und unter welchen Umständen erneuert sie sich bzw. lebt sie fort?<br />
52) Jedoch nicht unbedingt im Gegensatz!
17<br />
2. Wo liegen die Gründe für die Entwicklung und den Gebrauch solcher<br />
christologischen Auslegung?<br />
3. Wie verhält sich die ausgelegte Perikope selbst zu dem Prinzip ihrer<br />
christologischen Interpretation und zu der entsprechenden Methodik?<br />
4. Bei den eingangs dieser Arbeit genannten Exegesen haben wir gesehen, daß<br />
Gerhardsson und Binder ein ethisches Verständnis unserer Erzählung ablehnen und sie<br />
soteriologisch interpretieren. Daniélou läßt ein ethisches Verständnis neben seiner<br />
Auslegung zwar „auch“ zu, interessiert sich selber aber nur für den seiner Ansicht nach<br />
allegorisch-christologischen Charakter unserer Perikope in dem oben dargelegten Sinne.<br />
Daher müssen wir weiter fragen: In welchem Verhältnis steht sonst die<br />
christologische Auslegung unseres Textes zu etwaigen ethischen Gedankengängen, mit<br />
denen man sich in ihm konfrontiert sieht?<br />
5. Wichtig ist schließlich: Wieweit wird überhaupt ein spezifisch christlicher<br />
Charakter der Perikope vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> angenommen, und wieweit wird<br />
ihm etwa auch auf andere Weise als durch christologische Auslegung Rechnung<br />
getragen?<br />
All’ diese Fragen sollen uns am Ende helfen, den Ort der bisher genannten<br />
christologischen Auslegungen und Auslegungsmotive der Gegenwart in der<br />
Auslegungsgeschichte aufzuzeigen, ihre Bedeutung bzw. Berechtigung näher zu<br />
bestimmen und auch neue, bisher zu wenig beachtete Anregungen zur Geltung zu<br />
bringen.
Kapitel 2<br />
DIE AUSLEGUNG IM ZEITALTER<br />
DER KIRCHENVÄTER<br />
A. Die frühest erreichbare Auslegung<br />
Daniélou 1 ) und Gerhardsson 2 )geben als älteste Autoren, bei denen sich<br />
Auslegungsfragmente unserer Erzählung finden, einen bei Origenes zitierten<br />
„Presbyter“ 3 ) und Irenäus an. Es scheinen aber noch ältere Bruchstücke vorhanden zu<br />
sein.<br />
1. Th. Zahn hat im Jahre 1910 als erster darauf angewiesen, daß wir in dem syrischen<br />
Fragment des Britischen Museums cod. Add. 17215 fol. 30 rect. „ein verkanntes<br />
Fragment von Marciones Antithesen“ besitzen, das sich auf unsere Perikope bezieht 4 ).<br />
Da die Echtheit des Fragments bisher durchaus umstritten war, ist es zweckmäßig, den<br />
Text bzw. dessen Übersetzung mitzuteilen und kurz durchzusprechen. Die<br />
entscheidenden Sätze lauten folgendermaßen: Nachdem Marcion, Mani und Bardesanes<br />
genannt worden sind 5 ), heißt es: „Denn Marcion sagt, daß unser Herr nicht von einem<br />
Weibe geboren wurde, sondern das Gebiet des Schöpfers stahl und herabkam und zum<br />
ersten Mal zwischen Jerusalem und Jericho erschien, gleich einem Menschensohn in<br />
Gestalt und Bild und Gleichnheit, aber ohne unseren Leib. Und er (Marcion) bringt in<br />
keiner Weise die Geschichte der gebendeiten Maria in seiner Lehre vor<br />
1) Le Bon Samaritain, S. 458.<br />
2) The good <strong>Samaritan</strong>, S. 4/5 und S. 31.<br />
3) S. o. S. 3.<br />
4) Th. Zahn, Ein verkanntes Fragment von Marcions Antithesen, in: Neue kirchliche Zeitschrift, 21.<br />
Jahrgang 1910, S. 371ff.<br />
5) So nach A. v. Harnack, Marcion, Das Evangelium vom fremden Gott, Neudruck 1960, S. 362*.
19<br />
und bekennt sich nicht, daß er (Jesus) einen Leib von ihr empfing, wie die heiligen<br />
Schriften lehren“ 6 ).—Für die Echtheit unserer Stelle als Nachricht wirklich über Marcion<br />
führt Zahn vor allem die Zusammenstellung der Wendungen „herabkam“—„zum ersten<br />
Mal“—„erschien“ an. Die Verbindung von „herabkam“ und „erscheinen“ oder der<br />
Wechsel zwischen beiden Ausdrücken begegnet uns nämlich häufig bei den alten<br />
Bestreitern Marcions 7 ).<br />
Nun wird man zwar Hans von Soden zustimmen müssen, daß die Argumente Zahns<br />
für die Echtheit des Fragments nicht ohne weiteres überzeugend sind 8 ), aus den von<br />
Harnack in seinen in „Marcion“ angeführten Kirchenväterzitaten geht indes hervor, daß<br />
Marcion tatsächlich die „Geburt aus der Jungfrau“ bestritten hat.<br />
Eine Entscheidung in der Echtheitsfrage dürfte aber erst eine andere, speziellere<br />
Beobachtung ergeben, die hier erstmals vorgelegt wird. Sie betrifft eben die Tatsache,<br />
daß in dem Fragment dagegen polemisiert wird, Jesus hätte „unseren Leib“ getragen,<br />
wobei der Berichterstatter noch ausdrücklich hinzufügt, daß diese Formulierung gegen<br />
die Auffassung gerichtet sei, Jesus hätte von Maria einen menschlichen Leib empfangen.<br />
Nun findet sich in einigen Auslegungen zu Lk 10, 30ff., denen offensichtlich Material aus<br />
der Kirchenväterzeit zugrunde liegt, eine zunächst unverständliche Bemerkung. Es<br />
müsse, so heißt es da, „der <strong>Samariter</strong> auf Christus, der Fleisch aus Maria trug“, gedeutet<br />
werden 9 ). Dabei ist vor allem wichtig, daß diese Bemerkung bei einem der Zeugen,<br />
nämlich in dem<br />
6) So nach Zahn, aaO S. 372.—Das Fragment, in dem diese Bemerkung über Marcion steht, scheint<br />
nach Zahn aus einer antihäretischen Schrift wie der des Armeniers Eznik von Kolb (um 430 n.<br />
Chr.) zu stammen. Harnack, Marcion, S. 362, führt es auf einen „unbekannten Syrer“ zurück und<br />
setzt „Ephraem“ (†373) mit einem Fragezeichen dazu.<br />
7) So aaO S. 372.<br />
8) Hans v. Soden, in: A. v. Harnacks Marcion, in: Zeitschrift für Kirchengeschichte 1922, S. 191ff.<br />
9) τόν έκ Μαρίας σάρκα φορέσρέσαντα—so (nach GCS Orig. 9, 190f. und 296) im sogenannten<br />
Kommentar des Titus von Bostra (als Teil der Cramerkatene) und in der ausführlicheren wie auch<br />
der kürzeren Fassung des dem Petrus v. Laodicea zugeschriebenen Kommentars. Rauer in GCS<br />
Orig. 9 druckt diese Bemerkung unmittelbar neben der lateinischen Übersetzung von Homilie 34<br />
durch Hieronymus ab, obwohl dort nur „der griechische Text“ stehen sollte, „der mit diesem (scil.<br />
dem Wortlaut der Homilie) übereinstimmt“ (aaO S. LXI). Rauer ist also davon überzeugt, daß hier<br />
origenistisches Gut vorliegt.
20<br />
ausführlicheren, besonders wertvollen Kommentar des „Petrus von Laodicea“ zu einer<br />
Auslegung gehört, in der am Anfang klar gegen Marcion polemisiert wird. Dort heißt es<br />
zu Lk 10, 25–28: „Deutlich ist in diesen (Worten) dargestellt, daß das gemäß dem<br />
Schöpfergott 10 ) des Kosmos und den alten Schriften verkündigte Leben es ist, welches<br />
auch der Heiland verkündigt. Denn als der Schriftgelehrte fragte . . . , verweist er ihn auf<br />
das alttestamentliche Gesetz, damit er von dorther die Gebote zusammenstelle, die den,<br />
der sie tut, zum ewigen Leben führen . . . .“ 11 ) Hier wird zweimal herausgestellt, daß es<br />
bei den beiden in unserer Perikope aus dem Alten Testament zitierten Geboten wirklich<br />
um das ewige Leben geht—daß also hier ein Wort des Schöpfergottes (=Demiurg) auf<br />
das ewige Leben ziele und in diesem Sinne von Jesus verkündigt werde. Die hinter diesen<br />
Worten erscheinende Polemik fügt sich genau zu dem, was Tertullian zu Lk 10, 25–28<br />
über Marcions Evangelium berichtet: „In dem häretischen Evangelium steht nur ,Leben’,<br />
ohne Erwähnung von ,ewig’, so daß der Schriftgelehrte in bezug auf das Leben gefragt zu<br />
haben scheint, das im Gesetz von dem greisen Kreator versprochen wird, und der Herr<br />
jenem daher die dem Gesetz entsprechende Antwort gegeben hat.“ 12 )<br />
Diesselbe Bemerkung anläßlich der Auslegung von Lk 10, 30ff., daß Jesus einen Leib<br />
aus Maria getragen habe, findet sich also in dem wichtigsten der dem Petrus von<br />
Laodicea zugeschriebenen Kommentare in einem Zusammenhang, in dem auch sonst<br />
Polemik gegen Marcion getrieben wird. So hat sich offensichtlich aus sehr früher Zeit<br />
eine Erinnerung daran erhalten, daß Marcion im Zusammenhang von Lk 10, 30ff. gegen<br />
die leibhafte Geburt des Herrn polemisierte 13 ).<br />
Es stützt unsere Feststellung, wenn wir noch weiter erwähnen, daß derselbe Text, den<br />
wir eben aus dem sogenannten Petrus-von-Laodicea-Kommentar zitierten, in anderen<br />
Werken ausdrücklich als gegen „Valentin, Basilides und die von Marcion kommenden<br />
(Leute)“ gerichtet bezeichnet wird 14 ).<br />
10) τόν δηµιουργόν<br />
11) AaO S. 188.<br />
12) Vgl. Harnack, Marcion, Neudruck 1960, S. 206/7*.<br />
13) Trotz grundsätzlicher Ablehnung der Allegorie durch Marcion weist E. C. Blockmann, Marcion<br />
and his influence, 1948, S. 44 Anm. 3. dennoch eine Anzahl von allegorischen Stellen in seinen<br />
Schriften nach.<br />
14) Das geschieht so in einer Katene zu dem „Petrus“-Kommentar und zwei Werken, die beide in<br />
verschiedener Weise auf die Katene des Niketas von Heraklea zurückgehen, ferner in dem<br />
Material der Catena Aurea des Thomas von Aquin (vgl. GCS Orig. 9, 299f.). Für alle diese eben<br />
genannten Werke meint Rauer in der Auslegung unserer Perikope ursprünglich von Origenes<br />
stammendes Gut konstatieren zu können.
21<br />
Damit ergibt sich: Die Auslegung des sogenannten Kommentars des Petrus von Laodicea<br />
zu Lk 10, 25–37, die die von Maria stammende Leiblichkeit des <strong>Samariter</strong>s Christus<br />
herausstellt, geht höchstwahrscheinlich auf Origenes zurück, und die hier von uns<br />
herausgearbeitete antimarcionitische Tendenz wird von anderen origenistischen<br />
Fragmenten her bestätigt. Damit dürfte die Authentizität des Marcion-Zitats aus dem<br />
eingangs erwähnten Fragment, in dem Jesu „Leiblichkeit“ aus Maria gerade abgelehnt<br />
wird, gesichert sein, denn diesem Zitat liegt genau die Vorstellung zugrunde, die im<br />
sogenannten Kommentar des Petrus von Laodicea als marcionistisch abgelehnt wird.<br />
2. Des weiteren sind hier zwei katharische Texte zu nennen, die uns von gegnerischen<br />
rechtgläubigen Theologen des 11. Jahrhunderts überliefert worden sind 15 ). Bonacursus,<br />
der eine von ihnen, war selbst „magister“ und „doctor“ der Katharer gewesen und hatte<br />
zwischen 1176 und 1190 seine Ketzerei öffentlich widerrufen; der andere, Moneta, war<br />
Dominikaner und verfaßte seine antihäretische Schrift 1241. In beiden Auslegungen<br />
dürfte, wenigstens zu Lk 10, 30–33, altes gnostisches Gut nachwirken.<br />
Grundsätzlich besteht bei jedem katharischen Text die Möglichkeit eines<br />
Traditionszusammenhanges sowohl mit dem Manichäismus als auch mit der Gnosis des<br />
Altertums 16 ). Dieser Zusammenhang<br />
15) Bonacursus, Manifestatio haeresis Catharorum (nach MPL 104, 775).—Moneta, Aduersus<br />
Catharos et Valdenses, Lib. II, Cap. I nach der Ausgabe von Ricchinius MDCCXLIII—S. 110ff.<br />
16) So kommt z. B. H. Söderberg, La religion des Cathares, 1949, S. 268, zu dem Schluß, daß „eine<br />
traditionell ununterbrochene Kette zwischen den Katharern und nicht nur dem Manichäismus,<br />
sondern auch der Gnosis, bzw. dem Marcionitismus der Antike auf Grund der frappanten<br />
Ähnlichkeit bestehen muß“. Er sieht zwar durchaus die Schweirigkeit, daß dieser<br />
Traditionszusammenhang chronologisch nicht nachzuweisen ist, erklärt aber dennoch: „Die<br />
Auffassungen, die von der tiefen Antike bis zu den Katharern bewahrt worden sind, bekräftigen<br />
die Annahme, daß andere, die zum Zirkel der gnostischen Ideen gehören und die manchmal<br />
verschwinden, nicht erfunden worden sind, sondern gleichermaßen fortbestanden haben“.
22<br />
läßt sich bei den beiden genannten Texten sogar besonders deutlich machen.<br />
Bonacursus erklärt: „Sie (scil. die Katharer) sagen auch, daß eben der Teufel Adam<br />
aus dem Schmutz der Erde gemacht und einen Engel des Lichts mit stärkster Gewalt in<br />
ihn eingeschlossen habe. Sie meinen, daß von diesem im Evangelium die Rede ist (wenn<br />
es dort heißt): ,Ein Mensch stieg hinab . . . .’“ 17 ) Bei Moneta heißt es: „Ein gewisser<br />
Mensch stieg von Jerusalem nach Jericho hinab, dies legen sie auf Adam as, d.h. sie<br />
sagen über den Geist desselben, daß er vom himmlischen Jerusalem in die Welt<br />
hinabstieg und unter die bösen Geister fiel, die ihn auch des Lichtes beraubten, das er<br />
hatte. Dieses Licht aber, so sagen sie, hätten Sonne, Mond und Sterne ihm geraubt und<br />
hätten es (selbst) angezogen.“ 18 ) G. Widengren hält das diesen beiden Texten zugrunde<br />
liegende Material für manichäisch 19 ); indes, er kennt offenbar nicht den Zusammenhang,<br />
in dem Moneta Lk 10, 30ff. erwähnt. Nach den weiteren Ausführungen Monetas diente<br />
unsere Perikope dazu, um eine bestimmte Lehre der Katharer zu illustrieren: „Sie sagen<br />
nämlich, daß der Geist Adams, der ein himmlischer Engel war, auf Grund eines Befehles<br />
Gottes kam, um zu sehen, in welcher Weise Lucifer die Elemente und die Gestalt der<br />
Dinge aus ebendenselben (scil. Elementen) zerteilt hätte, bevor der Mensch auf die Erde<br />
kam. Diesen ergriff Lucifer und schloß ihn in einen Fleischleib wie in einen Kerker ein<br />
und sagte ihm: (Mt. 18, 28) Gib, was du schuldig bist, unterwerfe dich der menschlichen<br />
Natur.“ 20 ) Aus diesem Zitat wird deutlich, daß beide Teile, sowohl der bei Moneta als<br />
auch der bei Bonacursus, Teile ein und desselben Vorstellungskomplexes sind, sich also<br />
gegenseitig ergänzen und somit auch beide von dem eben erwähnten Kontext her zu<br />
deuten sind. Dieser Kontext weist nun speziell auf eine Vorstellung hin, die sich nicht<br />
erst im Manichäismus, sondern schon in der frühen Gnosis findet 21 ).<br />
An dieser Stelle ist z. B. auf die in den Pseudo-Clementinen zitierte<br />
17) MPL 204, 775.<br />
18) Moneta nach der Ausgabe von Ricchinius S. 110.<br />
19) G. Widengren, Mesapotamien elements in Manichaeism, 1946, S. 62f.<br />
20) Moneta, nach der Ausgabe des Ricchinius S. 110.<br />
21) So nennt R. Bultmann, Das Evangelium des Johannes, 3. Aufl. 1953, S. 14, die „Entstehung von<br />
Welt und Mensch als eine tragische Entwicklung innerhalb der Lichtwelt“ eine in der Gnosis<br />
weitverbreitete Vorstellung.
23<br />
Lehre des Simon Magus hinzuweisen, nach der der Demiurg ursprünglich von dem guten<br />
Gott ausgesandt wurde, die Welt zu erschaffen, sich aber dann als selbstständiger Gott<br />
konstituiert und nun die Seelen, die dem höchsten Gott gehören, in seinem Werk<br />
gefangen hält 22 ). Eine auch im einzelnen den Ausführungen bei Bonacursus und Moneta<br />
ähnliche Vorstellung bietet die Poimandres-Erzählung im Corpus Hermeticum 23 ). In ihr<br />
steigt der „Urmensch“ von seinem Vater jenseits der Welt durch die sieben<br />
Planetenspären in die untere Welt, in die Demiurgenspäre hinab. Dabei gibt ihm jeder der<br />
Planeten etwas mit. Die Gabe besteht nach Jonas’ Vergleich mit anderen Texten in<br />
immer neuen physischen Kleidern, die in Wirklichkeit „letzte Fesselungen an die Welt“<br />
bedeuten 24 ). Da die Pseudo-Clementinen sicher, vermutlich auch das Corpus<br />
Hermeticum, vor Mani anzusetzen sind, kann es sich bei den von Moneta gebrachten<br />
katharischen Gedanken zu unserem Text durchaus um früheres gnostisches Gut im<br />
engeren Sinne handeln. Nach Jonas ist auch speziell das Motiv der Gefangennahme und<br />
Gefangenschaft des Lichtes beherrschend nicht nur im manichäischen System, sondern<br />
auch in „vielen Spekulationen des christlichen Gnostizismus“ 25 ).<br />
Velleicht vermag in der Frage, ob unsere beiden katharischen Texte tatsächlich auf<br />
altes gnostisches Gut zurückgehen, eine weitere, an sich geringfügige Beobachtung den<br />
Ausschlag zu geben. Im Lukas-Kommentar des Ambrosius wird bei der Erwähnung der<br />
„Räuber“ 2. Kor. 11, 14 angezogen und dazu bemerkt: „Wer sind jene Räuber ander als<br />
die Engel der Nacht und der Finsternis (angeli noctis atque tenebrarum), die sich<br />
manchmal in Engel des Lichtes verwandeln, aber (so) nicht bleiben können.“ 26 ) Weshalb<br />
gerade 2. Kor. 11, 14 an dieser Stelle angezogen wird, ist nicht ersichtlich, es sei denn,<br />
bei Ambrosius hätte sich noch eine Reminiszenz an die oben angeführte Identifikation der<br />
„Räuber“ mit Sonne, Mond und Sternen erhalten. Vielleicht liegt in der Übersetzung: „. .<br />
. aber (so) nicht bleiben können“ gegenüber der des Hieronymus-Textes: „. . . aber ihr<br />
Ende wird gemäß ihren Werken sein“ sogar noch eine Polemik gegen eben jene<br />
Identifizierung mit den Gestirnen. Wie es<br />
22) Vgl. H. Jonas, Die mythologische Gnosis, Bd. 1, 2. Aufl. 1954, S. 357.<br />
23) § 12–16.<br />
24) AaO S. 181.<br />
25) AaO S. 106.<br />
26) Expositio, CChL 14, 23.
24<br />
damit aber auch sei—, das Entscheidende ist der Gebrauch von 2. Kor. 11, 14 überhaupt.<br />
Nun steht aber Ambrosius mit diesem Zitat nicht allein; auch eine Anzahl anderer<br />
Kirchenväter kennen es 27 ). Das Zitat stammt also aus einem breiteren Traditionsstrom<br />
und ist deshalb sicher älter als Ambrosius 28 ).<br />
3. Ferner ergibt sich ein Argument für das große Alter der katharischen Auslegung<br />
auch aus der Behandlung folgender weiterer Stellen: Bereits J.-M. Vosté 29 ) hat die<br />
Auslegung von Lk 10, 25–37 mit Tatians Oratio ad Graecos Kap. 14 und 18 in<br />
Verbindung gebracht, ohne jedoch irgendwelche Gründe dafür anzugeben, geschweige<br />
denn sie auszuwerten 30 ).<br />
Auf den ersten Blick erscheinen die beiden in Frage kommenden Stellen in der Tat<br />
belanglos. Kap. 14, 2 heißt es: „Aber wie die Räuber 31 ) in ihrer Unmenschlichkeit<br />
ihresgleichen frech zu überwältigen pflegen, so haben auch die Dämonen eure<br />
vereinsamten Seelen in den Pfuhl der Bosheit geführt und mit Lügen und Gaukeleien<br />
getäuscht. Da sie nicht leicht (den physischen Tod) sterben 32 ), zumal sie ohne Fleisch<br />
sind, so können sie zwar fortlebend Werke des (Sünden-) Todes verrichten, sterben aber<br />
trotzdem (obwohl sie fortleben) gerade so oft (den Sündentod), als sie ihre Anhänger im<br />
Sündigen unterrichten . . . .“ Weiter heißt es Kap. 18, 5: „Warum läßt du dich einen<br />
Wohltäter nennen, wenn du deinen Nächsten heilst. Folge der Macht des Logos! Heilen<br />
können die Dämonen nicht, sondern durch betrügerische Kunst nehmen sie die Menschen<br />
gefangen, und der bewunderungswürdige Justinus hat mit Recht gesagt, daß sie Räubern<br />
gleichen.“ 33 )<br />
Zum Verständnis der beiden Stellen ist es notwendig, den Zusammenhang kurz zu<br />
umreißen: In Kap. 13–20 seiner Oratio ent-<br />
27) S. u. S. 33.<br />
28) Vgl. auch A. v. Harnack, Marcion, Neudruck 1969, S. 391*, der davon spricht, daß Ambrosius<br />
bezgl. Marcionitischer Gedanken aus der gelehrten Überlieferung schöpft.<br />
29) In seinem Werk: Parabolae selectae, Bd. 2, 2. Aufl. 1933, S. 633.<br />
30) Ebenso J. Daniélou, Le bon Samaritain, S. 463, Anm. 1.<br />
31) δ ληστεύων, generell gebraucht.<br />
32) θνήσκουσιν ού ραδίως<br />
33) Vgl. E. Schwartz, Tat. Oratio, 1888, S. 15 u. 20.—Übersetzung nach R. C. Kukula, Frühchristl.<br />
Apologeten, Tatians Rede an die Bekenner des Greichentums, Bibliothek der Kirchenväter,<br />
herausgegeben von O. Bardenhewer u. a., 1911 ff., S. 42 und 50.
25<br />
wickelt Tatian eine „christliche Dämonologie“ 34 ). Einer der Grundgedanken, in den sich<br />
auch unsere beiden Stellen einordnen, lautet: Es gilt, den Dämonen zu entrinnen und auf<br />
deren materielle Mittel zu verzichten, vor allem auf die Heilkunde, die von den Dämonen<br />
nur zur Verführung der Menschen erfunden wurde. 14, 2 betont innerhalb dieses<br />
Gedankenganges, daß die Dämonen zwar anders als der Mensch den physischen Tod<br />
nicht so leicht sterben, daß sie aber dennoch in gewisser Hinsicht schon tot sind, da sie<br />
wegen ihrer Schandtaten am jüngsten Tage doch mit dem Tode bestraft werden. Damit<br />
soll erwiesen werden, wie unsinnig es ist, sich an die Dämonen um Hilfe zu wenden. 18,<br />
5 gehört schon zu dem Schlußteil, in dem es um die Ablehnung der Medizin geht.<br />
Wäre unser Text wirklich auf dem Hintergrund einer Auslegung von Lk 10, 30–37<br />
formuliert, dann hätten wir damit den Beweis, daß Tatian die „Räuber“ unseres Textes<br />
mit den Dämonen, und den <strong>Samariter</strong>, der allein die Heilung bringt, mit dem Logos<br />
identifiziert, daß also Tatian ebenfalls eine christologische Auffassung vertritt. Für eine<br />
tatsächliche Beziehung zu Lk 10, 30–37 spricht: a) Die Bezeichnung der Dämonen als<br />
„Räuber“, wie sie in den späteren Auslegungen der Kirchenväter gang und gäbe ist 35 ), im<br />
Zusammenhang mit b) der Nennung des Nächstenbegriffs. Dazu kommt c) eine mögliche<br />
Anspielung auf den Begriff „halbtot“ in Lk 10, 30, die sich aus der Darstellung der<br />
Dämonen = Räuber als tot und doch nicht tot ergibt.<br />
Hier erhebt sich jedoch, wie es scheint, eine große Schwierigkeit. In Lk 10, 30 würde<br />
dann die Wendung „halbtot“ ja nicht, wie es sonst in der Regel verstanden wird, auf den<br />
Verwundeten bezogen, sondern auf den Zustand der „Räuber“. Nun ist jedoch bedeutsam,<br />
daß wir eine andere Stelle haben, die diesselbe Beziehung unserer Wendung „halbtot“<br />
anzudeuten scheint. Es handelt sich um die Ausführungen Monetas zu der früher zitierten<br />
katharischen Überlieferung. Er schreibt gegen Schluß des unseren Text betreffenden<br />
Abschnittes in Auseinandersetzung mit seinen katharischen Gegnern: „Ferner, was sagst<br />
du von ihm (scil. dem Menschen von Lk 10, 30) daß er unter die Räuber gefallen sei . . . ?<br />
Es steht fest, daß jener ein guter Gott ist, über welchen der Apostel redet und<br />
34) Kukula, aaO S. 7.<br />
35) S. u. S. 33.
26<br />
auch Jeremia spricht: (Gott), ,der ja die Sonne zur Erleuchtung des Tages und die<br />
Ordnung des Mondes und der Sterne zur Erleuchtung der Nacht gibt . . . (Jer. 31, 35)’.<br />
Setzt er denn Dämonen zur Erleuchtung des Tages und der Nacht ein? Das sei ferne, daß<br />
ein Weiser und Glaubender solches meine! Wenn du mir aber sagst: ,Wie kann es<br />
geschehen, daß einer halblebendig 36 ) zurückgelassen wird, d. h. halb lebendig und halb<br />
tot 37 ), dann sage ich dir, daß das eine Redeweise ist, und daß von sehr vielen (Menschen)<br />
gesagt wird: ,Ich bin halb tot—halb lebendig.’“ 38 )<br />
<strong>Der</strong> Gedankengang dieses Abschnittes ist auf den ersten Blick völlig unverständlich.<br />
Die Erklärung ergibt sich sofort, wenn man annimmt, daß die Katharer, bzw. die hinter<br />
ihnen stehenden Gnostiker von der Wendung „halbtot“ aus zu beweisen suchten, mit den<br />
„Räubern“ (Lk 10, 30) seien eigentlich Sonne, Mond und Sterne gemeint: Sie könne man<br />
in der Tat auf der Mitte zwischen Leben und Tod, halb tot, halb lebendig, als halb das<br />
eine, halb das andere, bezeichnen 39 ). Nur bei solch einer Auslegung erklärt sich die<br />
Erwähnung des „halbtot“ im Zusammenhang einer Polemik gegen die Identifikation der<br />
„Räuber“ von Lk 10, 30 mit den Gestirnen: Die Wendung „halbtot“, so argumentiert<br />
Moneta weiter, sei keinesfalls so außergewöhnlich, daß man sie nicht auf einen<br />
Menschen beziehen könnte;—und damit fällt die ganze Argumentation der Katharer<br />
zusammen. So darf man also als höchst wahrscheinlich annehmen, daß eine alte Tradition<br />
der Katharer die Wendung „halbtot“ auf die „Räuber“ von Lk 10, 30 bezogen hat. Von<br />
daher dürfte es aber auch nicht mehr als ausgeschlossen gelten, daß Tatian ebenfalls eine<br />
solche Beziehung hergestellt oder übernommen hat 40 ). Sind wir mit unseren Darlegungen<br />
im Recht, dann sehen wir zugleich, wie reibungslos sich das von den Katharen<br />
überlieferte Gut dem Vorstellungskreis der ältesten Bemerkungen zu Lk 10, 30 ff.<br />
einfügt.<br />
36) Semivivus.<br />
37) Medius vivus—medius mortus.<br />
38) <strong>Der</strong>s., nach der Ausgabe des Ricchinius S. 114.<br />
39) Gedacht wäre dabei an den Wechsel von Anfang und Untergang der Gestirne, der ja auch bei den<br />
Kirchenvätern durchweg im Horizont ihrer Auslegung lag, vgl. zu „Jericho“, unten S. 31f.<br />
40) Daß das arabische Diatesseron diese Beziehung nicht hat, besagt nichts, da es nicht überall<br />
wirklich noch Tatian wiedergibt, vgl. E. Preuschen, Tatiani Diat. aus den Arab. übers., 1926,<br />
herausgegeben von A. Pott.
27<br />
d) Von abschließender Bedeutung für die Beurteilung der Stellen bei Tatian dürfte es<br />
sein, daß man zu den bisherigen Argumenten für eine von Tatian verwendete Auslegung<br />
von Lk 10, 30ff. noch eine andere Beobachtung stellen kann. Aus einer Bemerkung von<br />
Basiliusdem Großen geht hervor, daß Lk 10, 30ff. zur Verteidigung enkratitischer<br />
Gedanken verwendet worden ist. Basilius stellt nämlich in den Regulae fusius tractatae<br />
die Frage: „Ob es gegen das Ziel der Frömmigkeit ist, die medizinischen Dinge zu<br />
gebrauchen?“ Darauf antwortet er selbst unter deutlicher Anspielung auf Lk 10, 34: „Die<br />
uns gegebene Gnade der Heilung entweder durch Öl—Wein, wie bei dem unter die<br />
Räuber Gefallenen, oder durch die Feigen, wie bei Hiskia, empfangen wir dankbar.“ 41 )<br />
Basilius setzt sich unter Heranziehung unserer Erzählung also gerade von dem<br />
Standpunkt ab, den Tatian in den angegebenen Stellen seiner Oratio vertritt. Auch von<br />
daher wird es in hohem Maße wahrscheinlich, daß die Ähnlichkeit seiner Ausführungen<br />
mit der Terminologie von Lk 10, 30–37 kein Zufall ist, sondern daß er hier tatsächlich<br />
von einer bestimmten christologischen Auslegung jener Erzählung her argumentiert.<br />
Somit haben wir hier einen Beleg aus einer Zeit bald nach 172 für eine<br />
christologische Auslegung von Lk 10, 30–37 42 ) und diese Auslegung steht klar in einem<br />
von der Gnosis beeinflußten Zusammenhang 43 ).<br />
4. Wir erinnern uns daran, daß Daniélou sich für seine christologische Auslegung als<br />
den ältesten Zeugen auf den „Presbyter“ des Origenes beruft 44 ). Nähere Untersuchung<br />
des von ihm benutzten Materials ergibt mit Sicherheit, daß er sich hier auf verlorenem<br />
Posten befindet. Er hat schwerlich recht, wenn er in dem „Presbyter“ des Origenes einen<br />
Vertreter der Urgemeinde im Sinne des Irenäus sehen zu sollen meint, um die<br />
„allegorische“ Auslegung bis<br />
41) MPG 31, 1047, s. u. S. 95.<br />
42) B. Altaner, Patrologie, 5. Aufl. 1985, S. 101/2, legt das Datum für die Entstehung der Oratio in die<br />
Zeit, in der Tatian wohl nicht mehr in Rom war, jedoch nach seinem Abfall von der Kirche.<br />
43) Die zu Kapitel 18 erwähnte Berufung auf Justin (s. o. S. 24) bezieht sich offensichtlich nur auf die<br />
allgemeine Gleichsetzung von Räubern und Dämonen, nicht speziell auf die Auslegung von Lk<br />
10, 30ff.<br />
44) Hom. XXXIV, 4, GCS Orig. 9, 188ff.
28<br />
nahe an die Zeit Jesu heranrücken zu können 45 ). So führt er zum Beiweis an, daß in der<br />
Aulegung des Origenes zu Jos. 16, 5 der Ausspruch eines „Lehrers unter den Ältesten“<br />
zitiert wird und daß derselbe Ausspruch in der Homilie zu Num. 13, 5 wiederkehrt 46 ),<br />
dieses Mal aber so, daß als Autor genannt wird: „ein Lehrer, der aus dem Judentum zum<br />
Glauben gekommen ist“, was Daniélou zweifellos ohne hinreichende Gründe auf<br />
urchristliche Verhältnisse deutet. Es ist ja zu beachten, daß der Begriff „Presbyter“ in den<br />
angezogenen Stellen gar nicht erscheint 47 ). Außerdem muß ein „Lehrer, der aus dem<br />
Judentum zum Glauben gekommen ist“, noch keineswegs ein Vertreter der Urgemeinde<br />
sein 48 ). Ferner wird sich noch zeigen, daß Origenes die Auslegung des „Presbyter“<br />
teilweise sogar korrigiert 49 ). Es bleibt doch sehr zu fragen, ob Origenes so mit dem<br />
„Presbyter“ verfahren wäre, wenn es sich bei ihm um ein angesehenes Glied der<br />
Urgemeinde gehandelt hätte.<br />
So wird es doch bei Harnacks Annahme bleiben müssen, der „Presbyter“ sei<br />
lediglich „ein älterer Zeitgenosse des Origenes“ gewesen 50 ). Wir hätten bei ihm zwar<br />
eine recht alte, aber keine der ältesten Auslegungen von Lk 10, 25–37 vor uns.<br />
So ist das Ergebnis unseres Abschnittes, daß die ältesten und erreichbaren Spuren<br />
einer Auslegung unseres Textes auf ihren gnostischen Ursprung hinweisen. Schon von<br />
hieraus dürfte es fragwürdig sein, wollte man eine auf die Urgemeinde, wenn nicht sogar<br />
auf Jesus selbst zurückgehende allegorische Interpretation postulieren. Indes wird diese<br />
Frage weiterer Behandlung bedürfen.<br />
45) S. o. S. 3f.<br />
46) <strong>Der</strong>s., Le bon Samaritain, S. 458.<br />
47) In der Auslegung zu Jos. 16, 5 ist von „quidam de senioribus magistris“ die Rede—vgl. GCS, Orig.<br />
7, S. 399—in der Homilie zu Num. 13, 5 von einem „magister quidam, qui ex Hebraeis<br />
crediderat“—vgl. aaO S. 114.<br />
48) „Presbyter“ wird bei Origenes oft genug einfach im Sinne einer Amtsbezeichnung gebraucht—vgl.<br />
A. v. Harnack: <strong>Der</strong> kirchengeschichtliche Ertrag der exegetischen Arbeiten des Origenes (II. Teil:<br />
Die beiden Testamente mit Ausschluß des Hexateuchs und des Richterbuches), 1919. Für die<br />
weiter zurückliegenden Ausleger hat Origenes andere Wendungen zur Verfügung—so häufig: τίς<br />
τών πρό ήµών, oder auch: „a prioribus nostris“, s. Harnack, aaO S. 28; vgl. auch die Ablehnung<br />
der These Daniélous beim Hanson, Allegory and Event, 1959, S. 76 A. 2. unter Hinweis auf<br />
Harnack.<br />
49) So Rauer in GCS Orig. 9, IX.<br />
50) A. v. Harnack, <strong>Der</strong> kirchengeschichtl. Ertrag . . . , II. Teil, S. 4.
29<br />
B. Die Auslegung seit Irenäus<br />
I. Die Einzelwendungen im Zusammenhang christologischer Auslegung<br />
Im zusammenhang mit dem christologischen Verständnis werden bei den<br />
Kirchenvätern die wichtigen Begriffe des Textes Lk 10, 30–37 Zug um Zug ausgelegt.<br />
Für einen wenigstens groben Überblick wie auch für die Auseinandersetzung, vor allem<br />
mit Daniélou, sind folgende Fragen zu beachten:<br />
a) Wieweit ist die Auslegung der verschiedenen Wendungen unseres Textes bei den<br />
Kirchenvätern einheitlich, bzw. wieweit lassen sich aus etwaigen Differenzen Schlüsse<br />
auf die ursprüngliche Form der christologischen Auslegung in der Großkirche ziehen?<br />
b) Welche Begründungen werden dafür gegeben?<br />
c) Wo finden sich Bemerkungen, die Spuren einer Auseinandersetung mit der Gnosis<br />
sein könnten, ganz gleich, ob diese Auseinandersetzung bei dem jeweiligen Autor aktuell<br />
ist oder ob sie sich nur in dem von ihm übernommen Traditionsgut widerspiegelt?<br />
d) Welche Punkte sind für das Verständnis der späteren Auslegung, vor allem der der<br />
Reformation, besonders wichtig geworden?<br />
1. άνθρωπός τις (Vers 30).<br />
Zu a) In der überwiegenden Zahl der herangezogenen Auslegungen wird άνθρωπός<br />
τις mit Adam 51 ) oder dem primus homo gleichgesetzt, nicht selten aber auch als „der<br />
Mensch“ schlechthin verstanden 52 ).<br />
Zu b) Fast überall deutet man von Gen. 3 her 53 ).<br />
Zu c) Bemerkenswert ist zunächst, daß Origenes in Homilie 34 54 ) die Auslegung des<br />
„Presbyters“ 55 ) deutlich korrigiert. Zur Gleichsetzung von „ein Mensch“ mit Adam<br />
durch den „Presbyter“ erklärt er gleich am Anfang seiner eigenen Auslegung: „Wenn<br />
dies auch vernünftig und schön gesagt ist, so darf man dennoch nicht meinen, daß es sich<br />
auf alle Menschen bezieht. Weder ,steigt’ jeder Mensch<br />
51) So schon der „Presbyter“ nach dem Bericht des Origenes GCS Orig. 9, 190.<br />
52) Z. B. Gregor v. Nyssa, MPG 44, 1085.<br />
53) Besonders klar Gregor v. Nazianz, Poem. hist., MPG 37, 997.<br />
54) GCS Orig. 9, 188–195.<br />
55) S. dazu schon oben S. 3f. und 29f.
30<br />
,von Jerusalem nach Jericho herab’, noch halten sich alle deswegen in der gegenwärtigen<br />
Welt auf, mag auch jener, der gesandt worden ist, ,wegen der verlorenen Schafe des<br />
Hauses Israel’ gekommen sein. ,<strong>Der</strong> Mensch’ also, ,der von Jerusalem nach Jericho<br />
herabstieg’, ,fiel’ deswegen ,unter die Räuber’, weil er selbst herabsteigen wollte.“ 56 )<br />
Ohne Zweifel liegt die Betonung auf dem Schlußsatz. Origenes grenzt sich gegen ein<br />
etwaiges Mißverständnis des Urfalles als eines bloßen Verhängnisses ab, wie es durch die<br />
Formulierung des „Presbyters“ veranlaßt werden könnte. Das Verständnis des Urfalles<br />
als Verhängnis wird ja schon aus den früher angeführten katharischen Auslegungen<br />
erkennbar und läßt sich vielfältig auch mit Hilfe von Irenäus, Adversus haereses,<br />
belegen. Origenes kritisiert also offensichtlich den „Presbyter“ deshalb, weil ihm seine<br />
Auslegung gegen eine gnostische Interpretation zu ungesichert erscheint. Tatsächlich<br />
könnte eine solche noch bei Zeno von Verona durchschimmern, der erklärt: <strong>Der</strong> Mensch,<br />
„der einen Angriff erlitten habe“ 57 ), sei als Adam zu verstehen. Dasselbe mag der Fall<br />
sein bei Arnobius Junior, wenn er sagt, „ein Mensch“ meine den Adam, „der in das Exil<br />
der Welt gestoßen worden ist“ 58 ).<br />
Bemerkenswert ist endlich, daß die Cramer-Katene ausdrücklich von einem<br />
„Abstieg“ des Menschen „von oben“ spricht 59 ), also sich eines Terminus bedient, der u.<br />
a. auch in den Überlieferungen über Marcion eine Rolle spielt 60 ).<br />
2. „Jerusalem“ (Vers 30)<br />
Zu a) Die Mehrzahl der Auslegungen deutet unsere Wendung auf das „himmlische<br />
Jerusalem“ 61 ), eine Minderheit auf das „Paradies“ 62 ).<br />
Zu b) Die Auslegung erfolgt z. T. in Wendungen, welche einen Zusammenhang mit<br />
Hebr. 12, 22f. nahelegen 63 ). Eine förmliche Begründung gibt erstmals Augustin 64 ):<br />
Jerusalem bedeute jene „Stadt<br />
56) GCS Orig. 9, 191.<br />
57) Homo enim aggressuram passus—MPL 11, 431.<br />
58) In . . . mundi exilium trusus est—GCS Orig. 9, 297.<br />
59) Cramer-Katene S. 87.<br />
60) Vgl. A. v. Harnack, Marcion, Neudruck 1960, S. 184.<br />
61) Z. B. Augustin, Quaestiones Ev., MPL 35, 1340.<br />
62) Z. B. Isidor v. Sevilla, MPL 83, 124.<br />
63) So z. B. bei Pseudo-Fulgentius, MPL 65, 931.<br />
64) In den Quaestiones Ev., MPL 35, 1340/1.
31<br />
des Freidens, von deren Seligkeit er gefallen war“. Hier handelt es sich um eine auf<br />
etymologischer Deutung des Namens Jerusalem basierende Auslegung. Da sie von einer<br />
Kombination der hebräischen Wörter חצר = sehen und םולש = Frieden ausgeht und sich in<br />
dem spätjüdischen Midrasch zur Genesis findet 65 ), liegt es nahe, daß hier eine alte<br />
jüdische Etymologie vorliegt und aufgenommen ist. Man wird sich also vor allzu<br />
bestimmten Aussagen hüten müssen, weil solche Etymologien allgemein bekannt waren,<br />
wie Hieronymus 66 ) und vor ihm Origenes 67 ) erkennen läßt. Zudem hat man den Eindruck,<br />
daß die aufgezeigte Auslegung auf Jerusalem älter ist als ihre etymologische<br />
Begründung, weil sie ohne diese schon vor Augustin auftaucht.<br />
Zu c) Was den Ursprung der Auslegung auf das himmlische Jerusalem betrifft, so<br />
wird sie als allgemein verbreitet gelten müssen 68 ). Jedoch ist im jüdischen Schrifttum<br />
weniger häufig vom Fall des Urmenschen im Zusammenhang mit dem himmlischen<br />
Jerusalem die Rede 69 ), als es etwa bei den Valentinianern 70 ) oder auch bei Herakleon 71 )<br />
der Fall ist. Eine Bemerkung bei Pseudo-Chrysostomus II läßt sich sogar mit Sicherheit<br />
von Herakleon aus erklären: „Jerusalem ist als ,Aufstieg’ 72 ) zu verdolmetschen, heißt es<br />
bei Pseudo-Chrysostomus II 73 ), und Herakleon spricht von „Jerusalem“ als dem Sinnbild<br />
des Aufstieges 74 ) vom Hylischen zum Psyschischen und deutet dann des weiteren<br />
Jerusalem als „Bild des Aufstieges des Herrn“ 75 ).<br />
3. „Jericho“ (Vers 30)<br />
65) Genesis rabba 56 (36a).<br />
66) Liber interpret. Hebr. Nom., CChL 72, 121, 154, 155.<br />
67) Vgl. O. Bardenhewer, Geschichte der altkirchlichen Literatur, Bd. II, 2. Aufl. 1912, S. 182.<br />
68) Für das Judentum vgl. z. B. 4. Esra 7, 26; 8, 52; 10, 54; 13, 36.<br />
69) Vgl. P. Volz, Die Eschatologie der jüdischen Gemeinde, 1934, S. 373. Als Ausnahme nennt er nur<br />
syr. Baruch 4, 3–6.<br />
70) Vgl. W. Völker, Quellen zur Geschichte der christlichen Gnosis, 1932, S. 132 und 133.<br />
71) Vgl. H. Leisegang, Die Gnosis, 4. Aufl. 1955, S. 318.<br />
72) άνάβασις.<br />
73) MPG 62, 755 (unter den Spuria).<br />
74) άνοδος.<br />
75) άνάβασις κυρίου—nach Origenes, Johanneskommentar, GCS Orig. 7, 206.
32<br />
Zu a) <strong>Der</strong> Ortsname wird allgemein im Sinne von „Welt“ gedeutet.<br />
Zu b) Eine Begründung bietet Severus von Antiochien mit Hilfe geographischer<br />
Kenntnisse: Jericho sei eben eine „hohle, tiefe Gegend, das fiebrige Leben dieser Welt,<br />
das erstickend wirkt und ausgebrannt durch die Flammen der schamlosen Lüste“ 77 ).<br />
Erstmalig taucht bei Hieronymus die Deutung mittels des hebräischen c-r-y= auf:<br />
„Jericho, dies wird als ‚Mond’ interpretiert, der immer wechselt 78 ), dies muß man aber in<br />
Bezug auf diese Welt verstehen.“ Es könnte sein, daß schon hier Eccl. 27, 12 im<br />
Hintergrund steht, eine Stelle, die nach der Vulgata die Unbeständigkeit des Toren mit<br />
dem Wechsel des Mondes vergleicht 79 ).<br />
Zu c) Besonders bemerkenswert ist, daß Origenes in seiner Erklärung zu Mt 20, 29<br />
nicht nur vom Gang nach Jericho als dem Abstieg in die Welt redet, sondern auch erklärt:<br />
Jesus folgen in Jericho viele Leute nach, „um in das himmlische Jerusalem<br />
hinaufzusteigen, wobei sie ihn als Wegführer 80 ) gebrauchen“. Dahinter scheint die<br />
unverkürzte gnostische Lehre von der Hinaufführung der Seelen zu stehen.<br />
Sie scheint auch den Hintergrund zu bilden, wenn Pseudo-Chrysostomus II 81 ) die<br />
„Herberge“ Lk 10, 35 als im Himmel gelegen bezeichnet.<br />
76) κόσµος-mundus.<br />
77) Severus v. Antiochien, nach H. De Lubac, Katholizismus als Gemeinschaft, S. 393.<br />
78) Mutator-Tractatus de Ps. CXXXVI, CChL 78, 296.<br />
79) Dies ist um so wahrscheinlicher, als Augustin im Zusammenhang unserer Auslegung häufig eben<br />
die Unbeständigkeit Jerichos der Festigkeit Jerusalems gegenüberstellt (vor allem in Ennaratio in Ps.<br />
CXXI, MPL 38, 933/4). Er bezeichnet den Fall von „Jerusalem“ nach „Jericho“ als Fall aus dem ewig<br />
Selbigen, dem, was sich immer gleich bleibt (Jerusalem idipsum, vgl. dazu Sanchis, L’exégèse<br />
Augustinienne de la Parabole du bon Samaritain: Recherches de Science Religieuse, 1961, S. 413). Da<br />
unsere Auslegung sich wiederum bei Hieronymus (Liber interpret. Hebr. Nom., MPL 72, 137) findet,<br />
gilt bezüglich weitergehender Schlüsse auf die Herkunft unserer Auslegung hier dasselbe, wie bei der<br />
vorigen Wendung, nur, daß sich hier der Weg von der Etymologie zur Deutung als recht verschlungen<br />
und darum noch deutlicher als nachträglich herausstellt.<br />
80) όδηγός,—Comm. in Mat., GCS Orig. 10, 504.<br />
81) MPG 62, 755ff.
33<br />
4. λησταί (Vers 30)<br />
Hier stehen zwei verschiedene Auslegungen nebeneinander.<br />
I zu a) Vor allem die Mehrzahl der östlichen Autoren setzt die „Räuber“ mit den<br />
Dämonen gleich 82 ). Die westlichen Ausleger dagegen sprechen, trerminologisch zwar<br />
anders aber sachlich auf derselben Linie, vom „diabolus“ 83 ). Häufiger allerdings wird<br />
beides kombiniert 84 ).<br />
I zu b) Verschiedentlich taucht der Terminus „Engel der Finsternis“ 85 ) auf. Dies weist<br />
darauf hin, daß die Interpretation unter dem Einfluß von 2. Kor. 11, 14 steht, wie das<br />
nachweislich ja bei Ambrosius der Fall ist 86 ).<br />
I zu c) Es wurde bereits geziegt, daß die von Moneta zitierte katharische Auslegung,<br />
die auf altes gnostisches Gut zurückgehen dürfte, sich auf 2. Kor. 11, 14b bezieht. Dieser<br />
Bezug ist also der rechtgläubigen kirchlichen Auslegung, etwa bei Ambrosius,<br />
aufgenommen.<br />
Klemens von Alexandrien in Quis dives salvetur führt hier die „Kosmokratoren der<br />
Finsternis“ 87 ) an, die dem Menschen Schläge der Krankheit usw. versetzen. Obwohl diese<br />
Wendung, die im Anschluß an Eph. 6, 12 gebraucht ist, sich auch im rabbinischen<br />
Judentum findet 88 ), läßt sie sich nicht nur allgemein in gnostischen Texten nachweisen,<br />
sondern dort auch gerade in Zusammenhängen, die der kirchlichen Auslegung von Lk 10,<br />
30 verwandt sind. Hier sei nur auf den Bericht des Irenäus über die Gnostiker verwiesen,<br />
in dem 89 ) Jesu Aufgabe so umrissen wird, daß er „das Gesetz und die Propheten und alle<br />
Werke jenes Gottes auflöst, der die Welt geschaffen hat, welchen er auch Kosmokrator<br />
nennt“. Belangreich ist ferner u. a. die Stelle Acta Thomae 148, an der die δυνάµεις von<br />
Eph. 6, 12<br />
82) Z. B. Pseudo-Chrysostomus II, aaO, aber auch schon der „Presbyter“.<br />
83) Z, B. Crypian v. Karthago, MPL 3, 809.<br />
84) So z. B. Bei Zeno v. Verona, MPL 11, 431.<br />
85) Angeli tenebrarum—so z. B. Bei Zeno v. Verona, aaO S. 431; ebenso bei Isidor v. Sevilla, MPL<br />
83, 124.<br />
86) In der Expositio, s. o. S. 23f.<br />
87) κοσµοκράτορες τοΰ σκότους—GCS Clem. 3, 179.<br />
88) Vgl. dazu T. K. Abbot, A critical and exegetical commentary on the epistles to the Ephesians and to<br />
the Colossians, 5th reprint 1953, S. 182.<br />
89) Adversus haereses I, 27, 2.
34<br />
als „Steuererheber“ 90 ) und „Tributforderer“ 91 ) interpretiert werden.<br />
II zu b) Origenes 92 ) deutet die „Räuber“ neuartig auf Irrlehrer: „Die Räuber aber sind<br />
keine anderen als jene, von welchen der Heiland sagt: Alle, die vor mir gekommen sind,<br />
sind Diebe und Mörder.“ Er zieht als Joh 10, 8 in dem Sinne heran, in dem auch Pseudo-<br />
Titus und die Cramer-Katene von den vor Christus gekommenen „Pseudo-Lehrern“<br />
sprechen 93 ). Da Irenäus in der Auseinandersetung mit der Gnosis die außerhalb der<br />
Kirche Stehenden als „Räuber“ und „Diebe“ bezeichnet hatte 94 ), ist zu fragen, ob etwa<br />
Origenes eine gnostische Auslegung von „Räuber“ dadurch abzubiegen versucht, daß er<br />
sie eben auf die Gnostiker selbst auslegt.<br />
5. ένδύσαντες αύτόν (Vers 30)<br />
Die meisten Autoren deuten auf das durch den Sündenfall verursachte Ausziehen der<br />
„Kleider der Unsterblichkeit“ 95 ) oder, etwas allgemeiner, auf das Ablegen der „Kleider<br />
der geistlichen Gnadengaben“ 96 ).<br />
6. πληγαí (Vers 30)<br />
Zu a) Durchgängig wird auf die Schläge der Sünde gedeutet 97 ), z. T. Werden diese<br />
auch näher konkretisiert als Furcht, Begierden, Leidenschaft usw. 98 ).<br />
Zu c) Was die Frage nach dem gnostischen Hintergrund betrifft, so beanstandet<br />
Sanchis, daß Augustin durch seine Erklärung von plhgaí ein rein naturhaftes Verständnis<br />
der Sünde als passiv zu erduldendes Verhängnis nahelege 99 ). So mag hier wie schon bei<br />
άνθρωπός τις 100 ) bei Augustin und den meisten Kirchenvätern ein an sich fremdes<br />
unorthodoxes Element auftreten.<br />
90) τελώναι—vgl. R. A. Lipsius und M. Bonnet, Acta Apostolorum Apocrypha, 1891, Neudruck der<br />
wissenschaftl. Buchgesellschaft, 1959—Band 2 z. St.—und E. Henneke, Neutestamentl. Apokryphen,<br />
3. Aufl., z. St.<br />
91) άπαίτηται—aaO.<br />
92) In Hom. XXXIV, GCS Orig. 9, 191.<br />
93) Pseudo-Titus, GCS Orig. 9, 191 u. 296 und Cramer-Katene S. 296.<br />
94) Adversus haereses III, 4, 1.<br />
95) Z. B. Arnobius Junior, GCS Orig. 9, 297: indumenta immortalitatis.<br />
96) Z. B. Ambrosius, Expositio, CChL 14, 230.<br />
97) Z. B. Bei Origenes, Hom. XXXIV, aaO, 191.<br />
98) Z. B. Bei Klemens v. Alexandrien, GCS Clem. 3, 179.<br />
99) Sanchis, aaO S. 415.<br />
100) S. o. S. 29f.
35<br />
7. =ήµιθανής (Vers 30)<br />
Zu d) Eine Anzahl von Autoren deutet den Ausdruck „halbtot“ auf das Göttliche im<br />
Menschen, das nicht getötet werden kann 101 ). Indes, die Betonung einer partiellen<br />
Unsterblichkeit ist keineswegs überall zu finden. Erstmals bei Augustin und ebenso bei<br />
anderen, bei denen das dichotomische Schema noch im Hintergrund ist, liegt der Ton<br />
ganz auf dem, was durch den Überfall des Diabolus verloren geht. So erklärt Augustin, es<br />
heiße in unserem Text „halbtot“, weil der Mensch in dem Teil, in dem er durch Sünden<br />
bedrängt und versehrt wird, tot ist 102 ). Pseudo-Hieronymus führt denselben Gedanken<br />
noch weiter aus, wenn er ήµιθανής auf einen „lebendigen Körper, aber ein totes Gewissen<br />
und eine tote Seele“ 103 ) deutet.<br />
In welche Richtung Augustin mit seiner Auslegung gezielt haben mag, läßt sich wohl<br />
noch dem pseudoaugustinischen Hypognosticon entnehmen, in dem sich zu unserer<br />
Stelle starke Polemik gegen die Pelagianer findet: “Halbtot“ meine, daß der freie Wille<br />
verwundet sei und zwar so, „daß er ihm (scil. dem Verwundeten) nicht hinreichte, um<br />
zum ewigen Leben zurückzukehren“. Und das wird durch Ausmalung weiterer Züge der<br />
Erzählung noch unterstrichen: <strong>Der</strong> Verwundete habe am Boden gelegen, „weil die ihm<br />
zum Aufstehen eigenen Kräfte nicht hinreichten . . . , zu deren Heilung er (vielmehr)<br />
einen Arzt, d. h. Gott, nötig hatte“ 104 ).<br />
8. Priester und Levit (Vers 31f.)<br />
Zu a) Allgemein werden beide auf die alttestamentlich-jüdische Religion bezogen,<br />
meist, indem von „Gesetz und Propheten“ die Rede ist 105 ), teils, indem nur das mosaische<br />
Gesetz genannt wird 106 ), teils auch, indem einzelne Repräsentanten der alttestamentlichjüdischen<br />
Frömmigkeit herausgegriffen werden wie Mose und Aaron 107 ).<br />
Zu b) Sehr häufig wird Hebr. 10, 4 mit dem Hinweis auf die Unmöglichkeit der<br />
Sühne durch das Opfer des alten Priestertums zitiert.<br />
101) Z. B. Gregor v. Nyssa, MPG 44, 1086.<br />
102) Augustin, Quaestiones Ev., MPL 35, 1340.<br />
103) Pseudo-Hieronymus, MPL 30, 591.<br />
104) Pseudo-Augustin, MPL 45, 1628.<br />
105) So z. B. der „Presbyter“, GCS Orig. 9, 190.<br />
106) So z. B. Gregor v. Nyssa, MPG 44, 1085.<br />
107) So z. B. Arnobius, GCS Orig. 9, 297.
36<br />
Daneben wird aber auch nicht selten das άντιπαρήλθεν des Textes mit dem<br />
„Vorübergehen des Gesetzes“ 108 ) unter deutlicher Anspielung auf R 5, 20<br />
zusammengebracht.<br />
Zu c) Schon Origenes macht in der Auslegung in Homilie 34 eine Kautele, die an sich<br />
den Gedankengang unterbricht: „Es ist aber geschehen, daß auf demselben Wege zuerst<br />
der Priester und darauf der Levit herabstiegen, welche vielleicht in gewisser Hinsicht<br />
anderen Menschen Gutes taten, nicht aber diesem . . . .“ Dazu wird sofort Mt 5, 17<br />
gestellt 109 ). Bei der schon früher wahrgenommenen Tendenz des Origenes, die<br />
Auslegung des „Presbyters“ gegen gnostische Mißverständnisse abzuschirmen 110 ), liegt<br />
es nahe, in den Zwischengedanken eine Abwehr der völligen Abrogation des Gesetzes zu<br />
sehen, wie sie in der Gnosis tatsächlich weitgehend vorliegt 111 ). Ähnlich wie bei<br />
Origenes könnte eine Absicherung gegen eine Auflösung des alttestamentlichen Gesetzes<br />
auch bei Pseudo-Chrysostomus II noch durchschimmern. Er beginnt nämlich mit dem<br />
Vorsatz: „Obgleich Moses soviel getan hat . . .“, worauf eine recht breite Aufzählung der<br />
Taten Mose folgt, und konstatiert erst dann: „. . . kann er doch nicht helfen.“ 112 )<br />
Auch sonst sind betonte Bemerkungen über positive Funktion des Gesetzes, z. B.<br />
unter Erwähnung von Mt 5, 17 häufig, obwohl der Duktus der Auslegung an sich in<br />
entgegengesetzter Richtung läuft.<br />
Zu d) Für später mag noch wichtig sein, daß bei Pseudo-Augustin zu unserer Stelle<br />
ausführlich die Schwere der menschlichen Schuld und die Erbsünde als Grund für die<br />
Unfähigkeit herausgestellt wird 113 ).<br />
9. <strong>Samariter</strong> (Vers 33)<br />
Zu a) Fast alle Ausleger setzen entweder stillschweigend 114 ) oder<br />
108) πάροδος τοΰ νόµου—vgl. z. B. Gregor v. Nyssa, MPL 44, 1085.<br />
109) GCS Orig. 9, 192.<br />
110) S. o. S. 29f.<br />
111) So wird z. B. in der Darstellung des valentinianischen Systems bei Hippolyt ausdrücklich gesagt,<br />
daß Gesetz und Propheten vom törichten Demiurgen stammen, wobei beide mit den „Räubern und Dieben“<br />
aus Joh. 10, 8 identifiziert sind—vgl. z. B. Hippolyt, Refutatio VI, Kap. 35 bei Völker, Quellen zur<br />
Geschichte der Gnosis, 1932, S. 134.<br />
112) MPG 62, 756.<br />
113) MPL 45, 1628.<br />
114) So schon Irenäus, SC 34, 306.
37<br />
ausdrücklich 115 ) den <strong>Samariter</strong> von Vers 33 mit Christus gleich. In der Mehrzahl<br />
geschieht das so, daß man den <strong>Samariter</strong> als „Hüter der Seelen“ 116 ) interpretiert, öfter<br />
auch als Hirt 117 ), ebenso als Arzt 118 ).<br />
Zu b) Eine Begründung dieser Auslegung wird erstmals bei Origenes in Homilie 34<br />
erkennbar. Hier zeigt sich, daß Origenes die Berechtigung der Gleichsetzung Jesu mit<br />
dem <strong>Samariter</strong> aus Joh. 8, 48f. herleitet, da Jesus nach dieser Stelle den einen Einwand, er<br />
sei von einem Dämonen besessen, abgelehnt habe, nicht aber den anderen, er sei ein<br />
<strong>Samariter</strong> 119 ).—In dem späteren Johanneskommentar wird deutlich, daß solche<br />
Argumentation schon älter als Origenes ist 120 ). Das gilt auch für die andere<br />
Argumentation, mit der er dort die schon in Homilie 34 gebrauchte Deutung von<br />
Σαµαρίτης als „Hüter“ begründet: „Ein anderer greift zur Übersetzung des Wortes<br />
<strong>Samariter</strong>, das Hüter 121 ) bedeutet. Hüter, Wächter heißt im Hebräischen schomer. So<br />
seien nämlich, wie man überliefert, die <strong>Samariter</strong> genannt worden, weil sie vom<br />
assyrischen König als Hüter des israelitischen Landes (dorthin) nach der Gefangenschaft<br />
gesandt wurden.“ 122 ) Im übrigen ist schon bei Origenes auch die Etymologie zugleich ein<br />
Argument für die Deutung des <strong>Samariter</strong>s auf Christus, sofern er in Homilie 34 sogleich<br />
nach der Erwähnung des „Hüters“ Ps. 121, 4 zitiert 123 ).<br />
Zu c) Irenäus in Adversus haereses erklärt: „So empfahl der Herr<br />
115) So schon der „Presbyter“ GCS Orig. 9, 190.<br />
116) custos animarum—Origenes in Hom. XXXIV, GCS Orig. 9, 91.<br />
117) Z. B. bei Ambrosius, De poentitentia, lib. I, cap. VI, MPL 16, 495; Anklänge jedoch auch schon<br />
in Hom. XXXIV des Origenes, GCS Orig. 9, 91.<br />
118) Z. B. bei Augustin, In Johannis Evangelium, CChL 36, 365.<br />
119) GCS Orig. 9, 192; vgl. den ausdrücklichen Bezug auf Joh. 8, 48f. auch z. B. bei Gregor v.<br />
Nazianz, Oratio III, MPG 36, 102; Severus v. Antiochien, nach H. de Lubac, aaO s. 393; Augustin,<br />
Ennaratio in Ps., sermo CXXV und CXXXVI, MPL 37, 1668 und 38, 732 und Pseudo-Hieronymus, MPL<br />
30, 591f.<br />
120) Johanneskommentar, GCS Orig. 4, 725.<br />
121) φύλαξ.<br />
122) Vgl. IV. Reg. 17, 24ff.<br />
123) Andere Ausleger fügen später Ps. 23 hinzu, z. B. Caesarius v. Arles, CChL 104, 660.—Wie<br />
bisher scheint es uns schwierig, aus der Etymologie weitergehende Rückschlüsse zu ziehen. Wichtig ist uns<br />
nur folgendes: Zwar finden sich gewisse Ansatzpunkte für unsere Auslegung in der jüdischen Halachah<br />
(vgl. z. B. Berakoth 47b und Gittin 40a u. ö.), aber unsere Etymologie, die die <strong>Samariter</strong> als „Wächter“<br />
schlechthin bezeichnet, kann in dieser Form unmöglich jüdischen Ursprungs sein.
38<br />
dem Heiligen Geist seinen Menschen, welcher unter die Räuber gefallen war und<br />
welchem er Barmherzigkeit erzeigte und die Wunden verbunden hatte. Und er gab jenem<br />
(scil. dem Heiligen Geist) zwei Königsdenare.“ 124 )<br />
Um die ausgesprochen antignostische Spitze dieser Sätze zu verstehen, muß man<br />
einen Blick auf ihren weiteren Kontext werfen: Irenäus wendet sich in dem ganzen 3.<br />
Buch von Adversus haereses gegen die Auffassung, in der Taufe sei der „Christus von<br />
oben“ nur für gewisse Zeit auf Jesus herabgestiegen und habe ihn vor Beginn des Leidens<br />
wieder verlassen 125 ).<br />
Speziell an unserer Stelle versucht Irenäus nun gerade die Unterschiedlichkeit<br />
zwischen Jesus als dem Christus einerseits und dem Heiligen Geist andererseits zu<br />
sichern, indem er Christus mit dem <strong>Samariter</strong>, den Heiligen Geist aber mit dem Wirt der<br />
Erzählung identifiziert.<br />
Interessant ist auch Pseudo-Chrysostomus I. Er kommentierte den Satz Σαµαρίτης<br />
ήλθεν κατ’ αύτόν folgendermaßen: „Er kam, indem er ,ihm gemäß’ 126 ) körperlichen<br />
Leiden unterworfen war, jedoch ohne Sünde.“ Man braucht zu dem eben erwähnten<br />
Kampf des Irenäus gegen die von den Gnostikern postulierte Leidensunfähigkeit Jesu nur<br />
noch eine Bemerkung des Chrysostomus über Marcion zu stellen, um zu sehen, wie sehr<br />
sich unsere Stelle in Pseudo-Chrysostomus I vom Hause aus gegen den gnostischen<br />
Doketismus gerichtet haben könnte: „Marcion—sieh, was er sagt: Gott konnte nicht<br />
Fleisch annehmen, weil er rein bleiben muß.“ 127 )<br />
In diesem Zusammenhang gewinnt es auch eine gewisse Bedeutung, daß das Bild von<br />
Christus als dem Hirten sich in der Gnosis offensichtlich besonderer Beliebtheit<br />
erfreut 128 ).<br />
124) duo denaria regalia—Irenäus, SC 34, 306.<br />
125) Vgl. Adversus haereses III, 16, 1.<br />
126) κατ’ αύτόν, d. h. dem Verwundeten gemäß—Pseudo-Chrysostomus I, MPG 61, 756.<br />
127) Chrysostomus, Hom. 23, 6 in Eph., nach A. v. Harnack, Marcion, Neudruck 1960, S. 348.<br />
128) Vgl. dazu z. B.: Evangelium veritatis, herausgegeben von E. Malimen, H. Cl. Puech u. a., Zürich<br />
1956, S. 31. Besonders wichtig ist eine Stelle aus dem Bericht des Irenäus in Adversus haereses I, 8, 4 über<br />
die valentinianische Gnosis, wo nicht nur, wie bei Origenes in Hom. 34 (GCS Orig. 9, 191) Mt 10, 6 und<br />
15, 24, zitiert wird, sondern anschließend, wie in der weiteren Auslegung unseres Textes durch die<br />
Kirchenväter, (s. u. S. 40ff.) dann auch von der Entstehung der Kirche die Rede ist.
39<br />
10. έλαιον καί οίνον (Vers 34)<br />
Hier sind deutlich zwei Gruppen zu unterscheiden.<br />
I zu a) Zahlreiche Ausleger deuten unsere Wendungen auf das Miteinander von Härte<br />
und Milde. So erklärt Origenes in Homilie 34: <strong>Der</strong> Verwundete wurde gepflegt „mit Öl,<br />
damit die Geschwulst der Wunden besänftigt werde, und mit Wein, damit er (scil. der<br />
<strong>Samariter</strong>) sie reinigte, indem er etwas Scharfes für die Wunden beimischte“ 129 ).<br />
I zu d) Für die Auslegung, vor allem der Reformatoren, ist wichtig, daß schon einige<br />
der früheren Ausleger in dem von uns behandelten Zeitabschnitt die Deutung auf Milde<br />
und Härte mit einem soteriologischen Aspekt verbinden. So ist von „Vergebung der<br />
Sünde und Härte des Gesetzes“ die Rede 130 ) oder von „Barmherzigkeit und Strenge“, die<br />
Christus in seinem Erlösungswerk übt 131 ). Wichtig ist ferner, daß sich bei Pseudo-<br />
Augustin eins der beiden eben genannten Momente bereits in einer bestimmten<br />
Abzweckung findet: „Weil der Mensch am freien Willen verwundet ist, kann er sich ohne<br />
die Gnade Gottes, d. h. allein, nicht heilen . . . und kann die Gnade nicht mit<br />
irgendwelchem Verdienst erwerben, sondern Gott tut es in seiner Barmherzigkeit.“ 132 )<br />
II zu a) Eine andere Gruppe deutet auf sakramentale Handlungen, entweder auf<br />
Eucharistie und Ölsalbung 133 ) oder auf Eucharistie und Taufe 134 ), da bei letzterer in der<br />
Alten Kirche ja auch Öl eine Rolle spielte 135 ).<br />
129) GCS Orig. 9, 193. Später münzt vor allem Gregor d. Gr. diesen Gedanken immer wieder aus, um<br />
rechtes pastorales Verhalten zu kennzeichnen,—vgl. z. B. Regulae past., MPL 77, 38 und Epist. XXV,<br />
MPL 77, 476.<br />
130) Vgl. z. B. Ambrosius, Expositio, CChL 14, 230.<br />
131) Vgl. z. B. Caesarius v. Arles, CChL 104, 660.<br />
132) MPL 45, 1627.<br />
133) Vgl. z. B. Arnobius Junior, GCS Orig. 9, 297.<br />
134) Vgl. Pseudo-Athanasius, MPG 28, 714.<br />
135) Daniélou zieht aus der Verschiedenheit der Auslegungen von „Öl und Wein“ den Schluß, diese<br />
Interpretationen hätten insgesamt sekundären Charakter (s. o. S. 4 und die dazugehörige Anm. 3). Dabei<br />
übersieht er jedoch, daß es auch Mischformen zwischen der obengenannten soteriologischen und<br />
sakramentalen Auslegung gibt—vgl. z. B. Pseudo-Chrysostomus I, der von der „heiligen Salbung“ und<br />
dem „Mysterium des Glaubens“ spricht. MPG 61, 756.
40<br />
11. κτήνος (Vers 34)<br />
Zu a) Das „Tier“ wird meistens mit dem „Leib Christi“ gleichgesetzt 136 ). Das<br />
geschieht unter Verweis entweder auf das Sühneleiden Christi 137 ) oder auf die<br />
Inkarnation 138 ).<br />
Zu b) Das Moment der Sühne wird fast überall von Jes. 53 aus begründet 139 ). Einmal<br />
wird auch die Linie von kt_now zu dem Lamm, zu dem der Gottesknecht sich macht (Jes.<br />
53, 7), ausdrücklich gezogen 140 ). Bei der Deutung auf die Inkarnation könnte Phil. 2, 5ff.<br />
Im Hintergrund stehen 141 ). Jedenfalls könnte sich von hier aus die eigenartige<br />
Formulierung des Origenes in seiner 34. Homilie erklären: <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong> = Christus<br />
setze den Halbtoten auf sein Lasttier, d. h. er nehme ihn „auf seinen eigenen Leib dem<br />
entsprechend, daß er einen Menschen für würdig erachtete, dessen Gestalt<br />
anzunehmen“ 142 ).<br />
Zu c) Wichtig ist uns, daß schon Marcion in seiner kurzen Bemerkung von Phil. 2 aus<br />
argumentiert hat 143 ). Bemerkenswerterweise findet sich diesselbe Formulierung „est<br />
dignatus“ auch in dem Referat, das Tertullian über die Inkarnationsvorstellung des<br />
Marcion erstattet 144 ).<br />
12. πανδοχεΐον (Vers 34)<br />
I zu a) Fast alle Kirchenväter deuten die Herberge, soweit das überhaupt geschieht,<br />
auf die Kirche 145 ). Dabei kann die Nuancierung durchaus verschieden sein 146 ). Zeno von<br />
Verona bezeichnet in diesem Zusammenhang die Christen als das „göttliche Vieh“ 147 ),<br />
das durch die Predigt ernährt wird. Dabei spielt offensichtlich die lateinische<br />
136) So z. B. schon beim „Presbyter“, GCS Orig. 9, 190.<br />
137) So z. B. Origenes, Hom. XXXIV, GCS Orig. 9, 193.<br />
138) So ebenfalls wahlweise Origenes, aaO.<br />
139) Vgl. z. B. Pseudo-Augustin, MPL 45, 1629.<br />
140) Pseudo-Fulgentius, MPL 65, 931.<br />
141) Z. B. bei Pseudo-Augustin, MPL 45, 1629.<br />
142) Juxta id, quod est hominem dignatus assumere, vgl. dazu Phil. 2, 6—GCS Orig. 9, 193.<br />
143) S. o. S. 18f.—Die Annahme eines Leibes durch Christus konnte Marcion ohne weiteres vertreten<br />
(vgl. A. v. Harnack, Marcion, Neudruck 1960, S. 121), dagegen nicht die uneingeschränkte Annahme des<br />
Fleisches.<br />
144) Vgl. A. v. Harnack, Marcion, Neudruck 1960, S. 121.<br />
145) Vgl. z. B. Hieronymus, Tract. de Ps. CXLVI, CChL 72, 245.<br />
146) Daniélou weist zu Unrecht nur auf die Gemeinsamkeiten hin (s. o. S. 4 und die dazugehörige<br />
Anm. 3).<br />
147) pecora divina—MPL 11, 431.
41<br />
Übersetzung von πανδοχεΐον—stabulum eine Rolle, womit ebenso „Gasthaus“ wie<br />
„Stall“ gemeint sein kann. Für Ambrosius ist besonders die Krippe des Herrn wichtig, um<br />
die sich die Christen in der Kirche scharen 148 ). Augustin kennzeichnet die Herberge als<br />
eine Station auf dem Wege zum ewigen Vaterland 149 ).<br />
I zu b) Auffällig ist, daß der „Presbyter“, der in der Erklärung der einzelnen Wörter<br />
bisher nur kommentarlose Gleichsetzung vollzog, von hier ab plötzlich breiter wird und<br />
erstmals eine Begründung bringt. Es scheint, als beginne nun der Teil, auf den er<br />
besonderes Gewicht legt: Die Herberge—„d. i. der Stall 150 ), welcher alle 151 ) aufnimmt,<br />
die hineingehen wollen“—wird als Kirche interpretiert. Indem der „Presbyter“ dabei die<br />
unbeschränkte Hilfe, die alle in der Kirche erhalten können 152 ), unterstreicht und<br />
zusätzlich Mt 11, 28 zitiert, wird deutlich, daß es sich hier wiederum um eine Auslegung<br />
handelt, die ihren Ursprung im Etymologischen hat: πανδοχεΐον wird von πάς und<br />
δέχοµαι her als „Herberge für alle“ gedeutet.—Dies Verständnis wird dann im<br />
Lateinischen durch die Ausdeutung von „stabulum“ noch in besonderer Weise<br />
konkretisiert 153 ). Die Cramer-Katene kommt deutlich von derselben griechischen<br />
Etymologie her, wenn es dort heißt: „Die Kirche sei aufnahmebereit und geräumig . . . ;<br />
denn wir sollen nicht mehr gemäß der Frage des gesetzlichen Schattens (diese Worte)<br />
hören: ,<strong>Der</strong> Ammoniter und Moabiter soll nicht mehr in die Gemeinde des Herrn gehen’,<br />
sondern dies sollen wir hören: ,Gehet hin und machet zu Jüngern alle Völker.’“ 154 )<br />
I zu c) Es ist festzustellen, daß die letztgenannte Interpretation mit ihrer<br />
Entgegensetzung von alter und neuer Gemeinde auch in der Gnosis möglich gewesen<br />
wäre. Hinzu kommt, daß unsicher bleiben muß, ob die ekklesiologische Wendung, die die<br />
zitierten Auslegungen zu Lk 10, 34 nehmen, ein Novum der Großkirche gegenüber der<br />
Gnosis ist oder nicht. Auch die von Moneta überlieferte<br />
148) Expositio, CChL, 241—vgl. dazu Jes. 1, 3 und Lk 2, 16.<br />
149) Quaestiones Ev., MPL 35, 1340.<br />
150) Stabulum—vgl. Origenes, Hom. XXXIV, GCS Orig. 9, 191.<br />
151) Universi.<br />
152) Omnes.<br />
153) S. o. Zeile 1ff. die Auslegungen Zeno v. Veronas, des Ambrosius und Augustinus.<br />
154) Cramer-Katene, S. 88; es folgt auf die oben wiedergegebene Stelle die Zitierung von Mt 28, 19;<br />
vgl. ebenso auch Pseudo-Kyrill, MPG 72, 673ff.
42<br />
katharische Auslegung setzt „stabulum“ mit „ecclesia“ gleich 155 ), wobei freilich<br />
zweifelhaft bleibt, wieweit hier noch in die Kirchenväterzeit zurückweisendes Material<br />
vorliegt. Ob aber, selbst wenn die Auslegung schon in der Gnosis vorgebildet war,<br />
dennoch die großkirchlichen Formulierungen ein besonderes Gepräge haben, kann sich<br />
erst bei den folgenden Wendungen entscheiden, vor allem in Verbindung mit der Frage,<br />
in welcher Weise hier von der ecclesia geredet wird. Es könnte nämlich sein, daß dieser<br />
Begriff hier abgrenzend gebraucht ist.<br />
II zu a und b) Die Auslegung Gregors von Nyssa zeigt, daß man πανδοχεΐον auch<br />
anders als ekklesiologisch deuten konnte. Hier ist eine Deutung auch nicht einfach<br />
weggelassen wie bei Origenes (Hom. 34), sondern es wird von der Aufnahme Jesu in das<br />
Innere des Menschen geredet, wobei Joh. 15, 5 im Hintergrund steht. Diesen Vers<br />
umschreibt Gregor folgendermaßen: „<strong>Der</strong> in ihm ist, nimmt den, in dem er . . . (einst)<br />
war, gänzlich 156 ) auf.“ Etwas später heißt es dann weiter: „<strong>Der</strong> ihn also aufgenommen<br />
hat 157 ) in seinen Raum, der bewirtet 158 ) in sich das Unbegrenzte“ 159 ). Wir sehen zugleich,<br />
auch hier spielt unsere oben erwähnte Etymologie noch eine Rolle.<br />
13. πανδοχεύς (Vers 35)<br />
Da die meisten Ausleger auf den Wirt eingehen, wird man seine Deutung nicht ohne<br />
weiteres als später hineingekommen abtun können, wie das bei Daniélou geschieht 160 ).<br />
Allerdings müssen wir hier in der Tat mehrere Gruppen von Auslegungen unterscheiden,<br />
bei denen nicht mit Sicherheit gesagt werden kann, welches die älteste ist.<br />
I zu a) Zweimal wird unsere Wendung mit dem „Engel der Gemeinde“ identifiziert,<br />
und zwar bei relativ alten Auslegern, nämlich bei Origenes in Homilie 34 161 ) und Gregor<br />
von Elvira 162 ).<br />
I zu b) Möglicherweise liegt darin eine Reminiszenz an eine den Ausführungen<br />
Klemens’ von Alexandrien ähnliche Auslegung vor.<br />
155) Moneta, nach der Ausgabe von Ricchinius, S. 111 A.<br />
156) πάντως—Gregor v. Nyssa, MPG 44, 1086.<br />
157) δεξάµενος.<br />
158) πανδοχεύει.<br />
159) άχώρητον, Aufnahme des πάς.<br />
160) S. o. S. 4, Anm. 3.<br />
161) GCS Orig. 9, 194.<br />
162) Gregor v. Elvira nach P. Batiffol-A. P. Wilmart, Tractatus Origenes . . ., 1900, S. 177f.
43<br />
Er, einer der ältesten Autoren unseres Zeitabschnittes, spricht nämlich zu unserer Stelle<br />
nicht nur vom Sieg Christi über die Kosmokratoren, sondern er erklärt auch gegen Ende<br />
seiner Auslegung die Weisungen des <strong>Samariter</strong>s an den Wirt folgendermaßen: „Dieser<br />
(scil. der <strong>Samariter</strong>) ist es, der befiehlt, daß die Engel, die Gewalten und Mächte uns<br />
dienen zu großem Lohn.“ 163 ) Mit letzterem wird auf ˙podQsv in Vers 35 angespielt sein.<br />
I zu c) wie stark die Auslegung des Klemens tatsächlich gnostisch beeinflußt ist,<br />
wurde schon oben gezeigt 164 ). Damit wird aber das Vorliegen gnostischen Einflußes auch<br />
bei Origenes und Gregor von Elvira wahrscheinlich.<br />
II zu a) Irenäus deutet den Wirt ebenfalls allegorisch, jedoch nicht auf die dienstbaren<br />
Engel, sondern auf den Heiligen Geist 165 ).<br />
II zu c) Dabei muß gesehen werden, daß bei Irenäus nicht nur die Differenzierung<br />
zwischen Christus und Geist polemisch gegen die Gnosis gerichtet ist, sondern bereits die<br />
Erwähnung des Heiligen Geistes als solche. „In der Kirche“, so erklärt Irenäus an anderer<br />
Stelle 166 ), „hat Gott alle Wirkungsweisen des Geistes gesetzt. Dieses Gesetzes ist keiner<br />
teilhaftig, der nicht in die Kirche kommt.“ Die Nennung des Heiligen Geistes impliziert<br />
also bei einem der frühesten Ausleger des Zeitabschnittes, den wir gegenwärtig<br />
behandeln, eine antihäretische, speziell antignostische Wendung.<br />
III zu a) Für die Hauptgruppe der Autoren ist die Auslegung weit einheitlicher, als<br />
das bei Daniélou sichtbar wird. Hier wird der Wirt mit den für die Kirche<br />
verantwortlichen Menschen identifiziert. Eine Anzahl von älteren Auslegungen hat dabei<br />
den Vorsteher der Gemeinde bzw. den Bischof im Auge 167 ). Eine andere noch größere<br />
Zahl von Autoren deutet den Wirt speziell entweder auf Paulus 168 ) oder allgemein auf die<br />
Apostel, meist werden „die Apostel, die Hirten und die Lehrer“ zusammen genannt 169 ).<br />
163) Klemens v. Alexandrien, GCS Clem. 3, 179.<br />
164) S. o. S. 33f.<br />
165) Text s. o. S. 37f.<br />
166) Adversus haereses III, 24, 1.<br />
167) So schon der Presbyter: praesides ecclesiae—GCS Orig. 9, 191, ebenso Origenes, Comm. in<br />
epist. Pauli ad Romanos, MPG 14, 1231f;—Hieronymus, Tract. De Ps. CXLVI, CChL 72, 245: episcopoi.<br />
168) So z. B. Optat v. Mileve, CSEL 26, 149.<br />
169) Belege vgl. unter III, zu c).
44<br />
III zu b) Begründet wird diese Deutung nur im Blick auf Paulus, so z. B. bei<br />
Ambrosius in der Expositio zu Lk 10, 25ff. Er verweist an unserer Stelle auf Phil. 3, 8, wo<br />
es zweimal heißt, Paulus sähe alles 170 ) um Christi willen für Verlust an. Außerdem wird<br />
auch hier wieder wie zu πανδοχεύς Mt 28, 18ff. angeführt, nun offensichtlich unter<br />
spezieller Anwendung auf Paulus. Er wird in besonderer Weise als der angesehen, der „in<br />
alle Welt“ gegangen ist. Noch deutlicher ist dieser Bezug bei Pseudo-Augustin erhalten.<br />
Unter Verweis auf 2. Kor. 11, 28 wird festgestellt, Paulus sei die Sorge für alle<br />
Gemeinden anvertraut 171 ). Dabei ist offensichtlich noch das έπιµελήθητι von Lk 10, 35<br />
mit µέριµνα 2. Kor. 11, 28 zusammengebracht.<br />
Freilich handelt es sich bei allen angeführten Stellen um spätere Auslegungen. Schon<br />
in einer der früheren Auslegungen wird indes deutlich, daß sie ebenfalls eine<br />
Identifikation mit Paulus voraussetzt. Für den „Presbyter“ handelt es sich nämlich bei<br />
dem Wirt um den Vorsteher der Gemeinde, dem das Schatzmeisteramt anvertraut ist 172 ).<br />
Diese Formulierung stammt offensichtlich aus 1. Kor. 9, 17 173 ). Allerdings ist es<br />
wahrscheinlich, daß Paulus hier einfach als Vorsteher der Gemeinde bezeichnet wird.<br />
Vielmehr deutet der „Presbyter“ mit seiner Formulierung wohl nur an, daß der jeweilige<br />
Gemeindeleiter in einem gewissen Zusammenhang mit Paulus steht. Es zeigt sich also,<br />
daß es sich auch in der Auslegung auf Paulus um relativ weit zurückreichendes Gut<br />
handelt, und dasselbe wird auch hinsichtlich der damit zusammengehörigen Etymologie<br />
gelten 174 ). Ferner wird uns hier endgültig deutlich, wie stark die Auslegung des Wirtes<br />
der Erzählung mit der der anderen Personen und Sachen der Erzählung<br />
zusammenhängt 175 ). In dieser Hauptgruppe großkirchlicher Auslegungen hat man<br />
„Herberge“, „Wirt“ und „Denare“ als einen geschlossenen Komplex erklärt.<br />
170) πάντα—Expositio, CChL 14, 240.<br />
171) µέριµνα παών έκκλησιών—MPL 45, 1629.<br />
172) Ecclesiae praesidem, cui dispensatio credita sit—GCS Orig. 9, 191.<br />
173) Vgl. z. B. die heutige Vulgata: si enim volens hoc ago, mercedem habeo, sic autem invitus,<br />
dispensatio mihi credita est.<br />
174) παν-δοχεύς.<br />
175) Gegen Daniélou. Zu V. 35 besteht beim „Presbyter“ wie auch bei einer Anzahl anderer Autoren<br />
eine deutliche Verklammerung eben durch die Etymologie. Andererseits bereitet der „Presbyter“ auch<br />
schon deutlich die Auslegung der nächsten Wendung (Denare) vor, wenn er Paulus als „den mit dem<br />
Schatzmeisteramt Betrauten“ bezeichnet.
45<br />
III zu c) Besonderer Beachtung bedürfen hier: Isidor von Sevilla, Pseudo-Hieronymus<br />
und die Cramer-Katena. Bei ersterem heißt es: „<strong>Der</strong> Wirt sind die Apostel und deren<br />
Nachfolger 176 ), die unsere Schwachheit durch die Predigt des Evangeliums wieder<br />
beheben.“ Nach Pseudo-Hieronymus geht es um den „ordo doctorum“ 177 ). Die Cramer-<br />
Katene nennt u. a. „die Apostel und die ihnen nachfogenden Bischöfe 178 ) und Lehrer der<br />
Kirche“.<br />
Sonst erscheint in unserem Zusammenhang ausdrücklich die apostolische Sukzession,<br />
nachdem schon der „Presbyter“ den Gemeindeleiter in einem gewissen Zusammenhang<br />
mit Paulus gesehen hat. Soweit sich hier älteres Material wiederspiegelt, und das ist<br />
durch die Auslegung des „Presbyters“ wahrscheinlich, muß beachtet werden, daß der<br />
Sukzessionsgedanke in der Großkirche gerade im Kampf gegen die Gnosis im zweiten<br />
Jahrhundert ausgebildet wurde 179 ), aber auch die apostolische Tradition allein wird im<br />
Kampf gegen die Gnosis immer wieder genannt 180 ). Allerdings wird die apostolische<br />
Sukzession im Kampf gegen die Gnosis im zweiten Jahrhundert in einer ganz bestimmten<br />
Weise betont. Aber gerade diese liegt, wie der weitere Überblick über die Auslegung<br />
durch die Kirchenväter zeigen wird, hier vor.<br />
14. „Zwei Denare“ (Vers 35)<br />
I zu a) Ganz überwiegend wird die Wendung auf das Verhältnis von Gott-Vater zu<br />
Gott-Sohn bezogen. So erklärt z. B. Irenäus, der Heilige Geist hätte für uns „zwei<br />
königliche Denare 181 ) erhalten, damit wir das Bild und die Inschrift des Vaters und des<br />
Sohnes 182 ) empfängen und (dann) mit dem uns anvertrauten Zehner Frucht brächten“ 183 ).<br />
176) Successores—Isidor v. Sevilla, MPL 83, 124.<br />
177) MPL 30, 592.<br />
178) διαδόχους έπιακόπους—GCS Orig. 9. 296.<br />
179) So H. v. Campenhausen, Kirchliches Amt und geistliche Vollmacht in den ersten drei<br />
Jahrhunderten, Tübingen 1953, S. 188.<br />
180) Vgl. z. B. Irenäus, Zum Erweise der apostolischen Verkündigung, 28. Dazu bemerkt v.<br />
Campenhausen: „Es ist . . . die Regel, daß Irenäus in dieser Weise von den Aposteln gleich auf die Kirche<br />
als Ganzes übergeht“.—AaO s. 185.<br />
181) Duo denaria regalia.<br />
182) Imaginem et inscriptionem Patris et Filii.<br />
183) Fructificemus, vgl. fast wörtlich auch Gregor v. Elvira, nach P. Batiffol-A. P. Wilmar, Tractatus<br />
Origenes, S. 177/8.
46<br />
Noch vor ihm heißt es beim „Presbyter“: „Die zwei Denare werden als Vater und Sohn<br />
verstanden“ 184 ), ebenso deuten Pseudo-Titus und die Cramer-Katene. Origenes 185 ) stellt<br />
heraus, es gehe wirklich um das Verhältnis von Vater und Sohn: „Es scheint mit die<br />
Kenntnis des Vaters und des Sohnes zu sein und das Wissen des Geheimnisses 186 ), auf<br />
welche Weise der Vater im Sohn und der Sohn im Vater ist.“<br />
Den meisten anderen Auslegern geht es offensichtlich um dasselbe Problem; nur<br />
behandeln sie es an einem Spezialfall. Die beiden vom <strong>Samariter</strong> gegebenen Denare<br />
werden mit dem Alten und mit dem Neuen Testament identifiziert 187 ).<br />
I zu b) Eine gewisse Begründung der Auslegung der beiden Denare auf Gott Vater<br />
und Gott Sohn wird offensichtlich von Mk. 12, 15 bzw. Lk. 20, 24 her genommen.<br />
Näheres läßt sich allerdings erst aus den Erläutungen im nächsten Abschnitt sagen.<br />
I zu c) Die Tendenz der skizzierten Auslegung wird schon deutlich, wenn die<br />
Cramer-Katene betont, beide Denare wären von ein- und demselben Gott gegeben 188 ).<br />
<strong>Der</strong> klarste Kommentar jedoch findet sich bei Pseudo-Kyrill. Er erklärt zu den zwei<br />
Denaren, die er auf „das Gesetz des Mose, die Propheten, das Evangelium und die<br />
apostolischen Weisungen“ 189 ), bezieht: „Beide sind von einem Gott 190 ) und tragen<br />
dasselbe Bild des oberen und einen Königs. Sie drücken dieselbe Prägung 191 ) in unsere<br />
Herzen, da ja auch ein- und derselbe Geist 192 ) geredet hat. Manes und Marcion haben die<br />
beiden Testamente auf zwei Götter verteilt. Gleichen Wertes, sind sie jedoch beide dem<br />
Wirt gegeben.“ Obwohl ähnliche Formulierungen erst für das vierte Jahrhundert<br />
nachgewiesen werden können 193 ), gewinnt die Auslegung von Lk. 10, 25–73 durch die<br />
frühen Kirchenväter doch<br />
184) Origenes, Hom. XXXIV, GCS Orig. 9, 191.<br />
185) AaO s. 194.<br />
186) Scientia sacramenti.<br />
187) So Zeno v. Verona, MPL 11, 431; Ambrosius, Expositio, CChL 14, 237/41; Optat v. Mileve,<br />
CSEL 26, 149/50; Vgl. Origenes, Comm. in epist. Pauli ad Romanos, MPG 14, 1231/2 z. St.<br />
188) Cramer-Katene, S. 89.<br />
189) άποστολικών διατάξεων.<br />
190) ένος ούσας Θεού.<br />
191) τόν αύτόν χαρακιήρα.<br />
192) έν . . . καί τό αύτό Πνεΰµα—Pseudo-Kyrill, MPG 27, 673ff.<br />
193) Nach A. v. Harnack, Marcion, Neudruck 1969, S. 348, stellt als Erster Euseb (+339) Marcion und<br />
Mani zusammen.
47<br />
erst von hier aus ihr Profil, zumal sich auch sonst Anzeichen für ein derartiges<br />
Verständnis finden 194 ). Schon Ambrosius betont, daß beide Testamente, um die es hier<br />
gehe, „das Bild des ewigen Königs in sich ausgeprägt 195 ) tragen“. Von hier aus erklärt<br />
sich dann auch, warum Irenäus von zwei Königsdenaren (denaria regalia) redete und<br />
feststellte, beide seien königlich, sowohl das Bild und die Inschrift des Vaters als auch<br />
die des Sohnes. Das erinnert daran, daß in Adversus haereses immer wieder der Kampf<br />
um die Einheit von Vater und Sohn entbrennt, weil die Gnostiker, vor allem aber<br />
Marcion, sie auflösen, indem sie den Vater als Demiurgen bezeichnen und ihn dem Sohn,<br />
an den allein man sich halten soll, entgegensetzen 196 ). Für die meisten Ausleger, die<br />
πανδοχεύς auf die Leitung der ecclesia beziehen, ergibt sich aber ein noch komplexeres<br />
Bild. Die Auslegung der miteinander verklammerten vorhergehenden Textangaben 197 )<br />
fügt sich nämlich ausgezeichnet mit der gegenwärtig behandelten zusammen, sofern erst<br />
so die Verse 34 und 35 ihre eigentliche Zuspitzung empfangen. Nun ergibt sich nämlich<br />
folgender, für sich sprechender Gedankengang: Die Kirche, repräsentiert durch das Amt<br />
der Apostel oder der Bischöfe oder durch die ganze Sukzessionskette, ist dadurch<br />
charakterisiert, daß sie die Einheit von Vater und Sohn bzw. die Einheit beider<br />
Testamente verkündigt und wahrt. Diese Auffassung ist aber kennzeichend für die<br />
antignostische Polemik, und zwar gerade für die Polemik von zweiten Jahrhundert ab 198 ).<br />
In den Texten, die im Zusammenhang mit den zwei Denaren vom kirchlichen Amt reden,<br />
sind die Apostel bzw. deren Nachfolger schon deutlich die Garanten der Lehre geworden,<br />
und zwar derart, daß diese in gewisser Hinsicht bereits inhaltlich fiziert ist. Somit läßt<br />
sich die hier skizzierte Auslegung zeitlich relativ genau einordnen.<br />
II zu a) Es gibt aber auch einige unter den Kirchenvätern, die die beiden Denare auf<br />
das Doppelgebot der Gottes- und Nächsten-<br />
194) Vgl. wörtlich wie Pseudo-Kyrill auch Severus v. Antiochien,—nach H. de Lubac, Katholizismus<br />
als Gemeinschaft, S. 393ff. z. St.<br />
195) Expressam-Ambrosius, Expositio, CChL 14, 240.<br />
196) Vgl. z. B. aaO III, 1, 2; IV, 1, 1.<br />
197) S. o. S. 40ff. und 42ff.<br />
198) Bezeichnenderweise legt der von Moneta gebrachte katharische Text unsere Wendung nur auf das<br />
„Evangelium“ und die „Gabe des heiligen Geistes“ hin aus—Moneta, nach der Ausgabe von Ricchinius, S.<br />
111 A.
48<br />
liebe beziehen 199 ). Sie bringen also in ihrer Auslegung von Vers 35 einen ethischen Zug<br />
zur Geltung. Freilich sind sie durchweg jünger. Ethische Züge werden jedoch im<br />
folgenden auch in früheren Auslegungen sichtbar werden.<br />
15. άποδώαω σοι (Vers 35)<br />
In einer Anzahl von Auslegungen wird diese Wendung auf die Rechenschaft<br />
gedeutet, die der Herr von seinen Knechten über die „anvertrauten Pfunde“ fordern wird.<br />
Dabei ist zu bemerken, daß dies meist auf die von den Gemeindevorstehern bzw.<br />
Bischöfen zu leistende Rechenschaft bezogen wird 200 ), bei einigen der früheren Ausleger<br />
allerdings auch mehr ethisch auf die Werke überhaupt 201 ). Schon in der frühesten Stelle<br />
in dem hier behandelten Zeitabschnitt ist im übrigen der Grundgedanke der Auslegung<br />
bereits ethisch gefaßt: Die beiden Denare gelten als vom Heiligen Geist gegeben, damit<br />
wir „mit dem uns anvertrauten Zehner Frucht brächten und ihn vervielfältigt dem Herrn<br />
gutschrieben“ 202 ).<br />
II zu b) Ein Rückbezug auf Mt. 25, 14–30 ist unverkennbar.<br />
II zu c) Zum Verständnis ist bedeutsam, daß gerade von Irenäus immer wieder der<br />
Vorwurf der Sittenlosigkeit gegen die Gnostiker erhoben wird 203 ).<br />
16. ό τι άν προσδαπανήσης (Vers 35)<br />
Zu a) Soweit diese Wendung überhaupt ausgelegt wird, deutet man sie auf das Werk<br />
des Paulus. Schon bei Optatus von Mileve findet sich jene Auffassung, die später Epoche<br />
gemacht hat 204 ). Er setzt die Mehrausgabe mit den consilia gleich, die der Herr Paulus<br />
gegeben hatte: „Aber weil er (d. h. der <strong>Samariter</strong> dem Wirt) . . . versprochen hatte, alles<br />
das zu erstatten, was jener für die Pflege noch mehr ausgeben würde 205 ), wenn die zwei<br />
Denare aufgebracht wären, erteilt auch Paulus hinsichtlich der Jungfräulichkeit nicht<br />
199) So z. B. bei Gregor v. Nyssa, MPG 44, 1085, Augustin, Quaestiones Ev., MPL 35, 1340/1 und<br />
Ennaratio in Ps., sermo CXXXVI, MPL 38, 732.<br />
200) So z. B. bei Severus v. Antiochien nach H. de Lubac, Katholizismus als Gemeinschaft, S. 393 ff.<br />
z. St.<br />
201) So z. B. Origenes, In Exodum, GCS Orig. 6, 250.<br />
202) multiplicatum Dominio adnumerantes—Irenäus, SC 34, 306.<br />
203) Vgl. dazu z. B. Adv. Haereses IV, 13; IV, 15.<br />
204) S. u. S. 65.<br />
205) Amplicus erogasset—Optatus, CSEL 26, 150.
49<br />
Gebote (praecepta), sondern einen Rat (consilium).“ Diese Auffassung findet sich im<br />
übrigen auch bei Augustin 206 ). Neben sie stellt dieser allerdings die andere Auslegung,<br />
daß die Mehrausgabe in seiner, des Apostels, Hände Arbeit bestehe, obwohl er doch auf<br />
Grund seiner Verkündigung und des Gebotes des Herrn von der Gemeinde hätte<br />
unterhalten werden können. Ambrosius weist gar auf das Mehr hin, das Paulus durch die<br />
Niederschrift seiner „Predigten und Briefe“ 207 ) leistete.<br />
Zu b) Zur Begründung werden einerseits 1. Kor. 7, 25, andererseits 2. Thess. 3, 8f.<br />
herangezogen. Es liegt auf der Hand, daß es sich bei der relativ spät einsetzenden<br />
Auslegung unserer Wendung nur um einen Anhang handelt, der vor allem sicherstellt,<br />
daß es in dem Writ von Vers 35 primär um Paulus geht.<br />
Zusammenfassung<br />
Es dürfte deutlich geworden sein, daß Daniélou schwerlich recht hat, wenn er, was<br />
die Kirchenväter betrifft, die Auslegung einiger weniger Wendungen von Lk 10, 30ff. als<br />
sekundär und gnostich bzw. „alexandrinisch“ bezeichnet, dagegen die Auslegung aller<br />
wichtigen Wendungen einfach auf die Urgemeinde zurückführt 208 ). Es ließ sich<br />
nachweisen, daß die ältesten überhaupt auffindbaren Auslegungssplitter gerade<br />
gnostischer Herkunft sind, ja, daß sich sogar in den großkirchlichen Auslegungen seit<br />
Irenäus in verschiedener Hinsicht Ähnlichkeit mit gnostischem Gedankengut findet und<br />
zwar fast durchweg im Zusammhang mit einer ausgesprochen polemisch-antignostischen<br />
Haltung. Beides, sowohl die gnostischen Sedimente als auch der Antignostizismus bei<br />
den großkirchlichen Auslegern, ist viel ausgeprägter, als Daniélou annimmt. Es scheint<br />
gnostisches Gut gerade auch dort wirksam zu sein, wo sich Elemente finden, die<br />
Daniélou unbedingt zum ursprünglichen, nach ihm in die Urgemeinde zurückreichenden<br />
Auslegungnsschema rechnen will, d. h. in der Auslegung von άνθρωπός τις, „Jerusalem“,<br />
„Jericho“, Σαµαρίης 209 ). Es muß als nicht möglich gelten, in den einwandfreien<br />
Anklängen an gnostische Formulierungen lediglich nachträglich Deformierungen zu<br />
sehen. Dies ist um so weniger möglich, als auch die<br />
206) Quaestiones Ev., MPL 35, 1340/1 z. St.<br />
207) Sermones et epistolae—Ambrosius, Expositio, CChL 14, 240.<br />
208) S. o. S. 4.<br />
209) S. dazu o. S. 4 und die dazugehörige Anm. 3.
50<br />
Auslegung der nach Daniélou nicht zum Grundschema gehörenden Wendungen des<br />
Textes im Entscheidenden antignostisch ausgerichtet ist. Es erreicht die antignostische<br />
Polemik bei den meisten Kirchenvätern ihren Höhepunkt gerade in der Auslegung der<br />
beiden Denare, auf die die Interpretation der vorhergehenden beiden Wendungen<br />
πανδοχεΐον und πανδοχεύς bereits hinführte. So hat sich gezeigt, daß die Auslegung<br />
dieser drei Wendungen bei den meisten großkirchlichen Auslegern eine Einheit bildet.<br />
Ob die gnostischen Auslegungen auf den Schluß der Erzählung überhaupt keinen Wert<br />
legten, wie Daniélou meint, muß bei dem Mangel an zureichenden Quellen dahingestellt<br />
bleiben. Die antignostische Tendenz der großkirchlichen Auslegungen im Zeitalter der<br />
Kirchenväter wird jedenfalls gerade in der Interpretation der Schlußverse (Verse 34 und<br />
35) der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> besonders deutlich.<br />
Bei diesen Schlußversen zeigt sich obendrein, daß gerade für das zweite Jahrhundert<br />
charakteristische Polemik vorliegt, so daß auch von daher kein Anlaß besteht, die<br />
umrissene großkirchliche Auslegung als bis in die Urgemeinde zurückreichend<br />
anzusehen. Vielmehr deuten alle Anzeichen darauf hin, daß die Kirche die<br />
christologische Auslegung von Lk 10, 30–35 aus der Gnosis übernahm, um diese auf<br />
deren eigenem Boden möglichst wirksam bekämpfen zu können. Was Daniélou mit<br />
Bezug auf einzelne sekundäre Deformierungen innerhalb der kirchlichen Auslegung sagt,<br />
gilt im Gegenteil allgemein und ohne jede Einschränkung: „Indem die Väter sie (scil. die<br />
gnostische Auslegung der Erzählung) korrigieren, sind sie beeinflußt von ihnen“ (scil.<br />
den Gnostikern) 210 ).<br />
In ihren Grundzügen konnten die Kirchenväter die gnostische Auslegung<br />
übernehmen, weil darin offensichtlich die Einzigartigkeit des Werkes Jesu um Vergleich<br />
mit allem bisherigen Heilshandeln herausgestellt wurde. Bekämpft werden mußte<br />
dagegen die völlige Abwendung der Gnosis von dem Gott des Alten Testaments. Man<br />
fand gerade in Lk 10, 30–35 gute Möglichkeiten, unter Benutzung der christologischen<br />
Auslegung der Gnosis die von dieser bestrittene Einheit des Gottes des Alten Testaments<br />
und Christi zu erweisen. Darüber hinaus nahm man sogar die Möglichkeit wahr, mit Hilfe<br />
der Erzählung die Großkirche als die legitime Sachwalterin über Lehre, Glauben und<br />
Wandel zu kennzeichnen: Nur allein in ihr sei<br />
210) <strong>Der</strong>s., aaO, S. 464.
51<br />
eine Garantie gegen Irrlehre gegeben. Gerade aus der starken zielstrebigen Polemik von<br />
einem schon anderweitig vorgeprägten und bereiteten Boden aus erklärt sich auch die<br />
relativ große Einheitlichkeit der großkirchlichen Auslegung. Sie erklärt sich dagegen mit<br />
Sicherheit nicht durch die Annahme relativ unbeeinflußt erarbeiteter Erkenntnisse am<br />
Text selber.<br />
Die wenigen Abweichungen innerhalb der verschiedenen Auslegungen müssen im<br />
allgemeinen als Weiterentwicklungen von Zügen der Hauptgruppe gelten, häufig bedingt<br />
durch eine Situation, in der die Auseinandersetzung mit der Gnosis nicht mehr aktuell<br />
war. Das im Kampf gegen die gnostische Häresie übernommene und weiter ausgebaute<br />
Schema war jedoch geeignet, nun auch gegen andere Häresien benutzt zu werden 211 ),<br />
wobei allerdings die gnostischen Residuen bzw. die Spuren des Kampfes gegen die<br />
Gnosis häufig noch erkennbar sind 212 ).<br />
II. Die Hauptlinien der Auslegung<br />
Nachdem bisher die Einzelauslegung untersucht worden ist, gilt es, nun zu fragen,<br />
unter welchen Hauptgesichtspunkten die Auslegung der Väter überhaupt steht.<br />
Dabei ist im Unterschied zu Daniélou unbedingt zu beachten, ob es sich bei den in<br />
Frage kommenden Partien der Kirchenväter nur um Auslegungsfragmente handelt oder<br />
um Auslegungen, die den<br />
211) Gegen die Pelagianer s. o. S. 35 u. S. 39, gegen die Manichäer s. o. S. 46, gegen die Noviataner s.<br />
u. S. 56f. und S. 57f.<br />
212) Hingewiesen sei schließlich noch auf den stark etymologischen Charakter der Auslegung.<br />
Mindestens fünfmal (s. o. S. 31, 32, 37, 40f., 44) werden Etymologien herangezogen. Indes ist die Art ihrer<br />
Ableitung nicht einheitlich. Die etymologische Auslegung, die sich an die Wendungen „Gasthaus“ und<br />
„Wirt“ anschließt, ist klar griechischen Ursprungs. Auch die etymologische Auslegung, die im<br />
Zusammenhang mit den Wendungen „Jerusalem“, „Jericho“ und „<strong>Samariter</strong>“ steht, kann jedoch nicht<br />
einfach auf die erste jüdisch-christliche Gemeinde zurückgeführt werden. Die hier angezogenen<br />
Etymologien dürften im Letzten zwar auf jüdisch-rabbinische Quellen zurückgehen. Sie tauchen jedoch<br />
noch im zweiten nachchristlichen Jahrhundert im jüdisch-hellenistischen Sprachraum so häufig auf—und<br />
zwar völlig unabhängig von unserer Erzählung—, daß eine Antwort auf die Frage, wann sie erstmals für<br />
die Auslegung von Lk 10, 30–35 herangezogen wurden, völlig im Dunkeln bleiben muß.
52<br />
ganzen Abschnitt Lk 10, 25–37 bzw. dessen größeren Teil umfassen. Bei den letzteren<br />
muß selbstverständlich das Schwergewicht der Untersuchung liegen. Die Fragmente sind<br />
nur zusätzlich heranzuziehen, da das Bild sonst schief werden könnte.<br />
a) Die christologische Hautlinie<br />
Wie sich schon aus der Einzeluntersuchung der verschiedenen Begriffe in Lk 10, 30–<br />
35 ergab, legt eine Anzahl von Vätern rein christologisch aus. Dabei liegen die Akzente<br />
innerhalb der Auslegung keineswegs einheitlich.<br />
Häufig liegt der Nachdruck unter Zuhilfenahme einer Gleichsetzung des <strong>Samariter</strong>s<br />
mit Christus auf der Soteriologie, mit dem Ergebnis: Was Gesetz und Propheten gegen<br />
die durch Adams Fall entstandene Sünde nicht vermochten, das vermag Christus; er<br />
verbindet und heilt die Wunden, die die Sünde dem Menschen zufügt. Dieser<br />
Hauptgedanke beherrscht die umfassenden Auslegungen von Origenes 213 ), Gregor von<br />
Nyssa 214 ), und Gregor von Nazianz 215 ). Er steht im Vordergrund auch bei Augustin 216 ),<br />
ferner Isidor von Sevilla und Pseudo-Augustin.<br />
In einer Anzahl von Fällen liegt der Schwerpunkt weniger auf dem soteriologischen<br />
Aspekt als solchem als vielmehr auf dessen ekklesiologischen Konsequenzen: Christus<br />
verbindet und heilt, so müßte man hier den Gedankengang erweitern, die Wunden der<br />
Sünde, wobei die Sakramente eine wichtige Rolle spielen können, und er vertraut die so<br />
Bewahrten der Kirche und ihren Führern an. Diese Auffassung findet sich in den<br />
breiteren Auslegungen bei Zeno von Verona und wiederum bei Augustin 217 ), ferner bei<br />
Arnobius Junior, Caesarius von Arles, Theophilus von Antiochien und Pseudo-<br />
Hieronymus.<br />
Überschaut man die christologische Auslegung als Ganzes ohne Rücksicht auf die<br />
verschiedenen Aspekte, so fällt auf, daß sie besonders häufig bei Augustin erscheint. Es<br />
ist deshalb möglich, daß<br />
213) Mattäuserklärung.<br />
214) Comm. in Cant.<br />
215) Poem. hist.; fragmentarisch in Oratio III.<br />
216) Johanneskommentar; fragmentarisch auch in Ennaratio in Ps., sermo CXXXI und CLXXI.<br />
217) Quaestiones Ev. und Ennaratio in Ps., sermo CXXXI.
53<br />
er besonders zur Verbreitung gerade dieser Auslegungstendenz beigetragen hat.<br />
b) Die christologisch-ethische Hauptlinie<br />
Zunächst muß hier Klemens von Alexandrien mit Quis dives salvetur 218 ) genannt<br />
werden. Er führt im zweiten Drittel dieses Traktats die Erzählung vom barmherzigen<br />
<strong>Samariter</strong> mit Einschluß der Einleitung Vers 25–29 an, nachdem er klargemacht hat, daß<br />
Gott mit Mark 10, 17–31 nicht einfach die Aufgabe des äußeren Reichtums und die<br />
Annahme äußerer Armut fordere, sondern daß ihm vielmehr die Beschaffenheit der Seele<br />
des Menschen das Entscheidende sei. Er präzisiert diese u. a. mit Hilfe des in Lk 10, 27<br />
angeführten Doppelgebots und exemplifiziert sie im weiteren unter Heranziehung von Lk<br />
10, 30ff. Es heißt bei ihm ausdrücklich: „Jesus beschränkte den Nächstenbegriff nicht in<br />
der Weise wie die Juden . . . . <strong>Der</strong> Nächste jenes am Boden Liegenden ist ausgerechnet<br />
ein verachteter und ausgestoßener <strong>Samariter</strong>.“ 219 ) Dann kommt er auf Christus zu<br />
sprechen: „Wer anders wäre das (scil. der Nächste), wenn nicht der Heiland selbst.“ 220 )<br />
Schließlich lenkt er zu den ethischen Überlegungen des Anfangs zurück und gibt zugleich<br />
eine Begründung für sie: „Es ist nötig, daß man diesen (scil. Christus qua <strong>Samariter</strong>) in<br />
gleicher Weise wie Gott liebt. Es liebt aber der Jesus Christus, der seinen Willen tut und<br />
seine Gebote bewahrt.“ 221 ) Zitiert werden dazu ausdrücklich erstmals Mt 7, 21 und Mt<br />
25, 34ff., die später immer wieder im Zusammenhang mit unserer Erzählung auftauchen,<br />
sowie Mt 13, 23, das Wort vom guten Boden, der Frucht 222 ) bringt. Klemens faßt also<br />
unsere Erzählung im Letzten als ethische Paränese auf, nämlich als Aufforderung zu<br />
unbegrenzter Nächstenliebe.<br />
Um diesen Tatgbestand richtig beurteilen zu können, muß man noch ein Stück weiter<br />
ausgreifen: In Stromateis 3, 6 und 4, 6 findet sich nämlich bei Klemens schon ein<br />
ähnlicher Gedanke 223 ). Auch dort<br />
218) GCS Clem. 3, 296f.<br />
219) AaO S. 178.<br />
220) AaO S. 179.<br />
221) AaO.<br />
222) καρπός—aaO.<br />
223) S. GCS Clem., 3, 217ff. und 259ff.; vgl. Dazu Fessler in Wetzer und Weltes Kirchenlexikon, Bd.<br />
3, 2. Aufl. 1884, Sp. 516, Artikel Clemens, Titus Flavius.
54<br />
wird gegen eine übertriebene veräußerlichte Askese angegangen. Als die Front ist dabei<br />
eindeutig die Gnosis angegeben. Überhaupt fügt sich die eben aufgezeigte Auslegung von<br />
Lk 10, 25–37 durch Klemens mühelos in den Rahmen seiner Polemik gegen die Gnosis<br />
ein. Gegenüber der Auffassung, daß es auf nichts anderes als auf „Gnosis“ im Sinne eines<br />
„intellektuellen Aktes“ ankomme, stellt Klemens immer wieder heraus, daß der „wahre<br />
Gnostiker“ seine Gnosis mit „Streben nach Vollkommenheit“ verbinde, ja, daß „der Weg<br />
zu der vom ,wahren Gnostiker’ ertrebten Seelenruhe der Weg der Liebe zum Nächsten<br />
und zu Gott ist“ 224 ).<br />
Hier tritt also die antignostische Polemik, die wir schon in dem Abschnitt bemerkten,<br />
der sich mit den Einzelwendungen des Textes befaßte, in neuer Form auf, und zwar<br />
nunmehr als Teil einer Hauptlinie der Auslegung.<br />
Origenes erklärt in Homilie 34 225 ) gleich zu Anfang mit dem ihm an dieser Stelle<br />
eigenen, auf die Zukunft gerichteten Akzent, Jesus weise in unserer Erzählung auf<br />
diejenigen Gebote hin, „welche gewissermaßen als ein Kompendium 226 ) die, die<br />
gehorsam sind, zum ewigen Leben führen können“. Zunächst ist dabei noch von beiden<br />
Geboten, dem der Gottesliebe und dem der Nächstenliebe, die Rede; dann aber fällt das<br />
Gewicht ganz auf das letztere, wobei wieder die Universalität der geforderten Liebe<br />
herausgestellt wird. Jesus, so heißt es weiter, lehre mit der Erzählung, „daß der<br />
Hinabreisende keines anderen Nächster sei als jenes, der die Gebote bewahren und sich<br />
dazu bringen 227 ) wollte, daß er jedem Menschen, der der Hilfe bedarf, Nächster werde“.<br />
Darauf folgt die christologische Auslegung, an deren Ende Jesus selbst als Nächster<br />
bezeichnet wird: „In der Tat ist jener mehr Kustos der Seelen als Gesetz und<br />
Propheten 228 ), er, der demjenigen Barmherzigkeit tat, welcher unter die Räuber fiel, und<br />
er erschien als sein Nächster nicht so sehr durch das Wort als durch das Werk.“ Nach<br />
diesen Worten lenkt Origenes mit seinen Ausführungen noch einmal auf den Anfang<br />
zurück und verbindet sie zugleich mit der christologischen Auslegung: „Weil es also<br />
entsprechend dem Wort: ,Seid meine Nachahmer, wie ich<br />
224) So B. Altaner, Patrologie, 5. Aufl. 1958, S. 173.<br />
225) GCS Orig. 9, 188f.<br />
226) Quodam compendio ad aeternam vitam—aaO S. 188.<br />
227) Se praeparare—aaO.<br />
228) Vere lege et prophetis custos animarum iste vicinior—aaO S. 195.
55<br />
Christi’, möglich ist, daß wir Christus nachahmen und uns derer erbarmen, die unter die<br />
Räuber fielen . . . , deswegen ermahnt uns der Sohn Gottes zu solchem: ,Geh hin und tu<br />
ebenso’. Wenn wir dieses tun, werden wir das ewige Leben erlangen.“ 229 )<br />
Von den griechischen Katenen, die Rauer als vermutlich origenistisch anführt 230 ), ist<br />
für unsere Betrachtung der ethischen Hauptlinie in Verbindung mit der christologischen<br />
nur die längere Ausführung des sogenannten Kommentars des Petrus von Laodicea<br />
wichtig. <strong>Der</strong> Aufbau dieses vermutlichen Origenes-Fragments entspricht genau dem von<br />
Homilie 34. Jedoch ist die ethische Linie zusätzlich noch dadurch unterstrichen, daß<br />
zugleich schon auf eine sündenaufdeckende Tendenz der Erzählung hingesteuert wird:<br />
„<strong>Der</strong> Schriftkundige hatte (bisher) niemanden für seinen Nächsten gehalten, weil er der<br />
Ansicht war, daß niemand ihm an Gerechtigkeit gleich sei. Denn er meinte, daß (nur) der<br />
Gerechte dem Gerechten, der Große dem an Tugend Großen gleich sei. Indem er dies<br />
denkt, ist er wie jener Pharisäer, der sagt: ,Ich bin nicht wie die übrigen’, und er weiß<br />
nicht, daß das, was er nicht aus Liebe tut, die Gerechtigkeit verdirbt.“ 231 ) Im Prinzip nicht<br />
anders als in Homilie 34 verfährt Origenes auch im Prolog zum Hohen Lied 232 ), nur, daß<br />
er hier noch eine weitere Begründung für das geforderte Handeln gibt: „Daher muß man<br />
wissen, daß die Liebe Gottes immer Gott erstrebt, von dem sie ja auch den Ursprung hat,<br />
und zugleich auf den Nächsten blickt, mit welchem sie verbunden ist, weil der ja<br />
ähnlich 233 ) in der Verderbnis geschaffen worden ist“ 234 ). Gregor der Wundertäter bringt<br />
in seiner panegyrischen Oratio 235 ) auf Origenes, die er vor seinem Meister hielt, in<br />
anderer Form die Forderung des Textes zur Geltung. Er zieht unsere Erzählung heran, um<br />
deutlich zu machen, daß Christus uns „Samen“ 236 ) hinterlassen hat, nämlich die „guten<br />
Weisungen“ 237 ), und dann heißt es: „Gewiß wird uns also der ,Wächter’ 238 ), wenn er<br />
229) AaO.<br />
230) S. GCS Orig. 9, 188ff. und 295ff.<br />
231) GCS Orig. 9, 295.<br />
232) Comm. in Cant., GCS Orig. 8, 70f.<br />
233) Similiter.<br />
234) AaO, s. auch u. S. 99, Anm. 2.<br />
235) MPG 10, 1101.<br />
236) σπέρµατα.<br />
237) τάς καλάς ύποθήκας.<br />
238) φύλαξ.
56<br />
kommt, retten. Gewiß aber werden wir wiederum zu dir als solche zurückkehren, die aus<br />
dem Samen Früchte und Garben 239 ) darbringen.“<br />
Auch Ambrosius stellt seine Ausführungen über den barmherzigen <strong>Samariter</strong> in De<br />
poenitentia 240 ) insgesamt unter einen ethischen Aspekt, indem er sie als Beweis dafür<br />
anführt, daß auch Jesus einen Gefallenen aufnimmt, wie Ambrosius selber es von den<br />
Novatianern für die Lapsi erreichen will. So schließt er seine Auslegung mit der<br />
Aufforderung: „Du kannst nämlich ein Nächster nicht sein, wenn du nicht<br />
Barmherzigkeit tust.“ 241 ) Dagegen findet sich in der Expositio des Ambrosius nur eine<br />
verhältnismäßig schwache, an die „höhere Betrachtung“ angehängte ethische Abzielung,<br />
indem er zunächst auffordert, „Christus gleichsam als Nächsten zu lieben. Nichts ist<br />
nämlich so nahe wie das Glied 242 ) dem Haupt“ 243 ). Dann folgt nur noch eine kurze<br />
Empfehlung der Imitatio Christi.<br />
Ausführlich bringt Augustin in De doctrina Christiana 244 ) die mit der christologischen<br />
Auslegung verbundenen ethischen Motive. Es steht zur Debatte, ob das Doppelgebot<br />
auch für die Engel gelte. Nach längeren Ausführungen über Lk 10, 37 kommt Augustin<br />
dadurch zu einer bejahenden Antwort, daß er auf die Barmherzigkeit anspielt, die den<br />
<strong>Samariter</strong> mit den Engeln verbindet. Danach erst führt Augustin die christologische<br />
Auslegung ein: „Deswegen wollte auch Gott selbst, unser Herr, unser Nächster genannt<br />
werden“ 245 ). Nachdem dann das Werk Christi mit den Farben unserer Erzählung näher<br />
beschrieben ist, schließt Augustin die Betrachtung, indem er ethische und christologische<br />
Auslegung, wieder anders als bisher, verknüpft: „Jener gewährt uns wegen seiner Güte<br />
Barmherzigkeit; wir aber tun sie wechselseitig seinetwegen“ 246 ). Obwohl wir bei<br />
Augustin überwiegend rein christologische Bemerkungen zu unserem Text<br />
239) έκ τών σπερµάτων καί τούς καί τάς δραγµίδας—aaO.<br />
240) De poenitentia I, 11, MPL 16, 502f.<br />
241) MPL 16, 503, s. ähnlich auch in der Bemerkung De poenitentia I, 6, MPL 16, 495, und vor ihm<br />
Cyprian in Epist. LII, 5, MPL 3, 809f.<br />
242) Membrum.<br />
243) Caput-, Expositio, CChL 14, 241, s. auch u. S. 99, Anm. 2.<br />
244) De doctrina Christiana, MPL 34, 30ff.<br />
245) MPL 34, 31.<br />
246) Invicem propter illius—aaO 32, ethische Fragestellungbei Augustin s. auch in Ennartio in Ps.,<br />
sermo CXXV, MPL 37, 1668, ferner bei Pseudo-Basilius, MPG 31, 1457f.
57<br />
finden 247 ), gibt es bei ihm also auch Stellen, in denen der ethische Gedanke das<br />
Übergewicht hat. Vermutlich handelt es sich hier um Partien, in denen er stärker die<br />
Tradition sprechen läßt.<br />
c) Die rein ethische Hauptlinie<br />
Es ist höchst bemerkenswert, daß sich auch noch Äußerungen finden, die Christus als<br />
<strong>Samariter</strong> überhaupt nicht erwähnen. Damit ist keineswegs gesagt, daß diese<br />
Auslegungen unbedingt nicht-christologisch sein müßten. In einigen scheint es zwar<br />
sicher so zu sein. Aber nicht dem allein gilt unser Interesse, sondern auch der Tatsache,<br />
daß in den meisten der zu nennenden Auslegungen und Bemerkungen die ethische<br />
Hauptlinie völlig das Übergewicht bekommen hat. Es kann durchaus sein, daß dieselben<br />
Autoren, bei denen wir rein ethische Bemerkungen finden, an anderen Stellen zu Lk 10,<br />
25ff. die christologische Auslegung vertreten haben. Dennoch wird nicht unbeachtet<br />
bleiben dürfen, wenn solche Autoren auch Partien haben, in denen die christologische<br />
Auslegung überhaupt nicht mehr in Erscheinung tritt.<br />
1. Teilauslegungen oder einzelne Bemerkungen<br />
Zunächst einmal bezeichnet Origenes an zwei Stellen in Contra Celsum 248 ) in kurzen<br />
Bemerkungen Celsus als den Räuber, dagegen die Christen bzw. sich selbst als solche,<br />
die die Wunden der Menschheit bzw. die von Celsus geschlagenen Wunden verbinden.<br />
Auch Cyprian bringt in einem Brief an Stephanus I. von Rom nur noch diese ethische<br />
Linie zur Geltung 249 ). Ihm geht es hier um die Verantwortung für die durch den<br />
novatianisch gewordenen Bischof Marcian von Arelate gefährdeten Brüder: „Wenn es<br />
anfängt, daß eine Herberge an der Straße von Räubern besetzt und mit Beschlag belegt ist<br />
und jeder, der sie betritt, durch den Angriff der Hinterhältigen dort gefangen wird, suchen<br />
dann die Reisenden nicht eine andere, sichere Herberge am Wege auf? So muß es jetzt<br />
auch bei uns sein, geliebte Brüder; so müssen auch wir unsere Brüder, die die Klippen<br />
des Marcion vermeiden wollen, mit bereitwilliger und gütiger Freundlichkeit aufnehmen<br />
und den Herzukommenden eine<br />
247) S. o. S. 52.<br />
248) Contra Celsum III, 61, GCS Orig. 1, 255 und V, 1, GCS Orig. 2, 1.<br />
249) Epist. I, MPL 3, 1029f.
58<br />
Herberge bieten, wie sie im Evangelium geschildert ist . . . .“ 250 ) Man könnte einwenden,<br />
daß es hier wie auch bei den oben wiedergegebenen Zitaten aus Origenes nicht um das<br />
Tun geht, sondern um ein soteriologisches bzw. ekklesiologisches Problem. Indes, wenn<br />
das auch grundsätzlich richtig ist, so gilt es doch zu beachten, daß das Problem beide<br />
Male klar unter einem ethischen Aspekt angegangen wird, dort als Frage nach der rechten<br />
Heilung, hier als Frage nach dem Verhalten gegenüber bedrohten Brüdern.<br />
Bei Hieronymus finden sich neben zwei kurzen christologischen Bemerkungen drei<br />
ohne irgendwelchen christologischen Charakter, in denen es jeweils um die Ausdehnung<br />
der Nächstenliebe auf alle Menschen geht 251 ). Einen völlig andersartigen Gedanken<br />
bringt Hieronymus in den Quaestiones ad Algasiam: „Und in die Parabola über den, der<br />
von Jerusalem nach Jericho herabstieg, ist der <strong>Samariter</strong> als Zeichen und als Wunder<br />
gesetzt, daß ein Böser Geist tun kann“ 252 ). Bei Hieronymus überwiegt demnach die Zahl<br />
der Bemerkungen mit rein ethischem Ziel.<br />
Johannes Chrysostomus hat in Homilia VIII, 3 und 4 Häretiker im Auge, wenn er die<br />
Pflicht zur Aufnahme des irrenden Bruders einschärft 253 ).<br />
Wahrscheinlich haben wir von dieser Bemerkung her auch eine Stelle in De non<br />
anathematizandis zu verstehen 254 ). Dort wird betont, daß man für den Nächsten sogar<br />
auch sterben soll, worauf Lk 10, 30ff. zitiert wird. Nach weiteren Ausführungen über die<br />
Vorbildlichkeit des <strong>Samariter</strong>s wird folgende Bemerkung über Christus angehängt, ohne<br />
daß darin Christus mit dem <strong>Samariter</strong> identifiziert sein müßte: „Dies sind die Worte des<br />
Sohnes Gottes, der dies auch durch sein eignes Werk . . . gezeigt hat, als er nicht allein<br />
für Freunde starb, sondern auch für Feinde, Tyrannen und Goëten“ 255 ).<br />
2. Breitere Auslegungen<br />
Sehr wichtig ist, was Basilius von Caesarea in Homilie zu<br />
250) AaO. 1030.<br />
251) Nämlich: Comm. in epist. ad Eph., MPL 26, 542; Tractatus de Ps. XIV, 3, CChL 78, 33 und<br />
Comm. in Ezechielem, MPL 25, 173.<br />
252) MPL 22, 1017.<br />
253) Adversus Judaeos, MPG 48, 932f.<br />
254) MPG 48, 947; zeitlich liegt diese Schrift vor Adversus Judaeos.<br />
255) AaO.
59<br />
Ps. 14 (LXX) hinsichtlich unserer Erzählung sagt 256 ). Es ist u. a. davon die Rede, daß der<br />
auf dem heiligen Berge wohnen darf, der „seinem Nächsten nichts Böses tut“. Dann folgt<br />
ein Satz, der sich wie eine Polemik gegen bestimmte Ausleger anhört: „Wen der Logos<br />
als den Nächsten bezeichnet, das bezweifelt niemand der Hörer des Evangeliums, die bei<br />
dem Frager stehen. Dem Schriftgelehrten aber zeigt Jesus durch die Erzählung, daß jeder<br />
Mensch für einen Nächsten gehalten werden muß.“ Dann fährt Basilius fort: „Sehr<br />
schwer ist dieses und bedarf vieler Mühe, nämlich dem Nächsten weder im Kleinen noch<br />
im Großen zu schaden“ 257 ). Basilius empfindet also schon durchaus die Problematik des<br />
geforderten Handelns, und deshalb ist es um so wichtiger, daß er sie nicht durch eine<br />
christologische Auslegung verflüchtigt. Mit diesen Ausführungen zu Ps. 14 (LXX) muß<br />
die höchst wichtige Äußerung in den Regulae fusius tractatae LV, 4 zusammengesehen<br />
werden, mit der er anhand unserer Erzählung zu beweisen sucht, daß man medizinische<br />
Mittel mit Dank annehmen dürfe 258 ).<br />
Schließlich besitzen wir eine breitere Auslegung des Isidor von Pelusium, eines<br />
Schülers von Johannes Chrysostomus, die ebenfalls, wie schon die genannten<br />
Auslegungen des Basilius, keinerlei Raum mehr für eine christologische Interpretation<br />
läßt. In einem Brief an einen gewissen Presbyter Isidor 259 ) antwortet er u. a. auf die<br />
Frage, wie Lk 10, 29 zu verstehen sei. Er führt, nachdem er den Schriftgelehrten wie<br />
Origenes als einen dargestellt hat, der nur als Gerechter dem Gerechten Nächster sein<br />
will, über die Antwort Jesu ausL „Er (scil. Jesus) erklärt etwa folgendes 260 ): ,Ich gehe<br />
nicht so weit, daß du dich in keiner Hinsicht von den anderen unterscheidest’ 261 ), denn<br />
wenn ich das täte, bestände die Gefahr, daß die wahrhaft Tugendbeflissenen auf die<br />
Meinung verfallen, (doch) nur dem Nächsten (im Sinne sittlicher Gleichheit) Liebe zu<br />
schulden 262 ) . . . . Aber angenommen, es verhielte sich so (wie du meinst) 263 ), dann mußt<br />
du<br />
256) MPG 29, 258.<br />
257) AaO.<br />
258) MPG 31, 1071; s. bereits o. S. 27.<br />
259) MPG 78, 1195ff.<br />
260) µονουχί λέγων.<br />
261) Ούπω σοι τέως λέγω, ότι ούδέν τών άλλων διενήνοχας.<br />
262) ίνα µη . . . νοµίσειαν χρεωστεΐν τοΐς πέλας τήν άγάπην.<br />
263) άλλ’ εί καί ούτως έχει (δεδόσθω γάρ).
60<br />
dich (doch gerade) befleißigen, jeweils dem Nächster zu sein, der dich braucht, und zwar<br />
nicht nur räumlich gesehen 264 ), sondern auch hinsichtlich der inneren Bereitschaft 265 ) und<br />
der tatsächlichen Fürsorge 266 ) für ihn.“ Man müßte ergänzen: Denn die Gerechtigkeit<br />
besteht doch gerade im Üben der Nächstenliebe. Wir sehen also, daß Isidor sich hier mit<br />
einer Meinung auseinandersetzt, die Vers 25–29 schon ganz im Sinne einer<br />
Sündenüberführung versteht. Er hat Zweifel an dieser Meinung, ohne sie doch völlig<br />
abzulehnen. Vor allem aber sucht Isidor die Forderung unbegrenzter Nächstenliebe mit<br />
neuen Argumenten zu stützen.<br />
Zusammenfassung<br />
Es hat sich gezeigt, daß die ethische Fragestellung bei den Auslegern unseres<br />
Zeitabschnittes doch eine größere Rolle spielt, als das die modernen Ausleger annehmen.<br />
Zwar lassen sich nur drei Ausleger nennen, die höchstwahrscheinlich eine völlig nichtchristologische<br />
Auslegung haben. Zwei von ihnen, Johannes Chrysostomus und Isidor<br />
von Pelusium sind Vertreter der Antiochenischen Schule, und für Basilius als dritten wird<br />
man ebenfalls, mit aller Zurückhaltung, einen gewissen antiochenischen Einfluß<br />
annehmen dürfen 267 ).<br />
Auf Grund dessen kann man festhalten: Die christologische Auslegung ist jedenfalls<br />
nicht so stark, daß sie auch von den Antiochenern vertreten würde 268 ). Wo die größere<br />
„exegetische Nüchternheit“ 269 ) das Übergewicht bekommt, wie das in der<br />
Antiochenischen Schule der Fall ist, da findet sich auch in der Kirchenväterzeit eine<br />
nicht-christologische Interpretation unserer Erzählung.<br />
Ferner haben wir gesehen, daß die Mehrzahl der Auslegungen den christologischen<br />
mit dem ethischen Aspekt verbindet. Wenn es nun stimmt, daß die christologische<br />
Auslegung unseres Textes ursprünglich gnostisch war und von der Großkirche nur als<br />
Grundlage einer Polemik übernommen wurde, dann muß allerdings die Tatsache des<br />
264) ού τώ τόπω.<br />
265) διαθέσει.<br />
266) έπιµέλειας—MPG 78, 1196f.<br />
267) S. dazu RE, 3. Aufl., Bd. 1, S. 592.<br />
268) Hätten die Antiochener das christologische Verständnis als literal in unserem Text gegeben<br />
empfunden, so wäre eine Auslegung in diesem Sinne ja durchaus möglich gewesen.<br />
269) Vgl. RE, 3. Aufl., Bd. 1, S. 592.
61<br />
ethischen Aspekts anders gewertet werden, als das bisher geschehen ist, und dies um so<br />
mehr, als sich schon für die Einzelauslegung ergab, daß die ethische Interpretation von<br />
Hause aus mindestens z. T. gegen die Gnosis gerichtet war. Ist das richtig, dann muß die<br />
ethische Nuancierung als eine Erweichung, wenn nicht als eine Zurückdrängung und<br />
Einschränkung der christologischen Interpretation verstanden werden, gleichgültig, ob<br />
sich die betreffenden Ausleger darüber im klaren waren oder nicht.<br />
Die modernen Arbeiten, die die Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> rein<br />
christologisch auslegen, dürfen sich demnach keineswegs auf das geschlossene Zeugnis<br />
der Kirchenväterzeit berufen. Es gibt in dieser Epoche auch eine Tendenz zur<br />
Zurückdrängung der christologischer Auslegung. Die Tendenz ist hier also gerade<br />
entgegengesetzt, wie bei Binder, Gerhardsson, und Daniélou.<br />
Von daher sind auch die modernen Auslegungen, die man ethisch-christologisch<br />
nennen könnte, von den ethisch-christologischen unserer Epoche durchaus geschieden.<br />
Während erstere sich bemühen, dem christologischen Verständnis trotz ethischer<br />
Auslegung neu Geltung zu verschaffen, wird bei den Kirchenvätern z. T. eben versucht,<br />
das ethische Verständnis trotz christologischer Auslegung gerade festzuhalten. So<br />
verdient es besonders Beachtung, wenn sich in der Kirchenväterzeit häufig sogar eine<br />
Überordnung des ethischen über den christologischen Gesichtspunkt findet, indem<br />
nämlich die christologischen Ausführungen von ethischen umschlossen werden. Dabei ist<br />
dies gerade für die Kirchenväterzeit mit ihrer bereits mehr oder weniger herausgebildeten<br />
Lehre von dem verschiedenfachen Schriftsinn keineswegs selbstverständlich, denn<br />
einmal haben die Kirchenväter durchaus nicht gemeint, jede „literale“ Auslegung müsse<br />
zunächst einmal ethisch sein. Es gab da auch andere Möglichkeiten. Zum anderen haben<br />
sie keineswegs gemeint, daß zu jeder „allegorischen“ (christologischen) Auslegung<br />
unbedingt auch eine „moralische“ gehören müsse. In einer Schriftstelle müssen durch aus<br />
nicht alle Schriftsinne zugleich enthalten sein 270 ). Schließlich ist zu beachten: Die<br />
Kirchenväter haben „moralische“ Auslegungen, wenn sie sie brachten, keineswegs immer<br />
hinter die „allegorische“ (christologische) Auslegung gestellt, geschweige denn sie<br />
immer der „alle-<br />
270) Vgl. dazu J. Schildenberger, Vom Geheimnis des Gotteswortes, 1950, z. B. S. 412, 426, 454f.
62<br />
gorischen“ Auslegung untergeordnet 271 ). Die Tatsache, daß bei unserem Text so häufig<br />
die christologische Auslegung von der ethischen eingeschlossen wird, ist also keineswegs<br />
die einzig mögliche Lösung. Wenn man doch gerade so, wie geschildert, auslegte, dann<br />
geschah das offensichtlich nicht einfach nur aus „Tradition“, sondern weil sich der<br />
biblische Text mit seinem Einschluß der eigentlichen Erzählung Lk 10, 30–35 durch die<br />
in diesem Zeitabschnitt meist ethisch verstandenen Partien Lk 10, 25–29 und 36f.<br />
durchgesetzt hat gegenüber allem sonstigen Schwanken in der Frage des Verhältnisses<br />
der verschiedenen Schriftsinne zueinander. Das Bewußtsein ethischer Abzweckung<br />
unseres Textes 272 ) ist so stark, daß häufig auch dort, wo man nur die eigentliche<br />
Erzählung Lk 10, 30–37 auslegt—man also an sich nicht genötigt ist, den Kontext<br />
mitzubearbeiten—die Interpretation ethisch orientiert ist.<br />
271) Vgl. dazu H. de Lubac, Sur un vieux distique: La doctrine du „quadruple sens“. Melanges offerts<br />
au R. P. Ferdinand Cavallera . . . à l’occasion de la quarantième année de son professorat à L’Institut<br />
Catholique, 1948, S. 348ff.<br />
272) Gleich, ob das nun durch eine ethisch-literale oder moralisch-allegorische Auslegung geschieht.
Kapitel 3<br />
DIE AUSLEGUNG<br />
IM ZEITALTER DER SCHOLASTIK<br />
A <strong>Der</strong> Ausbau des bisherigen Schemas<br />
II Die Einzelwendungen im Zusammenhang<br />
christologischer Auslegung<br />
Überblicken wir die Auslegung insgesamt, so läßt sich sagen: Die Mehrzahl der<br />
Autoren beschränkt sich auf eine partielle Modifizierung oder Konkretisierung der in der<br />
Epoche der Kirchenväter entwickelten Gedanken:<br />
1. Die Residuen einer Auseinandersetzung mit der Gnosis sind weitgehend abgeblaßt<br />
oder weggefallen. In einem Fall wird noch betont, daß die beiden Denare = die beiden<br />
Testamente ein- und dasselbe Bild tragen 1 ). In einem anderen Falle erinnert sich der<br />
Autor, daß das Doppelgebot ursprünglich gegen Marcion und seine Nachfolger 2 )<br />
gerichtet war.<br />
2. Durch neue Argumente gestützt wird die herkömmliche Einzelwendung, wenn<br />
etwa zu „<strong>Samariter</strong>“ Vers 30 Hab. 2, 1ff. herangezogen wird 3 ). Ferner wird z. B. das<br />
lateinische Wort für „Lasttier“ 4 ) mit juvare zusammengebracht und auf die Hilfe Christi<br />
gedeutet 5 ). Das Wirtshaus „stabulum“ wird von „stare“ (stehen) aus auf die Büßer<br />
1) Theophanes Cerameus, Mpg 132, 301.<br />
2) Sequaces Valenti, Basilidis et Marcionis—Thomas v. Aquin, Catena aurea, nach der Ausgabe von<br />
Guarienti, Bd. 2, 151 A.<br />
3) Petrus Lombardus, MPL 171, 379.<br />
4) jumentum.<br />
5) Haimo v. Auxerre, MPL 118, 674 und Albert d. Gr., nach der Augabe von Borgnet, Bd. 23, 68A.
64<br />
bezogen, weil diese im Gottesdienst stehen mußten 6 ). Für die Hingabe der beiden Denare<br />
wird gelegentlich Mt 13, 52, das Wort vom Hausvater, der aus seinem Schatz Altes und<br />
Neues austeilt, zitiert 7 ).<br />
3. Erst, wenn man die Auslegung der Kirchenväter mit der scholastischen vergleicht,<br />
wird erkennbar, daß der christologische Kern der Ausführungen, die Identifizierung von<br />
Christus und <strong>Samariter</strong>, in der Auslegung der Kirchenväter noch relativ lose mit der<br />
Interpretation der anderen Wendungen verbunden war. In der scholastischen Auslegung<br />
machen sich deutlich eine Straffung und ein stärkerer Bezug der verschiedenen<br />
Einzelwendungen auf den christologischen Kern bemerkbar. Das wird z. B. deutlich,<br />
wenn bei der Wendung „sie zogen ihn aus“ von den vier Tugenden geredet wird, die der<br />
erste Adam im Urstand hatte und durch den Fall verlor. Darauf aufbauend, geht die<br />
Auslegung dann sehr geschickt vom ersten zum zweiten Adam über: „Und siehe, ob nicht<br />
wegen dieser vier Teile, welche der erste und alte Adam verloren hatte, in genau<br />
derselben Weise auch die Kleider des zweiten Adams geteilt worden sind“ 8 ). Dieselbe<br />
Tendenz zeigt sich, wenn z. B. die Anwendung des Öls Vers 34 mit Christus als dem<br />
„Gesalbten“ zusammengebracht wird, der sich selbst in die Herzen eingoß 9 ), oder wenn<br />
bei der Erwähnung der Denare häufig auf die Szene verwiesen wird, in der Jesus den<br />
Jüngern auf dem Wege nach Ammaus die Schrift öffnete (Luk. 24, 27) 10 ).<br />
4. Hand in Hand mit der Straffung des christologischen Verständnisses geht eine<br />
zunehmende Dogmatisierung, ein Zug, der für die Art des reformatorischen<br />
Verständnisses wichtig geworden ist. In die Auslegung werden mehr und mehr die<br />
gängigen Begriffe der damaligen Dogmatik aufgenommen. Nicht selten läuft die<br />
Auslegung geradezu auf eine Illustration bestimmter dogmatischer Loci hinaus. So wird<br />
z. B. die Unterscheidung von imago und similitudo oder auch die von natura und gratia in<br />
„halbtot“ Vers 30 eingetragen: Die imago bzw. natura sei erhalten, nicht aber die<br />
similitudo bzw. gratia 11 ). Entgegen der Intention des Textes an dieser Stelle liegt das<br />
Interesse der meisten Ausleger aber bei dem, was im Men-<br />
6) Albert d. Gr., aaO.<br />
7) Euthymius Zigabenus, MPG 129, 967.<br />
8) Bernhard v. Clairvaux, In festo annuciationis B. Mariae, MPL 183, 386.<br />
9) infudit . . . in se ipsum cordibus—Gilbert v. Hoyland, MPL 184, 45.<br />
10) Vgl. z. B. Beda, MPL 92, 470.<br />
11) Vgl. Richard v. S. Victor (= Pseudo-Hugo v. S. Victor, Allegorie lib. IV cap. XII)—MPL 175,<br />
814f. Und Bonaventura, nach der Ausgabe des Ord. Min. Bd. 7, 271 A/B einerseits und Nikolaus v. Lyra,<br />
Postilla perpetua nach G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, Neudruck 1962, S. 498 andererseits.
65<br />
schen nicht sterblich ist. Dabei wird häufig die ratio erwähnt. An einigen Stellen, an<br />
denen die ratio als die Fähigkeit erscheint, Gott näher zu erkennen, wird deutlich, daß<br />
hier im letzten das dogmatische Anliegen leitend ist, das die Erlösungsfähigkeit des<br />
Menschen sichern will. Hinsichtlich der Wendung „mehr ausgeben“ Vers 35 hat sich die<br />
Auslegung von 1. Kor. 7, 25 her weitgehend durchgesetzt, womit der Lehre von den<br />
überpflichtigen Werken vorgearbeitet wird. Voll ausgebildet finden sich diese Gedanken<br />
allerdings erst bei den späteren Autoren. Hier wird u. a. erklärt, es sei eine Mehrausgabe<br />
in folgendem Sinne gemeint: In den Angelegenheiten des Werkes 12 ), wenn einer dort, wo<br />
er durch Gebote nicht gehalten ist, auch die Räte 13 ) erfüllt und in den Angelegenheiten<br />
der Schuldigkeit 14 ), wenn einer den Dingen, die er schuldig ist, noch anderes hinzufügt,<br />
wie von den geweihten Männern den kanonischen Stundengebeten Votivgebete<br />
hinzugefügt werden 15 ). Andererseits ist bisweilen auch schon von der Notwendigkeit<br />
theologischer Aktualisierung der Schrift in der Praxis der Geistlichen die Rede, die sie<br />
dieser hinzufügen sollen 16 ).<br />
5. Mit der Dogmatisierung der Auslegung verbindet sich eine gewisse<br />
Generalisierung: Statt unsere Erzählung auf die einzelnen Epochen der Heilsgeschichte<br />
zu deuten, in deren Mitte das Werk Christi steht, verallgemeinert man an vielen Stellen<br />
und spricht von den Zuständen der Menschen bzw. der Kirche, die Christus immer neu<br />
wandeln muß. So wird zu Vers 30 darauf aufmerksam gemacht, daß es vom Herabsteigen<br />
des Menschen nicht heißt descendit, sondern descendebat. Das soll darauf deuten, daß der<br />
Mensch immer wieder herabsteigt, d. h. immer wieder fällt 17 ). Andernorts wird neben<br />
12) in opere.<br />
13) consilia.<br />
14) in debito.<br />
15) So Albert d. Gr. nach der Ausgabe von Borgnet, Bd. 23, 69 B; vgl. auch Dionys der Kartäuser,<br />
nach der Ausgabe des Ord. Cartus., Bd. 12, 21 A.<br />
16) So Richard v. S. Victor (Pseudo-Hugo v. S. Victor, Allegoriae lib. IV cap. XII z. St.), MPL 175,<br />
815; vgl. auch Albert d. Gr., aaO 69 B: „gläubige Auslegungen“.<br />
17) Theophylact, nach der Ausgabe von Oecolampad, S. 102 A.
66<br />
die Deutung auf Adam ausdrücklich die Deutung auf die ganze Menschheit gestellt, die<br />
nach dem Empfang der Taufreinheit und der Gerechtigkeit in die Unbill 18 ) der Sünde<br />
gefallen ist.<br />
Jerusalem kann dabei als „Schau des ewigen Friedens“ 19 ) oder als „Zustand der<br />
Gerechtigkeit“ 20 ) gedeutet werden. Auch bei der Interpretation von „Priester und Levit“<br />
geht es oft nicht mehr um die Zeit des Mose und der Propheten, sondern um das Amt des<br />
Gesetzes schlechthin 21 ). <strong>Der</strong> „Wirt“ wird ganz allgemein mit dem „Pfarrer und<br />
Prälaten“ 22 ) zusammengebracht, und das ihm anvertraute Gut ist nicht mehr die Lehre,<br />
sondern allgemein der pastorale Dienst, der recht getan werden soll. Auch solche<br />
Generalisierung dürfte der reformatorischen Auslegung den Boden bereitet haben.<br />
Einige Male findet sich augustinischer Einfluß. So wird bei zwei späteren Auslegern<br />
zu „halbtot“ (Vers 30) vom Totalverlust des freien Willens geredet 23 ), aber nur so, daß es<br />
sich um eine unter meheren Auslegungsmöglichkeiten handelt. Viermal findet sich weiter<br />
die Bemerkung, die Heilung durch den <strong>Samariter</strong> sei umsonst und ohne Verdienst des<br />
Menschen geschehen 24 ). Jedoch nur an einer Stelle 25 ) ist diese Bemerkung Teil eines<br />
weitergehenden augustinischen Verständnisses unseres Textes. Dort ist es nämlich<br />
offensichtlich eine Fortentwicklung der Auslegung Augustins, wenn die Wendung<br />
„halbtot“ nicht im Sinne einer Halbheit, sondern einer Doppelheit verstanden wird. <strong>Der</strong><br />
Mensch wird hier als „lebendig, aber dem Tode durch eigene Schuld unabänderlich<br />
verfallen“ bezeichnet 26 ). Diese Bemerkung gilt es, vor allem für Luthers Auslegung, im<br />
Auge zu behalten 27 ). An den drei anderen Stellen, an denen zu Vers 33 von der umsonst<br />
geschenkten Gnade die Rede ist, wird dieser Gedanke<br />
18) Iniquitas—Dionys der Kartäuser, aaO 18 B.<br />
19) Visio aesternae pacis—, so Albert d. Gr., aaO 62 B.<br />
20) Nikolaus v. Lyra, Postilla perpetua, aaO, 496ff.<br />
21) Vgl. Beda, MPL 92, 470; Radulphus Ardens, MPL 155, 2047.<br />
22) Plebanus et praetatus—vgl. Bonaventura, aaO 272 A und Albert d. Gr., aaO 62 B.<br />
23) So Thomas v. Aquin, Catena aurea, im Anschluß an Augustin, nach der Ausgabe von Guarienti,<br />
Bd. 2, 152 A.<br />
24) Haimo v. Auxerre, MPL 118, 673; Isaak v. Stella, MPL 194, 1712; Radulphus Ardens, MPL 155,<br />
2046 u. Bonaventura, aaO 268 B.<br />
25) Bei Isaak v. Stella.<br />
26) Vivus sed morti per se indeclinabilis mortuus.<br />
27) S. u. S. 94f.
67<br />
allerdings wieder durch die allgemein verbreitete Auslegung von „halbtot“ im Sinne einer<br />
noch bestehenden „Erlösungsmöglichkeit“ entschärft 28 ). Wir gewinnen hier die wiederum<br />
für die reformatorische Auslegung wichtige Erkenntnis, daß sich Augustins Auffassung<br />
der Erzählung, auf das Ganze gesehen, nicht durchgesetzt hat, daß jedoch einzelne<br />
augustinische Auslegungselemente, verschlungen mit anderen, inhomogenen Gedanken,<br />
tradiert worden sind.<br />
6. Die schon in der Epoche der Kirchenväter verbreitete Auslegung von Paulus her<br />
hat noch erheblich zugenommen. So wird die Todesverfallenheit 29 ) der verschiedenen zu<br />
Vers 31f. aufgezählten Patriarchen als Grund für die Nutzlosigkeit ihrer Hilfsversuche<br />
offensichtlich von R. 5, 12 und R. 7, 24 her angeführt 30 ). Häufiger klingt auch schon von<br />
R. 5, 20 aus zu „Priester und Levit“ der Gedanke der sündenaufdeckenden Funktion des<br />
alttestamentlichen Gesetzes an 31 ). An einer Stelle ist am Beispiel des Leviten sogar das<br />
„Wachsen“ der Sünde (R. 5, 20) exemplifiziert: „Wenn irgendeiner an einem<br />
Verwundeten vorübergeht und ihm keinerlei Sorge angedeihen läßt, dann wird der<br />
Schmerz des Verwundeten und sein Wehklagen vermehrt und nicht vermindert. Genauso<br />
sind auch das Gesetz und die Propheten nebenbei hereingekommen, damit das Delikt<br />
übergroß werde.“ 32 ) Ferner sei noch erwähnt, daß die Identifizierung Jesu mit einem von<br />
den Juden verfluchten <strong>Samariter</strong> mittels Gal. 3, 13 begründet wird 33 ), und daß der ganze<br />
Text Lk 10, 30–37 unter das Motto Gal. 2, 21 gestellt werden kann 34 ).<br />
II. Die Hauptmotive im Gesamtzusammenhang<br />
der Auslegung<br />
a) Das christologische Hauptmotiv<br />
Die Zahl der Auslegungen, in denen das christologische Hauptmotiv allein dominiert,<br />
ist im Verhältnis zu den übrigen Auslegungen<br />
28) S. o. S. 35.<br />
29) Mortalitas.<br />
30) Vgl. z. B. Werner II v. Küssenberg, MPL 157, 1121.<br />
31) Vgl. z. B. Haimo v. Auxerre, MPL 118, 673 und Glossa ordinaria nach Ebeling, Evangelische<br />
Evangelienauslegung, Neudruck 1962 S. 489f.<br />
32) Albert d. Gr., nach der Ausgabe von Borgnet, Bd. 23, 64 B.<br />
33) Theophylact, nach der Ausgabe von Oekolampad, S. 102 B.<br />
34) Dionys der Kartäuser, nach der Ausgabe des Ord. Cartus., Bd. 12 19 A.
68<br />
recht klein. Es findet sich exklusiv bei Rhabanus Maurus 35 ), Bernhard von Clairvaux 36 ),<br />
Petrus Lombardus, Isaak von Stella, Werner II von Küssenberg 37 ) und Petrus von<br />
Poitiers.<br />
b) Das ethische Hauptmotiv<br />
Das ethische Hauptmotiv kommt wieder in den meisten Fällen nur in Verbindung mit<br />
dem christologischen Hauptmotiv vor. Die Anzahl ethisch-christologischer Auslegungen<br />
ist allerdings im Vergleich mit der entsprechenden Gruppe des vorigen Zeitabschittes<br />
erheblich gewachsen. Im einzelnen ist folgendes zu beachten:<br />
1. Die Nuancierung des ethischen Hauptmotivs hat sich gegenüber der Zeit der<br />
Kirchenväter verschoben, indem häufiger nicht mehr nur von der Notwendigkeit der<br />
Barmherzigkeit ganz allgemein geredet wird, sondern präziser von der Grenzenlosigkeit<br />
der Nächstenliebe, so bei Beda und den von ihm abhängigen Autoren Smaragd und<br />
Rhabanus Maurus, sowie bei Haimo von Auxerre, Bruno von Segni, Richard von S.<br />
Victor 38 ), Radulphus Ardens, Bonaventura, in der Catena aurea und bei Nikolaus von<br />
Lyra 39 ).<br />
Dabei wird die Bergpredigt häufiger als in der Kirchenväterzeit herangezogen, so die<br />
goldene Regel Mt. 7, 12 zu Lk 10, 27 40 ),—so die Aufforderung, nicht nur den zu lieben,<br />
der uns selbst leibt, Mt 5, 46 zu Lk 10, 29 41 ),—so das Gebot der Feindesliebe Lk 6, 35f.<br />
und Mt 5, 45 zur Zusammenfassung der Auslegung 42 ).<br />
2. Was das Verhältnis des ethischen und des christologischen Motivs zueinander<br />
betrifft, so ordnet die Mehrzahl der hier zu nennenden Ausleger wiederum die<br />
christologische Auslegung der ethischen in der aus der Kirchenvätersepoche bekannte<br />
Weise unter 43 ).<br />
35) De Universo.<br />
36) In Canticum, sermo XVI.<br />
37) 2. Predigt, MPL 157, 1120ff.<br />
38) Allegoriae.<br />
39) Postilla perpetua.<br />
40) Radulphus Ardens, MPL 155, 2045 f.<br />
41) Bruno v. Segni, MPL 165, 387.<br />
42) Bonaventura, nach der Ausgabe des Ord. Min., Bd. 7, 271 A; Thomas v. Aquin, Catena aurea, im<br />
Anschluß an Augustin, nach der Ausgabe von Guarienti, Bd. 2, 154 A.<br />
43) S. o. S. 53ff.
69<br />
Besonders wichtig ist die früheste Auslegung des Zeitabschnittes, nämlich die Bedas.<br />
Hier heißt es 44 ), nachdem neben dem christologischen auch der ethische Aspekt zur<br />
Geltung gebracht worden ist: „ . . . wir sollen nämlich den Nächsten, der uns wie uns<br />
selbst zu lieben befohlen ist, nicht so auf Christus hin interpretieren 45 ), daß wir die Moral<br />
wechselseitiger Brüderlichkeit, die (in unsere Erzählung) hineingelegt ist, unter den<br />
Regeln der Allegorie zu tilgen oder wegzubringen suchen.“ 46 ) Hier macht sich, wie auch<br />
bei dem von Beda abhängigen Rhabanus Maurus 47 ), erstmalig expressis verbis die Sorge<br />
bemerkbar, die dem Texte innewohnenden ethischen Gedanken könnten durch die<br />
christologische Auslegung erdrückt werden. Christologisch-ethische Auslegung, in der<br />
das ethische Moment dominiert, findet sich auch bei Haimo von Auxerre, Pseudo-Eligius,<br />
Theophylact, Theophanes cerameus, Bernhard von Clairvaux 48 ), in der Glossa ordinaria,<br />
bei Werner II von Küssenberg 49 ) und Radulphus Ardens.<br />
Abweichend von den Kirchenvätern stellt aber eine ganze Anzahl von<br />
mittelalterlichen Autoren die ethische Auslegung unverbunden neben die christologische,<br />
sei es, daß gar keine Verbindung wie bei Bruno von Segni, Bernhard von Clairvaux 50 ),<br />
Richard von S. Victor 51 ) und Nikolaus von Lyra 52 ), sei es, daß nur Stichwortverbindung<br />
wie in der Catena aurea besteht, sei es schließlich, daß eine ausgeprägte doppelte<br />
Auslegung (allegorisch-moralisch) erfolgt wie bei Euthymius Zigabenus, Bonaventura<br />
und Dionys dem Kartäuser. Dies bloße Nebeneinander der beiden Aspekte kann in<br />
unserer Epoche, die die von den Kirchenvätern überwiegend geübte Unterordnung des<br />
christologischen unter den ethischen Aspekt vor Augen hatte, nur als ein Nachlassen des<br />
Interesses an der ethischen Auslegung gewertet werden.<br />
44) MPL 92, 468.<br />
45) Neque super Christo interpretari debemus.<br />
46) Ut moralia mutuae fraternitatis instituta sub allegoria extenuare et auferre conemur.<br />
47) Homilie CLIX, MPL 110, 449.<br />
48) In festo annunciationis B. Mariae.<br />
49) In der 1. Predigt, MPL 157, 1115ff.<br />
50) In Canticum, sermo XLIV.<br />
51) Allegoriae und sermo LXX.<br />
52) Postilla perpetua.
70<br />
c) Die beiden Hauptmotive in den verschiedenen „Literatur“-Formen<br />
Schon aus einem Vergleich unseres Textes in Kommentaren einerseits und Homilien<br />
und Abhandlungen andererseits ergibt sich, daß sich die verschiedenen Typen der<br />
Auslegung weiter auseinander entwickelt haben, als das in der Epoche der Kirchenväter<br />
der Fall war. Daher lohnt es sich, auf die Häufigkeit des Vorkommens der verschiedenen<br />
Hauptmotive da und dort zu achten. Ein exklusiv-christologisches Verständnis findet sich<br />
nur in fünf als Homilien gekennzeichneten Stücken und in zwei Abhandlungen 53 ). Dabei<br />
haben drei Homilien nicht einmal unsere Erzählung zum Text 54 ). Dagegen findet sich<br />
eine christologisch-ethische Auslegung nicht nur in zwölf Homilien 55 ), sondern auch in<br />
sieben Kommentaren 56 ), also in Schriften, von denen man annehmen kann, daß sie der<br />
auslegerischen Aufgabe haben mehr gerecht werden wollen als die anderen Werke.<br />
Allerdings zeigt sich bei diesen in der Mehrzahl späten Kommentaren, daß der<br />
auslegerischen Aufgabe schon dadurch Grenzen gesetzt sind, daß die Betrachtung des<br />
mehrfachen Schriftsinnes schematisch geübt wird, was zu einer Isolierung der ethischen<br />
Gedanken führt 57 ). Außerdem darf nicht vergessen werden, daß trotz stärkerer<br />
Differenzierung der verschiedenen „Literatur“-Formen die scholastische Theologie sich<br />
insgesamt als Verkündigung versteht, mag das auch in verschieden starkem Maße der<br />
Fall sein.[ 58 )]<br />
d) Die beiden Hauptmotive im Verhältnis zu Einleitung und Kontext<br />
1. Häufiger noch als in der Epoche der Kirchenväter wird zu Vers 27 und oft auch<br />
noch einmal zum Schluß auf den Zusammenhang von Gottes- und Nächstenliebe<br />
hingewiesen, dies offensichtlich im Gefolge des Origenes 59 ). So heißt es einmal zu Vers<br />
27: „Wer Gott<br />
53) Rhabanus Maurus, De universo und Petrus von Poitiers, Sententiarum libri.<br />
54) Bernhard v. Clairvaux, In Canticum, sermo XVI und In festo annunciationis B. Mariae; Petrus<br />
Lombardus.<br />
55) Wenn man die Postilla perpetua Nikolaus’ v. Lyra mitzählt.<br />
56) Die Glossa ordinaria und Catena aurea mitgerechnet.<br />
57) S. o. S. 61.<br />
58) Das kann man z. B. besonders kraß an dem Werk des Bruno von Segni sehen, das zwar als<br />
„Commentaria in Lucam“ bezeichnet wird, das aber z. B. zu unserem Text eine Homilie für den 13.<br />
Sonntag nach Pfingsten bringt.<br />
59) Origenes, Comm. In Cant., GCS Orig. 8, 70, s. o. S. 54f.
71<br />
liebt, wird sicherlich auch sein Bild, den Menschen, lieben. Wer sein Bild liebt, wird<br />
(umgekehrt) um so mehr das Urbild lieben“ 60 ). Eine direkte Verbindung von der<br />
Gottesliebe zur Christusliebe, um dessen Werk es in der Erzählung geht, wird in der<br />
Regel nicht gezogen 61 ). Indirekt aber bereitet ein solcher Gedanke bei nachfolgender<br />
christologischer Auslegung diese natürlich vor.<br />
2. In unserem Zusammenhang ist wichtig, daß sich ein Teil der Autoren durchaus der<br />
Schwierigkeit der Liebe zu Gott und damit auch der Liebe zum Nächsten bewußt ist. So<br />
wird nach Entfaltung des Gebots der Gottesliebe mit Hilfe der vier physisch-psychischen<br />
Begriffe in Vers 27 gefragt, ob nicht einer der Begriffe genügt hätte 62 ). Die Antwort<br />
lautet, die vierfache Entfaltung geschehe „zum größeren Nachdruck“ 63 ): „Und wenn er<br />
(scil. Christus) es ausdrücklicher 64 ) gekonnt hätte, hätte er (noch) ausdrücklicher geredet,<br />
da es ja niemals genug gesagt werden kann, weil man niemals genug tun kann.“ 65 )<br />
Interessanterweise begnügt man sich keineswegs überall damit, durch christologische<br />
Auslegung die Hilfe zur Erfüllung des Doppelgebots anzubieten, sondern man versucht,<br />
vor allem im späteren Fortgang der Auslegung, die Forderung der Totalität der Liebe<br />
durch Einschränkungen praktikabler zu machen. <strong>Der</strong> späteste der scholastischen Ausleger<br />
unseres Textes, Dionys der Kartäuser, erklärt z. B., daß man die in Vers 27 geforderte<br />
Gottesliebe in dreierlei Weise verstehen müsse: Zunächst sind nach ihm die<br />
„unaufhörlichen Akte“ (der Liebe) gemeint 66 ), Herz, Sinn, Geist, Kraft müssen immer<br />
„aktualiter“ und „totaliter“ zu Gott gebracht werden. „Und so wird jenes Gebot von uns<br />
Wanderern im gegenwärtigen Leben nicht erfüllt, sondern von den Seligen im<br />
(himmlischen) Vaterland . . . . Im Vaterland also wird jenes Gebot perfekt erfüllt, auf<br />
60) Theophanes Cerameus, MPG 132, 295; sehr ähnlich auch Haimo von Auxerre, MPL 118, 671 und<br />
Bonaventura nach der Ausgabe des Ord. Min., Bd. 7, S. 268 A.<br />
61) Ausnahme: Werner II v. Küssenberg in der ersten Homilie, MPL 157, 1118.<br />
62) Radulphus Ardens, MPL 155, 2045.<br />
63) Majorem . . . expressionem.<br />
64) Expressius.<br />
65) Vgl. ähnlich auch bei Haimo v. Auxerre, MPL 118, 671; Werner II v. Küssenberg, MPL 157, 1117<br />
(1. Homilie); Theophylact, nach der Ausgabe von Oekolampad, S. 101 usw.<br />
66) Indesinientes actus.
72<br />
dem Wege imperfekt“. Zum anderen sind nach Dionys hier die Akte gemeint, die man<br />
(tatsächlich im irdischen Leben) ausführen könne, wenn man wolle 67 ). Endlich geht es<br />
ihm um die Akte, die man notwendig tun müßte 68 ). Dabei dürfe nichts der Liebe<br />
Entgegenstehendes unternommen werden. Die Totalität der Liebesforderung wird hier<br />
nur auf die zukünftige Welt, nicht auf das irdische Leben bezogen 69 ). Wir sehen also, wie<br />
einerseits das Bewußtsein der Schwere der Forderungen durch die Auslegung von Vers<br />
27 hindurchklingt, wodurch die Einführung Christi in den Text indirekt vorbereitet wird,<br />
und wie andererseits die Ausführungen zu Vers 27 doch ein gewisses Eigengewicht<br />
haben, da man die Frage des christlichen Handelns schon hier, gewissermaßen an Ort und<br />
Stelle, zu lösen versucht. Schließlich ist bedeutsam, daß gerade an unserem Text die<br />
Verflachung der scholastischen Ethik deutlich wird, gegen die die Reformation sich<br />
später wendet.<br />
3. Wiederum im Gefolge des Origenes wird von Vers 28 aus häufiger als in der<br />
Kirchenväterzeit dargelegt, daß es bei dem geforderten Tun um das ewige Leben bzw.<br />
um den dort zu erwartenden Lohn geht 70 ). Neu ist, daß dies jetzt z. T. unter Rückgriff auf<br />
den Kontext (Vers 20 b) geschieht. So heißt es: „Vielleicht nimmt jener Schriftgelehrte<br />
aus eben jenen Worten, die der Herr früher gesagt hatte, Gelegenheit: Freut euch, weil<br />
eure Namen im Himmel geschrieben sind. Er, d. h. der Schriftgelehrte, wollte wissen, ob<br />
auch von seinem Namen gesagt wurde, er sei im Himmel geschrieben.“ 71 )<br />
4. Von Origenes 72 ) stammt auch die nunmehrige stärkere Herausstellung der<br />
Überheblichkeit des Schriftgelehrten 73 ). Dadurch wird die ethische Auslegung auf die<br />
Sündenerkenntnis hin ausgerichtet.<br />
67) Actus supererogationis.<br />
68) Actus necessitatis.<br />
69) So Dionys der Kartäuser, nach der Ausgabe des Ord. Cartus., Bd. 12, 16 B und 17 A; ähnlich<br />
schon vor ihm Theophanes Cerameus, MPG 132, 296 und Bonaventura, nach der Ausgabe des Ord. Min.,<br />
Bd. 7, S. 268 A.<br />
70) Vgl. z. B. Bela, MPL 92, 468; Rhabanus Maurus, Homilie CLIX, MPL 110, 448.<br />
71) So Haimo v. Auxerre, MPL 118, 671; vorher ähnich Beda, MPL 92, 468; nachher Dionys der<br />
Kartäuser, nach der Ausgabe des Ord. Cartus., Bd. 12, 15 B.<br />
72) S. o. S. 55.<br />
73) Vgl. z. B. Theophanes Cerameus, MPG 132, 297 und Albert d. Gr., nach der Ausgabe von<br />
Borgnet, Bd. 23, 60 A.
73<br />
Neu ist, daß die Scholastik solche Überheblichkeit des Schriftgelehrten häufiger schon in<br />
Vers 25 findet, weil es hier heißt, der Schriftgelehrte hätte sich erhoben (surrexit). Damit<br />
sei „Überhebung des Geistes“ gemeint 74 ). „Durch Stehen versucht er Gott“, heißt es an<br />
anderer Stelle, in Bezug auf das άνέστη Vers 25 75 ). Vor allem unterstreicht man diesen<br />
Gedanken jetzt durch Rückbeziehung auf Lk 10, 21–23, indem man den Schriftgelehrten<br />
mit den „Weisen und Verständigen“ von Vers 21 identifiziert. So wird z. B. zu Vers 25<br />
ausgeführt: Er (scil. <strong>Der</strong> Schriftgelehrte) hält sich für klug und weise im Gesetz. Er ist<br />
weise; aber weil er mit den Kindern Gottes nicht gedemütigt werden will . . ., weist er<br />
,die seligen Augen’, mit denen man Christus erkennen kann, zurück“ 76 ). Überhaupt ist es<br />
charakteristisch für unsere Epoche, daß die meisten Auslegungen unserer Erzählung<br />
bereits mit Vers 21 bzw. 23 beginnen und den Text Lk 10, 21–37 als Einheit nehmen, ein<br />
Verfahren, für das wir aus der Kirchenväterzeit kein einziges Beispiel haben. Die in<br />
dieser Aufgliederung liegenden Möglichkeiten werden freilich meist nur negativ genutzt,<br />
nämlich zur Illustration des verwerflichen Verhaltens des Schriftgelehrten, wie des<br />
Priesters und des Leviten.<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß die genannten Motive im letzten den Sinn<br />
haben, das in der Erzählung Geforderte zu erläutern. Zum größeren Teil dienen sie dabei<br />
zunächst der Hinführung auf die christologische Auslegung, welche ja in der<br />
überwiegenden Zahl der Fälle der ethischen Auslegung untergeordnet ist. Wir haben aber<br />
wiederholt gesehen, daß die aus Einleitung und Kontext gewonnenen Motive auch ein<br />
Eigengewicht besitzen. Sie bereiten die christologische Auslegung weitgehend nur<br />
deshalb vor, weil sie am Anfang eines christologisch auszulegenden Textes gebracht<br />
werden. Im Rahmen der christologischen Auslegung formen sich also bereits zur Zeit der<br />
Scholastik Motive aus, die später, wie wir noch sehen werden 77 ), auch im Rahmen<br />
nichtchristologischer Auslegung verwendet werden konnten.<br />
74) Elevatio mentis—so Haimo v. Auxerre, MPL 118, 671.<br />
75) AaO.<br />
76) So Beda, MPL 92, 468, ebenso Smaragd, MPL 102, 446 und Rhabanus Maurus, Homilie CLIX,<br />
MPL 110, 448 f.<br />
77) Vgl. vor allem unten Kap. 4 u. 5.
74<br />
B. Die Veränderung des bisherigen Schemas im ganzen<br />
Es gibt einige solche scholastische Auslegungen, die die Auslegung der Kirchenväter<br />
nicht nur im einzelnen weiter ausbauen, sondern im ganzen verwandeln. Sie werden<br />
deshalb hier gesondert behandelt:<br />
I. Moralische Auslegungen<br />
Zeitlich ist die erste der beiden von Gottfried von Admont überlieferten Auslegungen<br />
zunächst zu nennen 78 ). Gottfried beginnt seine Auslegung wie andere 79 ) bereits bei Vers<br />
23 und gewinnt daraus das Thema für die Behandlung von Lk 10, 25–37. Die in Vers 24<br />
genannten Propheten werden mit den „Prälaten“ 80 ) und deren „Untergebenen“ 81 )<br />
gleichgesetzt. „Manche von ihnen“, so führt er aus, „ ,sehen’ durch den Glauben 82 ), weil<br />
sie an Gott glauben,—und dennoch hören sie nicht, weil sie Gott nicht lieben . . . . Allein<br />
die sind selig, die sowohl zum Schauen durch den Glauben als auch zum Hören durch die<br />
Liebe kommen.“ 83 ) Indem Gottfried in dieser Weise das Stichwort „Liebe“ bringt,<br />
kündigt er eine Homilie über das rechte Handeln der Prälaten an. Dabei identifiziert er<br />
nacheinander alle vier in unserer Erzählung agierenden Personen mit diesen und macht<br />
daran falsche und richtige Verhaltensweisen eines Geistlichen deutlich. <strong>Der</strong><br />
Schriftgelehrte ist für ihn der Prototyp des Prälaten, der seine Worte „in zu großer Demut<br />
des Geistes“ 84 ) braucht. Hinter seiner Frage steckt das Problem: Wenn ich mich selbst<br />
vernachlässige und nur meine Untergebenen lehre, werde ich das ewige Leben nicht<br />
besitzen, aber auch nicht, wenn ich nur für mich sorge. Wie also soll ich mich im Leben<br />
und Lehren verhalten?<br />
78) Homiliae dominicales, hom. LXXX, MPL 174, 564–70,—Gottfried v. Admont war zunächst<br />
Mönch, dann Prior im Benediktinerkloster St. Georgen im Schwarzwald, seit 1134 Abt in Admont, vgl.<br />
LThK, 2. Aufl., Bd. 4, Sp. 1136.<br />
79) S. o. S. 73.<br />
80) Praelati.<br />
81) Subditi.<br />
82) Vident per fidem.<br />
83) AaO 566.<br />
84) In nimia mentis humilitate, aaO 565.
75<br />
Indem Jesus Vers 26 nun seinerseits zwiefach fragt, weist er für Gottfried den<br />
Schriftgelehrten und damit die Prälaten „auf die Wahrheit der Schrift und die Demut“<br />
hin. <strong>Der</strong> Schriftgelehrte aber will nun wissen, welchen unter seinen Untertanen er denn<br />
lieben müsse 85 ). Daraufhin schildert Jesus ihm den sündigen Menschen, der aus der<br />
„Schau des Friedens“ herausfällt usw. Im Fortgang ist die Auslegung von Vers 30 ganz<br />
traditionell. Zu Vers 31 fährt Gottfried aber selbstständig fort: „Im Priester, im Leviten,<br />
im <strong>Samariter</strong> kann ein- und derselbe Prälat bezeichnet sein . . . 86 ), von daher scheint mir,<br />
daß er (scil. Jesus) in dieser Parabola, welche er dem Gesetzeskundigen vor Augen<br />
stellte, gleichsam das, was er wollte, dem Prälaten eröffnete und sagte: ,Du bist ein<br />
Priester, du bemühst dich selbst um mich täglich mit Opfern und Darbringungen auf dem<br />
Altar deines Herzens . . . mit Wachen und Fasten. Du bist mein Levit durch beständiges<br />
Rezitieren und Lesen der göttlichen Schriften, aber dieses alles reicht mir nicht 87 ) bei dir,<br />
wenn ich nicht sehe, daß du das Werk des <strong>Samariter</strong>s nachahmst . . .’.“<br />
Von da aus wird dann das Verhalten des <strong>Samariter</strong>s Zug um Zug auf den Prälaten<br />
gedeutet. So erklärt Gottfried zu Vers 33, der <strong>Samariter</strong> sei weitergegangen, „bis er ihn<br />
sah“, das heiße, der Prälat müsse dem ihm Anvertrauten so nahekommen, daß er das<br />
zerrüttete Elend von dessen Sünden in der Beichte erkennt. Besonders interesant ist die<br />
Deutung des „Lasttiers“ (Vers 34), bei der ohnehin erhebliche Schwierigkeiten zu<br />
erwarten sind: „Da ja das Evangelium nicht ausdrücklich sagt, wessen Lasttier es<br />
gewesen ist, des <strong>Samariter</strong>s oder jenes, der unter die Räuber fiel, können wir dies in<br />
zweierlei Weise verstehen. Zunächst: In jumento kann als Leib des Menschen (scil. des<br />
verwundeten Menschen) genommen werden. Auf dieses Lasttier wird der Mensch (vom<br />
Prälaten) gesetzt, wenn er (auf dessen Rat) hart und streng Genugtuung geleistet hat“ 88 ).<br />
Zum anderen kann gemeint sein, daß der „<strong>Samariter</strong>, d. h. der gute Prälat, jenen<br />
Verwundeten auf sein Lasttier setzt, wenn er sich (selbst) aus sehr großem Mitleid und<br />
Erbarmen anbietet, für ihn und mit ihm Satisfaktion zu leisten“. Indem der Prälat den<br />
Büßer dann in das stabulum führt, nimmt er ihn „in sein (eigenes) Herz, das früher<br />
85) AaO 566.<br />
86) Unus idemque praelatus potest designari, aaO 567.<br />
87) Non sufficiunt.<br />
88) Satisfecit.
76<br />
hochmütig war, jetzt aber durch Erkenntnis der Sünde stinkend und gedemütigt ist“ 89 ),<br />
auf. Besonders hervorgehoben sei noch, daß die zwei Denare als das Doppelgebot oder<br />
die Schriftkenntnis im historischen und moralischen Sinn verstanden werden, die dem<br />
übergeben sind, der sich die Buße angelegen sein läßt. Bei der Erwähnung der<br />
Mehrausgabe (Vers 35) geht es endlich um den Lohn, den der „Prälat“ dem Büßer<br />
verspricht 90 ). Belegt wird diese Auffassung mit Mt. 19, 28: „Von daher erscheinen mir<br />
die Worte des Prälaten . . . nicht frivol und absurd. Denn es ist dasselbe, wie wenn er<br />
sagt—und wahrscheinlich kann man (dabei) nur von wenig Unterschied zu den Worten<br />
Jesu reden—: ,Weil ich in Bezug auf die Gesundheit deiner Seele an der Stelle Christi<br />
stehe, werde ich zusammen mit Gott dein Richter sein . . .’.“ 91 ) Vor der Bedeutung dieser<br />
Auslegung sei darauf hingewiesen, daß auch Nikolaus von Lyra in seinen Moralitates 92 ),<br />
in denen er alles über die „wörtliche Auslegung“ hinaus Wichtige bringt, den <strong>Samariter</strong><br />
mit dem „Prediger und Beichtvater, der von der Liebe bewegt“ ist, identifiziert. <strong>Der</strong><br />
Schriftgelehrte allerdings wird nicht erwähnt. Priester und Levit bezeichnen nicht wie bei<br />
Gottfried die übrigen, wenn auch allein nicht hinreichenden Funktionen der Geistlichen,<br />
sondern sind die „bösen Diener“ 93 ), die nur auf das Geldeintreiben und nicht auf Heilung<br />
der Schuld bedacht sind.<br />
Im Prinzip sind beide Auslegungen gleich. Nun kann man freilich nicht sagen, daß<br />
das christologische Verständnis bei ihnen grundsätzlich überwunden sei. Von beiden sind<br />
auch christologische Auslegungen überliefert 94 ). Klar ist aber, daß beide zu der<br />
pastoralen Auslegung, wie wir sie hier vor uns haben, nur durch die christologische<br />
hindurch kommen konnten: Die pastorale Auslegung einiger Einzelwendungen 95 ), wie<br />
auch die Anregungen Gregors, der im Gebrauch von „Öl und Wein“ schon das Verhalten<br />
der Amtsträger<br />
89) Fetidum et humiliatum, aaO 568.<br />
90) AaO.<br />
91) AaO 569.<br />
92) S. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, Neudruck, S. 500.<br />
93) Mali ministri.<br />
94) Nämlich von Nikolaus v. Lyra in der Postille perpetus, s. o. S. 68 und 69, und von Gottfried v.<br />
Admont in der zweiten bei Migne abgedruckten Predigt, s. u. S. 79ff.<br />
95) S. o. S. 65, Zeile 12 ff. und S. 66, Zeile 8ff.
77<br />
abgebildet sah 96 ), haben vorgearbeitet. Die Entstehung aus der traditionellen Auslegung<br />
ist bei Nikolaus von Lyra noch deutlicher als bei Gottfried. Wichtig ist aber vor allem:<br />
Die christologische Auslegung selbst interessiert hier so wenig, daß man sie einfach<br />
hinter sich lassen kann. Hier zeigt sich symptomatisch, wie die Auslegung auf Christus<br />
verstanden werden konnte: Nicht als Ziel der Auslegung, sondern als Sprungbrett für<br />
Ethisches.<br />
2. <strong>Der</strong> Anlage nach große Ähnlichkeit mit den beiden ebengenannten Auslegungen<br />
hat die von Odo con Chateauvroux 97 ). Nachdem dieser zu Beginn seiner Homilie eine<br />
Reminiszenz aus seiner Jugendzeit wiedergegeben hat, erklärt er: „Mir scheint, daß in<br />
den Zeiten des seligen Franziskus 98 ) jene Geschichte erfüllt worden ist“. Dann legt er<br />
Vers 30 traditionell auf den Sündenfall der Menschen aus. Er verbindet aber schon damit<br />
eine originelle Wendung, indem er nicht nur vom Fall aus der Gnade in die Sünde<br />
spricht, sondern vom Fall „aus dem Zustand des Reichtums in den Zustand äußerer<br />
Armut“ 99 ). Nachdem er dann erklärt hat, daß uns alle Güter zufallen, „wenn (nur) die<br />
Weisheit Gottes in unser Herz kommt“, fährt er fort: „Aber durch die Sünde sind jene<br />
Schätze verloren.“ Die übrigen Wendungen in Vers 30 werden traditionell gedeutet.<br />
Nunmehr tritt Odo in den entscheidenden Teil seiner Auslegung ein: „Aber die Priester<br />
und Leviten, die Prälaten und auch die anderen, Geringeren 100 ), sowohl Kleriker als auch<br />
(sonstige) Fromme 101 ), sehen natürlich jenen Menschen, der so verwundet und beraubt<br />
ist, doch sie haben kein Mitleid mit ihm. . . . <strong>Der</strong> <strong>Samariter</strong>, das ist der selige Franziskus,<br />
der Laie und nicht Kleriker war, obwohl er auch ein wenig Gelehrsamkeit hatte, so, wie<br />
die <strong>Samariter</strong> zwar das Mosegesetz aufnahmen, aber nicht die Propheten, und aus jenen<br />
nur wenig wußten.“ 102 ) Die Tatsache, daß die <strong>Samariter</strong> die Prophetenschriften nicht in<br />
ihrem Kanon hatten, also nach Odo theologisch weniger gebildet waren als die Juden,<br />
wird somit zur Identifizierung des <strong>Samariter</strong>s mit Franziskus ausgenutzt.—In der-<br />
96) S. o. S. 39, Anm. 1.<br />
97) Sermo LXXXIV, nach Analecta novissima Spicilegii, tom. II, S. 270ff.<br />
98) Beatus Franciscus, gemeint ist Franz von Assisi, aaO S. 270.<br />
99) A statu divitiarum ad statum pauperitatis.<br />
100) Praelati majores et alii minores.<br />
101) Religiosi.<br />
102) AaO S. 271.
78<br />
selben Linie geht es weiter: „So hat der selige Franziskus (einst) keinen Umgang gehabt<br />
mit irgend welchen frommen Menschen, sondern er hat dem (irdischen) Reichtum gefrönt<br />
und ist durch die Begierden der Welt getrieben gewesen . . . . Jener erkannte (schließlich)<br />
sich (selbst) als entblößt 103 ) von der Tugend und Gnade Gottes und hatte Mitleid mit sich<br />
selbst 104 ) nach dem Rat Eccl. 30, 24 105 ).<br />
Erst dann lenkt Odo die Auslegung zum ursprünglichen Gedankengang zurück,<br />
indem er erklärt: „Aber weil es die Natur des Guten ist, daß es sich verströmt, . . . hat<br />
jener <strong>Samariter</strong>, d. h. der selige Franziskus, nachdem er mit sich selbst Mitleid hatte,<br />
auch mit anderen mitgelitten, mit welchen Priester und Leviten nicht Mitleid hatten, weil<br />
sie auch nicht mit sich selbst Mitleid empfanden“ 106 ). Es ist möglich, daß zu dieser<br />
eigenartigen Deutung, die vom Mitleid mit sich selbst redet, Lk 10, 27 die Wendung:<br />
„Wie dich selbst“ Anlaß gegeben hat.<br />
Auch das „Gasthaus“ (Vers 34) wird mit Franz von Assisi in Verbindung gebracht:<br />
„Jenes Wirtshaus ist der Orden 107 ) des seligen Franziskus, für die Männer wie für die<br />
Frauen, in welches so die Bekannten und Unbekannten aufgenommen werden, die sich<br />
als Wanderer, Fremdlinge und Reisende auf der Erde betrachten“ 108 ). Und in gleichem<br />
Sinne künstlich erscheint es, wenn Gott bezüglich Vers 35 als der Wirt des „Gasthauses“,<br />
d. h. in diesem Falle des Franziskanerordens 109 ) bezeichnet wird: „Daher vertraut der<br />
selige Franziskus dem Wirt alle jene an, die zu diesem Orden durch sein Beispiel<br />
herangeführt wurden und werden. Und er bat den Wirt, daß er Sorge für sie trüge, und er<br />
gab ihm zwei Denare, seine Seele und seinen Leib natürlich . . . .“ 110 ) Die Rückkehr und<br />
die Erwägung der „Mehrausgabe“ (Vers 35) werden dann so ausgelegt, daß erstere auf<br />
die Auferstehung des Franziskus gedeutet wird und es von letzterer heißt: „Dann wird er<br />
(scil. Franziskus) mit Jubel kommen<br />
103) Attendens se nudatum.<br />
104) Miseratum est sui.<br />
105) Vulgata: Miserere animam tuae placens Deo—Zitat s. aaO.<br />
106) AaO s. 272.<br />
107) Religio.<br />
108) AaO.<br />
109) Ordinis beati Francisci.<br />
110) AaO.
79<br />
und wird seine Scharen 111 ) bringen, d. h. jene, die sich nach seinem Exempel zum Herrn<br />
bekehrt haben, und er wird sie dem Herrn darbringen, wie der Priester zum Pfingsten die<br />
Menge der Erstlinge 112 ) darbietet.“ <strong>Der</strong> Schluß ist eine Aufforderung, sich der<br />
Verpflichtung gegenüber dem seligen Franziskus bewußt zu bleiben, „mehr der Reinheit<br />
und Wahrheit zu haben und nachdrücklicher den Fußstapfen des seligen Franziskus zu<br />
folgen 113 ).<br />
Es mag sein, daß Odo durch die Auslegung auf die Prälaten 114 ) zu dieser Homilie<br />
angeregt worden war. Die Tatsache, daß sowohl Nikolaus von Lyra als auch Odo von<br />
Chateauroux eine rein moralische Auslegung haben, könnnte aber auch darauf deuten,<br />
daß hier besonderes, im Franziskanerorden überliefertes Gut vorliegt.<br />
Völlig neu ist im übrigen an der letzten Auslegung der ausgesprochen antiklerikale<br />
Zug: Was die Geistlichkeit nicht vermochte, das schafft der Laie Franziskus. Daneben<br />
fällt auf, in welch gekünstelter und diffiziler Weise Odo den Rückgriff auf die Person<br />
Jesu vermeidet. Es lag nahe, die traditionelle christologische Auslegung an dem Punkte<br />
mit hineinzunehmen, an dem Odo das Schema von Fall und Erlösung auf Franziskus<br />
selbst anwendet. Statt dessen redet er wiederholt und deutlich davon, daß Franziskus mit<br />
sich selbst Mitleid gehabt habe. Hier ist die christologische Auslegung nicht nur, wie bei<br />
den beiden vorherigen Auslegungen, völlig in den Hintergrund geschoben, sondern sie<br />
wird bewußt oder unbewußt umgangen. Zudem haben wir in den drei bisher<br />
dargebotenen Texten Beispiele dafür, wie weit sich Homilien von der Aufgabe der<br />
Auslegung im strengen Sinne entfernen können.<br />
II. Christologische Auslegungen<br />
1. Völlig anderer Art und durchaus christologisch ist die zweite bei Migne<br />
abgedruckte Homilie des Gottfried von Admont 115 ).<br />
Gottfried setzt hier sogleich mit Vers 30 ein: „Jener ,gewisse Mensch’ ist Gott, Gottes<br />
Sohn selbst, wirklich ,ein gewisser’, wahr-<br />
111) Manipulos.<br />
112) Primitarium—aaO S. 272/3.<br />
113) AaO s. 273.<br />
114) S. o. S. 74 ff.<br />
115) Homiliae dominicales, hom. LXXX, MPL 174, 570ff.
80<br />
haft Mensch, speziell und besonders.“ 116 ) Nachdem dann die Stationen des Abstiegs in<br />
der üblichen Weise geschildert sind, erklärt Gottfried: Er fiel unter die Räuber, „weil<br />
jenes jüdische Volk ihn (scil. Jesus) bald, nachdem er geboren war, zu verfolgen<br />
begann“ 117 ). <strong>Der</strong> Raub der Kleider (Vers 30) wird auf die Flucht der Jünger angesichts<br />
der Gefangennahme gedeutet; denn die Apostel umgaben ihn zunächst „wie ein<br />
Kleid“ 118 ). „Halbtot“ (Vers 30) wird von der Zwei-Naturen-Lehre her ausgelegt: „<strong>Der</strong><br />
Sohn wird nämlich als gleichsam halbtot zurückgelassen bezeichnet, weil er nach der<br />
menschlichen Natur zur (gegebenen) Stunde den Tod schmecken wollte. Er, der nach der<br />
göttlichen Natur leidensunfähig 119 ) war.“<br />
Beriets die Vorbemerkung zum Ganzen zeigt genauer, wie die drei agierenden<br />
Personen der Erzählung verstanden werden sollen: „Unter diesem Priester, Leviten und<br />
<strong>Samariter</strong> kann man die drei Gruppen 120 ) verstehen, (die drei Gruppen) derer natürlich,<br />
welche vor dem Gesetz, unter dem Gesetz und unter der Gnade waren.“ 121 ) Aus den<br />
weiteren Ausführungen über den Priester und den Leviten sei noch hervorgehoben, daß<br />
vor allem auf die Unzulänglichkeit der Opfer, um Gott zu gefallen, hingewiesen wird.<br />
Auch hier wird an Vers 23 angeknüpft. So heißt es bald nach dem eben Angeführten:<br />
„Diese (scil. die Patriarchen und Gerechten) gingen in der Tat an ihm vorüber, und zwar<br />
hinsichtlich des Glaubens, weil sie seinen Advent im Fleisch nicht erwarteten“ 122 ).<br />
Das Kernstück bildet die Auslegung von Vers 33: „Mit dem <strong>Samariter</strong> wird, wie ich<br />
schätze, die Heidenschaft bezeichnet . . . 123 ). Und durch den <strong>Samariter</strong> ist das Volk der<br />
Heiden gut abgebildet 124 ), welches, nachdem es den Taufglauben aufgenommen hat,<br />
bereitet wird, um die umfassenden Gebote seines Gottes zu bewachen und zu bewahren.<br />
Dies Volk stand einst müßig herum (Mt 20, 6), d. h.<br />
116) Specialis et singularis, aaO 570.<br />
117) AaO 571.<br />
118) Impassibilis—aaO.<br />
119) Tres ordines.<br />
120) AaO.<br />
121) AaO.<br />
122) Per <strong>Samariter</strong>anum gentilitas, ut aestimo, designatur.<br />
123) Figuratur.
81<br />
es diente fremden Götzen“ 124 ). Sowohl die traditionelle Etymologie als auch die<br />
Tatsache, daß die Mehrzahl der <strong>Samariter</strong> heidnische Vorfahren hatte, werden also<br />
benutzt, aber nicht wie früher, um den <strong>Samariter</strong> mit Christus zu identifizieren, sondern<br />
vielmehr, um den <strong>Samariter</strong> mit den Heiden gleichzusetzen. Im folgenden werden auch<br />
die Nebenzüge in dieser Richtung ausgelegt. So heißt es: „Er kam des Wegs daher (Vers<br />
33): es (scil. das Heidenvolk) kam im Glauben zu Gott“ 125 ). Mit den Worten: „Er setzte<br />
ihn auf sein Lasttier“ kommt Gottfried so zurecht: „Das Lasttier bezeichnet 126 ) nicht<br />
unrichtig den Leib des Menschen, auf welchem er die selige Seele jenes verwundeten<br />
Menschen, d. i., seinen dornenverwundeten, geohrfeigten, gekreuzigten, durchbohrten<br />
Herrn setzt, wenn er durch Töten seines mit den Lüsten und Begierden (behafteten)<br />
Fleisches der seligen Passion des Gottessohnes zu folgen und sie nachzuahmen sich<br />
befleißigt“ 127 ). Bei diesen Ausführungen ist u. a. bemerkenswert, daß die Verwundung<br />
des am Boden Liegenden mit der Passion Jesu in Zusammenhang gebracht wird: Denn<br />
sie zu übernehmen, wird als die Aufgabe der Heiden angesehen. Analog wird dann auch<br />
gedeutet, daß der <strong>Samariter</strong> den Verwundeten „in die Herberge“ (Vers 34) führt. Dies<br />
geschehe nämlich in dem Sinne, daß er „Christus in sein Herz einführt“ 128 ).<br />
<strong>Der</strong> ethische Grundzug unserer Erzählung wird allerdings auch hier nicht völlig<br />
vergessen. So heißt es am Ende der eben zitierten Darlegung: „Es gibt nämlich einige, die<br />
zwar ihr Fleisch züchtigen und töten, aber Christus nicht in das Gasthaus ihres Herzens<br />
führen, weil sie die guten Werke, die sie tun, nicht in Demut bewahren, und da sie sie<br />
nicht Gott zuschreiben, elend verderben“ 129 ). Hier wird ein Einzelzug der Auslegung der<br />
Herausstellung des besonderen Charakters christlicher Werke dienstbar gemacht. Dies<br />
Anliegen wird sogar noch dadurch unterstrichen, daß im fogenden nicht nur die beiden<br />
Denare mit dem Doppelgebot der Liebe identifiziert werden, sondern auch auf die<br />
Tatsache hingewiesen wird, daß der Denar ein Bild hat. Damit sei eben das Bild Christi<br />
gemeint; denn „durch<br />
124) AaO 572.<br />
125) AaO.<br />
126) Significat.<br />
127) AaO. 573.<br />
128) AaO.<br />
129) AaO.
82<br />
Gutestun wird . . . das Bild Christi in uns geschmückt“. <strong>Der</strong> weitere Verlauf der<br />
Auslegung ist dadurch gekennzeichnet, daß der Wirt allgemein mit dem Menschen<br />
gleichgesetzt wird, der ja „Herr und Hüter seines eigenen Herzens“ 130 ) (= der Herberge)<br />
sein soll, so daß er den verwundeten und gekreuzigten Christus darin aufnehmen und für<br />
ihn sorgen kann. Jesu Wort in Vers 37 wird folgendermaßen paraphrasiert: „Wenn der<br />
Priester und der Levit . . . mein Nächster nicht sind, sondern diese, die durch Glauben<br />
und Liebe mich aufnehmen . . ., ,dann geh und tu ebenso’, d. h. geh, um dich von deiner<br />
falschen zur wahren Gerechtigkeit zu wenden, tu ebenso, d. h. mach, daß dein Leben<br />
übereinstimmen möge 131 ) mit meiner Braut, meiner Kirche, welche mich durch den<br />
Glauben aufgenommen hat, und es wird großer Lohn für deine Werke sein“ 132 ).<br />
<strong>Der</strong> Darstellung wird deshalb so breiter Raum gelassen, weil hier eine Auslegung aus<br />
dem 12. Jahrhundert vorliegt, die in der Grundstruktur völlig mit der modernen<br />
christologischen Exegese Binders übereinstimmt 133 ). Gewiß ist die Auslegung bei<br />
Gottfried von Admont im einzelnen viel weitläufiger, und ebenso gewiß ist die Exegese<br />
Binders viel zielstrebiger; aber das Schema ist dasselbe: Während das Judentum versäumt<br />
hat, Christus aufzunehmen, ist die Heidenwelt an ihm nicht vorübergegangen. Die<br />
grundsätzliche Ähnlichkeit der beiden Auslegungen über sieben Jahrhunderte und über<br />
alle hermeneutischen Programme hinweg ist verblüffend.<br />
Dabei muß beachtet werden, daß diese Auslegung aus den 12. Jahrhundert von einem<br />
Manne stammt, den wir in seiner Auslegungsweise als besonders weit von der Moderne<br />
entfernt kennenlernen mußten, da die prinzipelle Frage nach dem rechten Verstehen des<br />
Schriftwortes bei ihm gegenüber rein praktischen Erwägungen 134 ) offensichtlich<br />
besonders stark in den Hintergrund getreten ist. Die Tatsache, daß wir Binders Auslegung<br />
schon im Zeitalter der Scholastik, noch dazu bei einem methodisch extremen Autor<br />
begegnen, sollte nicht nur gegen Binders Exegese mißtraurisch machen, sondern auch zu<br />
der grundsätzlichen Frage führen, ob nicht etwa die gegenwärtige Exegese bei aller<br />
ausdrücklichen Be-<br />
130) Cordis sui praepositus et custos—aaO 574.<br />
131) Ut concordet.<br />
132) AaO.<br />
133) S. o. S. 5ff.<br />
134) s. dazu o. S. 7f.
83<br />
tonung moderner historisch-kritischer Maßstäbe Tendenzen zu einer Restauration der<br />
vorkritischen Auslegung enthält.<br />
Indes, trotz der grundsätzlich großen Ähnlichkeit der beiden Auslegungen ist ein<br />
Vergleich der Unterschiede lehrreich. Wichtig ist vor allem, daß Gottfried’s Auslegung<br />
von Vers 34 ab eine unerwartete Wendung nimmt. Seine Ausführungen über die guten<br />
Werke waren nämlich durch seine Konzeption keineswegs gefordert und wirken deshalb<br />
wie ein Anhang. Im Gegensatz zu Binder hält Gottfried von Admont die christologischsoteriologische<br />
Konzeption nicht folgerichtig durch, sondern bringt in ihrem Rahmen<br />
doch noch ein ethisches Moment der Erzählung zur Geltung. Obwohl für ihn der Text als<br />
solcher eine geringere Rolle spielt als für andere Ausleger seiner Zeit, fühlt er sich durch<br />
ihn in diesem Falle doch zu ethischen Aussagen verpflichtet.<br />
Es kommt hinzu, daß für Gottfried die christologische Auslegung keineswegs die<br />
einzig mögliche ist. Wir haben ja gesehen, wie er sie in seiner anderen Homilie<br />
weitestmöglich in den Hintergrund zu drängen vermag 135 ). Demgegenüber legt sich<br />
Binder auf eine christologische Auslegung fest und erklärt ausdrücklich, er erhebe für sie<br />
den Anspruch, daß sie auch exegetisch in Ordnung sei.<br />
2. Es bleibt zu erwähnen, daß die zuletzt dargestellte Auslegung Gottfrieds nicht<br />
völlig für sich steht, sondern auch bei Gilbert von Hoyland 136 ) zu finden ist, der etwa zur<br />
gleichen Zeit gelebt hat.<br />
Gilbert kommt auf unseren Text in Sermo VII seiner Auslegung, über Cant. 3, 4 137 ),<br />
zu sprechen. Indem er diesen Text erläutert, weist er auf das verschiedenartige<br />
„Vorübergehen“ der Synagoge und der Kirche hin, das er in unserer Erzählung abgebildet<br />
findet: Die Synagoge gehe an Jesus vorüber, schätze ihn jedoch nach dem Maß der<br />
übrigen ein; der Glaube der Kirche dagegen gehe vorüber und finde ihn. An der<br />
entscheidenden Stelle heißt es dann unter dem Hinweis auf den <strong>Samariter</strong> Vers 33: „So<br />
geht der Glaube der Kirche an allen vorüber und richtet sich (nur) auf den, der allein an<br />
jener (scil. der Kirche) nicht vorübergehen konnte 138 ), der (sie) auf sein<br />
135) S. o. S. 74ff.<br />
136) MPL 184, 45f.<br />
137) Vulgata: Paululum cum pertransissem eos, inveni, quem diligit anima mea.<br />
138) Pertingens ad illum, qui solus illam pertransire non poterat.
84<br />
Lasttier legt, und er ist selbst zum Lasttier gemacht worden.“ 139 ) Offensichtlich haben wir<br />
hier eine bewußte Kombination der neuen christologischen Auslegung vor uns: Einmal<br />
wird das Vorübergehen auf die Kirche bezogen, das andere Mal auf Christus selbst. Die<br />
Kirche geht an dem Einen nicht vorüber, der an ihr nicht vorübergeht, nämlich Christus.<br />
So bestätigt sich hier noch einmal, was über die Exegese Binders gesagt wurde: Die<br />
Identifikation Christi mit dem Verwundeten basiert auf der traditionellen christologischen<br />
Auslegung 140 ).<br />
Zusammenfassung<br />
Betrachten wir die Auslegung der Scholastik noch einmal insgesamt, so haben die<br />
ethischen Impulse den christologischen gegenüber doch nicht in dem Maße<br />
abgenommen, wie man das zunächst vermuten könnte 141 ). Selbst in dieser Epoche, in der<br />
sich die Ausleger noch weiter von ihrer eigentlichen Aufgabe einer Textauslegung<br />
entfernt haben, indem ihre Auslegungen nicht nur stark homiletischer Art sind, sondern<br />
zum Teil auch einfach der Illustration dogmatischer Gedankengänge dienen, selbst in<br />
dieser Epoche ist das Empfinden für den ethischen Charakter unseres Textes nicht völlig<br />
verschwunden.<br />
Indes, alle Momente in Rechnung gestellt, bleibt das Bild dieser Auslegungsperiode<br />
unausgeglichen. Das ist nicht zuletzt deshalb so, weil hinsichtlich der aus der vorigen<br />
Epoche übernommenen Züge neben einer Reihe von Verflachungen und<br />
Banalisierungen 142 ) auch zahlreiche Weiterführungen 143 ) stehen, die auf das spätere<br />
Bemühen um die Herausstellung des christlichen Charakters unseres Textes entscheidend<br />
eingewirkt haben 144 ). So kommt der scholastischen Auslegung unseres Textes nicht nur<br />
Bedeutung zu, weil sie die Auslegung der Kirchenväter tradiert hat, sondern auch, indem<br />
sie durch ihre eigenen Beiträge die weitere Auslegungsgeschichte nicht unerheblich<br />
beeinflußt hat.<br />
139) MPL 184, 45.<br />
140) S. o. S. 7 und 10.<br />
141) S. vor allem o. S. 68.<br />
142) S. z. B. o. S. 63, Zeile 20ff., S. 64, Zeile 32ff., S. 65, Zeile 5ff., S. 75, Zeile 34ff., S. 78, Zeile<br />
16ff. u. a.<br />
143) S. o. S. 63ff.<br />
144) S. u. vor allem Kap. 4 und 5.
Kapitel 4<br />
DIE AUSLEGUNG IM ZEITALTER<br />
DER REFORMATION<br />
UND GEGENREFORMATION<br />
A Luther<br />
I. Die Hauptmotive in den Predigten<br />
Gerhard Ebeling bezeichnet unsere Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> als einen der<br />
vier Texte, bei denen Luther auch nach 1529 an einer „allegorischen“ Auslegung<br />
festgehalten habe 1 ). Dieses Urteil gilt es im folgenden im Auge zu behalten.<br />
Was die Quellen anbetrifft, so geht man besser nicht von Luthers Kommentaren und<br />
Traktaten aus, in denen sich nur Einzelbemerkungen zu Lk 10, 25–37 finden 2 ), sondern<br />
von den Predigten, denen unsere Erzählung als Text zugrunde liegt. Aus ihnen dürfte am<br />
ehesten ein umfassendes Bild seines Verständnisses hinsichtlich von Lk 10, 25ff. zu<br />
ermitteln sein 3 ). Dabei behandeln wir diese Predigten der zeitlichen Reihenfolge nach.<br />
1. Die Predigt von 1523 4 ) hat noch einen relativ traditionellen<br />
1) Evangelische Evangelienauslegung, Neudruck 1962, S. 72, S. 170 und S. 210.<br />
2) Die bekannteste Stelle dieser Art befindet sich im Römerbrief-Kommentar zu Kap. 4, 7(s. u. S. 94).<br />
3) Ein Lukas-Kommentar Luthers ist nicht vorhanden.—G. Ebeling, Evangelische<br />
Evangelienauslegung, Neudruck 1962, und W. v. Loewenich, Luther als Ausleger der Synoptiker,<br />
1954, benuzten die Predigten Luthers zu unserem Text zwar in reichem Maße, beachten u. E. aber<br />
zu wenig den Rahmen, in dem etwaige christologische Ausführungen dort stehen.<br />
4) WA 11, 169ff., nach Rörer. Zum Ausgangspunkt auch für die weiteren Predigten wurden nach<br />
Möglichkeit jeweils die Rörerschen Nachschriften gemacht, da ihnen in der Regel die größte<br />
Zuverlässigkeit eignet, jedoch wurden auch die übrigen Nachschriften und Bearbeitungen<br />
beachtet, auch, wo das nicht besonders vermerkt ist. Zur Beurteilung der verschiedenen<br />
Nachschriften und Bearbeitungen s. WA 21, IXff.; WA 22, XIff. und XXXIVff.; WA 52, VII–IX,<br />
ferner W. v. Loewenich, Luther als Ausleger der Synoptiker, 1954, S. 12.
86<br />
Charakter; sie zeigt zunächst die allgemeine Verachtung der Gebote durch die<br />
Menschheit auf und konfrontiert dann damit Christus als den Helfer zur Erfüllung der<br />
Gebote, indem die wichtigsten Einzelwendungen der Erzählung in der bisher üblichen<br />
Weise christologisch ausgelegt werden. Jedoch fällt schon hier verschiedenes auf: Erstens<br />
wird nicht nur von der Schuld des Schriftkundigen (Vers 25–29) geredet, sondern von der<br />
Schuldverfallenheit der Menschheit überhaupt5); zweitens beruhen die beiden skizzierten<br />
Gedankengänge, wie bei den meisten dieser Predigten, deutlich auf dem Schema „Gesetz<br />
und Evangelium“ 6 ). Drittens wird die Schuld des Schriftkundigen zu Vers 29<br />
dahingehend präzisiert, daß er nur „selbstgewählte Werke“ 7 ) tun wolle.<br />
2a) Anders schon steht es in der Vormittagspredigt von 1526 8 ); denn hier zeigt sich<br />
ein besonders Interesse Luthers, den evangelischen Charakter unseres Textes<br />
herauszustellen. Diese Predigt setzt, wie in der mittelalterlichen Predigttradition, mit Vers<br />
23 ein. Sie läuft dann zunächst auch auf den Gedanken der menschlichen Unfähigkeit zu<br />
rechtem Tun zu: „Wer aber lehrt das Tun?“, so fragt Luther gleich zu Vers 25, daraufhin<br />
aber heißt es: „Das ist die große Lektion, daran wir zu studieren haben das ganze Leben<br />
hindurch, nichts wird (weniger) durch das häufige Hören (scil. der Predigt) bewirkt, als<br />
daß wir glauben sollen, wir täten genug; indes, wenn einer dächte: ,Oft höre ich, wann tue<br />
ich’—wenn uns dieser Gedanke (scil. bei den Predigten) käme, so würden wir sehen, wie<br />
wir der Barmherzigkeit Gottes bedürfen.“ 9 ) Hier wird also klar, wie trotz des Gedankens<br />
der Unfähigkeit des Menschen zu seligmachendem Tun die ethische Fragestellung<br />
keineswegs aufgelöst ist. Später heißt es dann: „Christus geht einher in reiner Liebe 10 ),<br />
hilft allen mit<br />
5) Vgl. z. B. aaO S. 170.<br />
6) AaO.<br />
7) Electicia opera, aaO.<br />
8) WA 20, 482ff.<br />
9) AaO S. 484.<br />
10) Mera charitate.
87<br />
reiner Hilfe 11 ) . . . . Wenn wir seine Gaben zu sehen vermöchten, könnten wir dadurch<br />
angelockt werden zur Liebe. Aber dies alles ist verborgen, und er gibt sich nur in das<br />
Wort.“ Luther siehr hier also wie 1523 das Werk Christi als Hilfe für das Liebeshandeln<br />
des Glaubenden. Zugleich verweist er auf das Hören des Wortes als die Möglichkeit, mit<br />
dem Werk Christi konfrontiert zu werden und dadurch zum Handeln aus Glauben zu<br />
kommen. Entscheidend ist, daß, auch wenn hier eine christologische Auslegung noch im<br />
Hintergrund stehen mag, an keiner Stelle mehr Christus mit dem <strong>Samariter</strong> identifiziert<br />
wird. Man darf nicht einwenden, Luther beschränke sich in dieser Vormittagspredigt auf<br />
die Auslegung unserer Erzählung nach dem Gesetz, um dann in der Nachmittagspredigt<br />
das Evangelium folgen zu lassen,—in der Nachmittagspredigt 1526 12 ) vom gleichen Tage<br />
liegt ja ein christologisches Verständnis vor—. In Wirklichkeit nämlich enthält jede der<br />
beiden Predigten sowohl Gesetz als auch Evangelium. Wenn sich also nach Luthers<br />
eigenem Willen beide auch ergänzen sollen, so ist jede von ihnen doch in sich<br />
geschlossen. Somit muß es als bedeutsam angesehen werde, daß Luther den<br />
evangelischen Charakter der Perikope auch herausstellen kann, ohne ausdrücklich auf die<br />
herkömmliche christologische Auslegung zurückzugreifen.<br />
2b) In der Nachmittagspredigt von 1526 13 ) schließt Luther an seine Ausführungen zu<br />
Vers 25–29 im Sinne des später sogenannten usus elenchticus legis eine ausführliche<br />
christologische Auslegung an. Dabei ist interessant, daß die Predigt ihr Gepräge ganz und<br />
gar von dem oben schon erwähnten Kampf gegen die selbstgewählten Werke erhält. So<br />
heißt es gleich zu Anfang: Nächster „ist aber der, dem ich Gutes tun kann, jedoch in<br />
Bezug auf jene (Werke), die der Herr gibt, nicht in Bezug auf die, welche du an dich reißt<br />
. . .“ 14 ). Später wird deutlich, daß damit speziell die auf das römisch Kirchenwesen<br />
gerichteten Werke wie „Kappen und Orden“ 15 ) gemeint sind.<br />
3. 1528 fehlt ein ausdrücklicher Bezug auf das christologische Verständnis nicht nur<br />
in der Vormittags-, sondern auch in der<br />
11) Merum auxilium,—aaO s. 485/6.<br />
12) S. u. unter 2b.<br />
13) WA 20, 486ff.<br />
14) Non quae rapis—aaO S. 487.<br />
15) Cappas et ordines—aaO S. 488.
88<br />
Nachmittagspredigt. Das ist um so erstaunlicher, als sich beide Predigten mit dem zu<br />
Vers 35 durch die Scholastik präzisierten Problem der überpflichtigen Werke 16 )<br />
auseinandersetzen, also gegen etwas angehen, das erst im Zusammenhang der<br />
christologischen Auslegung zur Geltung gekommen ist.<br />
a) Die Vormittagspredigt 17 ) ist ganz mit der Darstellung von These und Gegenthese<br />
beschäftigt. So erklärt Luther eben wegen der häufig zu unserem Text angezogenen<br />
Lehre von den überpflichtigen Werken gleich zu Anfang, dies Evangelium sei „der<br />
gemarterten und geplagten Evangeliorum eines“ 18 ). Er kennzeichnet hier aber nicht nur<br />
den Schriftgelehrten als einen, der es besser machen will und darum die schlichte<br />
Forderung Gottes übergeht 19 ), sondern kommt im Hauptteil sogar auf die Frage: „Was<br />
also sind überpflichtige Werke? Sprich: Das weiß ich von mir aus nicht. Ich höre Christus<br />
da nur in dunklen Worten reden. . . . Aber hier ist ein klarer Text 20 ). Wenn ich das Leben<br />
haben will, darf ich nicht auf das Übermaß schauen.“ Positiv erklärt Luther dann, indem<br />
er auf scholastisches Gut zurückgreift 21 ), die überpflichtigen Werke beständen darin, daß<br />
der Prediger immer weiter forschen und verkündigen solle, und so kann Luther<br />
schließlich sagen: „Jhe mher er lieset, prediget, jhe glerter er wird.“ 22 )<br />
b) In der Nachmittagspredigt von 1528 23 ) ist der Angelpunkt des ersten Teils der<br />
Satz: „Last uns aber nicht so uber faren, nicht mit der Ubermass uber die engel faren, sed<br />
fateamur nos non diligere ex toto corde, anima etc.“ 24 )<br />
Das Thema der gesamten Predigt wird zu Beginn des zweiten Teils formuliert:<br />
„Christus, Weg zum Leben, damit du Gott, zweitens den Nächsten liebst“ 25 ). Später heißt<br />
es: „Christus hat für uns das Übermaß getan, unter den krieche“ 26 ). Eine expressis verbis<br />
ent-<br />
16) Opera supererogatoria, vgl. dazu schon o. S. 65.<br />
17) WA 27, 317ff.<br />
18) AaO S. 317.<br />
19) AaO s. 318.<br />
20) Clarus textus—aaO S. 322.<br />
21) S. o. S. 65.<br />
22) AaO S. 323.<br />
23) WA 27, 323ff.<br />
24) AaO S. 326.<br />
25) AaO.<br />
26) AaO S. 328.
89<br />
wickelte christologische Auslegung aber fehlt; sie liegt, wie von Loewenich schon zu<br />
anderen ähnlichen Stellen betont hat 27 ), eigentlich auch nicht im Horizont dieser Predigt,<br />
da Luther gerade das Paradoxon hervorbringt, daß ausgerechnet ein <strong>Samariter</strong>, ein<br />
Untüchtiger 28 ), hilft. Zum Schluß erklärt Luther: „Haec dicta secundum historiam,<br />
Allegoriam las ich itzt sthen“ 29 ). Luther bejaht also noch die Allegorie zu unserem Text,<br />
behandelt sie aber nicht mehr.<br />
Die Vormittagspredigt von 1529 30 ) bringt ebenfalls keinerlei christologische<br />
Auslegung, obwohl auch in ihr beides, Gesetz und Evangelium, vorhanden ist. Das<br />
Besondere an dieser Predigt liegt darin, daß Luther die Forderung der Nächstenliebe<br />
wiederum in origineller Weise begründet. So spricht er von dem „Wort“ als Hilfe:<br />
„Liebst du das Wort, so liebst du auch Gott und den Nächsten, denn auch der Nächste ist<br />
in dies Wort eingeschossen“ 31 ). Hier wird noch deutlicher als in der Vormittagspredigt<br />
von 1526, daß Luther, wenn er in seinen Auslegungen unseres Textes vom „Wort“ redet,<br />
dies keineswegs aus allgemeinen Erwägungen heraus tut, sondern dabei einen besonderen<br />
auslegerischen Grund hat. Er wertet dabei nämlich aus, daß fast alle seine Predigten<br />
bereits mit Vers 23 beginnen. Zwar legt er diesen Vers bisweilen vorwiegend negativ aus,<br />
indem er über die Trägheit der Menschen gegenüber dem Worte Gottes klagt. Hier aber<br />
und auch sonst öfter betont er zu Vers 23 die Herrlichkeit des Wortes, um dann später auf<br />
eben dieses als Hilfe zur Nächstenliebe zurückzugreifen. Während die Auslegung von<br />
Vers 23 im Mittelalter bruchlos in die christologische Auslegung überging, tut sich für<br />
Luther also aus dem Kontext eine völlig neue Möglichkeit der „evangelischen“<br />
Begründung des Geforderten auf, die keineswegs in dem von uns definierten Sinne<br />
christologisch genannt werden kann.<br />
4. In der Nachmittagspredigt von 1529 32 ) nimmt die christologische Auslegung<br />
demgegenüber einen recht breiten Raum ein: „Christus will hiermit wie in einer heimlich<br />
verdeckten Rede sich<br />
27) Z. B. zu WA 29, 532 u. WA 37, 137, W. v. Loewenich, Luther als Ausleger der Synoptiker, 1954,<br />
S. 46 und 184.<br />
28) Non . . . probus—aaO S. 328.<br />
29) AaO.<br />
30) WA 29, 521ff.<br />
31) AaO.<br />
32) WA 29, 531ff.
90<br />
selbst anzeigen . . .“ 33 ). Es folgt dann eine ausführliche christologische Auslegung der<br />
verschiedenen Wendungen unseres Textes. Allerdings ist auch hier der christologische<br />
Gedanke dem ethischen klar eingeordnet. So heißt es gegen Ende der Predigt: „Christus<br />
aber hilft dazu, daß wir’s auch tun können, indem er den Heiligen Geist und seine Gnade<br />
gibt.“ 34 )<br />
Wichtig erscheint uns, gerade im Zusammenhang mit dem relativ großen Ausmaß<br />
christologischer Auslegung, daß Luther die Behandlung von Lk 10, 30ff. wiederum<br />
polemisch wendet. Nach einem erklärenden Abschnitt heißt es nämlich: „Aber so sind die<br />
Werkheiligen alle, gehen mit falscher Geisterei um und sind doch die verstocktesten und<br />
unbarmherzigsten Leute.“ Das Fazit, das er daraus zieht, lautet: „Rechtschaffene Heilige<br />
lassen ihre Nächsten nicht im Stich . . . . Falsche Heilige lassen Gott und den Nächsten<br />
im Stich und suchen sich einen anderen Weg zum Himmel“ 35 ). Später, nach der<br />
Schilderung rechter Nächstenliebe, sagt er, unter Bezug auf Priester und Levit: „Sie, die<br />
andere lehren und wissen, was man tun soll, sind die schönen Heiligen, haben lange<br />
Röcke, aber kein Herz, Kraft, Gemüt, Finger noch Zunge, die dem Nächsten dienten.<br />
Haben wir es als Mönche nicht auch so gemacht? Und heute noch halten sie ihre Kanones<br />
. . .“ 36 ). <strong>Der</strong> Schluß, der der christologischen Auslegung folgt, geht dann noch auf die<br />
überpflichtigen Werke ein 37 ).<br />
5a. Die Vormittagspredigt von 1531 38 ) enthält wieder keine christologischen<br />
Ausführungen. Statt dessen findet sich hier eine theologische Begründung des<br />
geforderten Handelns 39 ), indem mit Vers 27 auf den Offenbarungscharakter des<br />
alttestamentlichen Gesetzes hingewiesen wird: „Die Natur . . . erdichtet 40 ) sich die<br />
Frömmigkeit“ 41 ).<br />
33) AaO S. 535; Übersetzung nach E. Mülhaupt, D. Martin Luthers Evangelien-Auslegung, 3. Teil,<br />
1953, S. 149.<br />
34) WA 29, 537; nach Mülhaupt, aaO S. 150.<br />
35) WA 29, 533; nach Mülhaupt, aaO S. 147.<br />
36) WA 29, 534/5, nach Mülhaupt, aaO S. 149.<br />
37) WA 29, 538.<br />
38) WA 34 II, 165ff.<br />
39) „Theologisch“ im engeren Sinne des Wortes.<br />
40) Fingit.<br />
41) Devotionem.
91<br />
Daher ist also das Gesetz gegeben, daß man weiß, was man machen soll und es<br />
anerkennt, zweitens, was man nicht machen soll 42 ).<br />
5b. Auch die Nachmittagspredigt von 1531 43 ) bringt keinerlei christologische<br />
Gedanken. Allerdings setzt sich Luther von ihnen auch nicht ausdrücklich ab, da er<br />
unsere Erzählung sowohl eine „historia“ als auch eine „allegoria“ nennen kann 44 ).<br />
<strong>Der</strong> christliche Charakter unseres Textes wird von ihm in eigentümlicher Weise<br />
herausgestellt. Er bezieht nämlich den Wechsel von der einen Frage Vers 29: „Wer ist<br />
mein Nächster?“ zu der anderen Vers 36: „Wem bin ich Nächster?“ auf den Unterschied<br />
von Gesetz und Evangelium: „Das Gesezt nennt den den Nächsten, der Mangel hat. Im<br />
Evangelium aber heißt’s, wer Liebe hat und gibt“ 45 ).<br />
In dieser Predigt wird zudem wieder sehr stark auf den Glauben als Hilfe zum<br />
Handeln verwiesen. So heißt es ganz am Ende: „Es ist Zeit, daß wir den Glauben üben<br />
durch Werke und das Gesetz, welches enthält, was wir tun sollen“ 46 ). Es liegt nahe, daß<br />
Luther dazu ebenfalls von dem Abschnitt Vers 23f. her kommt, den man ja durchaus auch<br />
als Lobpreis des Glaubens verstehen kann.<br />
6a. In der Predigt von 1532 47 ) klingt nur einmal gegen Ende Christologisches an, und<br />
auch dies nicht mit Sicherheit: „Daher wird man nicht wie die Priester und Leviten heilig,<br />
sondern es möge der <strong>Samariter</strong> kommen 48 ), der nichts in Bezug auf die Werke weiß . . . ,<br />
sondern ein gutes Vertrauen zu Gott hat.“ Daß Luther die eigentliche Begründung des<br />
Tuns jedoch nicht von diesem Motiv her gewinnt, zeigt sich, wenn er anschließend<br />
erklärt, so wie der <strong>Samariter</strong> könne man nur handeln, wenn man „selig oculos et aures“<br />
habe 49 ).<br />
6. In der Predigt von 1533 50 ) erklärt Luther ausdrücklich, es gehe hier um die „früchte<br />
des Evangelien“ oder „fructus verbi“ 51 ). Dazu<br />
42) AaO S. 172.<br />
43) WA 34, II, 175ff.<br />
44) AaO S. 177.<br />
45) AaO, nach Mülhaupt, aaO S. 176.<br />
46) AaO S. 184.<br />
47) WA 36, 304ff.<br />
48) Veniat <strong>Samaritan</strong>us—aaO S. 308.<br />
49) AaO S. 309; vgl. Lk 10, 23.<br />
50) WA 37, 136ff.<br />
51) AaO S. 137, vgl. auch S. 139.
92<br />
ist zu beachten, daß er in derselben Predigt nach Veit Dietrichs Sommerpostille 52 ) zu<br />
Vers 23 ausgeführt hat: „Das erste stück ist, das der Herr Christus hie sein Wort, das<br />
heylig Euangelion, seer hoch preyset“ 53 ). Demgegenüber ist es nichts als nur noch eine<br />
zusätzliche Erläuterung, wenn Luther 54 ) im ersten Teil der Predigt im Zusammenhang mit<br />
der Erwähnung der Früchte einmal auch die christologische Auslegung andeutet: „Das ist<br />
das recht gemeld, In quo pingit, quid Christus, quam nos amet . . . .“ 55 ).<br />
7. Die letzten drei uns erhaltenen Predigten von 1534, 1536 und 1537 56 ) bringen<br />
prinzipiell nichts Neues mehr. Nur nimmt die christologische Auslegung wieder breiteren<br />
Raum ein, vor allem in den Predigten von 1536 und 1537.<br />
Dabei ist bedeutsam, daß alle drei Predigten zu denen gehören, die man als besonders<br />
stark polemisch bezeichnen muß. So heißt es z. B. in der Predigt von 1534, der<br />
Schriftgelehrte sei hochmütig, wie „die Päpste lehren, man müsse Gott lieben, aber sie<br />
sind illusores“ 57 ). Auch wir selbst, so führt Luther dann weiter aus, wählen uns immer<br />
wieder „andere fanatische Werke“ 58 ) aus. „Indes, was mag Gott denken, wenn wir<br />
hinsichtlich solch höchst nebensächlicher Dinge 59 ) so eifrig sind. Wir werden Munch,<br />
laufen zur walffart und lassen unseren nachbar not leiden“. Am Ende der Predigt heißt es<br />
u. a. „Was zum Teufel hab ich zu S. Jacob zu schaffen? sol ich meinen nechsten zu Rom<br />
suchen? Es sind nechste genug bey und umb mich als weib, kinder und andere“ 60 ).<br />
Die letzten beiden Predigten machen den Kampf gegen die überpflichtigen Werke im<br />
Sinne einer doppelgleisigen Ethik von vornherein zum Thema des Ganzen.<br />
Zur Predigt von 1536 sei noch erwähnt, daß Luther sich hier zugleich ausdrücklich<br />
gegen den Vorwurf wehrt, er „verbiete gute<br />
52) WA 52, 455–463; der oben S. 91 bei Anm. 9 angeführte Text ist von Rörer überliefert.<br />
53) AaO S. 455.<br />
54) Wieder nach Rörer.<br />
55) WA 37, 137.<br />
56) WA 37, 526ff.; 41, 663ff.; 45, 129ff.<br />
57) WA 37, 528.<br />
58) Opera phanatica.<br />
59) Circa res vilissimas—aaO 529.<br />
60) AaO S. 530.
93<br />
Werke überhaupt“ 61 ). Er erklärt: „Also kämpfen wir nicht, ob Werke nötig sind, sondern<br />
was für Werke nötig sind.“ 62 )<br />
II. Die Predigten im Vergleich mit den<br />
Einzelbemerkungen<br />
Es gilt nun, die bisher gefundenen Hauptmotive zusammenzufassen und mit den<br />
Einzelbemerkungen zu konfrontieren.<br />
1a. Zunächst ist es von größter Wichtigkeit, daß Luthers Auslegung nahezu<br />
durchgehend polemischen Charakter gegenüber der „römischen“ Lehre von den Werken<br />
trägt. Wir sahen oben schon, wie der „römische“ Gegner an verschiedenen Stellen<br />
ausdrücklich genannt wird 63 ).<br />
b) Absolut sicher steht Polemik auch hinter den fast überall nachzuweisenden<br />
Ausführungen über die totale Unfähigkeit des Menschen zur Nächstenliebe 64 ). Dieser<br />
Gedanke findet sich besonders markant in einer Bemerkung in der Galatervorlesung von<br />
1531 zu Gal. 3, 12 65 ). Hier wird auch eine auslegerische Begründung gegeben: „Jene<br />
Bemerkung (scil. Gal. 3, 12b) verstehe ich als ein ,als ob’ 66 ) oder in ironischem Sinne 67 ) .<br />
. . . Ebenso erkläre ich mir auch das Wort: Tue das, so wirst du leben (Lk 10, 28) 68 )“.<br />
c) Ferner hat sich gezeigt, daß die Ausführungen Luthers zu den überpflichtigen<br />
Werken einen speziellen Punkt der „römischen“ Werklehre herausgreifen, der sich in der<br />
Scholastik an die Auslegung von Lk 10, 35 angelagert hatte 69 ) und die „römische“<br />
Höherbewertung geistlicher Werke besonders deutlich werden läßt 70 ). Wie es sich bei<br />
dieser Polemik keineswegs um einzelne, speziell zu Lk 10, 35<br />
61) WA 41, 663.<br />
62) AaO.<br />
63) Vgl. oben die Predigten von 1523 (nachmittags), 1529 (nachmittags) und 1534, ferner bei der<br />
Auslegung von Vers 23 die Predigten von 1531 (vormittags) und 1532.<br />
64) Vgl. besonders oben die Predigt von 1523, ferner die Predigten von 1526 und die von 1534.<br />
65) WA 40 I, 425.<br />
66) Quasi.<br />
67) Ironice.<br />
68) Vgl. ähnlich im Druck der Vorlesung (1535) aaO.<br />
69) S. o. S. 65.<br />
70) Vgl. die obengenannten Predigten von 1528 (vor- und nachmittags), 1536 und 1537.
94<br />
angemerkte Gedanken handelt 71 ), wird nicht nur in den Predigten deutlich, die von der<br />
Lehre der überpflichtigen Werke ausgehen 72 ), sondern auch daran, daß der Gedanke<br />
häufig schon zu Vers 25–29 in Form der Erwähnung der „selbstgewählten Werke“<br />
erscheint 73 ).<br />
d) Speziell in Einzelbemerkungen findet sich noch eine andere Form der Polemik<br />
gegen die Werklehre. Luther benutzt hier bestimmte Aussagen unseres Textes, um die<br />
Lehre vom simul iustus et peccator zu veranschaulichen. So sagt er z. B. in der<br />
Römerbrief-Vorlesung zu Kap. 4, 7: „Es ist gleich wie mit einem Kranken, der dem Arzt,<br />
der ihm aufs gewisseste die Gesundheit verspricht, Glauben schenkt und in der Hoffnung<br />
auf die versprochene Genesung seinem Gebot gehorcht. Ist dieser Kranke nun etwa<br />
gesund? Nein, er ist zugleich krank und gesund, krank in Wirklichkeit, gesund aber kraft<br />
der gewissen Zusage des Arztes, dem er glaubt. In gleicher Weise hat auch unser<br />
<strong>Samariter</strong> Christus den halbtoten Menschen, seinen Kranken, zur Pflege in die Herberge<br />
genommen“ 74 ).<br />
Luther geht bei solchen Deutungen in der Regel von der Wendung „halbtot“ aus und<br />
nimmt somit wiederum mittelalterliches Gut auf 75 ). In den Resolutiones findet sich aber<br />
auch noch ein anderer Grund für solche Auslegung. Hier wird von dem Auftrag des<br />
<strong>Samariter</strong>s an den Wirt her (Vers 35) darauf geschlossen, daß die Sünde im Christenleben<br />
bis zum Ende vorhanden ist: „ . . . aber heilte er ihn denn bald? Nein, sondern er befahl<br />
ihn der Sorge des Wirts, bis er wiederkäme“ 76 ). Hier sind deutlich augustinische<br />
Gedanken aufgenommen 77 ).<br />
71) So könnte es nach G. Ebeling, Evangelische Evangelienauslegung, Neudruck 1962, S. 77 scheinen.<br />
72) Vgl. vor allem die beiden letzten Predigten.<br />
73) S. o. Die Predigten von 1532 (vor- und nachmittags), ferner die Predigt von 1531.<br />
74) J. Ficker, Luthers Vorlesung über den Römerbrief, Bd. II, 1908, S. 108; Übersetzung nach E.<br />
Ellwein, Martin Luther, Vorlesung über den Römerbrief, 1957, S. 153.<br />
Ähnliche Stellen finden sich Dictata super Ps. XL, 3, WA 3, 231; Römerbrief-Vorlesung zu Kap. 3, 21<br />
und 7, 17, Ficker, aaO S. 94 und 179f.; Galaterbrief-Kommentar von 1519 zu Kap. 2, 17 und 5, 17, WA 2,<br />
495 und 586; Resolutiones Lutheranae, WA 2, 413; Rationis Latomianae, WA 8, 109; Wider Hans Worst,<br />
WA 51, 520f.<br />
75) S. o. S. 66.<br />
76) WA 2, 413.<br />
77) S. o. S. 36 und 39.
95<br />
2. Es ist von Wichtigkeit, daß Luther in der ausführlichen Behandlung des Textes,<br />
wie sie in den Predigten vorliegt, den ethischen Charakter unseres Textes herausarbeitet,<br />
obwohl er den Gedanken der Schuldverfallenheit des Menschen stark betont.<br />
Demgegenüber ist es nicht von Bedeutung, wenn die meisten Einzelbemerkungen<br />
außerhalb der Predigten einen solchen Charakter nicht haben, da durch sie nur<br />
vorgegebene, anderswoher entwickelte Gedankengänge illustriert werden und sie dadurch<br />
von einer Auslegung im eigentlichen Sinne noch weiter entfernt sind als die Predigten 78 ).<br />
Immerhin zeigt sich sogar bei den Einzelbemerkungen bisweilen die oben schon einmal<br />
angemerkte ausdrückliche Absicherung gegen ein libertinistisches Mißverständnis 79 ). So<br />
heißt es z. B. zu R. 14, 23: „Doch darf man ihn (scil. den Sünder) nicht noch weiter<br />
aufreizen, daß er sich noch ärger versündigt . . . . Denn Gott hat ihn aufgenommen, um<br />
ihn zu vollenden und zu heilen, so wie der <strong>Samariter</strong> den Menschen, der halbtot liegen<br />
blieb. Man darf ihn also nicht dazu aufreizen, solcher Schwachheit des Glaubens gemäß<br />
zu handeln, sondern muß ihn vielmehr unterstützen, daß er in der Erkenntnis unseres<br />
Herrn Jesu Christi wachse“ 80 ). Das ethische Motiv ist also in Luthers Auslegung sehr<br />
stark ausgeprägt.<br />
3a. Was die christologische Auslegung betrifft, so ist zuzugeben, daß Luther sie in der<br />
Tat nicht grundsätzlich und völlig überwunden hat. Indes ist darauf zu achten, wo und<br />
wie sie sich bemerkbar macht.<br />
Zunächst einmal gilt es zu sehen, daß wir, wie oben bereits angemerkt, keinen<br />
Kommentar Luthers haben, in dem unser Text selbst Gegenstand der Behandlung ist.<br />
Einerseits werden nur einzelne Verse zur Illustration herangezogen, andererseits besitzen<br />
wir nur Predigten, die ja nicht die Schärfe und Präzision der Kommentare haben 81 ).<br />
Zudem bleibt es im höchsten Maße beachtlich, daß die zitierten Auslegungen Luthers fast<br />
alle durch die Auseinandersetzung mit der Theologie seiner Zeit geprägt sind. Zwar kann<br />
man nicht sagen, daß solche Polemik, wo immer sie auftritt, mit der christologischen<br />
Auslegung verbunden ist. Es ist aber völlig deutlich, daß immer da, wo Luther Lk 10, 25–<br />
37 christologisch auslegt, diese Aus-<br />
78) Zu letzterem s. u. Zeile 25ff.<br />
79) S. o. S. 92f., Predigt von 1536.<br />
80) Ficker, aaO S. 332, Übersetzung nach Ellwein, aaO S. 449.<br />
81) Vgl. W. v. Loewenich, Luther als Ausleger der Synoptiker, 1954, S. 274.
96<br />
legung mit Sicherheit im Zusammenhang von Polemik gegen Rom steht. Man kann sogar<br />
feststellen, daß da, wo die christologische Auslegung breiter wird, die Polemik einen<br />
besonders großen Raum einnimmt.<br />
Aus einem Vergleich mit den früheren Auslegungsepochen ergibt sich weiter, daß<br />
Luther gerade an den Punkten, an denen er die bisherige allgemein verbreitete Auslegung<br />
angreift, keineswegs eigene Gedanken bringt, sondern auch hier bereits Material aus der<br />
Tradition aufnimmt und weiter ausprägt 82 ). Vor allem aber ist wichtig, daß Luther die<br />
traditionelle Auslegung unseres Textes grundsätzlich aufzunehmen vermag, weil sich der<br />
Duktus dieser Auslegung als solcher, ganz abgesehen von den augustinischen Gedanken,<br />
für die Untermauerung seiner These vom sola gratia bestens empfiehlt: Das Gesetz<br />
vermag nicht zu helfen, nur Christus.<br />
Luther benutzt also die bisherige traditionelle Auslegung unserer Erzählung, um mit<br />
ihr eine der seiner Meinung nach kardinalen Irrlehren Roms, die „römische“ Werklehre,<br />
zu bekämpfen, bzw. sich selbst an diesem Punkt gegen „römische“ Angriffe gegen seine<br />
Theologie zu verteidigen. Wir haben hier in gewisser Weise ein Gegenstück zu den<br />
Anfängen der Auslegung der Kirchenväter. Auch in ihr kam es keineswegs von selbst zu<br />
einem christologischen Verständnis. Vielmehr wurde dies Verständnis von<br />
Andersglaubenden her übernommen, um sie auf diese Weise leichter bekämpfen zu<br />
können.<br />
So hat Luther die Übernahme der traditionellen Auslegung mehr methodischtaktische<br />
als auslegerische Gründe. Luther ist an diesem Punkt so sehr in dem Streit um<br />
die reformatorischen Grundwahrheiten engagiert, daß er zu einer bewußten und<br />
grundsätzlich kritischen Sichtung des Traditionsmaterials bei unserem Text nicht<br />
kommt 83 ). Er hatte aber für seine Zielsetzung eine solche kritische Sichtung auch gar<br />
nicht nötig, weil eben das Traditionsmaterial schon an sich für seine theologische<br />
Position sprach.<br />
3b. Gerade von dieser letzten Feststellung aus, daß Luther die traditionelle Auslegung<br />
unseres Textes in ihren Grundzügen höchst<br />
82) Vgl. noch zum Gedanken der Radikalität der Schuld S. 39l zum Schema Gesetz und Evangelium S.<br />
39; zur Polemik ungebrochener Nächstenliebe S. 71.<br />
83) Indirekt freilich geschieht allerdings eine kritische Sichtung, s. u. unter b.
97<br />
erwünscht sein mußte, ist es allerdings um so erstaunlicher, daß bei ihm das<br />
christologische Verständnis nun doch, obwohl er es grundsätzlich beibehält, in starkem<br />
Maße zurücktritt. So wird es in der Vormittagspredigt von 1526 überhaupt nicht erwähnt,<br />
ebenso in den Vormittagspredigten von 1528, 1529 und 1531. Nur noch spurenhaft taucht<br />
es in der Predigt von 1532, 1533 und der Nachmittagspredigt von 1531 auf.<br />
Vor allem aber ist in den letztgenannten Predigten wie auch in manchen mit breiteren<br />
christologischen Ausführungen 84 ) die Bedeutung des Christologischen für das<br />
Verständnis unserer Erzählung stark eingeschränkt. Hatte bei den Kirchenvätern und in<br />
der Scholastik die christologische Auslegung weitgehend die Funktion der Begründung<br />
des ethischen Motives, so gewinnt Luther seine Begründung vorwiegend und primär<br />
anderswoher. Er wertet, wie wir sahen, vor allen Dingen den Zusammenhang unseres<br />
Textes mit Vers 23 aus, indem er von da aus die Hilfe des Wortes bzw. des Glaubens für<br />
das Tun betont 85 ). Diese Ausführungen, die deutlich auf scholastischen Anregungen<br />
beruhen 86 ), ordnen sich bei Luther nicht mehr einfach in die christologische Auslegung<br />
ein, sondern beanspruchen jeweils einen derartig breiten Raum und sind dabei so wenig<br />
auf die christologische Auslegung bezogen, daß man letztere nur noch als zusätzliche,<br />
zweitrangige Begründung ansehen kann. So ist gegen Ebeling zu sagen, daß Luther im<br />
Rahmen seiner Möglichkeiten wie seiner Absichten das christologische Verständnis<br />
unserer Erzählung weitgehend abbaut und daß er das tut, obwohl er die Notwendigkeit,<br />
den christlichen Charakter unseres Textes herauszustellen, mit bisher noch nicht<br />
dagewesener Klarheit erkannt hat.<br />
B. Calvin<br />
Es ist zweckmäßig, im Fortgang der Arbeit auch die Auslegung Calvins gesondert zu<br />
betrachten und mit derjenigen Luthers zu konfrontieren.<br />
84) So z. B. in der Nachmittagspredigt von 1526.<br />
85) S. o. die Predigten von 1528 (nachmittags), 1531 (nachmittags), 1532 und 1533.<br />
86) S. o. S. 73.
98<br />
Calvin nimmt unsere Erzählung in seinem Evangelien-Kommentar 87 ) mit Mt 22, 34ff.<br />
und Mk 12, 28ff. zusammen und kann schon von daher nur Lk 10, 25ff. behandeln. Eine<br />
theologische Begründung des Geforderten von Vers 21ff. wie bei Luther fällt also weg.<br />
Verwandt ist Calvins Auslegung mit der Luthers darin, daß er Vers 25–29 im Blick<br />
auf die reformatorische Gnadenlehre zunächst als eine Schwierigkeit ansieht. Schon zu<br />
dem „Kompendium des Gesetzes“ in Vers 27 erklärt er, „daß Gott in den Geboten des<br />
Gesetzes nicht auf das schaue, was die Menschen vermögen 88 ), sondern auf das, was sie<br />
schuldig seien 89 ), um dann zu betonen: Nicht im Gesetz bestände die „Schwäche“ 90 ),<br />
sondern in uns. Doch ist zu beachten, daß es sich hier im Gegensatz zu Luther um eine<br />
Einzelbemerkung zu einem Vers handelt und nicht um einen Gedanken, der<br />
Maßgebliches für das Hauptmotiv der Erzählung austrägt. Calvin nimmt bei der<br />
Herausarbeitung des Hauptmotivs darauf keinen Bezug.<br />
Was das Hauptmotiv betrifft, so wird man sagen müssen, daß Calvin es schärfer<br />
erfaßt hat als Luther, da es ihm nicht nur um das, daß der Nächstenliebe geht, sondern um<br />
ihre Universalität. Indes dürfte Barth Calvin Unrecht tun, wenn er diesen auf den<br />
Gedanken allgemeiner, abstrakter Menschenliebe festzulegen versucht im Gegensatz zu<br />
einer sich aus der Begegnung mit dem anderen jeweils „jetzt und hier“ ergebenden<br />
Liebesforderung 91 ). Diese Alternative hat für Calvin und die meisten übrigen Auslegern<br />
nicht bestanden. <strong>Der</strong> Gedanke, daß sich aus der jeweiligen Situation ergebe, wem zu<br />
helfen sei, schließt den der Universalität der Nächstenliebe nicht aus, sondern ist in der<br />
Regel vielmehr dessen Komplement.<br />
Auffällig jedoch ist, daß Calvin bei der Begründung des ethischen Motivs weitgehend<br />
im Rahmen des ersten Artikels bleibt. Er erklärt z. B., alle Menschen ohne Ausnahme<br />
seien zu lieben, „weil die ganze Menschheit durch ein gewisses heiliges Band der<br />
Gemeinschaft 92 ) verbunden sei“.<br />
87) Comm. in harmoniam Evangelicam, CR 45, 608ff.<br />
88) Possint.<br />
89) Debeant—aaO S. 611f.<br />
90) Defectus—aaO S. 612.<br />
91) KD I, 2, 459.<br />
92) Quodam societatis vinculo—CR 45, 613.
99<br />
Es wäre besser, hier nicht gleich vom stoischen Einfluß auf Calvin zu sprechen, wie<br />
Barth es tut 93 ), sondern zunächst auf Origenes 94 ) bzw. Ambrosius hinzuweisen. Es geht<br />
demnach, jedenfalls bei unserem Text, nicht an, Luther einfach so hinzustellen, als sei er<br />
in der Auslegung noch zum großen Teil der Tradition verhaftet, während erst Calvin den<br />
endgültigen Schritt zur Lösung von ihr vollzogen hat 95 ). An dieser Stelle liegt der<br />
Unterschied zwischen beiden als Schriftauslegern, strenggenommen, nicht. Auch Calvin<br />
hat sich da der Überlieferung bis hin zu den Kirchenvätern bedient.—Wo der tatsächliche<br />
Unterschied liegt, läßt sich am besten sehen, wenn man auf die Art und Weise achtet, in<br />
der sich Calvin mit der christologischen Auslegung zu unserem Text auseinandersetzt. Er<br />
erklärt nach der Herausstellung der Universitalität der Nächstenliebe zunächst: „Die<br />
Allegorie, die hier die Patrone des freien Willens schmieden, ist mehr eitel 96 ) als einer<br />
Zurückweisung wert.“ Nachdem er dann die abzulehnende traditionelle Auslegung<br />
referiert hat, fährt er fort: „Ich bekenne, daß nichts dieser Dinge plausibel 97 ) ist. In der<br />
Tat muß man größere Ehrfurcht 98 ) vor der Schrift haben, als daß es erlaubt ist, ihren<br />
genauen Sinn 99 ) mit dieser Freiheit zu verändern. Es dürfte eigentlich jedem klar sein,<br />
daß diese Spekulation gegen die Meinung Christi 100 ) von neugierigen Leuten erdichtet 101 )<br />
sind.“ Hier haben wir in der Tat zum ersten Mal in der Auslegungsgeschichte eine<br />
ausdrückliche Ablehnung der christologischen Auslegung unserer Erzählung vor uns.<br />
Calvin kommt dazu offensichtlich aus grundsätzlichen Erwägungen hinsichtlich der<br />
allegorischen Auslegungsmethode 102 ). Dennoch wird eine aus dem Text selbst<br />
begründete detaillierte Ablehnung der christologischen Auslegung auch von ihm noch<br />
nicht gegeben.<br />
93) KD I, 2, 459.<br />
94) Origenes, Comm. in Cant., GCS Orig. 8, 70 im Zusammenhang mit dem oben S. 55<br />
wiedergegebenen Zitat: „Etenim natura omnes nobis invicem proximi sumus; vgl. ganz ähnlich<br />
Ambrosius in der Expositio, CChL 14, 240.<br />
95) So z. B. A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 1. Teil, 2. Aufl. 1910, S. 259ff.<br />
96) Magis futilis—CR 45, 614.<br />
97) Plausibile.<br />
98) Major reverentia.<br />
99) Germanum sensum.<br />
100) Praeter Christi mentem.<br />
101) Conflictos—aaO.<br />
102) Vgl. dazu auch CR 58, 223f.
100<br />
Zur rechten Beurteilung der schroffen Ablehnung der christologischen Methode durch<br />
Calvin muß auch auf die formale Verschiedenheit zwischen seinen Ausführungen und<br />
den Ausführungen Luthers hingewiesen werden. Bemerkungen Luthers zur Illustration<br />
dogmatischer Gedanken sowie Predigten steht auf der Seite Calvins ein Kommentar<br />
gegenüber, der seiner Zielsetzung und Anlage nach der modernen Schrifterklärung<br />
erheblich nähersteht als alles, was Luther zu unserem Text gesagt und geschrieben hat.<br />
So zeichnet sich auch in dem letzten hier gebrachten Zitat Calvins 103 ) eine historische<br />
Fragestellung ab, anders als bei Luther, bei dem derartiges zu unserem Text, vor allem in<br />
den Predigten, nicht zu beochten ist.<br />
Nicht unterschätzt werden darf ferner, daß die Polemik bei Calvin keineswegs mehr<br />
den Raum einnimmt, den sie bei Luther hatte. Gewiß polemisiert auch Calvin, wenn er zu<br />
Vers 25–29 das Scheitern am Gesetz herausstellt und bei Erwähnung der „allegoria“ auf<br />
die „Patrone des freien Willens“ verweist. Aber zu einer polemischen Darlegung und<br />
Verteidigung des eigenen Standpunktes kommt es bei ihm nicht mehr, offenbar deshalb<br />
nicht, weil er eine direkte Auseinandersetzung mit Rom anhand unseres Textes nicht<br />
mehr beabsichtigt. Das hat die Folge, daß Calvin für die eigentliche auslegerische Frage<br />
in unserem Sinne freier geworden ist, als es Luther noch sein konnte. Luther und Calvin<br />
repräsentieren daher in ihrem Verhältnis zur christologischen Auslegung nicht mehr und<br />
nicht weniger als zwei verschiedene Stadien innerhalb ein- und derselben Entwicklung.<br />
Allerdings muß auch gesehen werden, daß bei Calvin mit der Ablehnung der<br />
christologischen Auslegung weitgehend das Interesse an der Herausstellung des<br />
spezifisch christlich Charakter unseres Textes in den Hintergrund getreten ist. So<br />
verbindet sich bei ihm die grundsätzliche Ablehnung des christologischen Verständnisses<br />
in folgenreicher Weise mit einer Verarmung der Auslegung.<br />
103) S. o. S. 99, wenn nach der „Meinung Christi“ im Unterschied zu der der Ausleger und nach dem<br />
„genauen Sinn“ gefragt wird.
101<br />
C. Die reformatorische Auslegung neben und im Gefolge<br />
von Luther und Calvin, sowie die<br />
evangelische Auslegung in der Zeit der Gegenreformation<br />
I. Das christologische Hauptmotiv<br />
a) Nur zwei Werke bieten rein christologische Hauptmotive. Beide Male erscheint das<br />
Hauptmotiv noch dazu in einer besonderen Nuancierung.<br />
1. Zunächst muß die Postille Melanchthons genannt werden mit dem 1. und 2. und<br />
dem 3. und 7. Erklärungsfragmente zu unserem Text 104 ). Aus dem 2. Fragment geht<br />
hervor, daß Melanchthon im Gegensatz zu Luther Lk 10, 22ff. klar als Stütze für die<br />
christologische Auslegung versteht. Mitten in dem Exzerpt, nachdem die christologische<br />
Auslegung schon gebracht ist, gibt Melanchthon nämlich die Disposition folgendermaßen<br />
an: „Dies sind die hauptsächlichen Themen: 1. Über die Unkenntnis Gottes und die<br />
Offenbarung des Evangeliums . . . . 2. Lehre über das Gesetz. <strong>Der</strong> Schriftgelehrte versteht<br />
es nur legalistisch 105 ). 3. Lehre über den Verwundeten, wobei jener das Gesetz nicht tut . .<br />
.“. Die Verse 22–29 werden dann ganz der christologischen Auslegung untergeordnet 106 ).<br />
Im 3. Fragment werden diese Verse sogar nur allein zugrunde gelegt 107 ).<br />
Alle vier Auslegungsfragmente zeigen deutlich, daß Melanchthon in seiner<br />
Auslegung stärker als alle anderen Reformatoren auf die ekklesiologische Frage abzielt.<br />
So heißt es im 1. Fragment: „Nicht wird die Sünde durch das Gesetz aufgehoben, sondern<br />
durch den <strong>Samariter</strong>, den Sohn Gottes, d. h. durch das Amt 108 ), welches in der Kirche ist .<br />
. . . Daher schulden wir, die Gemeinschaft der Kirche zu stützen 109 ), das heißt, den<br />
Nächsten lieben.“<br />
Ein christologisches Hauptmotiv wird auch an mehreren Stellen der Magdeburger<br />
Zenturien vorausgesetzt, die ja unter weitgehen-<br />
104) CR 25, 380ff.; 389ff.; 396ff. und 410f.<br />
105) De legalia—CR 25, 389ff.<br />
106) AaO S. 390.<br />
107) AaO S. 396ff.<br />
108) Ministerium.<br />
109) Fovere societatem Ecclesiae—aaO s. 388f.; vgl. auch in den anderen Fragmenten, besonders<br />
deutlich in Fragment 4, aaO S. 398.
102<br />
dem Einfluß des Flavius Illyricus entstanden sind. Das „Bild“ 110 ) unserer Erzählung wird<br />
hier zur Illustration des Kapitels über den Menschen vor und nach dem Fall<br />
herangezogen, bzw. zur Illustration der Ohnmacht des Gesetzes 111 ). Das christologische<br />
Hauptmotiv ist also ausgesprochen hamartologisch gefärbt.<br />
b) Bei einigen anderen Auslegern finden sich zwar nicht ausschließlich<br />
christologische Motive, aber sie dominieren deutlich gegenüber ethischen Motiven und<br />
nehmen erheblich mehr Raum ein, als das sonst in der Reformation der Fall ist. Es<br />
handelt sich um Zwingli in den Annotationes, Pellicanus, ferner Lossius und Rogers 112 ).<br />
Nimmt man noch Strigel und Camerarius hinzu, die die ethische Auslegung einfach<br />
unverbunden neben die christologische stellen, so wird klar, daß es sich bis auf die<br />
Auslegung von Pellicanus, die ungewöhnlich stark von Erasmus beeinflußt ist, nur um<br />
späte Partien von etwa 1540 ab handelt. Im Zuge der allgemeinen Restauration in der<br />
beginnenden Orthodoxie scheint sich an einigen wenigen Stellen also auch eine<br />
Rückwendung zu den scholastischen oder früheren Auslegungen anzubahnen, in denen<br />
das christologische Moment überwog.<br />
II. Das ethische und das harmatologische<br />
Hauptmotiv<br />
a) Bei einer ganzen Anzahl von Auslegungen, vor allem in der Mitte unseres<br />
Zeitabschnittes, ist ähnlich wie bei Calvin das christologische Verständnis völlig<br />
verschwunden, und es beherrschen nur noch ethische und harmatologische Motive das<br />
Feld.<br />
1. Als erster ist Johann Agricola zu nennen 113 ). Er kündigt sofort an, daß er unsere<br />
Erzählung paulinisch verstehen wolle: „In jener langen Disputation und jenem Streit Jesu<br />
mit den Schriftkundigen ist die Auffassung des Paulus herausgestellt 114 ). In welchem<br />
Sinn der<br />
110) Pictura—Flacius, Centuriae Magdeburgiensis, nach der Ausgabe von S. Baumgarten I, S. 88f.<br />
111) AaO s. 87f.<br />
112) Letzterer bringt bei den insgesamt 98 (!) Lehren, die er aus unserer Erzählung ableitet, zwar auch<br />
die ethische Auslegung sehr breit, bezeichnet die christologische Auslegung aber als den „edelsten<br />
Sinn“—ders., Drey Parabolen, Abschnitt III.<br />
113) In Ev. Lucae annotationes, 1525, Bl. 97ff.<br />
114) AaO Bl. 97.
103<br />
Text paulinisch zu verstehen ist, ergibt sich am besten aus der Zusammenfassung gegen<br />
Schluß der Auslegung: „Daher, wenn alles darauf tendiert, daß er (scil. Jesus) den sich<br />
rechtfertigenden Schriftkundigen seiner Gottlosigkeit und seines Irrtums überführen will,<br />
die Gebote niemals gehalten zu haben . . . ,—wer dies nicht sieht, der sieht nichts. Wer<br />
dies nicht einsieht, der siehr nichts ein. ,So’, sagt Jesus, ,gehe hin und tue ähnlich’, d. h.<br />
diese, du Schriftgelehrter, sind Nächste, denen du mit Rat und Tat hilfst“ 115 ). Diese<br />
Äußerung ist kennzeichnend für den Charakter der Auslegung Agricolas überhaupt. Das<br />
ethische Motiv im Sinne einer Aufforderung zur Nächstenliebe ist zwar noch vorhanden,<br />
aber es erscheint nur am Rande, gewissermaßen im Nachsatz, während die eigentliche<br />
„Intention“ auf die harmatologische Aussage hinausläuft.<br />
Gerade weil aber die ethische Fragestellung hier relativ stark an den Rand gedrängt<br />
ist, muß es als besonders bemerkenswert gelten, daß der Autor dennoch nicht auf ein<br />
christologisches Verständnis verfällt, sondern dieses sogar in breiten Ausführungen<br />
zwischen den beiden oben angeführten Zitaten ablehnt. Er erklärt bald nach dem ersten<br />
Zitat: „Gefällt es an dieser Stelle jemandem, spitzfindig zu sein 116 ), nämlich im<br />
Aufspüren einer Allegorie 117 ), so wird dieser kaum auf mein Einverständnis rechnen<br />
können, zumal dies (auch sonst) vielen beschwerlich ist.“ Später bezeichnet Agricola die<br />
„allegorische“ Auslegung ironisch als einen „Abgrund von Fragen, dem sich (nur) die<br />
scholastischen Theologen würdig erweisen können“ 118 ). Agricola unterscheidet sich hier<br />
deutlich von Luther: Während es Luther um eine Auseinandersetzung mit den<br />
theologischen Grundlehren der Gegner ging, wendet sich Agricola gegen die Methode<br />
der scholastischen Ausleger.<br />
Agricola bringt aber nicht nur allgemeine Erwägungen hinsichtlich einer Ablehnung<br />
der christologischen Auslegung, sondern geht auf sie auch speziell zu unserer Erzählung<br />
ein: „Schließlich machen sie (scil. die „allegorischen“ Ausleger) in unpassender<br />
Weise 119 ) einen <strong>Samariter</strong> aus Christus, obwohl er doch Judäer war,—wenn sie nicht<br />
etwa darauf anspielen, die Pharisäer hätten Christus unter diesem<br />
115) AaO Bl. 98.<br />
116) Arguto esse.<br />
117) In percuestiganda allegoria—aaO Bl. 97 (Rückseite).<br />
118) Digna theologis Scholasticis questionum abyssus, aaO. Bl. 98.<br />
119) Inepte.
104<br />
Namen publik gemacht. Daß dieser aber sehr weit hergesucht ist 120 ), siehr jeder auch mit<br />
mittelmäßigem Verstand ein.“ Agricola lehnt also die christologische Auslegung unserer<br />
Erzählung eindeutig ab, obwohl der ethische Aspekt unseres Textes bei ihm erweicht ist.<br />
2. Bei Otto Brunfels 121 ), der an sich stark zwinglisch beeinflußt ist, findet sich<br />
ebenfalls keinerlei christologische Auslegung, obwohl er die nachfolgende Erzählung von<br />
Maria und Martha „mystisch“ versteht. Anders als Agricola übergeht er das<br />
christologische Traditionsmaterial, ohne es überhaupt zu erwähnen.<br />
Es besteht jedoch noch ein anderer Unterschied. Brunfels erwähnt zu Vers 25–29<br />
zwar ausdrücklich den Römerbrief und die Bergpredigt Mt. 5, indem er von hieraus die<br />
Radikalität der Forderung Jesu begründet 122 ). Aber er wertet dadurch doch nicht wie<br />
Agricola die positive Forderung des Tuns uneingeschränkter Nächstenliebe an, sondern<br />
stellt sie klar als das Ziel der Erzählung heraus. Zur Begründung sagt er: „Es wird<br />
unerwähnt gelassen, daß das Gesetz ohne Gnade Christi unmöglich ist und daß nichts<br />
weniger diejenigen das Gesetz tun oder bewahren, die es dem Buchstaben nach 123 ) tun.“<br />
Brunfels erkennt also klar die Notwendigkeit, in der Begründung des geforderten<br />
Handelns über unseren Text hinauszugehen.<br />
3. Auch Martin Bucer ignoriert in seinem Evangelien-Kommentar 124 ) die<br />
„allegorische“ Auslegung, getreu seinem wiederholt entwickelten Grundsatz, nur den<br />
ursprünglichen, geschichtlichen Wortlaut des Bibeltextes herausstellen zu wollen 125 ).<br />
Dabei legt er noch erheblich mehr Nachdruck auf die Aufforderung Jesu zum<br />
praktischen, bedingungslosen Tun, als Brunfels es tat, indem er sich ausführlich mit einer<br />
bestimmten, wie er sagt, allegorisierenden These auseinandersetzt 126 ), nämlich mit der<br />
These, daß in Lk. 10, 37 als Nächster nur der bezeichnet sei, dem (selbst) Gutes getan<br />
wird 127 ). Demgegenüber umschreibt Bucer im Anschluß an Vers 37 sein<br />
120) Longissime petitu esse—aaO.<br />
121) Annotationes . . . in quatuor Ev., S. 115.<br />
122) AaO.<br />
123) Ad literam—aaO.<br />
124) In sacra quatuor Ev. Ennarationes, 1553, S. 163f.<br />
125) So A. Lang, <strong>Der</strong> Evangelien-Kommentar Martin Butzers, 1900, S. 38.<br />
126) Bucer gebraucht den Begriff „allegorizatio“ hier offensichtlich in einem weiteren Sinne.<br />
127) AaO S. 164.
105<br />
eigenes Verständnis folgendermaßen: „Wer scheint dir ihn (scil. den Verwundeten)<br />
richtig als seinen Nächsten erkannt und ihm gegenüber die Pflicht 128 ) des Nächsten erfüllt<br />
zu haben? Wenn der Nächste nur durch die an ihm geschehene Wohltat konstituiert<br />
würde, dann müßte die Aufforderung: „Geh hin und tu desgleichen’ ja bedeuten: ,Geh<br />
und falle unter die Räuber und laß dir helfen’“ 129 ).<br />
Im weiteren Verlauf seiner Ausführungen verweist auch Bucer auf die Bergpredigt<br />
bzw. die Feldrede, und zwar auf Mt 5, 43ff. und Lk 6, 27ff. Er tut dies aber nicht nur, wie<br />
Brunfels, andeutungsweise und im Sinne einer bloßen Unterstreichung der Forderungen<br />
Jesu, sondern erstmals deutlich mit der Tendenz, das geforderte Handlen von der<br />
Bergpredigt her zu begründen. So erklärt er zu Vers 27, man müsse, um den Nächsten<br />
lieben zu können, von der Güte 130 ) Gottes erfüllt sein. Wie sehr der ganze Abschnitt über<br />
Vers 27 unter diesem Gedanken steht, zeigt seine Wiederaufnahme im Schluß, nachdem<br />
Bucer vorher die Gottes- und die Nächstenliebe ausdrücklich miteinander verklammert<br />
hat: „. . . denn überhaupt liebt ein jeder Gott nur soweit, wieweit er von der Güte 131 ) eben<br />
desselben gegen sich überzeugt worden ist“. Ausdrücklich verweist Bucer im gleichen<br />
Zusammenhang auf die himmlische Herkunft dieser Güte. Von der Imago Dei, die sich in<br />
der Nächstenliebe erweist, heißt es hier nämlich: „Diese Imago ist himmlischer<br />
Herkunft 132 )“. Später erklärt Bucer, wer sich den Nächsten widme, bringe ihnen dadurch<br />
den „himmlischen Vater“ 133 ) nahe. Hier liegt deutlich nicht nur ein Anklang an Lk 6, 35<br />
bzw. Mt 5, 45 sondern auch an Mt 5, 48 nahe. Es hängt offensichtlich auch mit dem<br />
zuletzt genannten Vers zusammen, wenn Bucer in unserem Zusammenhang einerseits<br />
von der „vollkommenen Güte Gottes“ 134 ) und andererseits von der durch den Menschen<br />
zu erstrebenden „Vollkommenheit des Lebens“ 135 ) spricht. Die Verknüpfung von<br />
Nächsten- und Gottesliebe, die sich in Lk 10, 27 anbietet, wird von Bucer also nicht nur<br />
allgemein umschrieben,<br />
128) Officium.<br />
129) AaO.<br />
130) Bonitas, aaO S. 163.<br />
131) Bonitasi; vgl. dazu Mt 5, 45 nach der Vulgata: bonos.<br />
132) Caelestis, aaO.<br />
133) Pater caelestis—aaO.<br />
134) Perfecta bonitas dei.<br />
135) Perfectio vitae—aaO.
106<br />
sondern speziell im Gedankenhorizont von Lk 6, 35–36 bzw. Mt 5, 45–48. Die geforderte<br />
menschliche Güte ist Abspiegelung der göttlichen Güte.<br />
4. Erheblich anders sieht die Auslegung Heinrich Bullingers aus 136 ). Er scheint ein<br />
„allegorisches“ Verständnis unseres Textes grundsätzlich zu bejahen, entwickelt es aber<br />
mit keinem Wort: „Eine Allegorie des <strong>Samariter</strong>s Christus, der das Menschengeschlecht<br />
befreite, treiben andere sehr reichlich, Paraphrastes besonders, bei dem die, die sich dafür<br />
interessieren, nachschlagen können“ 137 ). Bullinger hält also ein christologisches<br />
Verständnis unseres Textes nicht für notwendig.<br />
Um so nachdrücklicher enrfaltet er das ethische Hauptmotiv. Er verfährt so, daß er<br />
die Universalität der Nächstenliebe im Zusammenhang mit der Frage abhandelt, was ein<br />
rechter Doktor der Heiligen Schrift lehren solle 138 ). Dabei ist neu, daß Bullinger erstmals<br />
deutlich ausspricht, es gehe in unserer Erzählung nicht nur um eine Definition des<br />
Begriffs des Nächsten, sondern auch, und zwar vordringlich, um eine Veranschaulichung<br />
dessen, was Nächstenliebe ist: „Ferner zeigte unser Herr in der Parabel sehr breit, auf<br />
welche Weise du Gutes tun und den Nächsten lieben sollst, damit wir daraus nicht nur<br />
lernen, wer unser Nächster sei, sondern obendrein, auf welche Weise wir jenen lieben<br />
sollen und welches die Art und Liebe sei.“ 139 )<br />
Bedeutsam ist aber vor allem, daß Bullinger Lk 10, 30ff. eindeutig als Illustration von<br />
10, 27b άγαπήσεις . . . τόν πλησίον σου ώς σεαυτόν versteht: „Es sagt der Herr in der Tat:<br />
,Liebe deinen Nächsten wie dich selbst’, d. h. mit größten Ausgaben 140 ), denn wir lieben<br />
uns selbst sehr viel mehr . . . .“ Bullinger verweist dann auf das Mitleid, das notwendig<br />
sei, damit wir uns in den anderen hineinversetzen. Zum Schluß kommt er wieder auf Vers<br />
27 zurück: „Ganz also schulden wir uns selbst und all das Unsere dem Nächsten. Wenn<br />
wir für diesen in gläubiger Weise alles ausgeben, lieben wir ihn wie uns selbst. Denn<br />
unseretwegen pflegen wir fast mehr zu tun als wir können“ 141 ). So<br />
136) Comm. in Ev. sec. Lucam, 1545, Bl. 78f.<br />
137) AaO Bl. 79A.<br />
138) AaO Bl. 78B.<br />
139) AaO Bl 79 A.<br />
140) Impensissime—aaO.<br />
141) AaO.
107<br />
präsiziert Bullinger in einer bisher nicht gekannten Art den Scopus, wie er ihn versteht,<br />
als ethisch. Freilich wird man nicht umhin können, seine Auslegung einseitig zu nennen,<br />
da ihn das Problem, ob unserr Text nicht spezifisch christlich Charakters sei,<br />
offensichtlich gar nicht bewegt 142 ).<br />
5. Johannes Brenz 143 ) erklärt, die „Allegorien“ zu unserem Text seien „hinreichend<br />
bekannt“ 144 ), und fährt dann fort: „Wir also lassen diese Dinge aus und zielen auf den<br />
ursprünglichen Status der Parabel 145 ) ab, daß nämlich unter dem Namen des Nächsten<br />
nicht nur der Freund, sondern auch der Feind verstanden werden muß.“<br />
Schon an dieser Formulierung wird deutlich, daß es Brenz nicht generell um<br />
universale Nächstenliebe geht, sonder, wieder unter dem Eindruck von Mt 5, 43, speziell<br />
um die Feindesliebe. Von daher kann er, wie Bucer, unsere Erzählung geradezu als eine<br />
Illustration bestimmter Aussagen der Bergpredigt verstehen. Von dem in unserem Text<br />
abgelehnten Feindeshaß sagt er nämlich: „. . . Diese falsche Exposition hat Christus oben<br />
im 6. Kapitel un bei Matthäus im 5. Kapitel reichlich zurückgewiesen. Und was er an<br />
diesen Stellen mit vielen Lehrsätzen sagte, das führt er jetzt in einem höchst ergötzlichen<br />
Gleichnis aus“ 146 ). So gewinnt auch Brenz eine gewisse Begründung dafür, warum in<br />
unserem Text der Ton so stark auf den Forderungen liegt. Er überträgt eben einfach das<br />
von den Reformatoren häufig vorgetragene Verständnis der Bergpredigt auf unsere<br />
Erzählung: „. . . hier muß unbedingt beachtet werden, daß Christus uns dann am<br />
allermeisten auf den Weg des Glaubens hinweist, wenn er das Leben des Gesetzes<br />
schildert“ 147 ). Letztlich geht Brenz also von einem soteriologischen Verständnis der<br />
Bergpredigt aus. Das hat für sein Verständnis unserer Erzählung die Folge, daß auch er in<br />
Gefahr gerät, die ethische Fragestellung aufzulösen.<br />
6. Sowohl Immanuel Tremillius und Franz Junius in ihrem Kommentar zum Neuen<br />
Testament 148 ) als auch Theodor de Beza,<br />
142) Die Andeutung im letzten Zitat („in gläubiger Weise . . . ausgeben“) steht ganz für sich.<br />
143) In Evangelion, . . . homiliae, 1557, S. 661ff.<br />
144) Statis notae sunt—aaO s. 664.<br />
145) Principalem huius parabolae statum—aaO.<br />
146) Jucundissima similitudine—aaO.<br />
147) AaO S. 667.<br />
148) Testamentum Novum, 1630, z. St.
108<br />
dessen Annotationes in der ersten Auflage 149 ) sie verwendeten, beschränken sich auf<br />
kurze Bemerkungen zu unserem Text, die ein rein ethisches Verständnis andeuten.<br />
7. Hugo Grotius 150 ) erwähnt die christologische Auslegung nicht. Bei seinem Ansatz<br />
wird das mit Sicherheit als Ablehnung zu werten sein. <strong>Der</strong> spezifisch christliche<br />
Charakter unseres Textes ist bei ihm in Blickfeld, wenn er erklärt, die Frage nach dem<br />
ewigen Leben, die der Ausgangspunkt unserer Erzählung ist (Vers 25), sei im<br />
„Gesetzesbund“ noch nicht ausdrücklich behandelt 151 ). Dasselbe Motiv liegt wohl vor,<br />
wenn Grotius das Deuteronomium, aus dem das erste grundlegende Zitat in Lk 10, 27<br />
stammt, schon nicht mehr als genuin jüdisch ansieht. Während das Buch Exodus nach<br />
seiner Meinung nur das spezielle Moralgesetz der Hebräer enthält, gehe es im<br />
Deuteronomium schon um das letzte Ziel 152 ) des Gesetzes, das für alle Menschen<br />
verbindlich sei, die allgemeine Nächstenliebe. Dieses letzte Ziel richtet sich für Grotius<br />
auf die internen Bewegungen des Herzens 153 ) im Gegensatz zu nur äußerlichem Tun 154 ).<br />
Eben um dieses Tun aus dem Innersten heraus zu bewirken, bringe Jesus die Erzählung<br />
Vers 30ff. <strong>Der</strong> Schriftgelehrte solle sehen, wieweit er von „fortwährender Liebe“ entfernt<br />
ist, um dadurch für die Erkenntnis vorbereitet zu werden, daß Jesus nicht der Zerstörer,<br />
sondern der Vollender des Gesetzes ist (Mt. 5, 17) 155 ).<br />
So liegt bei Grotius der Ton nicht nur auf dem Universalismus der Nächstenliebe.<br />
Vielmehr ist ihm auch wichtig, daß hier gezeigt wird, wie die Juden oft „nicht einmal<br />
jeden, die sie (selbst) Nächste nennen, das leisten, was den Nächsten, d. h. den Freunden,<br />
zukäme, denn die mehr auf das (bloße) Tun als auf den Geist achten, finden leicht eine<br />
Entscheidung“ 156 ).<br />
Rund 30 Jahre später schreibt Abraham Calov in seiner Biblia<br />
149) Erreichbar war im übrigen nur die 2. Auflage, Annotationes maiores in Novum Testamentum,<br />
1594, S. 284f.<br />
150) Annotationes in libros Evangeliorum, 1641, S. 715.<br />
151) AaO S. 715.<br />
152) Scopus—aaO S. 716.<br />
153) Internos animi motus.<br />
154) Opera externa—aaO.<br />
155) AaO.<br />
156) AaO S. 717.
109<br />
ilustrata 157 ). Grotius weitgehend aus. Aber er verkennt dessen Intentionen und lehnt<br />
sowohl den Hinweis auf die Eigenart des Deuteronomium 158 ) wie auch jede Verknüpfung<br />
des Werkes Jesu mit dem Gesetz ab: „ . . . nicht deswegen kam Christus, daß er<br />
vollkommenes Gesetz brächte, sondern daß er uns die Gnade und das Heil . . .<br />
bereitete“ 159 ). Damit gerät Calov in die Gefahr, aus konfessionellen Bedenken gegen den<br />
reformierten Grotius die „Ethik“ unseres Textes aufzuweichen, obwohl er andererseits<br />
auch wieder ethische Partien bei Grotius wörtlich aufzunehmen vermag, wenn auch mit<br />
dem bereits genannten Vorbehalt. So begründet Calov z. B. mit Grotius 160 ) das geforderte<br />
Handeln zweigleisig, nämlich sowohl von der Erlösung als auch sehr stark von der<br />
Schöpfung her. Auch dort übernimmt Calov Grotius, wo letzterer unseren Text geradezu<br />
zu einer Rechtfertigung des Naturgesetzes macht: „Mit Recht hält Christus es für<br />
erwiesen, daß, wenn man auf das fortwährende, natürliche, allen Menschen gemeinsame<br />
Recht 161 ) schaut, dieses durch das zivile Gesetz 162 ) der Hebräer nicht antiquiert 163 ) ist,<br />
sondern es das hebräische Gesetz vielmehr gleichsam in Aktion setzt“ 164 ).<br />
8. Auch Joh. Quistorp 165 ) erwähnt die christologische Auslegung mit keinem Wort.<br />
Statt dessen interpretiert er Lk 10, 28 unter Hinweis auf Gal. 3, 24 im Sinne einer<br />
„pädagogischen“ Funktion des Gesetzes. Zugleich verweist er auf die Forderung der<br />
Feindesliebe, ohne beides miteinander zu verbinden 166 ).<br />
b) Von den Auslegern, die zu unserem Text zwar auch christologische Gedanken<br />
bringen, sie aber doch deutlich relativieren bzw.<br />
157) Biblia Novi Testamenti illustrata, Bd. 1, 1719, S. 601ff. Die erste Auflage erschien 1672–76.<br />
158) S. o. S. 108.<br />
159) AaO S. 602.<br />
160) Im Gefolge Calvins, s. o. S. 97ff.; bei Grotius s. Annotationes S. 718; bei Calov aaO S. 603.<br />
161) Jus perpetuum, naturale, omnibus hominibus commune.<br />
162) Lege ciuili.<br />
163) Antiquatum—Grotius, Annotationes, S. 718.<br />
164) Wie den Ausführungen des Grotius großer Nachhall beschieden sein sollte, sieht man auch daran,<br />
daß z. B. auch der Anglikaner Matth. Polus (Synopsis, Bd. IV, 1676, Sp. 938ff.) die Ausführungen des<br />
Grotius zu unserer Erzählung übernimmt, und zwar ohne jede Kritik; siehe vor allem aber auch unten<br />
s. 129f.<br />
165) Annotationes in omnes libros biblicos, 1648, z. St.<br />
166) Letzteres findet sich auch bei John Lightfoot, Horae Hebraicae . . . in quatuor Evangelistas, 1684,<br />
S. 789ff.
110<br />
einschränken, sei nur Lambert von Avignon 167 ) genannt. Er erklärt zu Vers 27 ohne<br />
Bezug auf die später breiter dargebotene christologische Auslegung: „Denn es ist nötig,<br />
daß, auf welche Weise er (scil. Christus) sich für uns hingab, auch wir handeln“ 168 ). Bei<br />
der Überleitung zur christologischen Auslegung gesteht er dann: „Die Allegorie, obwohl<br />
in diesem Text dafür an sich keine Notwendigkeit vorliegt, da ein Beispiel kein Gleichnis<br />
ist 169 ), muß dennoch als passend angesehen werden 170 ). Deshalb erfahre jene in wenigen<br />
(Worten).“ Interessant ist, daß Lambert dann ausgerechnet bei diesem Text einen<br />
allgemeinen Exkurs über die „Allegoria“ anfügt. Die Einleitung der Ausgabe von 1525,<br />
die an dieser Stelle gegenüber der von 1524 verändert ist, läßt darüber hinaus noch<br />
erkennen, daß inzwischen eine Diskussion über diesen Punkt entstanden ist: „Damit ich<br />
diese Ermahnungen nicht weniger Frommer zum Verstummen bringe, und weil einige die<br />
Allegorien nur unangemessen 171 ) anwenden, so daß diese mehr Träume als Allegorien<br />
genannt werden können . . . , so möge es an diesem Ort gefallen, einiges oder weniges<br />
von den Allegorien zu sagen“ 172 ). Im übrigen erklärt Lambert erstmals mit aller<br />
Deutlichkeit, daß ein gewichtiges Argument für die Darbietung passender, an sich nicht<br />
nötiger Allegorien ihre Erbaulichkeit sei. Sie sollten nicht zurückgewiesen werden, denn<br />
„um das Herz an den Herrn zu mahnen, vermögen sie viel“ 173 ).<br />
III. Zusammenfassung<br />
1. Zunächst muß festgestellt werden, daß in dem genannten Zeitraum die Zahl der<br />
nichtchristologischen Auslegungen durchaus überwiegt. Ausdrücklich abgelehnt wird das<br />
christologische Verständnis—wenn man von Calvin absieht—freilich nur von Agricola.<br />
Eine ganze Reihe von Auslegern aber überwindet das christologische Verständnis<br />
stillschweigend, nämlich Brunfels, Bucer, Theodor de<br />
167) In divi Lucae Ev. comm., 1524, Fol. 160ff. und 2. Aufl. 1525, Fol. 159ff.<br />
168) So aaO (1524), Fol. 161.<br />
169) Cum exemplum non parabola.<br />
170) Tamen opportuna—aaO (1524), Fol. 163.<br />
171) Incongrue.<br />
172) AaO (1525), Fol. 159.<br />
173) AaO (1525).
111<br />
Beza, Tremillius-Junius, Grotius, Calov, Polus, Quistorp und Lightfoot. Zwei Ausleger,<br />
Bullinger und Brenz, lassen die christologischen Gedanken zwar grundsätzlich gelten,<br />
gehen aber auf sie nicht ein, während andere Autoren wie Lambert von Avignon 174 ) die<br />
christologische Auslegung zwar noch bringen, sie jedoch in ihrer Bedeutung<br />
einschränken. Dabei kann man nicht sagen, daß nur die von Calvin beeinflußte<br />
Auslegung das christologische Verständnis völlig abbaue, während es sonst nur<br />
eingeschränkt werde. Unter den Genannten befinden sich auch solche Ausleger, die von<br />
Luther herkommen, nämlich Agricola, Brenz, Calov und Quistorp. Da Calvin mit seiner<br />
Wirksamkeit in Genf erst 1536 begann und 1538 nach Straßburg ging, können auch<br />
Brunfels und Bucer nicht von seinen Gedanken beeinflußt sein. Die reformatorische<br />
Auslegung mit Einschluß der evangelischen Auslegung zur Zeit der Gegenreformation<br />
tendiert also insgesamt auf eine völlige Überwindung des christologischen<br />
Verständnisses.<br />
2. Hinsichtlich der Frage, welche Elemente die Auslegung positiv bestimmen, ergibt<br />
sich, daß die Bedeutung des ethischen Aspektes im Vordergrund steht. Indes ist es<br />
keineswegs schon als originell anzusehen, wenn hierbei in der Regel von der<br />
Universalität der Nächstenliebe 175 ) oder unter Heranziehung der Bergpredigt konkreter<br />
von der Feindesliebe geredet wird 176 ). Dies alles gab es in der Tradition auch schon<br />
vorher. Die besondere Prägung, die die ethischen Ausführungen in den Predigten Luthers<br />
hatten, nämlich die ausdrückliche oder heimliche Verteidigung gegen einen Libertismus,<br />
fehlt. Ausgesprochen neue Impulse finden sich im Blick auf den ethischen Aspekt nur bei<br />
Bucer und Bullinger 177 ).<br />
3. In einigen wenigen Auslegungen droht das harmatologische Motiv, das bei Luther<br />
in den ethischen Gedankengang eingespannt<br />
174) Aber auch z. B. Winckelmann und Sarcerius.<br />
175) So bei Brunfels, ferner Pellicanus, Melanchthon (in Fragment 2 u. 3 in der Postille, CR 25, 389ff.<br />
und 396ff.), Flacius (in der Clavis scripturae I, S. 1003 und, eingeordnet in das christologische<br />
Verständnis, in der Glossa compendiaria), Camerarius, Polus und Rogers.<br />
176) So z. B. bei Quistorp und Lightfoot.<br />
177) Bei Bucer in der Art, wie er sich mit der These auseinandersetzt, daß Nächstenliebe erst durch<br />
empfangene Hilfe konstituiert werde, bei Bullinger durch die Interpretation unseres Textes von Lk 10,<br />
27b her, wobei er ihn hauptsächlich als Demonstration, nicht als Definition, der Nächstenliebe<br />
versteht.
112<br />
war, sich zu verselbständigen und das ethische Hauptmotiv zu verdrängen (so bei<br />
Agricola und Brenz) 178 ). In anderen Auslegungen wird es ähnlich wie bei Luther<br />
verwendet (z. B. bei Quistorp). Insgesamt aber ist bemerkenswert, daß das<br />
christologische Verständnis hier keinerlei Bedeutung mehr hat, das harmatologische<br />
Motiv also, wenn man vor allem die Scholastik zum Vergleich heranzieht 179 ), nun<br />
vollends aus der Unterordnung unter die christologische Auslegung gelöst ist und aus<br />
sich heraus auf Christus weist, ohne daß eine Identifizierung zwischen Christus und dem<br />
<strong>Samariter</strong> noch erforderlich wäre.<br />
4. Neben den übrigen Motiven, die Luther brachte, um das Christliche unseres Textes<br />
herauszustellen, und die sich auch sonst in unserem Zeitabschnitt immer wieder<br />
finden 180 ), ist bemerkenswert, daß Bucer und Brenz auch die Bergpredigt in diesem<br />
Zusammenhang heranziehen und nicht nur als Erläuterung des Scopus. Bei Bucer<br />
geschieht das im Sinne einer positiven Begründung der Ethik, bei Brenz im Sinne des<br />
Scheiterns an den radikalen Forderungen.<br />
5. Auf das Ganze gesehen, nimmt die Herausarbeitung des christlichen Charakters<br />
unserer Erzählung in der reformatorischen und in der evangelischen Auslegung während<br />
der Gegenreformation einen so breiten Raum ein, wie noch nie zuvor.<br />
Allerdings darf auch nicht übersehen werden, daß sich bei einigen späteren<br />
Theologen nur sehr beschränkte oder überhaupt keine Ausführungen zur Frage der<br />
spezifisch christlichen Prägung unserer Perikope finden, so bei Calvin, Bullinger,<br />
Theodor de Beza, Strigel und Camerarius. Es ist wohl nicht von ungefähr, daß sich diese<br />
Ausleger weit weniger durch Polemik bestimmen lassen als die anderen. Wo also die<br />
Polemik zurücktritt, besteht die Gefahr, daß das Interesse an dem christlichen Charakter<br />
unseres Textes schwindet.<br />
D. Die Auslegung der „römischen“ Theologen<br />
1. Überblicken wir noch in aller Kürze die „römische“ Auslegungsarbeit dieses<br />
Zeitraumes, so fällt auf, daß sich keine einzige<br />
178) Aber auch Sarcerius und Lossius.<br />
179) S. o. S. 71ff.<br />
180) Betonung des Wortes, Früchte des Glaubens.
113<br />
rein christologische Arbeit über unseren Text findet. Bei fast allen Autoren, die<br />
christologisch auslegen, ist dies in ein ethisches Verständnis eingeordnet. Faber<br />
Stapulensis hatte beides allerdings einfach nebeneinandergestellt 181 ), und Erasmus von<br />
Rotterdam ist von Hos. 6, 6 aus vorwiegend an einem antikultischen Verständnis<br />
interessiert. Einem veräußerlichten Kultus stellte er „die verborgene Regung des lauteren<br />
und reinen Sinnes“ 182 ) gegenüber. Im übrigen aber spielt der ethische Aspekt bei den<br />
„römischen“ Theologen eine noch größere Rolle als in den reformatorischen<br />
Auslegungen und den zeitlich daran anschließenden Arbeiten. Meistens wird er<br />
antireformatorisch genutzt. So erklärt Francisco de Toledo zu Vers 25, die Frage des<br />
Schriftgelehrten verdamme die reformatorischen „Häretiker“, da diese ja nicht nach dem<br />
Glauben fragen, der allein zum Leben führen soll, sondern nach dem Tun 183 ). Vor allem<br />
wendet man sich gegen die Interpretation von Vers 29 im Sinne des usus elenchticus. So<br />
erklärt Adam Contzen: „Wenn es wirklich unmöglich wäre, das Gesetz zu halten, dann<br />
wäre in der Tat in der Antwort Jesu nur Spott, ebenso, als wenn man zu einem Stein<br />
sagen würde: ,Hab Einsicht’. Die Lehre ist gänzlich absurd, daß hier dem in bezug auf<br />
den Weg des Heils Fragenden jener (Weg) gezeigt wird, durch den das Heil (ebenso)<br />
nicht gegeben werden kann“ 184 ). Man wird diesen Argumenten schwerlich alle<br />
Wirkungen absprechen können. Unbeschadet der dogmatischen Berechtigung der Lehre<br />
von der totalen Sündenverfallenheit des Menschen ist in der Tat zu fragen, ob speziell<br />
unser Abschnitt Vers 25–29 primär wirklich in diesem Sinne gemeint war.<br />
2. In einem Teil der Auslegungen, die christologische Ausführungen bringen, nehmen<br />
diese, wenn auch in ein ethisches Verständnis eingespannt, einen breiteren Raum ein als<br />
bei den reformatorischen Auslegern und ihren Nachfolgern, nicht zuletzt deshalb, weil<br />
mit der Verteidigung solcher Ausführungen die Frage nach der Glaubwürdigkeit der<br />
Tradition überhaupt verknüpft wird 185 ). Von daher ist besonders bemerkenswert, daß<br />
dennoch auch eine ganze<br />
181) Comm. in quartuor Ev., 1526, S. 227ff., z. St.<br />
182) Occultus syncerae puraeque mentis affectus—Paraphrases, 1540 (wohl Neudruck der Ausgabe<br />
von 1522f.), S. 285ff., zu V. 37.<br />
183) Comm. in prima XII capita . . . Evangelii sec. Lucam, 1600, s. 873 B.<br />
184) Comm. in quatuor Evangelistas, Bd. II, 1626, S. 106 A/B.<br />
185) So vor allem bei Salmeron, Comm. in Evangelicam historiam, 1623, S. 91 B und Adam Contzen,<br />
aaO S. 108 A.
114<br />
Anzahl von „römischen“ Autoren die Auslegung im Sinne einer Allegoria und damit das<br />
christologische Verständnis weitgehend zurückgedrängt hat. Besonders aufschlußreich ist<br />
die Bemerkung des Pariser Professors Johannes Gagnaeus: „Wer diese Parabel mystisch<br />
auslegen will, könnte das in bezug auf Adam, der unter die bösen Geister fiel . . . . Aber<br />
dies geht über die Aufgabe des Interpreten hinaus“ 186 ). Auch Cajetan de Vio, Cornelius<br />
Jansen der Ältere, Didacus von Estella und Maldonat sind hier zu nennen. Keinerlei<br />
christologische Ausführungen finden sich bei Clarius, Zegers, Sa und Estius.<br />
Sowohl in der evangelischen als auch in der „römischen“ Auslegung unseres<br />
Zeitabschnittes macht sich also diesselbe Tendenz bemerkbar. Allerdings ist dabei zu<br />
beachten, daß sechs der insgesamt neun Auslegungen erst in die Zeit der<br />
Gegenreformation fallen 187 ), zwei Ausleger Jesuiten sind, die Mehrzahl der anderen<br />
Autoren Pariser und niederländische Theologen. Es handelt sich also um Vertreter des<br />
Ordens und der Universtitäten, bei denen besonders starke gegenreformatorische Prägung<br />
vorlag. Dies alles deutet darauf hin, daß die Reduktion der christologischen Auslegung<br />
erst in der Reaktion auf die reformatorische Arbeit einsetzte.<br />
186) Sed hoc est praeter officium scholasticae—Clarissima in quatuor Ev. scholia, 1555, S. 131.<br />
187) Ab 1555 gerechnet.
Kapitel 5<br />
DIE AUSLEGUNG<br />
IM 18. UND 19. JAHRHUNDERT<br />
A Die evangelischen und evangelisch beeinflußten<br />
Auslegungen<br />
I. Das christologische Motiv<br />
1. Die Zahl der Ausleger, die ein christologisches Verständnis als in unserem Text<br />
ursprünglich gegeben ansehen, ist gegenüber der Reformationszeit weiter<br />
zusammengeschrumpft. Dabei wird es von ihnen in der Regel nur mit Vorbehalten<br />
gebracht. <strong>Der</strong> Sachverhalt läßt sich besonders gut an der Auslegung Stier’s verdeutlichen.<br />
R. Stier versucht ausdrücklich, den christlichen Charakter unseres Textes zu<br />
erweisen 1 ). Eines seiner Argumente ist das christologische Verständnis. Er führt dabei<br />
allerdings weniger Einzelbeobachtungen an, als daß er vielmehr von dem Gesamtbild der<br />
Erzählung und von grundsätzlichen Erwägungen ausgeht. An Einzelbeobachtungen<br />
vermag er nur auf den Anklang von Vers 34 an Jes. 1, 5 und 6 zu verweisen. In diesem<br />
Zusammenhang spricht er von einem „leise nur, aber wahr in der Tiefe klingenden<br />
Geheimsinn der Parabel“ 2 ). Breit führt er jedoch die allgemeinen Erwägungen aus:<br />
(a) Bei der Verkündigung Jesu sei „fast“ immer „in die zunächst abweisende,<br />
vorläufige Wahrheit schon die ganze letzt mit eingehüllt“. (b) Christus lasse uns nirgends<br />
in dem Widerspruch, der in der Formel „Du sollst—lieben“ liegt, einfach allein. Deshalb<br />
mache er auch in Lk 10, 25ff. zugleich deutlich, daß er uns liebt, so<br />
1) In Auseinandersetzung mit Claus Harms, s. u. S. 126.<br />
2) Die Reden des Herrn, 3. Aufl. 1867 (†1862), S. 148.
116<br />
daß in uns Gegenliebe geweckt werde 3 ).—Hier zeigt sich, wie im letzten die Sorge um<br />
eine Auseinanderreißung von Gesetz und Evangelium der Grund ist, warum Stier eine<br />
christologische Auslegung postuliert. Andererseits betont allerdings auch er, bei dem<br />
diese Auslegungsart den größten Raum einnimmt, daß es leicht zur „Spielerei“ werde,<br />
wenn man die Einzelheiten etwa in Vers 34 und 35 „allegorisch“ zu deuten beginne. Aber<br />
unsere Erzählung als Ganzes redet nach Stier doch „von dem im Sündenelend liegenden<br />
Menschen, dem weder Gesetz noch Opferdienst helfen können, und vor der Gnade<br />
Christi, den sie einen <strong>Samariter</strong> schalten“ 4 ).<br />
Ein christologisches Verständnis, offensichtlich im exegetischen Sinne, findet sich<br />
auch bei C. H. Frhr. v. Canstein, der in dem <strong>Samariter</strong> Christus den speziell dem<br />
jüdischen Volk Helfenden sieht und in dieser Weise unsere Erzählung als die Antwort auf<br />
die Werkgerechtigkeit des Schriftkundigen versteht 5 ).<br />
Ferner fügen J. van den Honert und Joh. Ev. Goßner ihren sonstigen Ausführungen<br />
christologische Erwägungen an. Honert zitiert dabei einen solchen Autor, der erklärt, die<br />
christologische Auslegung sei die „besondere Absicht Christi“, die ethische Auslegung<br />
die „allgemeine“ Absicht Jesu 6 ).<br />
Um eine gewisse Eingrenzung der christologischen Auslegung hat sich besonders der<br />
als Ausleger der Gleichnisse Jesu weithin bekannt gewordene Holländer C. E. van<br />
Koetsveld bemüht. Er bezeichnet einerseits das Suchen nach einem tieferen Sinn als<br />
„mystikerei“, beruft sich dafür auf Calvin 7 ) und tadelt Luther und Melanchthon, weil sie<br />
der Versuchung solchen Bemühens nicht hinreichend widerstanden haben. Andererseits<br />
aber besteht er doch darauf, daß der <strong>Samariter</strong> das Bild der Liebe Christi ist, „weil er und<br />
seine Liebe eins sind“. Nur gegen das Allegorisieren der Einzelheiten geht Koetsveld also<br />
als ein „smakeloos vernunftspel“ an 8 ). Hier zeigt sich<br />
3) AaO S. 148.<br />
4) AaO S. 147.<br />
5) Harmonie, 1748, S. 831ff. Grundsätzlich unterscheidet er die christologische Auslegung unserer<br />
Erzählung von der „eigentlichen“ ethischen, auch wenn das christologische Verständnis dann in<br />
der Durchführung durchaus den breiteren Raum einnimmt.<br />
6) J. van den Honert—J. Brucker, Die Heilige Schrift, 13. Teil, 1759, S. 257.<br />
7) S. o. S. 99f.<br />
8) De Gelykenissen, 2. Teil, 1896, S. 220.
117<br />
deutlich ein Ringen darum, einerseits dem Text selber, andererseits aber auch der<br />
Beziehung unserer Erzählung zur Person Jesu gerecht zu werden. Man wird nicht sagen<br />
können, daß das geglückt ist.<br />
2. Die Mehrzahl der Autoren unseres Zeitabschittes, bei denen wir christologische<br />
Bemerkung finden, gibt ausdrücklich an, daß sich diese nicht begründen lassen, wenn sie<br />
nicht gar noch weitergehen und ihr christologisches Verständnis einfach mittels<br />
homiletischer Notwendigkeiten zu stützen versuchen. In dieser Gruppe ragt vor allem der<br />
anglikanische Bischof R. C. Trench hervor. Er verteidigt das christologische Verständnis<br />
mit dem Argument, daß es keineswegs, wie behauptet, das „Gesetz der Liebe“ in unserer<br />
Erzählung auflöse, sondern dieses im Gegenteil gerade unterstreiche. Allerdings räumt er<br />
ein: „Of course, this deeper interpretation was reserved for the future edification of the<br />
Church. The Lawyer naturally took, and was ment to take, the meaning which lay upon<br />
the surface . . .“ 9 ).<br />
S. Goebel stellt gegen Ende seiner Auslegung fest, einige Exegeten nähmen unseren<br />
Text im Sinne der Väter nicht nur als eine „exemplificierende“, sondern auch als eine<br />
„eigentliche bildliche Erzählung“, und erklärt dazu: „Es genügt, . . . zu bemerken, daß<br />
weder der Wortlaut der Erzählung noch auch der Zusammenhang, in welchem sie steht,<br />
zu der Annahme eines solchen Doppelsinnes irgendwelche Berechtigung gibt . . . .<br />
Andererseits aber muß ja freilich das anerkannt werden, daß es durchaus innerhalb der<br />
berechtigten Anwendungen der Erzählung liegt, wenn man darauf hinweist, . . . wie Jesus<br />
uns auch in seiner eigenen Person ein entsprechendes Vorbild mit der Tat gegeben<br />
hat“ 10 ).<br />
C. Fr. Keil berücksichtigt zwar das christologische Verständnis, schränkt es jedoch<br />
folgendermaßen ein: „Als Auslegung des Schriftwortes ist diese allegorische Deutung<br />
nicht zu rechtfertigen“ 11 ). Immerhin sagt er unter Anspielung auf Calvin auch: „Doch<br />
darf sich die rechte reverentia gegen die Schrift nicht auf die Verwerfung der Allegorese<br />
beschränken, sondern sie hat auch den ewigen, für alle Menschen und Zeiten gültigen<br />
Gehalt des Schriftwortes aus seiner zeitgeschichtlichen Einkleidung zu entwickeln und<br />
anzuwenden.“ Von daher hält Keil es trotz allem für berechtigt, „diese<br />
9) Notes on the Parables, 7. Aufl. 1857, S. 314.<br />
10) Die Parabeln Jesu, 1879, S. 165.<br />
11) Comm. über . . . Mk und Lk, 1879, s. 333.
118<br />
Geschichte auf Christus als das Urbild des barmherzigen <strong>Samariter</strong>s anzuwenden und für<br />
die Erbauung der Gemeinde homiletisch und katechetisch zu verwenden“ 12 ).<br />
Auch I. Stockmeyer will nicht behaupten, daß ein christologisches Verständnis aus<br />
der Erzählung selbst abgegleitet werden könnte. Er vermag sich für eine christologische<br />
Auslegung nicht einmal auf Vers 23 und 24 zu berufen, da er die Verknüpfung mit Vers<br />
25 als sekundär ansieht. Er erklärt gegen Ende seiner Ausführungen dann aber doch, die<br />
christliche Gemeinde dürfe in ihrer heutigen Situation im Gegensatz zur damaligen Lage<br />
nicht versäumen, bei unserer Erzählung auf die Person Christi und sein Heilswerk<br />
hinzuweisen 13 ). Dann heißt es weiter: „Das alles kann nun der Gemeinde proportioniert<br />
werden in bloßer Anknüpfung an die Person Christi, ohne daß man weiter auf die Parabel<br />
zurückkommt. Es hat aber seinen homiletischen Vorteil (sic!), wenn wir bei diesem<br />
Höhepunkt der Predigt nicht nötig haben, der Parabel zum Träger auch dieser Gedanken<br />
machen können. Das kann geschehen durch das, was ich die Applikatio zweiten Grades<br />
nenne . . . . Dem Tact des Homileten ist überlassen, inwieweit er hier auch die einzelnen<br />
Züge benutzen will oder kann“ 14 ).<br />
Zusammenfassend ergibt sich: In der Zeit, in der die Auslegung mehr und mehr die<br />
Form historisch-kritischer Arbeit annimmt, meldet sich bereits expressis verbis die<br />
Überzeugung, die wir eingangs schon in einigen modernen Exegesen fanden 15 ), die aber<br />
zunehmend in Vergessenheit zu geraten droht, nämlich, daß der Grund für eine<br />
christologische Auslegung unseres Textes nur homiletischer Art sein kann.<br />
II. Die Ablehnung der christologischen Auslegung<br />
1. Eine Anzahl von Autoren des 18. und 19. Jahrhunderts lehnen christologische<br />
Ausführungen zu unserem Text grundsätzlich ab.<br />
12) AaO.<br />
13) Exeget. und prakt. Erklärung ausgewählter Gleichnisse, 1897 (†1894), S. 248.<br />
14) AaO S. 249.—Ob von A. Gray und E. H. Plumptre christologische Motive aus homiletischen oder<br />
exegetischen Gründen gebracht werden, läßt sich nicht klar entscheiden.<br />
15) S. o. S. 7f.
119<br />
Schon J. Chr. Wolf hält für ein unzulässiges Ausweichung vor der eigentlichen Intention.<br />
Er wendet sich mit Entschiedenheit gegen die, „die hier sofort zu Allegorie Zuflucht<br />
nehmen“ 16 ), obwohl Christus „den Leviten, den Priester und den <strong>Samariter</strong> untereinander<br />
verglich“. Recht aufschlußreich sind auch die Ausführungen bei Beausobre-Rambach<br />
und Honert-Brucker. Beide Male handelt es sich um fremdsprachige Kommentare, die<br />
nicht nur übersetzt, sondern auch von ihren Übersetzern ihrerseits kommentiert und in der<br />
Frage der christologischen Auslegung korrigiert worden sind.<br />
Während I. de Beausobre die „allegorische Auslegung“ noch als etwas<br />
Sinnreiches,wenn auch als „Gedankenspiel“, bezeichnet und nur davor warnt, sie „höher<br />
zu schätzen“, als die buchstäbliche Auslegung 17 ), erklärt der deutsche Herausgeber F. E.<br />
Rambach: „Es ist noch zuviel Ehre für dergleichen Auslegung dieses Gleichnisses Jesu,<br />
daß sie sinnreich genennet wird, sondern sie ist abgeschmackt und expostillantisch“ 18 ).<br />
Noch erheblich schärfer kritisiert J. Brucker die englischen Ausleger, die in J. van den<br />
Honerts’ katenenartigem Kommentar zu Wort kommen. Er bemerkt zu der füher<br />
erwähnten Unterscheidung einer allgemeinen und einer speziellen Absicht Jesu mit<br />
unserer Erzählung 19 ): „So haben es längst schon einige Kirchenlehre erklaeret, und so<br />
findet man es in mancherley Postillen. Wenn man aber erwaeget, daß weder zwischen<br />
<strong>Samariter</strong> und Christo, noch zwischen dem halbtoten Menschen und dem ganz in<br />
Übertretung und Suende todten menschlichen Geschlechte eine Gleichheit sey . . . , so ist<br />
es besser, man vermeide diese ohnehin von Christus nicht abgezweckte Allegorie.“ 20 )<br />
Wichtig sind auch die Einzelausführungen, mit denen Brucker die Unangemessenheit<br />
einer christologischen Auslegung zu beweisen sucht: (a) Christus könne unmöglich als<br />
„weniger, geringer als wir, ein Fremdling und Ketzer, die Menschen aber als eine edlere<br />
Kreatur“ bezeichnet werden 21 ). (b) <strong>Der</strong> Teufel sei „ein Mörder, der alles tödtet“, schlage<br />
den Menschen also nicht nur halbtot 22 ). (c) Das Bild des „Ausziehens“ als Anspielung auf<br />
den<br />
16) Confugiant—Curae philologicae, 3. Aufl. 1739, S. 652.<br />
17) I. de Beausobre—F. E. Rambach, Betrachtungen, 3. Teil, 1747, S. 453.<br />
18) AaO.<br />
19) S. o. S. 116.<br />
20) J. van den Honert—J. Brucker, Die Heilige Schrift, Teil 13, 1759, S. 398.<br />
21) AaO S. 406.<br />
22) AaO S. 401.
120<br />
Verlust der ursprünglichen Gerechtigkeit würde bedeuten, der Mensch hätte „zwar etwas<br />
äußerlich umgebendes verloren, aber doch seine natürliche Haut behalten“ 23 ). (d) Das<br />
Gesetz lasse den Menschen nicht nur ohne Hilfe, wie Priester und Levit es taten, sondern<br />
töte ihn 24 ); (e) die andere Funktion des Gesetzes, „Zuchtmeister auf Christus“ hin zu sein,<br />
wäre bei einer allegorischen Auslegung in unserer Erzählung völlig vernachlässigt 25 ). (f)<br />
Die Abreise des Helfers würde bedeuten, daß Christus den armen, verwundeten und<br />
nunmehr zur Heilung in die Kirche gebrachten Sünder verlasse 26 ).—Brucker bemüht sich<br />
also, im Gefolge der reformatiorischen Auslegung vor allem die dogmatische<br />
Unrichtigkeit der „allegorischen“ Auslegung aufzuzeigen und sie dadurch ad absurdum<br />
zu führen.<br />
Wie Brucker, so macht auch J. J. Mack daneben hermeneutische Gründe geltend.<br />
Mack lehnt eine „allegorische“ Deutung unserer Erzählung ab, weil (a) damit der der<br />
Willkür in der Auslegung Tor und Tür geöffnet würde, (b) eine solche Auslegung das<br />
Eingeständnis enthielte, Jesus hätte dunkel und unverständlich geredet, (c) es überhaupt<br />
unmöglich sei, Gleichnisse allegorisch auszulegen, „denn sie seien schon an und für sich<br />
selbst allegorisch“ 27 ).<br />
F. G. Lisco bezeichnete es „ohne hinreichenden Grund und ohne Veranlassung der<br />
heiligen Schrift“ und empfindet es „als höchste Willkür“, wenn man in unserer Erzählung<br />
noch einen verborgenen Sinn suche: „Daher“, so fährt er fort, „finden sich unter den<br />
vorhandenen allegorischen Erklärungen sehr bedeutende Verschiedenheiten, die aber alle<br />
gleich grundlos sind.“ „<strong>Der</strong> wahre Zweck des Gleichnisses“ trete bei „spielender<br />
Erklärung“ ganz zurück 28 ).<br />
F. Godet erklärt zur allegorischen Auslegung, die er nur referiert: „Eine solche<br />
Auslegung mag gleichen Wert haben mit der, in welcher sich die Gnostiker gefielen“ 29 ).<br />
Auch G. L. Hahn hält die allegorische<br />
23) AaO S. 399.<br />
24) AaO S. 403.<br />
25) AaO S. 404.<br />
26) AaO S. 411.<br />
27) „Allegorisch“ hier in dem weiteren Sinne der Übertragung eines Gedankengehaltes aus einem<br />
Zusammenhang in den anderen.—J. J. Mack, Versuch einer Abhandlung von den Absichten . . .<br />
der Parabeln Jesu, 1764, S. 40ff.<br />
28) Die Parabeln Jesu, 2. Aufl. 1834, S. 194.<br />
29) Comm. . . . zu Lucas, bearbeitet von E. R. Wunderlich, 1872, S. 276.
121<br />
Auslegung für „völlig willkürlich“, weil dazu „weder der Wortlaut noch der<br />
Zusammenhang irgendein Recht gibt“ 30 ). Neben dogmatische und hermeneutische<br />
Ablehnungsgründe treten in dieser Epoche also auch schon exegetische 31 ). Ferner muß<br />
hervorgehoben werden, daß es in diesem Zeitraum auch eine beträchtliche Anzahl von z.<br />
T. bedeteutenden Auslegern gibt, die die christologische Auslegung überhaupt nicht<br />
erwähnen, sie also offensichtlich nicht einmal mehr für diskutabel halten. Hier sind zu<br />
nennen: H. Hammondus, J. Clericus, Ph. Doddridge, Chr. A. Heumann, J. J. Wettstein, J.<br />
A. Bengel, J. H. D. Moldenhauer, J. D. Michaelis, S. F. N. Morus, R. Chr. Gittermann, D.<br />
Chr. Kuinoel, J. L. Ewald, J. J. Kromm, A. F. Unger, F. A. Bornemann, H. E. G. Paulus,<br />
W. M. L. de Wette, F. Bleek, H. A. W. Meyer, W. Mangold, J. Chr. K. v. Hofmann, C. F.<br />
Nösgen und E. Zittel.<br />
2. In diesem Zusammenhang bedarf es auch der Erwähnung der sogenannten<br />
Berleburger Bibel. Obwohl sie wesentlich Stücke unserer Erzählung „allegorisch“<br />
auslegt, deutet sie den <strong>Samariter</strong> selbst nicht auf Christus 32 ). Damit stellt die Auslegung<br />
der Berleburger Bibel eine interessante Übergangsform zwischen christologischer und<br />
nichtchristologischer Auslegung in ihrer Zeit dar.<br />
III. Die nichtchristologischen Hauptmotive<br />
a) Das ethische Motiv<br />
Die weitaus überwiegende Zahl der Auslegungen hat ihren Schwerpunkt in der<br />
Herausstellung der „allgemeinen Menschenliebe“, die hier von Jesus gefordert wird 33 ).<br />
Meist wird solche Universalität der Liebe als Konsequenz der Feindesliebe bezeichnet 34 ).<br />
Auch die Aus-<br />
30) Das Ev. des Lucas, 1894, S. 73; ähnlich scharf auch J. Chr. Koecher—J. Chr. Wolf, analecta<br />
philologica, 1766, S. 812.<br />
31) Nämlich in Bezug auf den Wortlaut und Zusammenhang einerseits, auf eine etwaige Verdunklung<br />
des Scopus andererseits.<br />
32) J. F. Haug, <strong>Der</strong> Heilige Schrift Fünfter Theil (Berleburger Bibel), 1735, s. 574 B.<br />
33) So z. B. R. Chr. Gittermann, Die Gleichnisse, 1803, S. 8.<br />
34) So z. B. C. H. Frhr. v. Canstein, Harmonie, 1748, S. 831, ferner Rambach, Bauer, Kuinoel, u. a.
122<br />
leger, bei denen unsere Erzählung primär als eine Aufforderung an die Juden zur<br />
Überwindung des <strong>Samariter</strong>hasses zu stehen kommt 35 ), bleiben grundsätzlich im Rahmen<br />
von Erwägungen über die Feindesliebe. Einige Auslegungen zudem finden sich<br />
hinsichtlich dieser Fixierung des Scopus bestärkt durch die Ähnlichkeit unserer Perikope<br />
mit Mt 5, 34f. bzw. Lk 6, 27f. 36 ). Oft empfangen von daher auch Einzelbemerkungen ein<br />
neues Licht. So findet W. Mangold die Tatsache, daß in Vers 30 unter dem unter die<br />
Räuber Gefallenen nur unbestimmt als „einem Menschen“ geredet wird, genau Mt 5, 43<br />
entsprechend; denn dort werde auch nicht gefragt, ob es sich beim Nächsten um Freund<br />
oder Feind handele 37 ). K. W. Stein weist u. a. darauf hin, daß Lk 10 das ποίει όµοίως in<br />
Vers 37 mit Lk 6, 31 verwandt ist, wo es heißt ποιεΐτε αύτοΐς όµοίως 38 ).<br />
Schließlich bemerkt I. Stockmeyer, die betonte Voranstellung von „im Gesetz“ in Lk<br />
10, 26 entspräche genau der Vorstellung des Gesetzes in den Antithesen der<br />
Bergpredigt 39 ).<br />
Die Feindesliebe bzw. die allgemeine Menschenliebe wird in den Auslegungen nach<br />
den verschiedenen Seiten hin stärker konkretisiert, als es bisher der Fall war. Neben der<br />
sehr verbreiteten Erörterung, daß es dabei um die Überwindung nationaler Grenzen<br />
gehe 40 ), steht immer wieder die Hervorhebung der religiösen Grenzen 41 ). Ferner ist die<br />
Rede von der Überwindung jeglichen „parteylichen Eifers“ 42 ), von der Aufhebung der<br />
„standesmäßigen Unterschiede“ 43 ), von der Liebe trotz „Aberglaube“ 44 ), trotz<br />
„Verschiedenheit der<br />
35) So z. B. E. H. Plumptre, Bible Commentary, Bd. 6, 1878, S. 29, ferner Gittermann, Doddridge,<br />
Bengel u.a.<br />
36) So H. Hammondus—J. Clericus, Novum Testamentum, 2. Aufl. 1714, s. 328f; ferner Heumann<br />
und Kuinoel.<br />
37) Populäre Auslegung, 1861, S. 211.<br />
38) Komm. zu . . . Lucas, 1830, S. 141; Zusammenhang mit der „Goldenen Regel“ vgl. auch bei G. L.<br />
Bauer, Sammlung und Erklärung, 1782, S. 157 und R. C. Trench, Notes on the Parables, 7. Aufl.<br />
1857, S. 320.<br />
39) Exeget. und prakt. Erklärung ausgew. Gleichnisse, 1879, S. 224f.<br />
40) So G. L. Bauer, aaO S. 158, ähnlich z. B. Zittel.<br />
41) So J. L. Ewald, <strong>Der</strong> Blick Jesu, 3. Aufl. 1812, S. 228; ferner u. a. v. Canstein, Rambach.<br />
42) So z. B. Ph. Doddridge, Paraphrastische Erklärung, 2. Abt., 1756, S. 121.<br />
43) So z. B. G. L. Bauer, aaO S. 158.<br />
44) So A. Gray, Vorlesungen, 1783, S. 259.
123<br />
Denkart und der Gewohnheiten“ 45 ), von der Liebe als Gesetzeserfüllung „ohne<br />
Dogmatik“ 46 ).<br />
Relativ häufig findet sich in unserer Erzählung Polemik gegen das Judenttum oder<br />
bestimmte Gruppen des Judentums. Diese Polemik steht jedoch in der Regel nicht in<br />
Spannung mit den ethischen Gedankengängen, sondern kann durchaus als deren<br />
Unterstützung verstanden werden. So faßt Chr. A. Heumann die Mahnung Jesu in unserer<br />
Erzählung folgenndermaßen zusammen: „Sihestu nun nicht, daß eure Lehre von der<br />
Liebe ein Irrtum ist und daß ihr Jüden dem Gesetz Gottes nicht Genüge leystet, wenn ihr<br />
euch zwar untereinander liebt, alle andere Menschen aber mit lieblosen Augen und<br />
Herzen ansehet?“ 47 ) Genauer wird unsere Erzählung häufig als antirabbinisch 48 ) oder,<br />
bisweilen unter Anspielung auf Mt 23, als antipharisäisch verstanden 49 ). Seltener findet<br />
sich ein antikultisches Verständnis, obwohl Hos. 6, 6 in Verbindung mit Mt 9, 13 und 12,<br />
7 häufig zu unserem Text angeführt wird 50 ). So stellt z. B. E. Zittel Priester und Levit als<br />
solche „Nationaljuden“ dar, „bei denen in äußerer Zeremonienfrömmigkeit alle wahre<br />
Frömmigkeit erstorben ist, so daß Heiden und Halbheiden sie beschämen“ 51 ).<br />
Auch antiklerikale Auslegungen im strengen Sinne des Wortes sind selten 52 ). Die<br />
einzig interessante und bis heute immer wieder zitierte Auslegung in dieser Richtung<br />
stammt von dem französischen jüdischen Gelehrten I. Halévy. Er erklärt, eigentümlich<br />
modern, erst ein „paulinischer“ oder „heidenschristlicher Kreis“, von dem Lukas unsere<br />
Erzählung übernahm, hätte den „<strong>Samariter</strong>“ in sie eingeführt 53 ). Im Munde Jesu jedoch<br />
wäre die Wahl eines <strong>Samariter</strong>s als dritter Person unserer Erzählung unmöglich gewesen.<br />
Halévy führt u. a. die neutestamentlichen Stellen an, in denen Jesus seine<br />
45) So R. Chr. Gittermann, Die Gleichnisse, 1803, S. 18.<br />
46) So R. Stier, Die Reden des Herrn, 3. Aufl. 1867 (†1862), S. 140.<br />
47) Erklärung des NT, 2. Teil, 1751, S. 192; ähnlich Mack, Koecher und Lisco.<br />
48) So H. Olshausen, Bibl. Comm., Bd. 1, 1830, S. 591; ferner z. B. Goebel.<br />
49) So J. J. Wettstein, Novum Testamentum, Bd. 1, 1751, S. 723.<br />
50) So I. de Beausobre—F. E. Rambach, Betrachtungen, 3. Teil, 1747, S. 448; vgl. auch Trench.<br />
51) Das Ev. n. Lk, 1880, S. 51; ähnlich auch Mangold und Stier.<br />
52) Vgl. aber z. B. C. H. Frhr. v. Canstein, Harmonie, 1718, S. 828.<br />
53) Sens et Origine de la Parabole Evangelique dite au bon Samaritain, in: Revue des Etudes Juives,<br />
1882, S. 253 und 255.
124<br />
Jünger an „orthodoxe Israeliten“ verweise 54 ), wie z. B. Mt 10, 5f. Havély weist auch<br />
darauf hin, daß bei der traditionellen Feindschaft zwischen Juden und <strong>Samariter</strong>n ein<br />
jüdischer Wirt einen <strong>Samariter</strong> schwerlich aufgenommen hätte 55 ). Auch von daher meint<br />
er, daß in der Erzählung statt des <strong>Samariter</strong>s unsprünglich von einem „Israeliten“ die<br />
Rede war, wobei „Israelit“ gemäß rabbinischer Gesetzesterminologie im Sinne von<br />
„Laie“ zu verstehen sei 56 ). Ausgerechnet der Klerus geht vorbei, während der einfache<br />
jüdische Laie hilft 57 ).<br />
Ging es bisher um das Ausmaß der Nächstenliebe, so fehlt es auch nicht an<br />
Auslegern, die die Frage nach dem Vollzug der Nächstenliebe in den Vordergrund<br />
stellen: Wie kommt Nächstenliebe überhaupt zustande?<br />
Die eine Antwort, die immer wieder auftaucht, lautet: Nicht durch theoretische<br />
Überlegungen, sondern nur durch konkretes Tun. So erklärt z. B. A. W. Meyer: „Statt auf<br />
die theoretische Frage des Schriftgelehrten Vers 39 den directen und theoretischen<br />
Bescheid zu geben . . ., giebt Jesus . . . eine praktische Belehrung darüber, wie man<br />
tatsächlich der Nächste des Anderen werde, nämlich durch thätig helfende Liebe . . .“ 58 ).<br />
E. H. Plumptre, in derselben Linie bleibend, betont, die Antwort Jesu auf die ihm<br />
gestellte Frage bestehe in einer Demonstration. Von der Frage Vers 29 gelte: „Solvitur<br />
amando“ 59 ). Häufig wird in diesem Zusammenhang auch auf die Verschiedenheit von Lk<br />
10, 29 und 36 hingewiesen, wobei dann der Wechsel der Fragestellung: Wer ist mein<br />
Nächster (Vers 29)—wen bin ich Nächster (Vers 36) Bedeutung gewinnt. So erklärt z. B.<br />
Joh. Ev. Goßner: „Das Elend muß uns so zu Herzen gehen, daß uns nicht anders zu Mute<br />
ist, als wäre uns der Schaden . . . selbst begegnet“ 60 ). I. Stockmeyer verbindet diesen<br />
Gedanken, daß es sich in den anderen hineinzuversetzen gelte, mit dem der Totalität der<br />
Liebe, wie sie in Vers 27 gefordert wird: Solange ich nur frage, wen<br />
54) AaO S. 259.<br />
55) AaO S. 253.<br />
56) AaO S. 254.<br />
57) AaO S. 255.<br />
58) Krit.-exeget. Komm., Mk und Lk, 5. Aufl. 1867, S. 407; ähnlich z. B. Paulus, de Wette, v.<br />
Hofmann, Goebel.<br />
59) Bible Commentary, Bd. 6, 1878, S. 288; vgl. auch z. B. Stein, de Wette, Holtzmann und Goebel.<br />
60) Die hl. Schriften des NT, 3. Teil, 3. Aufl. o. J., S. 151.
125<br />
ich lieben soll, so würde es immer aufh Abstriche hinauslaufen; „wenn sich’s fragt: Wer<br />
ist der alter ego, von dem ich geliebt werden soll, da ziegt sich mein ego weitherziger und<br />
anerkennender“ 61 ). Hier ist wieder eine Anspielung auf Lk 6, 31 bzw. Mt 7, 12<br />
unverkennbar.<br />
Doch nicht nur auf die Situationsgebundenheit und, im Zusammenhang damit, die<br />
Notwendigkeit, vom anderen her zu denken, wird bei der Frage nach dem<br />
Zustandekommen der geforderten Liebe rekurriert, sondern auch auf die ihr<br />
wesenseigene Innerlichkeit. So erklärt schon J. D. Michaelis, Nächstenliebe sei eine<br />
„Sache des Herzens und nicht des Verstandes“ 62 ), und C. E. van Koetsveld bezeichnet sie<br />
als „innerliche Barmherzigkeit“ 63 ). Ganz offensichtlich stehen dabei die Wendungen έξ<br />
όλης τής καρδίας σου (Vers 27) und έσπλαγχνίαθη (Vers 33) im Hintergrund.<br />
b) Das soteriologische Motiv<br />
Soweit sich feststellen läßt, hat sich nur in einem einzigen Falle das hamartologische<br />
Moment, das wir ja zunehmend auch in den früheren Epochen fanden 64 ), zu einem<br />
selbstständigen Hauptmotiv entfaltet. Bei J. Chr. Koecher nämlich ist die Frage nach dem<br />
Handlen überwiegend nur noch das Mittel, um das Scheitern des Menschen am Gesetz<br />
und damit indirekt die Notwendigkeit einer geschenkten Gnade aufzuzeigen. Er<br />
unterscheidet 65 ) zu Vers 28 zwischen einer eigentlichen 66 ) und einer übertragenen<br />
Auslegung 67 ). „Eigentlich“ gehe es darum, daß, wer die Gebote „aus echtem Glauben“ an<br />
Gott halte, auf dem Wege zum ewigen Leben sei. Übertragen aber würde mit unserer<br />
Erzählung gesagt, „daß wir durch gute Werke niemals Vergebung der Sünden erlangen,<br />
sondern eher durch den Glauben . . . .“ 68 ). Diese und ähnliche Sätze hinsichtlich des<br />
übertragenen Verständnisses sind bei ihm dann doch die tragenden Stützen der<br />
Auslegung. In allen anderen Fällen stehen die hamarto-<br />
61) Exeget. und prakt. Erklärung ausgewählter Gleichnisse, 1897 (†1894), S. 245; ähnlich auch z. B.<br />
Trench.<br />
62) Anmerkungen, 1. Teil, 1790, S. 424; vgl. auch z. B. Hahn.<br />
63) De Gelykenissen, 2. Teil, 1869, S. 295.<br />
64) S. z. B. oben S. 71f., 95, 111f.<br />
65) Im Anschluß an Schoettgen.<br />
66) Proprius.<br />
67) Figuratus.<br />
68) J. Chr. Koecher—J. Chr. Wolf, Analecta philologica, 1766, S. 279.
126<br />
logisch-soteriologischen Gedankengänge im Dienste des ethischen Hauptmotives 69 ).<br />
IV. <strong>Der</strong> christliche Charakter unseres Textes<br />
1. Häufiger als bei der christologischen und bei der soteriologischen Auslegung wird<br />
der christliche Charakter unseres Textes bei der ethischen Auslegung zum Gegendstand<br />
ausdrücklicher Erörterungen. So fragt Claus Harms in seiner Pastoraltheologie, um seine<br />
These von der notwendigen Ergänzung der sonntäglichen Evangelientexte durch die<br />
Episteln zu untermauern, ausdrücklich: „ . . . wird es nicht schwer halten bey einigen<br />
Perikopen, z. B. bey der vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> . . . , daß man ein christliches<br />
Thema irgendwie darin finde?“ 70 )<br />
2. Die Antwort auf diese bei Harms symptomatisch ausgesprochene Frage wird in<br />
unserem Zeitabschnitt vor allem von Lk 10, 28 aus gegeben. Dabei sind die<br />
Gedankengänge, die sich von hier aus mit dem Scheitern des Gesetzes befassen, in der<br />
Regel noch stärker als früher in Ausführungen über ein Handeln aus „Glauben“<br />
eingespannt 71 ), ein Liebeshandeln, das aus dem Liebeshandeln Jesu fließt 72 ). Zum Teil<br />
wird sehr deutlich auf die dogmatische Lehre vom „tertius usus legis“ angespielt 73 ).<br />
Solcher stark dogmatischen Prägung der Auslegung steht im behandelten Zeitraum<br />
die strenger exegetische Überlegung gegenüber, warum expressis verbis in unserem Text<br />
vom Gehorsam aus Glauben nicht geredet wird. So erklärt z. B. I. de Beausobre zu Vers<br />
27: „Hieraus entsteht aber eine Schwierigkeit. Denn es fragt sich, warum der Heiland<br />
diesem Schriftgelehrten, als er ihn fragte . . . , nichts vom Glauben an seinen Namen<br />
gesaget . . .?“ Und Beausobre gibt dann die Antwort: „Hätte es der Heiland mit einem<br />
Menschen zu tun gehabt, der nicht ferne war vom Reiche Gottes, oder der wenigstens die<br />
Absicht gehabt, vom Reiche Gottes unterrichtet zu<br />
69) S. dazu schon oben S. 123 und unten Zeile 15ff.<br />
70) Pastoraltheologie I, 1830, S. 66.<br />
71) So F. Bleek (†1859), Synoptische Erklärung, 2. Bd., 1862, S. 279.<br />
72) So W. Mangold, Populäre Aulegung, 1861, S. 204.<br />
73) Vgl. J. F. Haug, <strong>Der</strong> heiligen Schrift fünfter Theil (Berleburger Bibel), 1735, S. 574, wo sogar die<br />
Formula Concordiae V, 7 (Epit.) zitiert wird.
127<br />
werden, so würde er ohne allen Zweifel deutlicher mit ihm gesprochen haben“ 74 ). F. E.<br />
Rambach erweitert diese Argumentation noch durch den Hinweis auf das Gegenbeispiel<br />
des Nikodemus 75 ), der eine ganz andere „Absicht und Begierde“ hatte und zu dem Jesus<br />
deshalb auch ganz anders redete 76 ). Doch beeilt sich Rambach, hinzuzufügen: „Indes ist<br />
dem ohnerachtet gewiß, daß diese Antwort Jesu sehr bequem war, diesem<br />
Schriftgelehrten zum Glauben und zur Erkenntnis der Gnade Jesu zu bringen“ 77 ). <strong>Der</strong> viel<br />
jüngere F. Godet erklärt sogar, daß der Schriftgelehrte sich nicht zu der Erkenntnis von<br />
R. 7 durchzuringen vermochte und Jesus das Gespräch eben deshalb nicht bis zur letzten<br />
Konsequenz führte 78 ).—Diese letzten Bemerkungen stellen es außer Zweifel, daß für ihre<br />
Autoren der christliche Charakter unserer Textes von der Exegese aus zum Problem<br />
geworden ist. Man sieht die Schwierigkeit, daß er jedenfalls nicht unverhüllt vor Augen<br />
liegt und versucht nunmehr, sie mit dem Hinweis auf die Gesprächssituation und das<br />
seelsorgerliche Anliegen Jeus zu lösen.<br />
So empfand es auch H. A. W. Meyer, wenn er sogar bestritt, daß Jesus in Vers 28 auch<br />
nur indirekt auf eine Notwendigkeit des Glaubens zum Handeln hingewiesen habe:<br />
„Somit hat Jesus Grundgesetz der göttlichen Vergeltung ausgesprochen wie Paulus R. 2,<br />
13. Wie aber weiter dieses sittliche Grundgesetz zur Notwendigkeit der<br />
Glaubensgerechtigkeit führe . . . , darüber hatte er sich dem gesetzlichen Versucher<br />
gegenüber nicht zu erklären“ 79 ).<br />
3. Neben diesen umfassenden Erörterungen zu Vers 28, ob Jesus auf den Glauben als<br />
Voraussetzung des Tuns bzw. das Scheitern am Gesetz hinweise, spielen jedoch in<br />
unserem Zusammenhang auch gewisse Einzelbeobachtungen zu Vers 25–29 und 36f.,<br />
dem Gesamtrahmen unserer Erzählung, eine Rolle. So finden manche Ausleger hier neue<br />
Argumente dafür, daß hinter unserem Text der Gedanke der „Gerechtigkeit ohne des<br />
Gesetzes Werke“ steht. Nicht selten<br />
74) So I. de Beausobre—F. E. Rambach, Betrachtungen, 3. Teil, 1747, S. 443; ähnlich Stein und v.<br />
Hofmann.<br />
75) Joh. 3, 1ff.<br />
76) AaO.<br />
77) AaO S. 444.<br />
78) Comm. zu . . . Lucas, bearbeitet von R. E. Wunderlich, 1872, S. 274; vgl. auch Michaelis.<br />
79) Krit.-exeget. Komm., Mk und Lk, 5. Aufl. 1867, S. 404.
128<br />
wird darauf hingewiesen, daß die Wendung „Gehe hin und tue desgleichen“ (Vers 37)<br />
deutlich auf Vers 28 anspiele, es sei aber nicht von ungefähr, wenn Jesus, nachdem er<br />
dem Schriftgelehrten die ganze Tragweite des Gesetzes klargemacht hat, in diesem<br />
Schlußplatz die Worte „so wirst du leben“ (Vers 28) weglasse 80 ). Beachtet wird auch, daß<br />
sich der Schriftgelehrte in seiner Frage Vers 28 des Wortes κληρονοµεΐν bedient. Daher<br />
bringt F. G. Lisco die Geschichte vom barmherzigen <strong>Samariter</strong>, die das altkirchliche<br />
Evangelium des 13. Sonntags nach Trinitatis ist, mit der dazugehörigen Epistel Gal. 3,<br />
15–22 in sachliche Verbindung, denn hier sei ja davon die Rede, daß die κληρονοµία<br />
nicht durch das Gesetz erworben werde, sondern durch die Verheißung 81 ). Offenbar aus<br />
dem gleichen Grunde zieht W. Mangold R. 8, 17 zum Verständnis heran 82 ). Wir sehen<br />
also, wie die Deutung von Lk 10, 25–37 mit Hilfe paulinischer Zusammenhänge in<br />
diesem Zeitabschnitt noch weiter zugenommen hat, während die Bergpredigt zwar häufig<br />
zur Konkretisierung des Scopus 83 ), sehr selten aber hinsichtlich des christlichen<br />
Charakters unseres Textes benutzt wird.<br />
Immerhin gibt es Ausleger, die hinsichtlich von Vers 28 und 37 beides, Glauben und<br />
Tun, im Sinne ihres Gleichgewichtes zur Geltung zu bringen versuchen. So meint K. W.<br />
Stein, Vers 28 sei im Munde Jesu durchaus möglich, da in der Tat „dioe Gemeinschaft<br />
mit Gott und mit den Brüdern der höchste Zweck sei, den das Evangelium zu erreichen<br />
bemüht ist“ 84 ). Und I. Stockmeyer weist in Auseinandersetzung mit Claus Harms 85 ) u. a.<br />
darauf hin, es gehe in Vers 28 um die „Betätigung des von Gott ihm (scil. dem<br />
Menschen) mitgeteilten Lebens“ 86 ).<br />
4. Bedeutsam ist auch, daß man in unserem Zeitraum ganz allgemein die Person Jesu<br />
als des Erzählenden stärker in den Vordergrund rückt, ohne daß damit schone eine<br />
christologische Auslegung<br />
80) So F. Godet, Comm. zu . . . Lucas, bearbeitet von R. E. Wunderlich, 1872, S. 276; vgl. ferner das<br />
Handbuch der Bibelauslegung, Calwer-Verlagsverein.<br />
81) Gal. 3, 18—Die Parabeln Jesu, 2. Aufl. 1834, S. 187.<br />
82) Populäre Auslegung, 1861, S. 198.<br />
83) S. o. S. 122.<br />
84) Komm. zu . . . Lucas, 1830, S. 140.<br />
85) S. o. S. 126.<br />
86) Exeget. und prakt. Erklärung ausgewählter Gleichnisse, 1879, S. 227; ähnlich Doddridge.
129<br />
eingeführt wird. Nicht nur, daß z. B. von dem „Causalnexus“ zwischen Jesu Liebe und<br />
der von uns geforderten Liebe gesprochen wird 87 ), es finden sich in den Auslegungen<br />
häufig auch Passagen, die „die Weisheit und Klugheit unseres Heilandes“ 88 ) in der<br />
Gesprächsführung hervorheben. Aus der Erzählung, so heißt es gelegentlich unter<br />
Anspielung auf Mt 7, 29, hätten die Zuhörer gemerkt, daß Jesus nicht nur „gewaltig<br />
predige, sondern auch gewaltig, das ist mit gewaltiger Überzeugung, disputiere 89 ). Wir<br />
haben hier also den Versuch vor uns, die Vollmacht Jesu aus unserem Text selbst<br />
abzuleiten. Dies geschieht, indem man den Text als ganzen zum Beispiel des<br />
einzigartigen Umgangs Jesu mit Menschen macht.<br />
5. Erstmals in der Auslegungsgeschichte finden sich nun allerdings auch eine größere<br />
Anzahl von Exegesen, denen es nicht nur auf die Unterstreichung des christlichen<br />
Charakters unseres Textes ankommt, sondern zugleich auch auf eine Hervorhebung des<br />
Naturrechts 90 ). Allerdings besteht hier nie eine Alternative zu den bisher aufgezeigten<br />
Motiven. Die naturrechtliche Erklärung steht stets neben auf Christus weisenden<br />
Motiven.<br />
So wird das geforderte Handlen etwa von der „natürlichen Gutherzigkeit“ her 91 ), von<br />
der „Verbindung“ her, „worin ein Mensch mit dem andern steht“ 92 ), begründet. Ein<br />
anderes Mal wird erklärt, es gehe um den Mitmenschen, der „eben sowohl ein Mensch ist<br />
als ich, und den ich nicht anders als mich anzusehen habe, folglich ihm erweisen muß,<br />
was ich von ihm verlange“ 93 ). Solche Ausführungen zeigen, daß hier offensichtlich von<br />
einem typisch rationalistischen Ansatz aus die Wendung Vers 27 „wie dich selbst“ neu<br />
interpretiert wird.—Bei F. Godet findet sich ein weiterer exegetischer Grund für den<br />
naturrechtlichen Gesichtspunkt: „<strong>Der</strong> wahre Zweck des Gleich–<br />
87) So I. Stockmeyer, aaO S. 227.<br />
88) So z. B. I. de Beausobre—F. E. Rambach, Betrachtungen, 3. Teil, 1747, S. 440.<br />
89) So Chr. A. Heumann, Erklärung des NT, 2. Teil, 1751, S. 191; ähnlich auch Gray, Unger, Nösgen.<br />
90) So besonders deutlich J. G. Rosenmüller, Scholia, Bd. 2, 6. Aufl. 1826, z. St.; zur Vorbereitung<br />
dieses Motivs siehe schon oben S. 109.<br />
91) So J. D. Michaelis, Anmerkungen, 1. Teil, 1790, S. 425.<br />
92) So Ph. Doddrodge, Paraphrastische Erklärung, 2. Abt., 1756, S. 125; ähnlich Gittermann und<br />
Kromm.<br />
93) Chr. A. Heumann, Erklärung des NT, 2. Teil, 1751, S. 194f. Er zitiert dazu Cicero, lib. I, De<br />
officiis, cap. VII.
130<br />
nisses vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> ist, dem Schriftgelehrten zu zeigen, daß die von ihm<br />
gestellte theologische Frage in jedes aufrichtige Herz geschrieben ist . . . . Er besaß von<br />
selbst φύσει (R. 2, 14), das Licht, welches der Rabbiner nicht gefunden oder in seinen<br />
theologischen Grübeleien verloren hatte“ 94 ).<br />
V. Zusammenfassung<br />
1. Es ist in starkem Maße aufschlußreich, bei der Zusammenfassung unserer<br />
Ergebnisse die Ausführungen A. Jülichers über die Geschichte der Gleichnisauslegung<br />
heranzuziehen 95 ).—Die Durchmusterung der Geschichte der Auslegung von Lk 10, 25–<br />
37 ergibt für das 18. und 19. Jahrhundert nämlich, daß eine erhebliche Anzahl von<br />
Autoren, in deren Auslegungen Jülicher generell noch „allegorische“ Züge findet,<br />
speziell zu unserem Text allegorisch-christologische Gedanken entweder nur in der Form<br />
homiletischer Anwendung bringt 96 ) oder aber ganz auf sie verzichtet 97 ). Schon eine<br />
geraume Zeit also vor dem grundsätzlichen Bruch mit der „allegorischen“<br />
Auslegungsmethode, wie er durch Jülicher herbeigeführt wurde, hat die Mehrzahl der<br />
Exegeten des 18. und 19. Jahrhunderts 98 ) ein christologisches Verständnis unserer<br />
Erzählung nicht mehr für richtig gehalten.<br />
2. Nicht weniger wichtig ist, daß auch, ganz abgesehen von christologischen<br />
Gedankengängen, in der Mehrzahl der Auslegungen<br />
94) Comm. zu . . . Lucas, bearbeitet von E. R. Wunderlich, 1872, S. 275; ähnlich auch v. Canstein und<br />
Bauer.<br />
Schließlich bleiben einige wenige Auslegungen zurück—die geringe Zahl kann natürlich durchaus an<br />
der Unvollständigkeit unseres Materials liegen—in denen überhaupt kein oder nur sehr wenig Interesse<br />
vorliegt, den christlichen Charakter der Erzählung hervorzuheben (so Wolf, Wettstein, Moldenhauer,<br />
Mack, Morus, Kuinoel, Bornemann, Lisco, Baumgarten-Crusius und de Wette). Allerdings ist bei der<br />
Mehrzahl dieser Autoren überhaupt nicht viel theologisches Interesse zu finden, geht es bei ihnen doch<br />
im wesentlichen um philologische Probleme.<br />
95) Siehe: Die Gleichnisreden Jesu, 1. Teil, 2. Aufl. 1910, S. 203ff.<br />
96) So Trench, Goebel und Keil; vgl. generell zu diesen Auslegern Jülicher, aaO S. 300, 315f., 312.<br />
97) Bengel, Bauer, Paulus, Lisco, de Wette, Bleek, Godet, v. Hofmann und Nösgen; vgl. Jülicher, aaO<br />
s. 285, 290, 292f., 303, 306f., 312f.<br />
98) S. dazu oben S. 117f. und S. 118ff.
131<br />
unseres Zeitabschnittes ausdrücklich Wert auf die Herstellung des christlichen Charakters<br />
unseres Textes gelegt wird. Diesbezügliche Bemühungen scheinen häufig in pietistischen<br />
Einflüssen ihren Grund zu haben. Als ausgesprochen pietistische Ausleger wird man C.<br />
H. Frhr. v. Canstein, J. F. Haug (Berleburger Bibel), F. E. Rambach, J. A. Bengel, Joh.<br />
Ev. Goßner und R. Stier bezeichnen dürfen. Direkte pietistische Einflüsse liegen aber<br />
auch wieder bei O. v. Gerlach, H. v. Olshausen, F. G. Lisco, F. Godet, J. Chr. K. v.<br />
Hofmann, C. F. Keil und C. F. Nösgen vor, in anderer Weise ebenfalls bei Ph. Doddridge<br />
(Dissenter). Hinzu kommen stärker indirekte Einflüsse des Pietismus auf Anglikaner<br />
durch Berührung mit der englischen Erweckungsbewegung—so bei R. C. Trench—und in<br />
Deutschland durch die Schleiermachersche Theologie—so bei L. F. O. Baumgarten-<br />
Crusius und F. Bleek 99 ).<br />
Unter pietistischem Einfluß sind die Argumente, die für das spezifisch Christliche an<br />
unserem Text geltend gemacht werden können, weiter ausgebaut worden. Dabei spielen<br />
seelsorgerliche und psychologische Momente eine erhebliche Rolle. Sie führen auch zu<br />
einem stärkeren Ernstnehmen der in unserem Text vorliegenden Situation.<br />
3. Bemerkenswert ist weiter, daß, obwohl der christliche Charakter unseres Textes of<br />
t sehr stark betont wird, dennoch der ethische Scopus erstaunlich selten aufgelöst wird.<br />
Hier mag pietistisches Drängen auf Heiligung eine Rolle gespielt haben. Jedoch bleibt<br />
auch exegetisch wichtig, daß man gerade unseren Text als geeignete Grundlage für<br />
solches Drängen ansah.<br />
4. Es gibt freilich auch eine Gruppe von vor allem rationalistisch beeinflußten<br />
Auslegern, die eine christliche Begründung des geforderten Handelns—um das Handeln<br />
geht es auch ihnen—nicht für notwendig hält. Besonders sind in dieser Hinsicht zu<br />
nennen J. Chr. Wolf, H. E. G. Paulus, G. L. Bauer, J. J. Kromm, J. G. Rosenmüller,<br />
ferner aber auch die Übergangstheologen zur Neologie J. D. Michaelis, S. F. N. Morus<br />
und D. Chr. Kuinoel. Ihre Auslegungen sind für die Frage nach dem Für und Wider einer<br />
christologischen Auslegung natürlich nicht in dem Maße von Wert wie diejenigen, die an<br />
der spezifisch christlichen Eigenart unseres Textes interessiert sind.<br />
99) Beachtet werden muß auch, daß der Übergang vom Pietismus zum Rationalismus ja fließend ist.
132<br />
Immerhin belegen sie auf ihre Weise, wie stark in dem Zeitraum, dem sie angehören, die<br />
christlogische Auslegung der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> zurückgetreten ist.<br />
B. Die römisch-katholische Auslegung<br />
1. <strong>Der</strong> Unterschied zwischen den bisher behandelten Arbeiten und den römischkatholischen<br />
Auslegungen derselben Zeit, soweit sie erreichbar waren, ist gegenüber<br />
früher größer geworden. Zwar läßt sich auch bei den römisch-katholischen Theologen<br />
meist ein ethisches Hauptmotiv finden, aber daneben bleibt es in der Regel bei einer<br />
„allegorischen“ Auslegung. Sie wird freilich fast immer in referierender Form unter<br />
Bezug auf die Väter gebracht. Mit dem ethischen Motiv ist sie jedoch entweder gar nicht<br />
verbunden 100 ), oder das Motiv der Vorbildlichkeit Jesu als Bindeglied zwischen ethischer<br />
und „allegorischer“ Auslegung klingt nur andeutungsweise an 101 ). Häufig wird eine<br />
gewisse Überordnung des ethischen Motivs über das „allegorische“ auch nur so deutlich,<br />
daß letztere von vornherein unter die Überschrift „moralische“ Auslegung gestellt ist 102 ).<br />
2. Beim ethischen Hauptmotiv ist als bemerkenswert zu notieren, daß der Gegensatz<br />
Jesu gegen die bloß „äußerlichen Ceremonien“ 103 ) in den römisch-katholischen<br />
Auslegungen unseres Zeitraumes eine größere Rolle spielt als in den evangelischen<br />
Auslegungen 104 ). <strong>Der</strong> Fragenwechsel von Vers 29 zu Vers 36 wird auf Grund der<br />
Ausführungen Augustins über die Reziprozität des Nächstenbegriffs 105 ) fast überall<br />
beachtet.<br />
3. Über die christologische Auslegung hinaus finden sich Versuche, den christlichen<br />
Charakter unseres Textes herauszustellen, nicht sehr häufig, abgesehen von der<br />
traditionellen Betonung des Zusammenhangs von Gottes- und Nächstenliebe. Am ehesten<br />
wird<br />
100) Vgl. J. Tirinius, Comm. in S. Scripturam, tom. II, 1719, S. 993 und A. Calmet, Comm. literalis,<br />
Bd. 7, 1760, S. 441 A.<br />
101) So J. Knabenbauer, Ev. sec. Lucam, 1896, S. 347.<br />
102) So Natalus Alexandrus nach dem Titel seines Kommentars: Expositio litteralis et moralis, 1721;<br />
ferner F. Pölzl, Kurzgefaßter Comm., 1887, S. 157.<br />
103) So W. F. Hezel, Lucas, 1780ff., S. 440.<br />
104) Vgl. J. Tirinius, aaO S. 993 und J. Knabenbauer, aaO S. 345.<br />
105) S. o. S. 56.
133<br />
noch die Erweiterung des Nächstenbegriffs als solche für spezifisch christlich<br />
angesehen 106 ). Hingegen wird den Wendungen Vers 28 „Tue das, so wirst du leben“ und<br />
Vers 37 „Gehe hin und tue desgleichen“, die in den evangelischen Auslegungen bei der<br />
Herausstellung des christlichen Charakters der Erzählung eine relativ große Rolle gespielt<br />
haben, in den römisch-katholischen Auslegungen kaum mehr Aufmerksamkeit<br />
geschenkt 107 ).<br />
4. Endlich verdient es Beachtung, daß die Aufführungen über die Abhängigkeit der<br />
Liebe nicht von der Tugend, sondern von der Natur des Menschen 108 ) häufig auch hier<br />
einen rationalistischen Klang bekommen. Das ist etwa der Fall, wenn gesagt wird, es<br />
gelte, hinsichtlich der Nächstenliebe auf die „Stimme der Natur“ zu hören 109 ).<br />
5. Weder der Abbau der christologischen Auslegung noch die Herausstellung des<br />
christlichen Charakters unserer Erzählung werden also in den römisch-katholischen<br />
Auslegungen dieses Zeitabschnitts so bewußt betrieben, wie es uns in großen Teilen der<br />
gleichzeitigen evangelischen Auslegungen entgegengetreten ist. Dennoch wird man nicht<br />
leugnen können, daß sich auch auf römisch-katholischer Seite, obwohl erheblich<br />
verhaltener, eine ähnliche Entwicklung anbahnt wie im evangelischen Raum.<br />
106) So z. B. F. Pölzl, aaO S. 184, unter Hinweis auf Joh. 13, 34.<br />
107) Ausnahme: P. Schanz, Comm. über . . . Lucas, 1883, S. 308, im Sinne der Notwendigkeit guter<br />
Werke zum ewigen Leben.<br />
108) S. o. S. 129f., s. auch schon S. 99, Anm. 2, soweit es dort um Origenes und Ambrosius geht.<br />
109) So z. B. A. Calmet, aaO S. 441 und P. Schanz, aaO S. 308.
Kapitel 6<br />
DIE WICHTIGSTEN ZÜGE<br />
DER AUSLEGUNG SEIT JÜLICHER 1 )<br />
I. Die Ablehnung der christologischen Auslegung<br />
Obwohl neuerdings wieder ein zunehmendes Interesse an dem christologischen<br />
Verständnis unserer Erzählung zu bemerken ist 2 ), geht die Mehrheit der Ausleger diesen<br />
Weg nicht. Es kommt auch nur selten zu ausdrücklicher Auseinandersetzung mit der<br />
christologischen Interpretation. Immerhin wird es nützlicher sein, sich einen Überblick<br />
über die neuere Diskussion hinsichtlich des christologischen Verständnisses unseres<br />
Textes zu verschaffen und sie auf neue Argumente hin zu prüfen.<br />
Von den Autoren, die hier zu nennen sind, verdient vor allem G. Eichholz Beachtung,<br />
weil er unsere Perikope früher selbst christologisch interpretierte 3 ). Seine neueste Arbeit<br />
auf diesem Gebiet „Einführung in die Gleichnisse“ enthält jedoch eine klare Absage an<br />
die christologische Auslegung 4 ). Die „allegorische Auslegung“, so erklärt er zu unserem<br />
Text, „verkennt gerade das besondere Sprachproblem des Gleichnisses und verschiebt es<br />
. . . . Sie respektiert gerade bei unserem Gleichnis nicht, daß die Beispielerzählung<br />
solcher allegorischen Deutung am allerwenigsten bedarf“ 5 ). Argumentiert Eichholz vom<br />
„Sprachgeschehen“, so sucht der Holländer C. H.<br />
1) Als terminus a quo für die Gleichnisauslegung der Moderne wurde das Erscheinen des Werkes von<br />
A. Jülicher, Die Gleichnisreden Jesu, 2. Teil, 1899, gewählt.<br />
2) S. Kapitel 1.<br />
3) S. o. S. 11f.<br />
4) In dem oben S. 16 definierten Sinne.<br />
5) Einführung in die Gleichnisse, S. 110.
135<br />
Lindijer 6 ) das Problem von einer anderen Seite her anzugeben. Für ihn steht fest, daß<br />
„Lukas“ selbst an ein christologisches Verständnis nicht gedacht haben kann, da er Lk<br />
10, 30ff. sonst schwerlich mit 10, 25–29 verkoppelt hätte, einem Stück, das ein solches<br />
Verständnis nur zu erschweren geeignet ist 7 ). Von daher wirft er die grundsätzliche Frage<br />
auf, ob es richtig ist, unsere Erzählung „besser verstehen zu wollen als Lukas selber“ 8 ).<br />
Abgesehen von diesen hermeneutischen Bedenken ist wichtig, daß Lindijer das Problem<br />
der Hoheitstitel Jesu im Verhältnis zur christologischen Auslegung unseres Textes<br />
anschneidet. Er weist darauf hin, daß die anderen Bilder, unter denen in der<br />
neutestamentlichen Überlieferung Jesus als Wirkender dargestellt wird—Jesus als<br />
Sämann, als Bräutigam, als Herr über Knechten usw.—, in ganz anderer Weise „für sich<br />
sprechen und auf der Hand liegen“, als das der Fall wäre, wenn sich hinter dem <strong>Samariter</strong><br />
unseres Textes Jesus verbergen würde 9 ). In dieselbe Richtung geht im übrigen schon A.<br />
Jülichers Bemerkung, daß, falls unsere Erzählung wirklich allegorisch verstanden werden<br />
wollte, in Vers 36f. Jesus als unser Nächster bezeichnet sein müßte. Dafür aber finde sich<br />
sonst nirgends im Neuen Testament ein Anhalt 10 ).<br />
Wichtig ist auch folgende Äußerung Jülichers: „Daß ein Claus Harms es schwer<br />
findet, zu Predigten über das Gleichnis vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> irgend ein<br />
christliches Thema zu finden, zeigt . . . schmerzlich, wie weit entfernt der orthodoxe<br />
Begriff des Christlichen von dem, den der Erzähler von Lc 10, 30ff. damit verbunden<br />
haben würde, liegt.“ 11 ) Diese Mahnung, den Begriff des Christlichen nicht zu eng zu<br />
fassen, behält auch dann ihre Bedeutung, wenn man mit demWort „christlich“ nicht<br />
dieselben Vorstellungen wie Jülicher zu verbinden vermag.<br />
Schließlich seien die Einzelbemerkungen erwähnt, die Lindijer zu den eingangs<br />
unserer Arbeit besprochenen drei Auslegungen macht.<br />
6) Oude en nieuwe visies op de gelijkenis van de barmhartige Samaritaan, in: Ned. Theol. Tijdschrift<br />
1960, S. 11ff.<br />
7) AaO, speziell gegen Gerhardsson siehe daselbst Anm. 1, speziell gegen Binder aaO S. 19.<br />
8) AaO S. 16.<br />
9) Die Gleichnisreden Jesu, 2. Teil, 2. Aufl., S. 597.<br />
10) AaO.
136<br />
zu dem Argument, daß σπλαγχνίζεσθαι (Vers 33) sonst nur in bezug auf Gott gebraucht<br />
wird 11 ), weist Lindijer auf die häufige Verwendung dieses Verbs in der Septuaginta auch<br />
für menschliches Erbarmen hin. Außerdem fragt er mit Recht, ob es dem Verständnis der<br />
unzertrennlichen Verbindung von Gottes- und Nächstenliebe im Neuen Testament gemäß<br />
wäre, wenn die göttliche Barmherzigkeit durch ein separates Wort wiedergegeben<br />
würde 12 ). Gegen Gerhardsson wendet Lindijer vor allem ein, daß es völlig unbewiesen<br />
ist, ob Jesus wirklich mit Wortspielen im Sinne der ’al-tiqre-Methode argumentiert hat 13 ).<br />
Besonders scharf greift er Gerhardssons Versuch an, bei seiner christologischen<br />
Auslegung die Möglichkeit offenzuhalten, daß die Verse 25–29 doch ursprünglich mit<br />
der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> zusammengehörten. Lindijer hält es für<br />
ausgeschlossen, daß, wenn wirklich innerhalb des Gesprächs eine Verlagerung von העד<br />
auf הער stattgefunden hätte, sich davon keinerlei Spuren mehr erhalten haben sollten.<br />
Auch weist er darauf hin, wie unbefriedigend der Verlauf des Gesprächs sein würde,<br />
wenn Jesus auf die Frage nach dem העד einfach eine Antwort über den הער gäbe 14 ). Zu<br />
Binder weist Lindijer darauf hin, daß auch von ihm eine ganze Reihe von Zügen der<br />
Erzählung gepreßt oder übergangen werden muß, wenn sie eine Auslegung nicht von<br />
vornherein unmöglich machen soll. Welche Bedeutung hat es z. B., daß Jesus sich<br />
ausgerechnet mit einem „Halbtoten“ (Vers 30) vergleicht? so fragt Lindijer, und weiter:<br />
Warum ist die für Binder wichtige Tatsache, daß der Verwundete in einer<br />
samaritanischen Herberge aufgenommen wird, nicht erwähnt, und wie paßt die Folgerung<br />
Binders, daß mit unserer Erzählung die Annahme Jesu in Samaria angedeutet würde, zu<br />
Kap. 9, 53? 15 )<br />
Die Ausführungen Lindijers lassen keinen Zweifel daran, daß es den neuen<br />
christologischen Auslegungsversuchen abensowenig wie den traditionellen gelungen ist,<br />
sich mit Erfolg gegen den Vorwurf der Künstlichkeit zu wehren.<br />
11) S. o. S. 2 und 4.<br />
12) Oude en nieuwe visies, in: Ned. Theol. Tijdschrift 1960, s. 15.<br />
13) AaO S. 18.<br />
14) AaO.<br />
15) AaO S. 19.
137<br />
a) Das ethische Motiv<br />
II. Die nichtchristologische Hauptmotive<br />
Weitaus die Mehrzahl der Ausleger stellt wieder die Forderung eines bestimmten<br />
Tuns in den Vordergrund.<br />
1. Ehe wir jedoch auf die Art und Weise eingehen, in der die Auslegungen der<br />
Moderne das ethische Motiv bringen, richten wir noch einmal gesondert unser<br />
Augenmerk auf die eingangs behandelten christologischen Exegesen. Wir sahen bereits<br />
dort, daß Gerhardsson und Binder ethische Motive hinsichtlich der ursprünglichen<br />
Fassung unserer Erzählung überhaupt abstreiten und daß Daniélou sie zwar zuläßt, selbst<br />
aber nicht entfaltet 16 ). Ein Zug zur Auflösung der ethischen Auslegung zugunsten der<br />
christologischen war hier unverkennbar. Auch bei K. Barth ist sehr zu fragen, ob es in<br />
manchen seiner Äußerungen zu unserer Erzählung wirklich im letzten noch um das<br />
Handeln oder nicht doch um ein soteriologisches Anliegen geht. Das gleiche gilt von G.<br />
Eichholz in seiner früheren Arbeit: „Jesus Christus und der Nächste.“ 17 ) Keinerlei<br />
ethische, sondern nur noch soteriologische Momente finden sich bei E. C. Hoskyns, f.<br />
Quievreux, A. Brémond und H. de Lubac. Im Gegensatz dazu ordnen von den übrigen<br />
Autoren, die Christologisches bringen, H. Gollwitzer in seiner jüngsten Arbeit „Das<br />
Gleichnis vom barmherzigen <strong>Samariter</strong>“, J.-S. Javet, H. Perroy und J. Dillersberger<br />
diese Motive den ethischen klar unter. <strong>Der</strong> Sache nach unverbunden ist die<br />
christologische Auslegung neben die ethische gestellt bei H. Gollwitzer in seiner früheren<br />
Arbeit „Die Freude Gottes“, bei C. E. B. Cranfield, T. W. Manson, Th. Innitzer und R.<br />
Riezler. Hierbei muß jedoch beachtet werden, daß die ethischen Ausführungen in der<br />
Regel durchaus den größeren Raum einnehmen und auf diese Weise das Übergewicht<br />
erhalten.<br />
So zeigt sich, daß wir auch hinsichtlich der christologischen Auslegung der Moderne<br />
stärker differenzieren müssen als das normalerweise geschieht und keineswegs alle<br />
christologischen Auslegungen auf derselben Linie mit denen Gerhardssons, Binders und<br />
Daniélous sehen dürfen. Während der eine Teil der modernen Exegeten christologische<br />
Motive bringt und ein ethisches Verständnis unserer Er-<br />
16) S. o. S. 17.<br />
17) Dagegen nicht mehr für seine jüngsten Ausführungen in der „Einführung in die Gleichnisse“, s. o.<br />
S. 134.
138<br />
zählung damit mehr oder weniger bewußt auszuschließen sucht, hält der andere Teil ein<br />
ethisches Verständnis nach wie vor für vorgängig.<br />
2. Was nun die Art der ethischen Hauptmotive betrifft, gleich, ob sie sich in<br />
christologischen oder nichtchristologischen Auslegungen finden, so ist zunächst darauf<br />
hinzuweisen, daß es auch in der Moderne fast immer um den Universalismus der<br />
Nächstenliebe geht 18 ).<br />
E. Stauffer meint zwar, nur in Lk 10, 29 und 36f. sei von Nächstenliebe die Rede, in<br />
Lk 10, 30–35 dagegen von Feindesliebe 19 ). Jedoch wird das von den meisten nach wie<br />
vor nicht als ein Gegensatz empfunden 20 ).<br />
Daß es wirklich um das Gebot der Feindesliebe geht, wird in den neueren Exegesen<br />
häufig mit Quellenzeugnissen über das Verhältnis von <strong>Samariter</strong>n und Juden belegt. Da<br />
wir Zeugnisse über die Feindschaft zwischen Juden und <strong>Samariter</strong>n sowohl aus der Zeit<br />
vor dem Auftreten Jesu haben 21 ) als auch aus der Zeit Jesu selber 22 ), wird man trotz<br />
zeitweiliger Entspannung unter Herodes 23 ) und trotz der gebotenen Vorsicht gegenüber<br />
Angaben aus der Zeit nach 70 n. Chr. Festhalten müssen: „Wir stehen . . . in dem uns<br />
beschäftigenden ersten nachchristlichen Jahrhundert in einem Zeitraum geschärfter<br />
Beziehungen zwischen Juden und <strong>Samariter</strong>n.“ 24 ) Wichtig ist auch, daß neuerdings<br />
relativ häufig betont wird, die Aufforderung zur Feindesliebe, —aufgezeigt am Beispiel<br />
des Handelns eines <strong>Samariter</strong>s—ordne sich zwangslos dem lukanischen Sondergut ein,<br />
zu dessen<br />
18) Vgl. z. B. E. Klostermann, Das Lukasev., 2. Aufl., S. 119ff.; W. Herbst, Das Lukasev., S. 123f.; J.<br />
Jeremias, Die Gleichnisse, 6. Aufl., S. 200ff.<br />
19) Jesus, Paulus und wir, S. 58.<br />
20) S. ähnlich bereits oben S. 121f.<br />
21) Vgl. J. Jeremias, Jerusalem zur Zeit Jesu, II B, 2. Aufl. 1958, S. 224ff. Er erinnert dort die<br />
Tatsache der Zerstörung des Garizim um 188 v. Chr.; s. auch z. B. die Stelle Sirach 50, 28 aus<br />
dem 2. vorchristl. Jahrhundert—ferner 2. Könige 17, 24ff; Esra 4; Joh. 4, 9 u. 8, 48.<br />
22) Vgl. J. Jeremias, aaO S. 225, ferner derselbe in ThWB VII, S. 88ff., Artikel Σαµάρεια und ebenso<br />
derselbe, Die Gleichnisse, 6. Aufl., S. 202. Erinnert sei z. B. an die Verunreinigung des<br />
Tempelplatzes in Jerusalem durch die <strong>Samariter</strong> in dem Zeitraum zwischen 6 und 9 n. Chr.; s.<br />
auch Lk 9, 52f.<br />
23) Gestorben 4 v. Chr.<br />
24) J. Jeremias, aaO, S. 225; vgl. auch derselbe ThWB VII, S. 91, Artikel Σαµάρεια.
139<br />
Grundzügen neben dem Interesse für die Zurückgesetzten ja auch speziell das Interesse<br />
für die <strong>Samariter</strong> gehöre 25 ).<br />
3. Hinsichtlich der Erläuterung der in unserer Erzählung aufgezeigten Feindesliebe<br />
wird die Verbindung zur Bergpredigt bzw. zur Feldrede umfassender und grundsätzlicher<br />
gezogen, als es bisher der Fall war. So erklärt M. Black: „In general, if the main point of<br />
the parable be the extraordinary act of humanity of the <strong>Samaritan</strong>, then it fits most<br />
naturally into Christ’s teaching in the Sermon on the Mount on Love Enemies and might<br />
be regarded as a concrete illustration of that teaching . . . . The <strong>Good</strong> <strong>Samaritan</strong> is<br />
showing a compassion such as God Himself has shown (VI, 35), he is fulfilling the<br />
threefold injunction of verses of 33–5 of love to enemies, doing good to those, that hate<br />
us and lending without hope of return.“ 26 ) Auch C. Spicq sieht unsere Erzählung<br />
weitgehend mit der Bergpredigt zusammen, wenn er erklärt: „In der Bergpredigt hatte<br />
Jesus seinen Jüngern befohlen, ihre Liebe nicht auf ihre Nächsten zu beschränken, auf<br />
die, von denen sie schon Beweise der Anhänglichkeit empfangen haben. Durch die<br />
weitere Ausdehnung ihrer Nächstenliebe unterscheiden sich die Christen von den<br />
άµαρτωλοί (Lk. 6 Vers 32–34) und werden oder zeigen sich als Söhne des Höchsten. Und<br />
nun ist hier gerade ein <strong>Samariter</strong> . . . das Modell einer authentischen Agape.“ 27 )<br />
Einige Ausleger ziehen speziell die sogenannte „Goldene Regel“ Mt 7, 12; Lk 6, 31<br />
vor allem zur Interpretation von Vers 27 heran 28 ). Es ist bemerkenswert, daß sie bei J. C.<br />
Gordon zu dominierendem Einfluß kommt, da er unsere Erzählung geradezu als<br />
Kommentar zu ihr versteht 29 ).<br />
4. Fragen wir, welche Züge im einzelnen am Liebeshandeln des <strong>Samariter</strong>s<br />
herausgestellt werrden, so ist auf eine ganze Reihe von<br />
25) Vgl. z. B. J. Weiß, Die drei älteren Ev., 2. Aufl., S. 448; J. Knox, The Gospel according to St Luke,<br />
S. 195; zum Grundsätzlichen vgl. z. B. K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 3f.<br />
26) The Parables as Allegory, in: Bull. of Ryl. Lib., 1959/60, S. 286.<br />
27) Agapè I, S. 144; vgl. auch J. Pirot, Paraboles, S. 175 und E. Stauffer, Die Botschaft Jesu, S. 135.<br />
28) Z. B. R. Riezler, Das Ev. n. Lucas, S. 329; vgl. auch Bartelt.<br />
29) The parable of the good <strong>Samaritan</strong>, in: The Expository Times, 1944/5, S. 322f.; C. H. Lindijer,<br />
Oude en nieuwe visies, in: Ned. Theol. Tijdschrift, 1960, S. 20 lehnt eine so direkte Auslegung<br />
von Mt 7, 12 her ab.
140<br />
neuen Beobachtungen hinzuweisen, von denen hier allerdings nur eine Anzahl mitgeteilt<br />
werden kann. So heißt es, das Handlen des <strong>Samariter</strong>s sei gekennzeichnet als<br />
„selbstverständliches Zugreifen in selbstverständlichem Mitleid ohne viel Worte, . . .<br />
furchtloses Eintreten, . . . keine Praxis . . . , kein Opfer“ scheuend, „persönliche“ 30 ),<br />
improvisierend, aber auch organisierend“ 31 ), „unsentimental“ 32 ), „sachkundig . . .,<br />
vorausschauend, fürsorglich, . . . großherzig“ 33 ), ohne „conventional walls“ 34 ), „active et<br />
effective“ 35 ), ausgezeichnet durch spontanéite“ und „promptitude“ 36 ),<br />
„Unausweichlichkeit“ und „Verbindlichkeit“ 37 ). Es liege in unserer Erzählung derselbe<br />
Verzicht auf „Zweckmäßigkeit“ und „Gegenseitigkeit“ des Handelns vor wie in Lk 6,<br />
32ff. 38 )<br />
Somit wird stärker als im vorigen Jahrhundert die Frage der Nächsten- bzw. <strong>Der</strong><br />
Feindesliebe nicht nur unter dem quantitativen Aspekt, sondern auch unter dem<br />
qualitativen Gesichtspunkt gesehen. Neben dem Ausmaß der Nächstenliebe geht es vor<br />
allem auch um deren Intensität.<br />
5. Hinsichtlich der zahlreichen Auslegungen, bei denen der Gegensatz zwischen<br />
theoretischen Überlegungen und praktischem Vollzuge der Nächstenliebe im<br />
Vordergrund steht 39 ), läßt sich feststellen, daß diesen Gedanken vor allem die von Barth<br />
beeinflußten Exegeten aufgenommen haben 40 ). Wichtig ist jedoch, daß dieser Gedanke<br />
sich durchaus auch in nichtchristologischen Auslegungen findet, und zwar mit derselben<br />
Zuspitzung auf die Existenzbetroffenheit des Liebe Übenden, der durch die Begegnung<br />
mit einem Leidenden je und dann unverwechselbar gefordert wird. So erklärt z. B. A. M.<br />
Brouwer ausdrücklich, das „hic et nunc“ der geforderten<br />
30) So W. Macholz, Predigtmeditation, in: MPTh 1937, Heft 1, S. 12f.<br />
31) H. Gollwitzer, Das Gleichnis vom barmh. Sam., S. 55.<br />
32) E. Stauffer, ThWB I, S. 46, Artikel άγαπάω.<br />
33) W. Herbst, Das Lukasev., S. 123.<br />
34) A. T. Cadoux, The Parables, S. 201.<br />
35) C. Spicq, Agapè I, S. 146.<br />
36) AaO.<br />
37) G. Eichholz, Einführung in die Gleichnisse, S. 103.<br />
38) K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 90.<br />
39) S. Dazu bereits zum vorigen zeitabschnitt oben S. 124f.<br />
40) S. hinsichtl. von Barth selber oben s. 10; vgl. Aber auch z. B. H. Gollwitzer, Die Freude Gottes,<br />
Teil 2, 1941, S. 28.
141<br />
Nächstenliebe könne durchaus auch ohne christologische Auslegung zur Geltung<br />
gebracht werden, wenn man nur dem Rechnung trüge, daß die Erzählung als Ganzes bei<br />
der Bestimmung des Nächsten auf die jeweilige Situation verweise 41 ). Auch haben wir<br />
schon gesehen, daß K. Scheitlin, auf den Binder sich beruft 42 ) und der von Vers 36 aus<br />
ebenfalls stark die Situationsbezogenheit der geforderten Liebe herausstellt, die<br />
Möglichkeit einer christologischen Auslegung dennoch mit keinem wort erwähnt. Er<br />
umschreibt den Scopus vielmehr folgendermaßen: „Heute sagst du nach der<br />
Überlieferung ,Nein’ (scil. zum <strong>Samariter</strong> als Nächsten), aber wäre er dir noch ein<br />
Problem, wenn du blutend im Graben lägest?“<br />
Es sei an dieser Stelle noch einmal darauf hingewiesen, daß die Betonung der<br />
Situationsgebundenheit der Liebe, mit der in der Moderne ihr existentieller Charakter<br />
verdeutlicht wird 43 ), keineswegs erst eine Erkenntnis der jüngsten Zeit ist, sondern<br />
lediglich bereits in der Tradition entwickelte Gedankengänge besonders akzentuiert 44 ).<br />
6. Entsprechend der Tatsache, daß in unserem Abschnitt der „Sitz im Leben“, den<br />
unsere Erzählung ursprünglich gehabt haben mag, heute ernster als früher genommen<br />
wird, begegnen uns nun zahlreicher als bisher auch Anti-Motive hinsichtlich der<br />
jüdischen Gesprächspartner Jesu, jedoch so, daß diese Motive meistens der ethischen<br />
Fragestellung klar untergeordnet sind. Sie sind verschiedener Art.<br />
So findet sich, offensichtlich im Gefolge von J. Mann 45 ), in den ethischen<br />
Ausführungen zu unserem Text häufiger eine antisadduzäische Spitze. J. Mann hat schon<br />
vor fünfzig Jahren darauf hingewiesen, daß die Priester die Bestattung eines _______ ___<br />
d. h. eines Toten ohne Verwandte, jedem Israeliten unter Einschluß der Priester und sogar<br />
des Hohepriesters ohne Rücksicht auf Verunruhigung zur Pflicht machten 46 ). Daraus<br />
folgerte er, Jesus geißele in unserer Erzählung gegenüber einem sadduzäischem<br />
Schriftgelehrten<br />
41) De Gelijkenissen, S. 207; s. bereits oben S. 10, Anm. 4.<br />
42) Das Gleichnis von dem Mann, der unter die Räuber fiel, in: Kirchenbl. f. d. ref. Schweiz, 1945, S.<br />
322, s. bereits oben S. 7.<br />
43) Vgl. dazu auch R. Bultmann, Jesus, Neudruck 1951, S. 84; ferner E. Fuchs, Was heißt, Du sollst<br />
deinen Nächsten lieben . . ., in: Theol. Bl., 1932, S. 132f.<br />
44) S. o. S. 98 und 124f.<br />
45) Jesus and the Sadducean Priests, in: Jewish Quarterly Rev., 1915/16, S. 415ff.<br />
46) AaO S. 417f.
142<br />
die Haltung der Sadduzäer, die die Auffassung der Pharisäer bezüglich der „Pflichttoten“<br />
auf Grund von Lev. 21, 1 ablehnten 47 ). Indes, abgesehen davon, daß der Schriftgelehrte<br />
der Erzählung keineswegs als Sadduzäer gekennzeichnet ist 48 ), bestehen gegen dies<br />
Verständnis grundsätzliche Bedenken: Ein Levit bedurfte solcher Reinheit nur „im<br />
kultischen Dienst“, mußte sie sich also nur auf dem Wege nach Jerusalem erhalten, nicht<br />
aber auf dem Rückwege von dort. Auch war es üblich, daß die Priester und Leviten der<br />
verschiedenen Wochenabteilungen dann in geschlossenen Gruppen nach Jerusalem<br />
zogen, in unserem Text aber ist von einem einzelnen Priester und Leviten die Rede 49 ).<br />
In Verbindung mit antirabbinischen Motiven, die ebenfalls meist im Rahmen<br />
ethischer Darlegungen geltend gemacht werden, treten z. T. neue Gesichtspunkte auf. So<br />
handelt es sich um ein neues Moment, wenn erklärt wird, Priester und Levit hätten die<br />
Hilfe unterlassen, weil sie den unter die Räuber Gefallenen vom Vergeltungsgesetz her<br />
sahen: „Wo schweres Geschick, da ist auch Gericht Gottes für schwere Sünde.“ 50 )<br />
Bemerkenswert ist es auch, wenn erklärt wird, hinter unserer Erzählung stehe die<br />
rabbinische Frage, „ob das Gesetz den, der es empfangen hat, deutlich unterweise und<br />
ihm den Weg ins Leben zeige“ 51 ). Dementsprechend könne der Scopus unseres Textes<br />
folgendermaßen umschrieben werden: „Jesus rechtfertigte Gott und verteidigte die<br />
sichere Klarheit seines Gebotes.“ 52 )<br />
Seltener werden rein antiklerikale Motive gebracht, zumal die These Halévy’s 53 ) von<br />
den meisten abgelehnt wird. Ein schlechthin antiklerikaler Zug sei in den Evangelien<br />
nämlich sonst nie bemerkbar, und obendrein würde er unsere Erzählung des Originellen,<br />
des besonderen Überraschungsmomentes, berauben 54 ).<br />
47) AaO, S. 418f.; so auch Bornhäuser und Michaelis, Das hochzeitl. Kleid.<br />
48) So schon M. Black, The Parables as Allegory, in Bull. Ryl. Lib., 1959/60, S. 287.<br />
49) So J. Jeremias, Die Gleichnisse, 6. Aufl., S. 202; ferner I. Abrahams, Studies II, S. 34; und Black.<br />
50) So K. Bornhäuser, Studien, S. 69; vgl. dazu vor allem auch W. Michaelis, Das hochzeitl. Kleid, S.<br />
194, mit Hinweis auf Joh. 9, 2f.<br />
51) A. Schlatter, Das Ev. des Lk., S. 285/6.<br />
52) <strong>Der</strong>s., Erläuterungen zum NT, 2. Aufl., Neudruck 1954, Bd. 2, S. 225.<br />
53) S. o. S. 123f.; vgl. auch J. Knox, The Gospel according to St Luke, S. 175.<br />
54) So J. Jeremias, Die Gleichnisse, 6. Aufl., S. 202; ferner I. Abrahams, Studies II, S. 34; ähnlich<br />
auch Black.
143<br />
b) Das soteriologische Motiv<br />
Abgesehen von den christologischen Auslegungen, die einen soteriologischen Scopus<br />
haben 55 ), begegnen uns auch primär soteriologisch ausgerichtete Exegesen, die nicht auf<br />
christologischen Gedankengängen beruhen, und zwar in dreifacher Ausprägung:<br />
1. C. W. F. Smith macht unsere Erzählung einseitig zu einer Perikope über die Frage,<br />
ob Israel noch auf dem rechten Wege wei. Das Proprium unseres Textes ergibt sich bei<br />
ihm ganz und gar aus der rekonstruierten Situation: „The charge lies against the leaders<br />
as leaders, a charge against Israel.“ 56 ) Wenige Zeilen später heißt es dann: „He (scil.<br />
Jesus) is not here to advocate of purely pedestrian morality or good will, for he is<br />
addressing Israel with its special vocation.“ 57 )<br />
2. Zweimal wird der Gedanke der Universalität der Mission zum leitenden<br />
Gesichtspunkt 58 ). So nimmt M. S. Enslin an, Lukas habe unsere Erzählung mit Hilfe von<br />
Mk 10, 17ff. Sowie Mk 12, 28ff. unter Verwendung vor allem von Hiob 6, 14ff. ad hoc<br />
als eine „Antizipation der Heidenmission“ gebildet 59 ). B. T. D. Smith findet gar den<br />
Scopus in einer „mission to the outcasts“ 60 ).<br />
3. Während sich in den zuletzt genannten Auslegungen der Gedanke der Mission<br />
verselbstständigt, ist es bei F. J. Leenhardt 61 ) der Gedanke der Situationsbezogenheit und<br />
Existenzbetroffenheit 62 ). Es geht bei ihm letztlich nicht mehr um die<br />
Situationsbezogenheit der Nächstenliebe, sondern um die Offenheit der christlichen<br />
Existenz für die „Gegenwart“ schlechthin, die eine immer neue „Änderung“<br />
55) S. o. S. 1ff und S. 137.<br />
56) The Jesus of the Parables, S. 156.<br />
57) AaO.<br />
58) Während er sonst nur als sekundär, durch die Einordnung unseres Textes in das Evangelium<br />
gegeben (so z. B. bei A. Loisy, L’Evangile selon Luc., S. 309) oder nur als Nebenmotiv (so z. B.<br />
bei P. Dausch, Die drei älteren Ev., S. 489) erscheint.<br />
59) Luke and the <strong>Samaritan</strong>s, in: Harv. Theol. Rev., 1943, S. 289f., vgl. auch S. 297.<br />
60) The Parables, S. 181.<br />
61) La Parabole du Samaritain, in: Aux sources de la Tradition Chrétienne, S. 132ff.<br />
62) S. o. S. 140f. Zum Charakter dieser Arbeit Leenhardts ist zu sagen, daß sie mehr einer Meditation<br />
als einer Exegese ähnelt.
144<br />
zur Voraussetzung hat 63 ). Daraus wird dann in Vers 36 und 37 sehr deutlich der Ruf zu<br />
Buße und Glauben 64 ).<br />
Unter dem Stichwort „Gegenwart“ oder, wie Leenhardt an anderer Stelle sagt,<br />
„Forderung des Augenblicks“ führt er u. a. Aus: „Die Vergangenheit eines Menschen“,<br />
die „altgewohnte Vorstellung“, an die sich der Schriftgelehrte, wie der Priester und Levit<br />
klammert, „ist ein Reichtum, mit dem er disponiert. Das ist kein bedrohter Besitz, weil er<br />
tot ist . . . . Die Gegenwart, das Morgen, müssen neu getan werden. Sie sind voller<br />
Risiko“ 65 ). Von da aus wird zugleich deutlich, wie Leenhardt unsere Erzählung<br />
offensichtlich von der Geschichte vom Reichen Jüngling Lk 18, 18–30 her<br />
interpretiert 66 ). Auch Lk 10, 21 scheint eine Begründung für die Weise abzugeben, in der<br />
Leenhardt unsere Geschichte auslegt: „Glücklich sind auch die Kinder“, so erklärt er u.<br />
a., „die geöffnet sind für das, was ihnen entgegenkommt . . .“ 67 ).<br />
Das andere Stichwort „Änderung“ führt Leenhardt ein, indem er darauf hinweist, daß<br />
der Schriftgelehrte ja eben aufgefordert werde, die Vergangenheit preiszugeben. In<br />
diesem Sinne sei Vers 37 zu verstehen, wenn es dort heiße: „Geh hin und tue<br />
desgleichen.“ Die Tatsache, daß Jesus dem Schriftgelehrten solch eine „Änderung“<br />
zutraue, käme der Aufforderung: „Ich sage dir, stehe auf, nimm dein Bett und gehe heim“<br />
(Mk 2, 11 parr) oder: „Dir sind deine Sünden vergeben“ (Mk 2, 5 parr) gleich 68 ).<br />
Es ergibt sich also, daß die Zahl der soteriologischen Auslegungen, die keinen<br />
christologischen Horizont haben, sehr gering ist. Dabei ist zu beachten, daß sich in ihnen<br />
nirgends eine neue Konzeption zeigt, sondern daß vielmehr Motive, die in der älteren<br />
Auslegung eine untergeordnete Rolle spielten, beherrschend geworden sind. <strong>Der</strong> Grund<br />
ist offensichtlich, der chistlichen Eigenart unseres Textes so weit wie möglich Rechnung<br />
zu tragen, wobei primär ethische Gedankengänge zu stören scheinen. Deutlich führt von<br />
hier aus ein Weg zu den christologischen Auslegungen, von denen wir in dieser<br />
63) Présence et changement, aaO S. 132.<br />
64) AaO S. 137.<br />
65) AaO S. 134.<br />
66) Über die Verwandtschaft unserer Erzählung mit dieser Perikope bzw. ihrer Parallele Mk 10, 17–<br />
31, s. u. S. 159.<br />
67) AaO S. 135.<br />
68) AaO S. 137.
145<br />
Arbeit ausgegangen sind. Es handelt sich allerdings nur um einen sehr schmalen Weg.<br />
III. <strong>Der</strong> christliche Charakter unseres Textes<br />
Was wird nun, abgesehen von den rein christologischen und rein soteriologischen<br />
Auslegungen, für den christlichen Charakter unserer Erzählung geltend gemacht?<br />
Es sind vor allem drei Wege, auf denen man versucht, das geforderte Handeln<br />
christlich zu begründen, nämlich vom Scopus der Erzählung aus, vom Kontext aus und<br />
vor der Person des Erzählers, Jesus, aus.<br />
1. Die Frage der christliche Prägung des Scopus steht hier noch mehr im Vordergrund<br />
als in der vorigen Epoche. Dabei geht es vor allem um die Frage, wieweit die<br />
Universalität und, damit verbunden, die Radikalität der geforderten Liebe spezifisch für<br />
die Verkündigung Jesu ist, oder wieweit sie bereits im Judentum vorgegeben war.<br />
An erster Stelle bedürfen die Ausführungen von P. Billerbeck über Mt 5, 43 der<br />
Beachtung 69 ), auf die er zu Lk 10, 25–37 verweist 70 ). Er kommt zu dem Ergebnis, man<br />
müsse von vornherein der Behauptung moderner jüdischer Gelehrter „äußerst skeptisch<br />
gegenüberstehen, daß die alte Synagoge schon in neutestamentlicher Zeit das Gebot der<br />
Nächstenliebe von der allgemeinen Menschenliebe her verstanden habe“ 71 ). Das Alte<br />
Testament verstehe unter dem Nächsten (עד) den Israeliten einschließlich „des<br />
Fremdlings“ (רז), während die mischnische Periode sogar nur den Vollproselyten<br />
eingeschlossen sein lasse. Bei genauerer Untersuchung ergebe sich aus dem vorliegenden<br />
Material, daß es keinen einzigen Beleg für einen unbeschränkten Universalismus des<br />
Liebesgebotes im Judentum des ersten nachchristlichen Jahrhunderts gibt. Belege aus<br />
dem zweiten Jahrhundert seien nur ganz spärlich nachweibar. Andererseits fehle es nicht<br />
an Zitaten, die die unbegrenzte Liebe zum Nächsten gerade vermissen lassen. So kommt<br />
Billerbeck zu dem Schluß: „Es wird also wohl dabei bleiben, daß der erste, der die<br />
Menschheit gelehrt hat, in jedem Menschen den ,Nächsten’ zu sehen und ihm deshalb in<br />
69) H. L. Strack-P. Billerbeck, Das Ev. des Mt., S. 353ff.<br />
70) H. L. Strack-P. Billerbeck, Das Ev. des Mt., Lk . . ., S. 177.<br />
71) H. L. Strack-P. Billerbeck, Das Ev. des Mt., S. 355.
146<br />
Liebe zu begegnen—Jesus gewesen ist, siehe die Erzählung vom barmherzigen<br />
<strong>Samariter</strong>.“ 72 )<br />
Im Gegensatz dazu steht die Behauptung zahlreicher Autoren, der uneingeschränkte<br />
Universalismus finde sich schon im Judentum der Zeit Jesu 73 ) oder auch schon im Alten<br />
Testament bzw. der Septuaginta 74 ).<br />
Einen Ausgleich zwischen den beiden Positionen versucht C. G. Montefiore: „The<br />
truth is that the Rabbis are not entirely of one mind on the matter of loving or hating the<br />
Non-Jew. It would be unjust to sum up the matter by saying that the Rabbis generally<br />
taught that it is right or permissible to hate the Gentile. On the other hand, it would be<br />
hardly less fair to say that the Rabbis taught that the love which was to be shown to the<br />
Jewish ,neighbour’ was to be extended equally to all man . . . .<br />
One can hardly quote any unequivocal utterance from the Rabbis which goes as far as<br />
this.“ 75 )<br />
Demnach ist das Neue an der Verkündigung des Liebesgebotes in unserem Text wohl<br />
doch die Radikalität, mit der hier der Universalismus des Liebesgebotes gefordert<br />
wird 76 ). Auf eine solche Radikalisierung läuft es auch hinaus, wenn in vielen<br />
Auslegungen der Gegensatz Jesu gegen kasuistisches Denken herausgestellt wird, ohne<br />
daß man deshalb, wie oben bereits deutlich wurde 77 ), diese Auslegungen als schlechthin<br />
antijüdisch bezeichnen könnte.<br />
Besonders wichtig ist uns an verschiedenen Auffassungen von der Christlichkeit des<br />
uneingeschränkten Liebesgebotes der eigenartige Tatbestand, daß man auf die Frage, ob<br />
die Forderung uneingeschränkter Nächstenliebe schon im Alten Testament bzw. im<br />
Judentum vorliegt, offensichtlich weder mit einem einfachen „Nein“ noch mit einem<br />
einfachen „Ja“ antworten kann: Die Forderung der Nächstenliebe in unserer Erzählung ist<br />
vielmehr einerseits klar in<br />
72) AaO S. 354; ähnlich z. B. Oesterley, Michaelis, Die Gleichnisse und Buzy.<br />
73) So I. Abrahams, Studies II, S. 35.<br />
74) So z. B. K. Staab, Das Ev. n. Mk und Lk., S. 159 und Spicq.<br />
75) Rabbinic Literature and Gospel Teachings, S. 68 (nach W. O. E. Oesterley, The Gospel Parables,<br />
Neudruck 1938, S. 166/7); vgl. auch C. G. Montefiore, The Synoptic Gospels II, 2. Aufl., S. 467.<br />
76) Vgl. dazu z. B. auch e. Stauffer, Die Botschaft Jesu, S. 41; ferner G. Eichholz, Jesus Christus und<br />
der Nächste, aber auch Fuchs.<br />
77) S. o. S. 141.
147<br />
dem eben dargestellten Sinne verschieden vom alttestamentlichen Gebot. Andererseits<br />
wird aber zugleich auch an die alttestamentliche Verkündigung angeknüpft und diese<br />
durch den „Propheten des neuen Bundes . . . neu angewendet“ 78 ).<br />
2. Neben diesen Versuchen, den christlichen Charakter unseres Textes vom Scopus<br />
her zu begründen, steht der andere, Argumente dafür vor allem aus dem engeren und<br />
weiteren Kontext zu gewinnen.<br />
a) Eine Anzahl von Auslegern versucht wiederum, die christliche Prägung unserer<br />
Erzählung durch den Hinweis sicherzustellen, die Kombination des Gebotes der Gottes-<br />
mit der Nächstenliebe in Lk 10, 27 sei spezifisch neutestamentlich 79 ). Hier besteht<br />
allerdings die Schwierigkeit, daß in unserem Text im Gegensatz zu Mk 12, 28–34 und Mt<br />
22, 34–40 gerade der Schriftgelehrte das Doppelgebot zitiert und nicht Jesus. Ihr<br />
versuchen manche Ausleger durch den schon in der vorigen Epoche benutzten, wenig<br />
überzeugenden Hinweis zu entgehen, der Schriftgelehrte habe diese Kombination der<br />
beiden Gebote früher einmal von Jesus gehört und wiederhole sie jetzt als seine eigene<br />
Überzeugung 80 ).<br />
Weit größer ist jedoch die Zahl derjenigen Ausleger, die vor allem mit dem Hinweis<br />
auf gewisse Stellen der Testamente der zwölf Patriarchen 81 ) den spezifisch christlichen<br />
Charakter der Kombination bestreiten 82 ).<br />
Endlich gibt es auch hier eine Gruppe von Auslegern, die beide Argumente zu<br />
verbinden sucht. So erklärt z. B. W. Manson: „Judaism may of itself have reached the<br />
definition (scil. das Doppelgebot als Zusammenfassung der Thora). It was left to Jesus to<br />
show how it applied“ 83 ).<br />
Auf das Ganze gesehen, haben wir hier also dasselbe Schwanken zwischen<br />
Diskontinuität und Kontinuität des in unserem Text geforderten Handelns mit dem<br />
jüdischen bzw. alttestamentlichen<br />
78) So C. Spicq, Agapè I, S. 141 und 144.<br />
79) So z. B. R. Ginn, Luke, S. 954 A mit Hinweis auf Mt 5, 43.<br />
80) So z. B. A. M. Brouwer, De Gelijkenissen, S. 206; ferner Javet und Dillersberger.<br />
81) Test. Isaschar V, 2; VII, 5; Test. Dan. V, 3.<br />
82) So z. B. J. M. Creed, The Gospel according to St Luke, S. 151; ferner Eichholz, Jesus Christus und<br />
der Nächste, und Leaney.<br />
83) The Gospel of Luke, 8. Aufl., S. 131; ähnlich Bornhäuser, Michaelis, Das hochzeitl. Kleid, und<br />
Schmid.
148<br />
Ethos, das wir schon oben kennenlernten 84 ). Es ist dabei von Wichtigkeit, daß diese<br />
Problematik nicht erst vom Kontext Lk 10, 25–29 und Vers 36f. aus entsteht, sondern,<br />
wie wir sahen, bereits in Scopus der Erzählung selbst liegt. Es drängt sich sogar der<br />
Eindruck auf, daß die Betonung der Diskontinuität auch im Kontext erst von der<br />
Auslegung der eigentlichen Erzählung Lk 10, 30ff. her zustande kommt.<br />
Offensichtlich setzt der Kontext als solcher nämlich, in seiner heutigen Form<br />
jedenfalls, durchaus voraus, daß die Zusammenfassung des ganzen Gesetzes in dem<br />
Doppelgebot der Gottes- und der Nächstenliebe dem Rabbinat zur Zeit Jesu bereits<br />
geläufig war 85 ). Von daher findet K. H. Rengstorf in diesem Abschnitt wie im gesamten<br />
lukanischen Sondergut gerade „eine hohe Schätzung der jüdischen Frömmigkeit durch<br />
Jesus“ 86 ). Auf derselben Linie leigt es, wenn T. W. Manson herausstellt, daß Lk 10, 25–<br />
29 in der heutigen Form unverkennbar die Funktion habe, zunächst einmal den Jesus und<br />
dem Schriftgelehrten gemeinsamen Boden aufzuzeigen, bevor dann in Vers 30ff. der<br />
Unterschied zwischen beiden deutlich werde 87 ). Höchst bemerkenswert ist auch, daß G.<br />
Eichholz die Verknüpfung von Einleitung und eigentlicher Erzählung bei Lukas im Sinne<br />
des souveränen „Ich aber sage euch“ der Bergpredigt versteht, nämlich „nicht als<br />
Aufhebung sondern als Erfüllung der Thora“ 88 ). H. Gollwitzer findet sogar noch speziell<br />
in dem άναγινώσκεις (Lk. 10, 27) das Bekenntnis zur Schrift, und d. h. hier zum AT,<br />
enthalten, dem dann ein „Ich aber sage euch“ Jesu folge 89 ). Dieselbe Auffassung, daß es<br />
hier nicht um Aufhebung, sondern um Erfüllung der Thora gehe, steht auch dahinter,<br />
wenn mehrere Ausleger fragen, ob mit unserer Erzählung nicht die Verbindlichkeit des<br />
alttestamentlichen geschriebenen Gesetzes gegenüber der jüdischen mündlichen<br />
Überlieferung herausgestellt werden solle 90 ).<br />
84) S. o. S. 146f.<br />
85) So K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 139.<br />
86) AaO.<br />
87) The sayings of Jesus, Neudruck 1951, S. 260; vgl. ebenso G. Bornkamm, Das Doppelgebot der<br />
Liebe, in: Ntl. Studien f. R. Bultmann, S. 90 über Mk 12, 28–34.<br />
88) Einführung in die Gleichnisse, S. 87f.<br />
89) Das Gleichnis vom barmh. Sam., S. 32.<br />
90) So z. B. W. O. E. Oesterley, The Gospel Parables, Neudruck 1938, S. 136 und g. Eichholz, Jesus<br />
Christus und der Nächste, S. 16f.
149<br />
b) Neben Vers 27 speilt bei der Frage des christlichen Charakters des Textes<br />
bisweilen auch Vers 29 eine Rolle. Ausführungen im Sinne des usus elenchticus finden<br />
sich hierzu zwar noch immer 91 ), jedoch liegt auf ihnen nun viel weniger Gewicht als auf<br />
der positiven Feststellung, daß Jesus hier, wiederum unter Anspielung auf Lev. 18, 5, den<br />
gemeinsamen Boden mit der alttestamentlichen Frömmigkeit aufzeige 92 ). Auch durch<br />
sein Kommen sei daran grundsätzlich nichts geändert, daß das Gesetz zum Leben<br />
führe 93 ). Hier findet die Auslegung also deutlich zu der Alten Kirche zurück 94 ), wenn nun<br />
auch die Problematik vom reformatorischen Ansatz her vielsichtiger gesehen wird.<br />
c) Nur in relativ wenigen Auslegungen wird zur Interpretation unseres Textes auf<br />
Vers 20ff. und Vers 38ff. zurückgegeriffen.<br />
Die vorangehenden Verse 20ff. werden meist dazu benutzt, der in Vers 25ff.<br />
gestellten Frage einen Ort in der Diskussion über das Wesen des Evangeliums<br />
zuzuweisen. So wird häufiger ausgeführt—um nur die über die bisherigen Ansätze<br />
hinausgehenden Punkte zu nennen—, der Schriftgelehrte knüpfe an das in Vers 20ff.<br />
ausgesprochene „Siegesgefühl Jesu“ an 95 ), in dem sich ihm eine falsche „Heilssicherheit“<br />
zu verbergen scheine 96 ).<br />
Zuweilen wird auch versucht, unserer Perikope von der nachfolgenden Geschichte<br />
her einen besonderen Akzent zu geben. So stellt L. Fendt ihn mit Vers 38ff. unter<br />
denselben aus Vers 20–24 gewonnenen Leitgedanken: „Was wir zu tun haben, gleich, ob<br />
das Reich Gottes nahe oder fern sei, nämlich Übung von Nächstenliebe (Lk 10, 29–37),<br />
Hören auf das Wort Jesu (Lk 10, 38–42) 97 ).<br />
All diese Bemerkungen führen auf die Frage, ob es legitim ist, zur Auslegung unserer<br />
Erzählung den engeren oder weiteren Kontext<br />
91) So z. B. bei O. Michel, Das Gebot der Nächstenliebe, in: N. Koch, Zur soz. Entscheidung, S. 72;<br />
ferner bei H. Gollwitzer, Das Gleichnis vom barmh. Sam. S. 27; s. dazu bereits oben S. 98, 111f.,<br />
127f. u. ö.<br />
92) So ausdrücklich G. Eichholz, Einführung in die Gleichnisse, S. 88.<br />
93) Vgl. dazu z. B. W. Lütgert, Die Liebe im NT, S. 119; ferner Hauck und W. Manson.<br />
94) S. o. S. 55 bei Anm. 1; S. 56 bei Anm. 1; u. ö.<br />
95) So E. Klostermann, DasLukasev., 2. Aufl., S. 119.<br />
96) So P. Dausch, Die drei älteren Ev., S. 458; vgl. ähnlich Loisy.<br />
97) <strong>Der</strong> Christus der Gemeinde, S. 132; vgl. ähnlich Hauck.
150<br />
maßgeblich heranzuziehen. Hierauf wird in der Untersuchung des überlieferungsgeschichtlichen<br />
Problems noch eingegangen werden müssen 98 ).<br />
3. Zunächst aber ist noch auf eine besondere Gruppe von Motiven hinzuweisen, mit<br />
deren Hilfe die christliche Prägung unseres Textes aufgezeigt wird. Sie hat es mit dem<br />
Erzähler selbst zu tun 99 ).<br />
Dabei stehen neben solchen Versuchen, die direkt von Jesu Person ausgehen, andere,<br />
die den Ton auf das Gottesbild des Erzählers legen, das sich in unserer Erzählung<br />
widerspiegelt. In den meisten Fällen, in denen auf die Kontinuität mit dem Alten<br />
Testament Wert gelegt wird 100 ), scheint dieser Gedanke, daß in dem Gottesbild des<br />
Erzählers das Evangelium liegt, mitzuschwingen.<br />
So erklärt H. Gollwitzer zu der Tatsache, daß in dem Doppelgebot unseres Textes die<br />
Stellen Deut. 6, 5 und Lev. 19, 18 unter einem einzigen Imperativ zusammengezogen<br />
werden: „Es ist nicht zufällig, daß das erste der beiden Gebote gerade aus dem<br />
Deuteronomium stammt. Das sogenannte fünfte Buch Moses ist im besonderen das Buch<br />
von der gnädig erwählenden Zuwendung Gottes zu Israel. Diese ist das Vorausgehende<br />
und Grundlegende, sie muß geschehen, damit von ihr her dann Liebe als Gegenliebe zu<br />
dem gnädigen Herrn des Bundes geboten werden kann“ 101 ). Ähnlich führt G. Eichholz in<br />
seiner früheren Arbeit aus: Überall, wo vom Doppelgebot geredet werde, sei das<br />
„Wunder der Handelns Gottes und seiner unbegreiflichen Zuwendung“ vorausgesetzt 102 ).<br />
Solche Bemerkungen wenden die längst Allgemeingut gewordene Auffassung, daß Jesu<br />
Worte von seiner Person unlösbar sind, auf unseren Text an: Die Zitate aus<br />
Deuteronomium und Leviticus, von denen in Lk 10, 27f. ausgegangen wird, bekommen<br />
im Munde Jesu deswegen einen neuen Kleng, weil die dahinterstehende „unbegreifliche<br />
Zuwendung“ Gottes in ihm konkrete und abschließende Gestalt angenommen hat.<br />
In anderer Weise geht A. Schlatter vom Gottesbilde Jesu aus. Nach ihm macht unsere<br />
Erzählung deutlich, daß die „Bewegung des Lebens“ selber die Anwendung des Gebotes<br />
der Nächstenliebe<br />
98) S. u. S. 153ff.<br />
99) S. dazu bereits oben S. 128f.<br />
100) S. o. S. 146f. und 147f.<br />
101) Das Gleichnis vom barmh. Sam., S. 37f.; vgl. ähnlich auch schon oben S. 108.<br />
102) Jesus Christus und der Nächste, S. 21.
151<br />
regele. Dahinter stehe aber „jener Gottesgedanke, der sagen kann: Kein Vogel ist<br />
vergessen vor Gott, Lk. 12, 6“ 103 ). Ebenfalls vom Gottesbild des Erzählenden aus<br />
argumentiert J.-M. Vosté: „Dies also ist die Parabel von der universalen menschlichen<br />
Bruderschaft, wie ,Vater“ Ausdruck unserer göttlichen Sohnschaft ist“ 104 ). Von diesem<br />
Zitat her wird deutlich, daß auch all die sonstigen Stellen hierhergehören, in denen eine<br />
Verbindung zu Lk 6, 35f. bzw. Mt 5, 45ff., hergestellt wird. Sie erscheinen in der<br />
Moderne häufiger als je zuvor 105 ). Vor allem ist dabei wichtig, daß die Forderung der<br />
„Barmherzigkeit“ bzw. „Vollkommenheit“ meistens in ursächlichem Zusammenhang mit<br />
der Vaterschaft Gottes bzw. der Sohnschaft der Jünger gebracht wird. So ergibt sich hier<br />
eine neue Begründung: Da, wo Gott als der barmherzige bzw. vollkommene Vater<br />
gesehen wird, wie das für Jesus gilt, ist die Folge, daß die Sohnschaft zur Verpflichtung<br />
wird 106 ) und daß sie zur „Nachahmung“ der Barmherzigkeit des Vaters 107 ) bzw. seiner<br />
Vollkommenheit 108 ) führen muß und kann.<br />
4. Endlich sind noch einige Auslegungen zu nennen, die jede Herausstellung des<br />
spezifisch christlichen Charakters unserer Erzählung ausdrücklich gerade ablehnen.<br />
Bezeichnend sind hier die jüngsten Ausführungen von E. Stauffer. Im Jahre 1959<br />
formulierte er zu unserer Erzählung: „<strong>Der</strong> Mensch hat in den Augen Jesu eine gewaltige<br />
Reserve an gutem Willen . . ., an Hingabe, Mut und Opferbereitschaft“ 109 ). 1960 bleibt<br />
Stauffer genau auf derselben Linie, wenn er fragt: „Ist diese Tat in den Augen Jesu ein<br />
geheimnisvolles Wunder der Gnade? Jesus sagt kein Wort davon, daß dieser <strong>Samariter</strong><br />
ein Prädestinierter, ein Auserwählter, ein Begnadeter oder Begnadigter, ein Gläubiger<br />
war.<br />
103) Das Ev. des Lk., S. 286.<br />
104) Parabolae selectae, S. 632; vgl. ähnlich auch D. Buzy, Les Paraboles, S. 621.<br />
105) Siehe bereits oben S. 139.<br />
106) So z. B. Stonehouse, The Witness of Luke, S. 173; s. auch die Zitate hinsichtlich von Black und<br />
Spicq, oben S. 139 und dasselbst Anm. 3.<br />
107) Vgl. dazu z. B. A. Hastings, Prophet and Witness, S. 172; ferner C. Spicq, Agapè I, S. 144 und M.<br />
Black, The Parables as Allegory, in: Bull. of Ryl. Lib., 1959/60, S. 286.<br />
108) Vgl. dazu J. Schimd, Das Ev. n. Lk, S. 194, ferner J. Pirot, Paraboles S. 177.<br />
109) Die Botschaft Jesu, S. 45.
152<br />
Jesus sagt kein Wort davon, daß der <strong>Samariter</strong> im entscheidenden Augenblick an Gottes<br />
Gnade, Gottes Gebote gedacht habe“ 110 ). Ähnlich verstehen L. Ragaz 111 ) und W. von<br />
Loewenich 112 ) unsere Erzählung als Ja zur Tat der Liebe, unabhängig von allen ihr<br />
zugrunde liegenden Motiven.<br />
Diese drei Ausleger trennen dabei Vers 30ff. von Vers 25ff. ab. Vor allem ist aber<br />
wichtig, daß sich alle drei bei ihrer Auslegung auf Mt 25, 31ff. berufen. Keiner jedoch<br />
geht dieser Bezugsstelle näher hach.<br />
E. Stauffer versucht seine These auch von der Bergpredigt her zu stützen, doch zeigt<br />
sich gerade hier, wie fragwürdig seine Argumentation ist. Er erklärt: Ebenso wie in Lk<br />
10, 30ff. das Tun des barmherzigen <strong>Samariter</strong>s mit dem Tun des barmherzigen Gottes in<br />
keinerlei Verbindung gebracht werde 113 ), stehe es auch hinsichtlich von Mt 5, 44. Auch<br />
dort könne von „irgendeiner religiösen Motivierung der Feindesliebe keine Rede<br />
sein“ 114 ). Damit bestreitet Stauffer also jegliche begründende Funktion von Mt 5, 45<br />
gegenüber Mt 5, 44. Diese Behauptung ist jedoch höchst unwahrscheinlich 115 ), und<br />
Stauffer steht mit ihr weitgehend allein 116 ). Es liegt u. E. auf der Hand, daß die Exegese<br />
der Erzählung, wie sie Stauffer vorlegt, von einem bestimmten dogmatischen Ansatz<br />
herkommt, der auf eine Eliminierung des Gesetzes aus dem Evangelium hinausführt.<br />
Von der Auslegungsgeschichte her könnte man die zuletzt genannten Exegesen, in<br />
deren Richtung isolierte Einzelbemerkungen auch bei anderen Autoren gehen 117 ),<br />
geradezu als späte Nachkömmlinge der rationalistischen Auslegung betrachten 118 ).<br />
110) Jesus, Paulus und wir, S. 59.<br />
111) Die Gleichnisse Jesu, S. 101ff.<br />
112) Luther als Ausleger der Synoptiker, 1954, S. 187ff. und 199.<br />
113) Die Botschaft Jesu, S. 135.<br />
114) AaO S. 133.<br />
115) Das ότι (Mt 5, 45b) kann nicht anders als kausal verstanden werden, und von da aus dürfte auch<br />
in όπως (Mt 5, 45a) ein kausales Moment mitschwingen.<br />
116) S. dazu unten S. 169f. Erschwert wird die Auffassung Stauffers noch dadurch, daß er an sich auch<br />
Mt 5, 45 als echtes Jesuwort ansieht.<br />
117) Vgl. R. Riezler, Das Ev. n. Lucas, S. 331; L. Fendt, <strong>Der</strong> Christus der Gemeinde, S. 75 und J.<br />
Pirot, Paraboles, S. 176.<br />
118) S. o. S. 129f.
153<br />
IV. Das überlieferungsgeschichtliche Problem<br />
Im Verlauf dieses Kapitels hat sowohl für die Bestimmung des Scopus 119 ) als auch<br />
für die des christlichen Charakters unserer Erzählung 120 ) immer wieder die Frage des<br />
Zusammenhanges unseres Textes mit dem Kontext eine Rolle gespielt. Diese Frage ist<br />
vor allem wichtig auch in bezug auf das Problem der christologischen Auslegung unseres<br />
Textes. Eine erhebliche Anzahl der eingangs 121 ) aufgeführten Auslegungen, die mehr<br />
oder weniger christologische Züge tragen, berücksichtigt Lk 10, 25–29 überhaupt nicht<br />
oder erklärt diese Verse für erst nachträglich mit Vers 30ff. verbunden 122 ). In den anderen<br />
Auslegungen, die Vers 25–29 als ursprünglich mit Vers 30ff. zusammengehörig ansehen,<br />
dennoch aber christologische Motive bringen, geschieht letzteres meist nur aus einem<br />
grundsätzlichen theologischen Postulat heraus 123 ) und nur selten unter konkreter<br />
Bezugnahme auf Vers 25–29. Eine mögliche Abtrennung der Verse 25–29 von der<br />
eigentlichen Erzählung Vers 30ff. und, daraus folgend, auch der Verse 36f. würde also<br />
die christologische Auslegung wenigstens an einem Punkt erleichtern.—Zu der Frage der<br />
Einheitlichkeit unseres Textes ergibt sich aus der Überschau über die modernen<br />
Auslegungen nun folgendes:<br />
1. Relativ große Klarheit besteht über das Verhältnis von Lk 10, 20–24 zu Vers 25ff.<br />
Auch fast alle Ausleger, die diese Verse zur Interpretation unserer Erzählung<br />
heranziehen 124 ), rechnen damit, daß diese Zusammenordnung, obwohl sachlich richtig,<br />
historisch doch nicht ursprünglich ist 125 ). Hier spielt wohl vor allem das „lukanische“ καί<br />
ίδού 126 ) eine Rolle im Zusammenhang mit einer von Vers 20ff. verschiedenen<br />
stilistischen Prägung, sowie auch die Ähn-<br />
119) S. o. S. 140f.; s. auch die S. 124f. aufgeführten Argumente, die heute noch häufig eine Rolle<br />
spielen.<br />
120) S. o. S. 126ff. und S. 145ff.<br />
121) S. o. S. 1ff.und S. 8ff.<br />
122) Vgl. Binder, Daniélou, de Lubac, Quievreux, T. W. Manson, Perroy, mit Einschränkung auch<br />
Gerhardsson, s. o. S. 2f.<br />
123) So z. B. bei Riezler, Innitzer und Javet.<br />
124) S. o. S. 149f.<br />
125) Vgl. z. B. A. Loisy, L’Evangile selon Luc, S. 304; ferner Klostermann und Fendt.<br />
126) So z. B. H. Binder, Das Gleichnis vom barmh. Sam., in: theol. Zeitschrift, Basel, 1959, S. 176f.
154<br />
lichkeit von Lk 10, 25–28 mit den Stellen Mk 12, 28ff. und Mt 22, 34ff., die dort anders<br />
eingeordnet werden als hier 127 ). Hinzu kommt, daß manche Ausleger mit άνέστη in Lk<br />
10, 25 eine Synagoge als Handlungsort angedeutet sehen gegenüber der andersartigen<br />
Situation von Lk 10, 17ff. bei der Rückkehr der Siebzig 128 ).<br />
2. Eine ursprüngliche Zusammengehörigkeit von Vers 25–29 und Vers 30ff. wird von<br />
vielen Auslegern vorausgesetzt 129 ). Relativ selten jedoch wird diese Annahme begründet.<br />
Dabei ist eins der Argumente, Lk 10, 25–29 sei keineswegs als Dublette von Mk 12, 28ff.<br />
bzw. Mt 22, 34ff. anzusehen. In diesem Zusammenhange wird darauf hingewiesen, daß<br />
es sich in Mk 12 und Mt 22 um eine „akademische“, in Lk 10, 25ff.aber um eine<br />
„praktische“ Frage handele 130 ). Auch stelle Jesus in unserem Text anders als dort eine<br />
Gegenfrage, und darauf antworte der Schriftgelehrte mit dem Doppelgebot 131 ). Ferner sei<br />
an Lk 10, 25ff. gegenüber den anderen Stellen einzigartig, daß Jesus hier den<br />
Zusammenhang von Leben und Tun (Lk 10, 28) aufzeige 132 ), außerdem könne die Frage<br />
des Schriftgelehrten bei ihrer Wichtigkeit durchaus mehrmals gestellt worden sein 133 ).—<br />
Als weiteres Argument für eine Zusammengehörigkeit von Vers 25–29 und 30ff. wird<br />
angeführt, daß ein Bruch zwischen den beiden Fragen Vers 29 und 36 nur dann vorliegen<br />
würde, wenn es in unserer Erzählung um eine theoretische Definition des<br />
Nächstenbegriffs ginge. Wollte Jesus dagegen am konkreten Beispiel Nächsten- bzw.<br />
Feindesliebe illustrieren, was anzunehmen sei, so wäre der Fragenwechsel durchaus<br />
sinnvoll 134 ). Auch die Tatsache, daß der unter die Räuber Gefallene von vornherein<br />
anonym bleibt, entspräche dann genau dem, daß in Vers 36 eine Definition des<br />
„Nächsten“ nicht gegeben wird 135 ).<br />
127) S. dazu auch unten S. 155.<br />
128) So z. B. E. Klostermann, Das Lukasev., 2. Aufl., S. 119.<br />
129) So z. B. A. Schlatter, Das Ev. des Lk., S. 283ff.; ferner Fendt, <strong>Der</strong> Christus der Gemeinde,<br />
Dillersberger und Geldenhuys.<br />
130) So T. W. Manson, The Sayings of Jesus, 2. Aufl., Neudruck 1952, S. 259; vgl. auch Ginn.<br />
131) S. dazu schon oben S. 147.<br />
132) So z. B. C. H. Lindijer, Oude en Nieuwe visies, in: Ned. Theol. Tijdschrift, 1960, S. 23 Anm. 1.<br />
133) So C. W. F. Smith, The Jesus of the Parables, S. 148.<br />
134) So C. W. F. Smith, aaO S. 150; ferner Simòn, Findlay, Scheitlin und Pirot.<br />
135) So C. W. F. Smith, aaO S. 150.
155<br />
3. Gegen eine Zusammengehörigkeit von Vers 25ff. und Vers 30ff. wird immer wieder<br />
die „Inkonzinnität“ der Fragen Vers 29 und 36 geltend gemacht 136 ).<br />
Weitere Gesichtspunkte für eine Abtrennung sind, daß in Lk 10, 25ff. auch Züge aus<br />
Mk 10, 17–31 parr vorliegen 137 ) und sich dieser Abschnitt dadurch vollends als<br />
Redaktorenarbeit ausweise 138 ),—ferner, daß sich in Vers 30ff. stärker „lukanische“<br />
Terminologie finde als in Vers 25–29 139 ),—und schließlich, daß eine Reise Jesu durch<br />
Samarien, in die unsere Erzählung heute eingeordnet ist, vermutlich nie stattgefunden<br />
habe 140 ). Auch darauf wird hingewiesen, daß Lukas an der Mk 12, 28ff. parr<br />
entsprechenden Stelle Kap. 20, 39f. die Geschichte von der Frage nach dem großen<br />
Gebot bis auf einen „Überrest“ wegläßt, offensichtlich, weil er selbst sie als Dublette zu<br />
Kap. 10, 25ff. empfindet 141 ).<br />
Auf das Ganze gesehen, halten sich die beiden in diesem und dem vorigen Abschnitt<br />
geschilderten Gruppen die Waage 142 ).<br />
4. Besondere Beachtung verdient vor allem eine weitere Gruppe, deren Vertreter zwar<br />
nicht den Zusammenhang von Vers 25ff. und 30ff. festhalten wollen, wohl aber den von<br />
Vers 29 mit 30ff. Schon E. Hirsch versuchte, an einer kleinen sprachlichen Beobachtung<br />
zu zeigen, daß der Bruch erst zwischen Vers 28 und Vers 29 vorliege, da in Vers 27<br />
πλησίον mit dem bestimmten Artikel gebraucht werde, in Vers 29 und 36 dagegen ohne<br />
Artikel 143 ).<br />
Ausführlich behandelt diese Frage Eta Linnemann 144 ). Ein Bruch zwischen Vers 29<br />
und Vers 36 liegt ihrer Ansicht nach deshalb nicht vor, weil Vers 36 keine präzise<br />
Antwort auf 30ff. sein wolle, sondern vielmehr eine Art „Wegweiser“ auf den<br />
geschilderten Tatbestand<br />
136) So z. B. J. Wellhausen, Das Ev. Lucae, S. 52; aber auch Klostermann und Black.<br />
137) Vgl. vor allem Mk 10, 17 und Lk 10, 25.<br />
138) Vgl. M. S. Enslin, Luke and the <strong>Samaritan</strong>s, in: Harv. Theol. Rev., 1943, S. 286.<br />
139) M. S. Enslin, aaO S. 291.<br />
140) Vgl. z. B. H. Conzelmann, Die Mitte der Zeit, 4. Aufl. 1962, S. 64.<br />
141) So W. E. Bundy, Jesus and the first three Gospels, S. 213.<br />
142) Dabei ist aber unverkennbar, daß die römisch-katholischen Auslegungen mehr zur Annahme<br />
einer Einheit beider Abschnitte, die evangelischen dagegen im Laufe der Zeit zunehmend zur<br />
Abtrennung neigen.<br />
143) Frühgeschichte des Ev., 2. Buch, S. 59.<br />
144) Gleichnisse Jesu, S. 142.
156<br />
hin. Die Formulierungen in Vers 36 seien deshalb so schwierig, weil dabei möglichst die<br />
Wendungen der Erzählung gebraucht werden sollten. Eine Zusammengehörigkeit von Vers<br />
29 und 30ff. bereits im vorlukanischen Stadium lege sich auch deshalb nahe, weil der zu<br />
Vers 30ff. gehörige Vers 36 voraussetze, daß der Nächste vorher schon genannt worden<br />
sei,—ferner, weil nach den kompositorischen Regeln, die Lukas sonst befolge, der<br />
Evangelist die Frage Vers 36 nicht ohne auf die Erzählung bezogen hätte 145 ). Als „Sitz“ der<br />
Frage Vers 29 bestimmt E. Linnemann das „palästinenische Judentum“ 146 ). Von da aus<br />
erklärt sie: „Wenngleich es möglich wäre, daß erst die Urgemeinde die Frage ,Wer ist denn<br />
mein Nächster’ mit Jesu Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> beantwortet hat, halte ich<br />
es doch für mindestens ebenso wahrscheinlich, daß schon Jesus mit dieser Geschichte auf<br />
jene Frage eine Antwort gab“ 147 ). Eine Stütze für ihre These, Lk 10, 29 und 10, 30ff. hätten<br />
von vornherein zusammengehört, findet die Autorin auch bei W. Michaelis, der zu unserem<br />
Problem ausführt: „Obwohl wir in der Abfolge von Mahnwort Jesu 10, 28 und Frage des<br />
Gesetzesgelehrten 10, 29 ein Werk des Evangelisten vor uns haben, kann die Frage 10, 29<br />
als solche ursprünglich zum Gleichnis gehört haben . . . . Doch auch wenn wir nun das<br />
Gleichnis selbst betrachten, ist kein Zweifel, daß es eben dieser Frage gewidmet ist“ 148 ).<br />
Ähnlich äußert sich G. Bornkamm. Er betont, daß die heutige Verbindung von Lk 10,<br />
25–28 und 29ff. „ein Ganzes geschaffen hat, das den ursprünglichen Sinn des<br />
Doppelgebots und damit sein Verständnis dessen, was der ,Nächste’ bedeutet, in<br />
unvergleichlicher Weise zum Ausdruck bringt“ 149 ).<br />
5. So muß man sagen, daß die Frage des Zusammenhanges unserer Erzählung mit<br />
dem Kontext noch immer umstritten ist. Zwar<br />
145) AaO.<br />
146) AaO Anm. 1; vgl. auch J. Wellhausen, Das Ev. Lucae, S. 52; E. Klostermann, Das Lukasev., 2.<br />
Aufl., S. 119; F. Hauck, Das Ev. des Lk, S. 300.<br />
147) AaO.<br />
148) Die Gleichnisse Jesu, S. 205.<br />
149) Das Doppelgebot der Liebe, in: Ntl. Studien für R. Bultmann, S. 93; vgl. ähnlich R. Bultmann,<br />
Jesus, Neudruck 1951, S. 84; ferner H. Greeven in ThWB VI, S. 315, Artikel πλησίον; G.<br />
Eichholz, Einführung in die Gleichnisse, S. 80.—Eine Zusammengehörigkeit von V. 29 bzw. auch<br />
V. 28 mit V. 30ff. nehmen auch an: Jülicher, Bartelt, Dillersberger, Brouwer und Herbst.
157<br />
spricht eine Anzahl von Gründen zumindest für eine Zusammengehörigkeit mit Vers 29,<br />
jedoch entscheidet sich eine relativ große Anzahl gerade der jüngeren deutschen Ausleger<br />
für eine Abtrennung von Vers 30–35.<br />
Daher empfiehlt es sich, bei allen weiteren Überlegungen hinsichtlich des christlichen<br />
Charakters unseres Textes nicht von dem Rahmen, sondern von der eigentlichen<br />
Erzählung Lk 10, 30ff. selbst auszugehen.
Kapitel 7<br />
ERGENBIS UND AUSBLICK<br />
Was ist zusammenfassend über das Ergebnis unseres Ganges durch die Auslegungsgeschichte<br />
zu sagen, und welche Möglichkeiten für die künftige Auslegung zeichnen sich<br />
ab?—Zunächst ist festzustellen, daß, obwohl die neueren, im ersten Kapitel dieser Arbeit<br />
besprochenen Auslegungen den gegenteiligen Eindruck erwecken könnten, die Mehrzahl<br />
der modernen Exegesen nichtchristologischer Art ist. Andererseits läßt sich jedoch nicht<br />
leugnen, daß die Versuche, den christlichen Charakter unserer Erzählung herauszustellen,<br />
insgesamt einer letzten Stringenz entbehren. Hier liegen tatsächlich noch immer offene<br />
Fragen, die eine Anzahl von Autoren zum Rückgriff auf die christologische Auslegung<br />
geführt hat. Dabei ist die Tendenz auf eine Zurückdrängung oder Unterordnung bzw.<br />
Eliminierung der ethischen Forderung unseres Textes nicht zu übersehen.<br />
Demgegenüber muß es als höchst bedeutsam gelten, daß die christologische<br />
Auslegung der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> in der Alten Kirche und in der<br />
Reformation trotz vieler Beispiele doch nicht die Bedeutung gehabt hat, die man ihr heute<br />
beizulegen geneigt ist. Schon in der ältesten Zeit findet man nicht nur christologische<br />
Auslegungen, und selbst da, wo christologisch ausgelegt wird, dominiert häufig dennoch<br />
das ethische Moment. Obendrein hat sich gezeigt, daß bei der Rezeption eines<br />
christologischen Verständnisses viel weniger auslegerische Gründe maßgebend waren als<br />
bei dem ethischen Verständnis. Auch ist die christologische Auslegung vor allem im<br />
Altertum und in der Reformationszeit weithin aus Gründen der Polemik bzw. der<br />
Illustration dogmatischer Tatbestände übernommen oder festgehalten worden, während<br />
das bei der ethischen Auslegung lange nicht in dem Maße der Fall war. Endlich darf nicht<br />
übersehen werden, daß die christologische Auslegung von
159<br />
Anfang an breiter und ausführlicher in Predigten auftaucht als in anderen christlichen<br />
Literaturformen, in denen mehr begründet als thetisch gehandelt wird.<br />
Im 18. und 19. Jahrhundert, also schon vor Jülichers epochemachenden Thesen, ist,<br />
wie wir gesehen haben, die christologische Auslegung fast ganz verschwunden. So wird<br />
man die Tatsache, daß in der Moderne neben der Vielzahl der nichtchristologischen<br />
Auslegungen wiederum häufiger christologische auftauchen, als Zeichen einer<br />
Restauration anzusehen haben.<br />
Indes, es stellt sich nun die Frage: Wenn wirklich unsere Erzählung<br />
nichtchristologisch auszulegen ist, wie muß sie dann verstanden werden? Enthält die<br />
bisherige Auslegungsgeschichte Hinweise und Hilfen, die, ausgearbeitet, weiterhelfen<br />
könnten? Wie steht es ferner mit dem Problem des christlichen Charakters unserer<br />
Erzählung? Was läßt sich hier über Vermutungen hinaus sagen?<br />
1. Wir haben gesehen, daß wir in der Frage des ursprünglichen Scopus unseres Textes<br />
mit allen Stellen, die in der Literatur als ihr ähnlich angeführt werden, so ergibt sich<br />
folgender Schluß: Wenn unsere Erzählung überhaupt Ähnlichkeit mit irgendeinem<br />
anderen neutestamentlichen Text hat, dann am ehesten mit Mt 5, 43–48 bzw. mit Lk 6,<br />
27–36.<br />
Wir bewegen uns damit auf der Linie der vielen Auslegungen, die, wie wir gesehen<br />
haben, bei unserer Erzählung immer wieder auf bestimmte Stellen der Bergpredigt bzw.<br />
der Feldrede hinweisen 1 ).<br />
Abgesehen von der Bergpredigt werden vor allem folgende synoptische Stellen<br />
genannt: Mk 2, 17 parr, Mt 12, 7, Mk 7, 1–23, Mk 10, 17–31 parr, Mk 12, 28–34, Mt 23,<br />
1–5, 23–26 par und Mt 25, 31–43. Bei genauer Durchsicht zeigt sich, daß diese Stellen<br />
entweder nur mit dem Kontext unserer Erzählung Ähnlichkeit haben, von dem aus wir<br />
gerade nicht argumentieren wollen (so bei Mk 10, 17–31 und Mk 12, 28–34) oder daß sie<br />
zwar in Einzelzügen (Mk 2, 17 parr), nicht aber auch im Gesamtduktus, in der<br />
Ausprägung dieses Gesamtduktus und im Anschauungsmaterial unserer Erzählung<br />
wirklich ähnlich sind.<br />
1) S. o. S. 68, 104, 105f. 107, 108, 122, 125, 128, 139, 148 u. ö.
160<br />
So ist das Bild vom Arzt und dem Kranken nicht einfach derselbe<br />
Vorstellungsbereich wie der des Verwundeten und seines Helfers, zumal eine Heilung in<br />
unserer Erzählung nicht berichtet ist (vgl. Lk 10, 35).<br />
Des weiteren ist kaum anzunehmen, daß eine antikultische bzw. antirituelle Deutung<br />
(vgl. Mt 12, 7, Mk 7, 1–23) den Scopus des Textes richtig wiedergibt 2 ). Gewiß wird ein<br />
solcher Akzent mitschwingen, wenn gerade ein Priester und ein Levit als Beispiel der<br />
Lieblosigkeit genannt werden. Indes, sollte hier die eigentliche Absicht des Textes liegen,<br />
so wäre die Wahl gerade eines <strong>Samariter</strong>s als Gegenbeispiel, auf dem doch das<br />
„Achtergewicht“ 3 ) der Erzählung liegt, unverständlich. Ferner muß damit gerechnet<br />
werden, daß „Priester und Levit“ einfach den Sprachgebrauch jüngerer Schichten des AT<br />
widerspiegeln 4 ), in denen diese Wendung häufig nicht mehr als die „Vertreter der<br />
offiziellen Religion“ meint 5 ).<br />
Auch der Gedanke der Kasuistik als Flucht vor dem Handeln 6 ) steht, wie wir gesehen<br />
haben 7 ), gewiß im Hintergrund, jedoch trägt unsere Erzählung im Vergleich zu Mt 23<br />
vorwiegend positiven Charakter. In Mt 23 dagegen geht es um Negation. Obendrein sind<br />
die angeführten Beispiele völlig anderer Art als in Lk 10, 30ff.<br />
Mehr Verwandtschaft besteht schon mit Mt 25, 31–43. Das in diesem Abschnitt<br />
geforderte Handeln wird z. T. ähnlich geschildert wie Lk 10, 30–35; indes, der Scopus,<br />
wie er in Mt 25, 40 präzisiert wird, ist in unserer Erzählung nirgends ausgesprochen oder<br />
auch nur angedeutet.<br />
3. Dagegen liegt der Gesamtduktus von Mt 5, 43–48 bzw. Lk 6, 27–36 auf einer<br />
Ebene mit Lk 10, 30–35. Beide Male geht es um die Forderung der Feindesliebe 8 ).<br />
Freilich muß beachtet werden: Wenn zur Erzählung vom barmehrzigen <strong>Samariter</strong><br />
eine recht große Anzahl von Belegen über die<br />
2) S. o. S. 123f. und 141f.<br />
3) Vgl. dazu R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl. 1957, S. 207.<br />
4) Vgl. G. Schrenk, in ThWB III, S. 262, Artikel ίερεύς<br />
5) Vgl. so auch W. O. E. Oesterley, The Gospel Parables of Luke, Neudruck 1938, S. 262; J.-S. Javet,<br />
L’Evangile de la Grâce, S. 142; E. Linnemann, Gleichnisse Jesu, S. 59; H. Gollwitzer, Das<br />
Gleichnis vom barmh. Sam., S. 52.<br />
6) Mt 23, 1–5, 23–26.<br />
7) S. o. S. 123 und 141f.<br />
8) Zu Lk. 10, 30–35 siehe vor allem oben S. 121ff. und 137ff.
161<br />
Feindesliebe zwischen Juden und <strong>Samariter</strong>n angeführt wird 9 ), so ist damit noch<br />
keineswegs gesagt, daß in unserem Text generell von der Forderung der Liebe zu den<br />
Heiden gehandelt wird, auch wenn Lukas es so interpretiert hat. Es muß u. E. durchaus<br />
damit gerechnet werden, daß die <strong>Samariter</strong> zwar als Feinde der Juden, aber deswegen<br />
doch nicht einfach als Heiden angesehen wurden 10 ). Die enge Zusammengehörigkeit<br />
unserer Erzählung mit Mt 5, 43–48 bzw. Lk 6, 27–36 zeigt sich nun auch darin, daß an<br />
diesen Stellen genau dieselbe Problematik vorliegt. Bisweilen wird expressis verbis die<br />
Frage gestellt, ob es sich hier wirklich um die Liebe zu dem Feind im Sinne des Heiden<br />
handelt oder vielmehr in erster Linie um die Liebe zu dem persönlichen Feind, dem<br />
„Privatfeind“ 11 ). Daß auch Mt 5, 43b durchaus innerjüdisch verstanden werden könnte,<br />
zeigt ferner die neuentdeckte Literatur von Qumran 12 ). In der parallelen Lukasstelle 6,<br />
27 13 ) ist es allerdings schwieriger, in erster Linie an den persönlichen Feind zu denken.<br />
Die Wendung µισοΰσιν ύµάς scheint an Lk 1, 71 anzuklingen, ein Zitat aus Ps. 106, 10,<br />
wo es ja um die Ägypter, also um Heiden, geht. Doch brauchte das insofern kein<br />
Widerspruch zu dem oben Ausgeführten zu sein, als bei Lukas der jüdische Hintergrund<br />
der Worte gelegentlich verwischt ist 14 ). Indes, wie dem auch sei, in jedem Falle ist<br />
festzuhalten, daß der Gesamtduktus von Lk 10, 30–35 am ehesten mit dem von Mt 5, 43–<br />
48 bzw. Lk 6, 27–36 verglichen werden kann, weil es hier eindeutig, gleich, ob<br />
ursprünglich in einem engeren oder weiteren Sinne, um das Gebot der Feindesliebe geht.<br />
9) S. o. S. 138f.<br />
10) Vgl. dazu E. Schürer, Geschichte des jüdischen Volkes im Zeitalter Jesu, Bd. 2, 1898, S. 17f.; H.<br />
L. Strack—P. Billerbeck, Das Ev. des Mt, zu Mt 10, 5 und vor allem neuerdings auch K. H.<br />
Rengstorf, in Studia Theologica cura ordinum Theologicorum Scandinavicorum, Vol. XV, Fasc. I,<br />
1961, S. 35ff.; anders jedoch z. B. J. Jeremias in ThWB VII, S. 92, Artikel Σαµάρεια.<br />
11) Vgl. M. Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. 1, 1953, S. 114f.; ferner E. Klostermann, Das<br />
Matthäus-Ev., 3. Aufl., 1938, S. 50; anders aber z. B. W. Foerster, ThWB II, S. 813, Artikel<br />
έχθρός.<br />
12) Vgl. z. B. DSM 1, 3f.; 9f.; DSM 2, 7/9; nach E. Stauffer, Die Botschaft Jesu, S. 208.<br />
13) Diese Stelle kann gegenüber Mt 5, 43 nicht pauschal für sekundär erklärt werden, vgl. R.<br />
Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl., 1957, S. 100.<br />
14) So K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 89.
162<br />
4. Dieser Tatbestand bestätigt sich nun, wenn wir feststellen, daß erhebliche<br />
Ähnlichkeiten in der Ausprägung dieses Gesamtduktus einerseits und im benutzten<br />
Anschauungsmaterial andererseits vorliegen.<br />
a) Zunächst ist irritierend, daß in unserer Beispielerzählung die Art des Verhaltens<br />
mit έσπλαγχνίσθη wiedergegeben wird, im Text der Rede Jesu nach Matthäus, der hierin<br />
vielleicht der ursprünglichere sein könnte 15 ), aber nur von άγαπάν die Rede ist. Jedoch,<br />
wie nahe unsere Erzählung dem bei Matthäus überlieferten Redentext trotz verschiedener<br />
Terminologie kommt, wird bei einer genaueren Exegese von σπλαγχνίζεσθαι deutlich.<br />
Nach H. Köster bringt dieses Wort stärkste „menschliche Gefühlsregung“ zum Ausdruck,<br />
nicht um ihrer selbst willen, sondern um „die Totalität des Erbarmens“ zu<br />
kennzeichnen 16 ). Ganz in diesem Sinne einer Betonung der Totalität, der Ganzheit der<br />
geforderten Liebe und damit auch der Notwendigkeit, von der geforderten Liebe innerlich<br />
durchdrungen au sein, interpretiert auch E. Stauffer Lk 10, 33: „Das Herz hat die letzte<br />
Entscheidung. <strong>Der</strong> erfüllt seine Nächstenpflicht, dessen Herz den fremden Jammer spürt.<br />
. . . Aber es kommt durch dieses έσπλαγχνίσθη nichts von Schwärmerei in die<br />
Nächstenliebe. Es ist die denkbar unsentimentalste Hilfsbereitschaft“ 17 ). So kommen mit<br />
σπλαγχνίζεσθαι die Intensität und Totalität der geforderten Liebe zum Ausdruck. Eben in<br />
dieser Weise wird das Liebesgebot aber auch in Mt 5, 43ff. präzisiert, wenn dieser<br />
Abschnitt in der Forderung der „Vollkommenheit“, der Ungeteiltheit 18 ) gipfelt. Und auch<br />
hier wird die Totalität auf dem Wege über die Betonung einer innerlichen<br />
Durchdrungenheit von der Liebe deutlich gemacht 19 ). Dieselben Momente finden sich<br />
auch in der Feldrede bei Lukas, am deutlichsten in der gegen-<br />
15) Nach Auffassung der meisten Forscher ist der Text von Lk. 6. 36 mit dem σπλαγχνίζεσθαι<br />
sinngleichen οίκτίρειν ja sekundär, so z. B. R. Bultmann, Geschichte der synoptischen Tradition, 3.<br />
Aufl. 1957, S. 100; M. Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. 1, 1953, S. 113; anders jedoch z.<br />
B. F. Hauck, Das Ev. des Lk., S. 88f.<br />
16) ThWB VII, S. 545, Artikel σπλάγχνον.<br />
17) ThWB I, S. 46, Artikel άγαπάω.<br />
18) Vgl. z. B. R. Bultmann, Jesus, Neudruck 1951, S. 102; G. Bornkamm, Jesus von Nazareth, S. 99; A.<br />
Schlatter, <strong>Der</strong> Evangelist Mt, 3. Aufl. 1948, S. 71f.; J. Schnierwind, Das Ev. n. Mt, 7. Aufl. 1954,<br />
S. 73.<br />
19) Zu diesem Moment vgl. oben das Zitat von Stauffer und ebenso z. B. die Tatsache, daß Paulus<br />
σπλάγχνα 2. Kor. 6, 12 geradezu synonym mit καρδία gebrauchen kann, (so H. Köster, ThWB VII,<br />
S. 555, Artikel σπλάγχνον sowie J. Behm, ThWB III, S. 614, Artikel καρδία).<br />
Von der Forderung eines nicht nur äußerlichen Tuns her wird ja auch die Tatsache verständlich,<br />
daß als Beispiel für die Feindesliebe bei Matthäus gerade das „Gebet“ für die Verfolger (Mt 5, 44)<br />
und damit zusammenhängend der „Gruß“ (Mt 5, 47) gewählt wird. Eben darin erweist sich, ob die<br />
Feindesliebe nur äußerlich oder „vollkommen“ ist.
163<br />
über Matthäus differierenden Fassung von Lk 6, 36 20 ). Selbst wenn wir mit einer<br />
lukanischen Überarbeitung des Spruchmaterials rechnen müssen und die terminologische<br />
Ähnlichkeit zu Lk 10, 30–35 nicht so groß gewesen sein sollte, wie das im jetzigen Text<br />
der Feldrede der Fall ist, läge mit großer Wahrscheinlichkeit in beiden Texten der Sache<br />
nach dieselbe Ausprägung des Gedankens der Feindesliebe vor wie in unserer Erzählung<br />
vom barmherzigen <strong>Samariter</strong>.<br />
b) Die Ähnlichkeiten der Ausprägung gehen aber noch weiter. Eindeutig liegt<br />
nämlich sowohl in Lk 10, 30ff. als auch in Mt 5, 43ff. bzw. Lk 6, 27ff. der Gedanke der<br />
„Umwertung aller Werte“ vor 21 ).<br />
Hinsichtlich von Lk 10, 30ff. brauchen wir dafür nur auf die oft beobachtete Tatsache<br />
zu verweisen, daß der <strong>Samariter</strong> unerwarteterweise hilft, ohne nach Herkunft und<br />
Qualifikation zu fragen 22 ). In der Bergpredigt und in der Feldrede liegt die „Umwertung“<br />
u. a. darin, daß zur Aufgabe der sonst üblichen Maßstäbe der „Gegenseitigkeit und<br />
Zweckmäßigkeit“ aufgefordert wird 23 ).<br />
Mit der Umwertung aller Werte hängt es auch zusammen, wenn zu unserer Erzählung<br />
häufig die Notwendigkeit herausgestellt wird, beim Handeln rückhaltlos vom andern her<br />
zu denken 24 ). Ganz ähnliche Gedanken führt nun z. B. A. Schlatter auch zu Mt 5, 44 aus:<br />
20) Dazu, daß σπλαγχνίζεσθαι und οίκτίρειν in weitgehender Übereinstimmung gebraucht werden<br />
können, vgl. Phil. 2, 1; s. hierzu auch r. Bultmann, ThWB V, S. 163, Artikel οίκτίρω und H.<br />
Köster, ThWB VII, S. 556, Artikel σπλάγχνον.<br />
21) Vgl. dazu K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 86.<br />
22) S. o. S. 54f., 59f.; In diesen Zusammenhang gehört aber auch die Polemik Luthers gegen die<br />
selbstgewählten Werke, s. o. S. 93f. ferner 104f., 121f., 139f. u. ö.<br />
23) So K. H. Rengstorf zu Lk. 6, 32 s. o. S. 140. Zu Mt 5, 44f. s. ähnlich E. Klostermann, Das<br />
Matthäusev., 3. Aufl. 1938, S. 51.<br />
24) S. für das 18. und 19. Jahrhundert oben S. 124f., für die Moderne W. Bauer, Griechisch-deutsches<br />
Wörterbuch zum NT, 4. Aufl. 1952, Sp 669f. und E. Klostermann, Das Lk.-Ev., 2. Aufl., S. 121 u.<br />
ö.<br />
Wichtig ist uns dabei, daß eine Umkehrung der Werte nicht nur durch die Gegenüberstellung von<br />
Einleitung (Lk 10, 25ff.) und eigentlicher Erzählung (Lk. 10 30ff.) bzw. durch die Inkonzinnität<br />
der beiden Fragen zustande kommt, (s. o. S. 124f., 136 u. ö.), sondern durch die Erzählung selbst<br />
anvisiert wird, z. B. durch die Wahl eines Juden als Opfer angesichts einer vermutlich ja in jedem<br />
Fall jüdisch gedachten Zuhörerschaft (So z. B. C. W. F. Smith, The Jesus of the Parables, S. 154;<br />
vgl. aber auch z. B. J. Pirot, Paraboles, S. 440 und J.-S. Javet, L’Evangile de la Grâce, S. 142).
164<br />
Hier werde ich, so erklärt er, zu einer Liebe gerufen, die sich nicht „um mich selbst“<br />
dreht und in meinem eigenen Glück ihr „Maß“ hat 25 ).<br />
c) Als weitere Ähnlichkeit in der Ausprägung des Gesamtduktus bei unserer<br />
Erzählung einerseits und den angezogenen Stellen der Bergpredigt und Feldrede<br />
andererseits ist zu nennen, daß hier wie dort dieselbe Stellung zur jüdischen bzw.<br />
alttestamentlichen Frömmigkeit bezogen wird.—In unserer Beispielerzählung ist ein<br />
Gegensatz zur offiziellen Frömmigkeit ja allein schon durch die Reihenfolge Priester,<br />
Levit und <strong>Samariter</strong> gegeben und von vielen Auslegern konstatiert worden 26 ). In Mt 5,<br />
43ff. läge er selbst dann vor, wenn die antithetische Form der Worte Jesu sekundär<br />
wäre 27 ). Zu Lk 6, 27ff. wird von den meisten Auslegern zwar herausgestellt, daß Lukas<br />
das Gebot der Feindesliebe weitgehend ohne Polemik behandelte, jedoch versteht man<br />
dies in der Regel als nachträgliche Generalisierung 28 ). Für die Urform dieser Worte der<br />
Feldrede wird also dasselbe gelten wie für den Matthäustext.<br />
Die Stellung Jesu zur offiziellen jüdischen Frömmigkeit ist in unserer Erzählung<br />
näher beschrieben als Diskontinuität und Kontinuität zugleich 29 ). Genau derselbe<br />
Gedanke wird von J. Schniewind zu Mt 5, 44 gebracht. Er erklärt: Das Alte Testament<br />
verhalte sich zu der hier geforderten Feindesliebe „vorbereitend wie gegensätzlich“ 30 ).<br />
Bemerkenswert ist ferner, daß einige Ausleger auch zu Mt 5, 44 die Frage stellen, ob hier<br />
nur eine falsche Interpretation des<br />
25) Erläuterungen zum NT, 2. Aufl., Neudruck 1954, Bd. 1, S. 68; vgl. auch Th. Zahn, Das Ev. des Mt,<br />
3. Aufl., 1910, S. 255.<br />
26) S. z. B. oben S. 143 und 145f.<br />
27) Vgl. dazu z. B. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl. 1957, S. 143; M.<br />
Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. 1, 1953, S. 106; F. Hauck, Das Ev. des Lk., S. 85.<br />
28) Vgl. vor allem K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 89.<br />
29) S. o. S. 146f. und 147f.<br />
30) Das Ev. n. Mt., 7. Aufl. 1954, S. 70.
165<br />
Gesetzes durch die Lehre des Judentums angegangen werde, oder ob damit zugleich das<br />
alttestamentliche Gesetz selbst angegriffen sei 31 ). Mit der Diskontinuität und Kontinuität<br />
gegenüber der jüdischen Frömmigkeit hing es zusammen, wenn als das Ziel der Worte<br />
Jesu in Lk 10, 30ff. die Radikalität der Liebesforderung genannt werden konnte 32 ). In Mt<br />
5, 43ff. kommt dieselbe Radikalisierung des Gesetzes u. a. durch das περισσόν (Mt 5, 47)<br />
zum Ausdruck, das seinerseits wieder mit περισσεύη (Mt 5, 20) zusammenhängt. An<br />
dieser letztgenannten Stelle geht es deutlich um ein „Mehrtun“ im Sinne des<br />
„Unerwarteten“ und „Besonderen“ 33 ). „Das Rechtverhalten, das für die Teilnahme am<br />
Reich Gottes gefordert ist, muß weit übersschießen über die Höchstleitung der Altzeit,<br />
wie sie von den Virtuosen der Frömmigkeit, den Schriftgelehrten und Pharisäern<br />
gefordert wird“ 34 ), führt F. Hauck zu Mt 5, 20 aus, und dasselbe gilt gewiß, obwohl unter<br />
einem anderen Blickwinkel 35 ), auch für Mt 5, 47 36 ).<br />
d) Jedoch nicht nur im Gesamtduktus und dessen Ausprägung liegen große<br />
Ähnlichkeiten zwischen Lk 10, 30ff. und Mt 5, 43ff. bzw. Lk 6, 27ff. vor, sondern ebenso<br />
auch im Anschauungsmaterial.<br />
Zunächst ist zu beachten, daß es in der Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong><br />
weniger um einen nationalen als um einen religiösen Gegensatz geht, der ein<br />
Liebeshandeln am Feind nicht ausschließen soll. Gerade der religiöse Gegensatz ist aber<br />
in Mt 5, 44 im Blick, wenn dort „Verfolgung“ aus Glaubensgründen erwähnt wird 37 ).<br />
Sollte die ursprüngliche Form dieses Wortes in Lk 6, 28 enthalten sein 38 ), so wäre es für<br />
unseren Zusammenhang besonders<br />
31) Vgl. z. B. H. Asmussen, Die Bergpredigt, eine Auslegung von Mt 5–7, 1939,—in: Wege in die<br />
Bibel, herausgegeben von W. Herntrich—S. 17 und W. Foerster, ThWB II, S. 813, Anm. 16,<br />
Artikel έχθρός.<br />
32) S. o. S. 146.<br />
33) So z. B. J. Schniewind, Das Ev. n. Mt, 7. Aufl. 1954, S. 73 und E. Klostermann, Das Matthäusev.,<br />
3. Aufl. 1938, S. 51.<br />
34) ThWB VI, S. 59, Artikel περισσεύω.<br />
35) S. dazu unten S. 166.<br />
36) Nicht übersehen werden sollte auch, daß in Lk 10, 30ff. die Radikalität der Forderung u. a. mit<br />
einer Wendung umschrieben wird, die dem περισσόν von Mt 5, 47 sachlich sehr nahekommt,<br />
nämlich mit προσδαπανάν im Zusammenhang mit άποδώαειν (Lk 10, 35).<br />
37) Vgl. dazu auch Mt 5, 11; ferner 10, 23 und 23, 34.<br />
38) So R. Bultmann, Die Geschichte der Synoptischen Tradition, 3. Aufl., 1957, S. 83 und J. Schmid,<br />
Das Ev. n. Lk., S. 106.
166<br />
wichtig, daß sich vor allem in der Aufforderung, die Verfluchten zu segnen, ebenfalls ein<br />
religiöser Gegensatz widerspiegelt. Mit der Erwähnung der Verfluchenden ist ja auf die<br />
synagogale Sitte angespiegelt, gegen den Gegner Fluchworte auszusprechen 39 ). <strong>Der</strong><br />
religiöse Horizont der Aussagen kommt dann bei Lukas im folgenden noch deutlicher<br />
wieder zu Tage als bei Matthäus, wenn die „Sünder“ zum Vergleich herangezogen<br />
werden (Lk 6, 33) 40 ).<br />
Ferner liegt im Anschauungsmaterial große Ähnlichkeit unserer Erzählung mit den<br />
genannten Abschnitten der Bergpredigt bzw. Feldrede vor, wenn der Fromme mit<br />
Personen konfrontiert wird, deren sittliche Minderwertigkeit i. a. feststand. Dies<br />
geschieht in Lk 10, 30ff. dadurch, daß das rechte Verhalten eines <strong>Samariter</strong>s dem<br />
unrechten Verhalten des Priesters und des Leviten offensichtlich zur „Beschämung der<br />
Zuhörer“ 41 ) entgegengesetzt wird, während Matthäus und Lukas eben in diesem<br />
Zusammenhang auf die „Zöllner und Heiden“ bzw. die „Sünder“ hinweisen.<br />
Daß unsere Erzählung dem Verstellungsbereich speziell der Feldrede in einigen<br />
Punkten besonders nahekommt 42 ), sahen wir schon oben zu Lk 6, 28 43 ) und Lk 6, 36 44 ).<br />
Zwei weitere Beobachtungen treten hinzu. So ist dem Auslegern schon immer wieder<br />
aufgefallen, daß in Lk 6, 29b der zu liebende Feind nicht wie im Paralleltext Mt 5, 40 als<br />
„ein auf seinem Recht beharrender Gläubiger“, sondern als ein „Räuber“ bezeichnet<br />
wird 45 ). K. H. Rengstorf verweist aus-<br />
39) So O. Michel, <strong>Der</strong> Brief an die Römer, 1955, S. 273, zu R. 12, 14;—vgl. auch 1. Kor. 4, 12 und 1.<br />
Petr. 3, 16.<br />
40) Bei Mt die „Zöllner und Heiden“ (Mt 5, 46f.).<br />
41) So z. B. J. Wellhausen, Das Ev. Lucae, S. 52; I. Abrahams, Studies II, S. 36 u. ö.<br />
42) Nicht in allen, vgl. z. B. oben S. 161.<br />
43) Vgl. oben S. 165f.<br />
44) Vgl. oben S. 162f.<br />
Dies verdient besondere Aufmerksamkeit, weil wir in dem Abschnitt über die Feindesliebe in der<br />
Bergpredigt bzw. der Feldrede nie ganz sicher sind, wo der ursprünglichere Text vorliegt (s. dazu schon<br />
oben S. 161, Anm. 5), vgl. zum Ganzen aber auch z. B. M. Dibelius, Botschaft und Geschichte, Bd. 1,<br />
1953, S. 108; J. Jeremias, Die Bergpredigt, 1959—Calwer Hefte zur Förderung bibl. Glaubens und christl.<br />
Lebens—S. 15.<br />
45) So K. H. Rengstorf, Das Ev. n. Lk., 10. Aufl., S. 90; ähnlich z. B. E. Klostermann, Das Lk.-Ev., 2.<br />
Aufl., S. 81 und J. Schmid, Das Ev. n. Lk., S. 106.
167<br />
drücklich auf die Ähnlichkeit von Lk 10, 30 mit dieser Stelle 46 ). Zum anderen erinnert die<br />
Situation von Lk 10, 35 sehr stark an Lk 6, 35, die Aufforderung zum Leihen ohne<br />
Aussicht auf Rückerstattung 47 ).<br />
Nach alledem dürfte kaum mehr zweifelhaft sein, daß Lk 10, 30–35 dem<br />
Gesamtduktus sowie dessen Ausprägung und der Vorstellungswelt nach mit Mt 5, 43–48<br />
bzw. Lk 6, 27–36 zusammengehört.<br />
Von da aus liegt es nahe, nach den Motiven zu fragen, mit welchen in der Bergpredigt<br />
bzw. der Feldrede die Forderung der Feindesliebe begründet wird. Bei deren starker<br />
Zusammengehörigkeit mit unserer Erzählung dürfte es kein voreiliger Schluß sein, wenn<br />
wir annehmen, daß auch in dem Motiven, die auf den christlichen Charakter der Texte<br />
hinweisen, engste Zusammengehörigkeit besteht, d. h., daß in der Frage der christlichen<br />
Prägung von Lk 10, 30ff. dieselben Motive im Hintergrund stehen, die in der Bergpredigt<br />
bzw. der Feldrede zugrunde liegen.<br />
Als solche Motive bieten sich in der Bergpredigt bzw. in der Feldrede folgende an:<br />
a) <strong>Der</strong> Hinweis auf die Vollmacht Jesu<br />
Immer wieder wird von den Auslegern herausgestellt, daß Jesus sich mit der<br />
Wendung: „Ich aber sage euch“ über alle bisherigen Autoritäten stellt 48 ). Er erweise sich<br />
damit als der „Herr“ über alle anderen 49 ) und zeige seine Absolutheit 50 ), sein<br />
Sendungsbewußtsein 51 ).<br />
Besonders interessieren uns an dieser Stelle natürlich die Exegeten, die unsere<br />
Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> christo-<br />
46) AaO.<br />
47) Siehe dazu bereits oben S. 139, besonders bei Anm. 2.<br />
48) So G. Kittel, Die Probleme der palästinensischen Bergpredigt und das Urchristentum, 1926, S. 138.<br />
49) So z. B. H. Asmussen, Die Bergpredigt, 1939, S. 17.<br />
50) So z. B. H. Windisch, <strong>Der</strong> Sinn der Bergpredigt, 2. Aufl. 1937,—Untersuchungen zum Neuen<br />
Testament, herausgegeben von demselben—S. 112.<br />
51) So J. Jeremias, Die Bergpredigt, 1959, S. 21.—Auch R. Bultmann rechnet damit, daß die<br />
Wendung „Ich aber sage euch . . .“ ursprünglich sein könnte, selbst wenn die Wendung „Ihr habt<br />
gehört . . .“ nicht „echt“ ist. (Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl. 1957, S. 157).<br />
Sollte jedoch sogar das „Ich aber sage euch . . .“ später eingeführt sein, so würde sich Jesu<br />
Anspruch auf einzigartige Autorität immer noch deutlich aus der von ihm geforderten Radiklität<br />
der Gebotserfüllung ergeben; s. dazu oben s. 146.
168<br />
logisch auslegten 52 ) und ebenso diejenigen, die in der Auslegung der Bergpredigt bzw.<br />
der Feldrede auf ein christologisches Verständnis im strengen Sinne unserer Definition<br />
hintendierten.<br />
Bei K. Barth hat man den Eindruck, daß er sich hier doch erheblich vorsichtiger<br />
äußert als zu Lk 10, 25–37. Obwohl er die Bergpredigt pointiert als „Selbstanzeige<br />
Jesu“ 53 ), die „Anzeige seiner Person“ 54 ) bezeichnet, geht es ihm dabei doch nur um<br />
„Jesus in den Seinen“ 55 ), Jesus in seinen Nachfolgern. Es wird hier also auch nach Barths<br />
Meinung nur indirekt, nicht direkt, ein Hinweis auf Jesus gegeben 56 ). Jedoch nicht einmal<br />
diese Linie vermag Barth bei unserem Abschnitt voll durchzuführen, spricht er doch zu<br />
den Antithesen der Bergpredigt anders als in dem oben Ausgeführten nur von dem Wort<br />
Jesu als der Ermöglichung des Handelns 57 ), und zu Mt 5, 48 bzw. Lk 6, 36 von der allem<br />
möglichen Handeln voraufgehenden eigenen Vergebung 58 ).<br />
Bei H. Gollwitzer bekommt die Auslegung nur dadurch ein besonderes Gepräge, daß<br />
er die Tatsache immer wieder auszuwerten versucht, die Feldrede sei eingerahmt von<br />
„Kraftbeweisen Jesu“ 59 ), auch hier also wird in unserem Abschnitt selbst kein Anlaß zu<br />
christologischer Auslegung gesehen.<br />
Durch E. Thurneysens Auslegung, auf die Barth sich ausdrücklich beruft 60 ), geht<br />
dagegen ein deutlicher Bruch. Solange er im Bereich der Exegese bleibt, erklärt er auf<br />
Grund seiner starken (und berechtigten) Bemühungen, die Unablösbarkeit der<br />
Bergpredigt von der Person Jesu zu erweisen: „Es ist keine Frage, sie (scil. die<br />
Bergpredigt) handelt von nichts anderem als vom menschlichen Leben, aber wie ist<br />
davon die Rede? So, daß dies Menschenleben dargestellt wird in der Gestalt, in die es<br />
dann verwandelt wird, wenn es<br />
52) S. dazu oben S. 1ff. und 8ff.<br />
53) KD III, 2, S. 770.<br />
54) AaO.<br />
55) AaO S. 774.<br />
56) Vom „geheimen Selbstzeugnis Jesu“ in der Bergpredigt redet ausdrücklich E. Fuchs, Jesu<br />
Selbstzeugnis nach Mt 5, in: ZThK 1954, S. 29.<br />
57) AaO S. 771; dort auch „Proklamation der neuen Existenz des Menschen“; aaO S. 772: „Gnade<br />
dieses Wortes“.<br />
58) AaO S. 775.<br />
59) Die Freude Gottes, Teil 1, 1940, S. 91; vgl. auch S. 84.<br />
60) Ohne zu sagen, wie weit, KD III, 2, S. 766.
169<br />
unter das Licht des kommenden Reiches gerät“ 61 ), und damit durchaus vereinbar ist es<br />
auch noch, wenn er später ausführt: „Diese frohe Botschaft gibt die Bergpredigt aber nur<br />
demjenigen her, der sie von Jesus her und auf Jesus hin liest.“ 62 ) Völlig anders dagegen<br />
klingt es, wenn Thurneysen weiter erklärt: „Es ist in einem primären Sinne in all ihren<br />
Worten (scil. der Bergpredigt) zunächst gar nicht von uns, sondern nur von Jesus die<br />
Rede“ 63 ). Hier ist die Grenze zu einer christologischen Auslegung, wie wir sie verstehen,<br />
überschritten, ohne daß dafür ein einleuchtender Grund angegeben würde 64 ). Wir haben<br />
jedoch mit solchen Ausführungen zur Bergpredigt noch eindeutiger als bei der Erzählung<br />
vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> nur Randerscheinungen vor uns.<br />
b) <strong>Der</strong> Hinweis auf den Bund Gottes mit seinem Volk<br />
Das Hauptgewicht der Begründung liegt auf Mt 5, 45 bzw. Lk 6, 35. Meist wird von<br />
den Exegeten das Motiv der Sohnschaft (im Sinne von Kindschaft) und das Motiv der<br />
nachzuahmenden Güte des Schöpfers nebeneinandergestellt 65 ). Es leuchtet aber ein, wenn<br />
H. Windisch eine Einheit beider Motive im Bundesgedanken findet. Er weist nicht nur<br />
darauf hin, daß z. B. im Zusammenhang des Sinaibundes (Ex 4, 22) und des<br />
Davidsbundes (2. Sam. 7, 14) von Gottessohnschaft die Rede ist, sondern er erklärt<br />
weiter: „Sehr wahrscheinlich spielt . . . auch die Überlieferung vom Noahbund hinein, in<br />
dem Gott sich verbürgt hat, daß die Erde nicht mehr geschlagen werden und das Säen und<br />
Ernten nicht mehr aufhören soll (Gen. 8, 21; 9, 8ff.). Denn was Jesus von Sonne und<br />
Regen sagt, ist eine Folge und Verwirklichung dieser Gottesverheißung und hat in ihr<br />
seinen Grund“ 66 ). Ein Zusammenhang des Vater-Söhne-Motivs mit der<br />
Bundesvorstellung deutet sich auch an, wenn einerseits G. Schrenk feststellt, daß es „bei<br />
Jesu Vaterbotschaft durchweg um<br />
61) Die Bergpredigt, 1936,—Theol. Existenz heute—S. 19.<br />
62) AaO S. 22.<br />
63) AaO S. 25.<br />
64) Vgl. dazu auch O. Scmitz, Thurneysens christolog. Deutung der Bergpredigt, in: Jahrbuch der<br />
Theol. Schule Bethel, 9. Bd., 1938, S. 17ff.<br />
65) So z. B. A. Schlatter, Erläuterungen zum NT, 2. Aufl., Neudruck 1954, Bd. 1, S. 69f.<br />
66) <strong>Der</strong> Sinn der Bergpredigt, 2. Aufl. 1937, S. 154; vgl. ähnlich, nur allgemeiner, auch C. H. Dodd,<br />
Gospel and Law, 1957, S. 80.
170<br />
Jüngerunterweisung über die βασολεία gehe“ 67 ), und wenn andererseits J. Behm erklärt,<br />
καινή διαθήκη sei ein Korrelatbegriff zu βασιλεία 68 ). Beide Vorstellungen, die des<br />
„Reiches“ und die des „Bundes“, sind demnach deutlich miteinander verbunden, und das<br />
nicht nur unter sich, sondern zugleich auch mit der Vater-Söhne-Vorstellung 69 ). Ein Blick<br />
auf die Parallele zur behandelten Stelle der Bergpredigt in der Feldrede Lk 6, 35, die nach<br />
allgemeinem Urteil jünger ist, bestätigt diesen Tatbestand, daß letztlich vom Bunde die<br />
Rede ist, nur noch. Die Rede von den „Söhnen des Höchsten“ weist auf Lk 1, 32, wo<br />
dieser Terminus im Zusammenhange mit 2. Sam. 7, 12f. gebraucht wird, und sicher<br />
gehört auch Lk 1, 68–79 in diesen Zusammenhang 70 ). Neu an dieser Stelle ist nur, daß,<br />
jedenfalls im heutigen Gesamtzusammenhang, eine ausdrückliche Beziehung zu Jesus<br />
hergestellt wird 71 ).<br />
Selbst wenn aber Mt 5, 45 bzw. Lk 6, 35 nicht in der oben ausgeführten Weise zu<br />
interpretieren wäre, bliebe sowohl mit der Anspielung von Mt 5, 48 bzw. Lk 6, 36 auf<br />
Lev. 19, 2 wie auch von Mt 5, 43 bzw. Lk 6, 27 auf Lev. 19, 18 ein Bezug auf das<br />
Bundesgesetz bestehen.<br />
c) Lohn<br />
In Mt 5, 46 und Lk 6, 35 wird das geforderte Handeln auch mit dem zu erwartenden<br />
Lohn motiviert. Da beide Male deutlich zum Ausdruck kommt, daß es sich um einen vom<br />
Vater geschenkten bzw. von den Söhnen empfangenen Lohn handelt, d. h. um einen<br />
Lohn, bei dem die Güte Gottes klar vorausgesetzt ist, wird man auch hier<br />
67) ThWB V, S. 991, Artikel πατήρ<br />
68) ThWB II, S. 137, Artikel διαθήκη<br />
69) Vgl. dazu vor allem die zentralen Aussagen in 2. Sam. 7, 12ff; siehe dazu G. v. Rad, ThWB I, S.<br />
564f, Artikel βασιλεύς<br />
70) Vgl. vor allem Lk 1, 72 und 76.<br />
71) Jedoch ist es auch hier, Lk 6, 35, nicht möglich, zunächst auf Christus hin auszulegen, in dem<br />
Sinne einer christologischen Interpretation, wie wir sie in der Auslegungsgeschichte des<br />
barmherzigen <strong>Samariter</strong>s fanden. Vielmehr erklärt selbst H. Gollwitzer nur, daß durch Gebrauch<br />
des „gleichen Namens“, den der Engel dem Kinde der Maria gab, „die Gemeinschaft mit Jesus“<br />
zum Ausdruck komme. (Die Freude Gottes, teil 1, 1940, S. 85).
171<br />
beide Male nicht von einem „Billigkeitslohn“ 72 ), sondern vielmehr von einem<br />
„Gnadenlohn“ 73 ) reden müssen. Bei Lukas ist dieser Gedanke wieder einmal noch<br />
verstärkt durch den wechselweisen Gebrauch von µιαθός (Vers 35) und χάρις (Vers 34).<br />
Schließlich ist für die Motivierung des Handelns wichtig, daß die hinter unserem<br />
Worte stehende Lohnvorstellung beide Male, auch bei Matthäus, eschatalogisch gefärbt<br />
ist 74 ). Überall im Neuen Testament steht der Lohngedanke ja in Verbindung mit dem<br />
Gedanken der „Vollendung des Gottesreiches“ einerseits 75 ) und des Endgerichtes<br />
andererseits 76 ). Wenn auch der Lohn schon jetzt anhebt 77 ), weil die βασιλεία bereits<br />
wirksam ist, so muß doch festgehalten werden, daß es nur um eine Vorwegnahme<br />
„jenseitigen Lohnes“ geht 78 ). An dem eschatalogischen Charakter der Lohnvorstellung ist<br />
also auch bei Mt 5, 46 bzw. Lk 6, 35 nicht zu zweifeln.<br />
d) <strong>Der</strong> Hinweis auf die Autorität Gottes und die persönliche Beziehung zu ihm<br />
Hier ist hinzuweisen auf all das, was die Erwähnung der Beziehung der Söhne zum<br />
Vater (Mt 5, 45 und 48 und Lk 6, 35f. enthält 79 ).<br />
A. Schlatter erklärt zu Mt 5, 45: „Er (scil. Jesus) sagt nicht: Damit ihr Gott zu euerm<br />
Vater macht, sagt vielmehr, daß er unser Vater sei. Nicht die Kinder machen den Vater,<br />
sondern der Vater die Kinder. Ob ich aber in des Vaters Weise handle, das geht meinen<br />
Willen an“ 80 ).<br />
72) Vgl. g. Bornkamm, <strong>Der</strong> Lohngedanke im Neuen Testament, 1947,—Theologie und Verkündigung,<br />
Gemeinverständliche Vorträge und Abhandlungen—S. 13, Anm. 15.<br />
73) So z. B. J. Schniewind, Das Ev. n. Mt, 7. Aufl. 1954, S. 72.<br />
74) So z. B. Th. Zahn, Das Ev. des Mt, 3. Aufl. 1910, S. 258; J. Schniewind, das Ev. n. Mt., 7. Aufl.<br />
1954, S. 72; H. Gollwitzer, Die Freude Gottes, Teil 1, 1940, S. 85.<br />
75) So H. Priesker, das Ethos des Urchristentums, 1949, S. 725; vgl. auch G. Bornkamm, der<br />
Lohngedanke im Neuen Testament, 1947, S. 11.<br />
76) So H. Priesker, aaO S. 271 unter Hinweis auch auf Mt. 7, 3; ähnlich G. Bornkamm, aaO S. 11.<br />
77) So H. Priesker, aaO.<br />
78) So G. Bornkamm, aaO S. 13; vgl. auch F. Hauck, Das Ev. des Lk., S. 35.<br />
79) Daß der Gebrauch des Vatermotivs an unseren Stellen mit dem des Bundesgedankens gekoppelt<br />
ist, sahen wir schon (vgl. oben S. 169). Nun gilt es zu entfalten, was dieses Motiv als solches in<br />
sich schließt.<br />
80) Erläuterungen zum NT, 2. Aufl., Neudruck 1954, Bd. 1, S. 69; vgl. ähnlich auch Th. Zahn, Das Ev.<br />
des Mt., 3. Aufl. 1910, S. 256.
172<br />
Wie hier haben die Ausführungen der Kommentatoren zu Mt 5, 45 und 48 bzw. Lk 6,<br />
35f. auch sonst einen doppelten Charakter. Einerseits wird immer wieder auf die Hilfe<br />
hingewiesen, die der Vater kraft seiner engen Verbindung mit den Söhnen 81 ) diesen<br />
angedeihen läßt 82 ), andererseits aber wird dennoch nicht vergessen, daß im Vaterbegriff<br />
auch das ganze „Gewicht des Gebietens“ liegt 83 ). Deswegen kann man im Neuen<br />
Testament geradezu von einer „Synthese Vater/Richter, Vater/Herrscher“ sprechen 84 ):<br />
„Die gebietende Macht eint sich mit der Fürsorge“ 85 ). Das wird auch zu unseren Stellen<br />
der Bergpredigt bzw. der Feldrede zu beachten sein.<br />
Die Verbindung von gebietender Macht und väterlicher Fürsorge ergibt sich hier<br />
nicht nur aus dem imperativischen Charakter von Mt 5, 48—aber auch indirekt z. T. von<br />
Vers 47 86 ),—sondern ebenso aus dem Gebrauch der Formeln „Vater in den Himmeln“ Mt<br />
5, 45 bzw. „himmlischer Vater“, in denen „der Abstand des schlechthin Überlegenen,<br />
souverän Waltenden immer mitgefühlt wird“ 87 ). Dasselbe gilt für ύφιστος Lk 6, 35, zumal<br />
es sich hier um eine „feierlichere“ Wendung handelt 88 ). <strong>Der</strong> Tatbestand ist also beide<br />
Male derselbe, gleichgültig, ob die bei Matthäus gebrauchte Wendung ursprünglicher ist<br />
oder die bei Lukas gebrauchte. Von da aus wird deutlich, daß ebenso der Hinweis auf das<br />
Walten Gottes in der Natur (Mt 5, 45) nicht nur die Güte, sondern wenigstens<br />
andeutungsweise auch die Souveränität Gottes zum Ausdruck bringt.<br />
Die Erwähnung des Vater-Söhne-Verhältnisses als Motivierung des geforderten<br />
Handelns dürfte also aus verschiedenen Gründen beides enthalten, den Hinweis auf die<br />
Autorität Gottes als Gebieten-<br />
81) Vgl. dazu G. Schrenk, ThWB V, S. 982, Artikel πατήρ<br />
82) Vgl. z. B. J. Schiewind, Das Ev. n. Mt., 7. Aufl. 1954, S. 71; H. Windisch, <strong>Der</strong> Sinn der<br />
Bergpredigt, 2. Aufl. 1937, S. 154 und J. Schmid, Das Ev. n. Lk., S. 106.<br />
83) So G. Schrenk, aaO S. 995.<br />
84) So G. Schrenk, aaO S. 985; vgl. auch W. Foerster, ThWB III, S. 1085, Artikel κύριος.<br />
85) G. Schrenk, aaO S. 992.<br />
86) E. Thurneysen will unsere Stelle Mt 5, 48 zwar rein indikativisch verstehen (Die Bergpredigt,<br />
1936, S. 24), jedoch hat O. Schmitz ihm mit Recht energisch widersprochen. (Thurneysens<br />
christologische Deutung der Bergpredigt, in: Jahrbuch der Theol. Schule Bethel, 1938, S. 23).<br />
87) So G. Schrenk, ThWB V, S. 986, Artikel πατηρ<br />
88) AaO S. 985.
173<br />
der wie auch den Hinweis auf die persönliche Verbundenheit mit ihm.<br />
6. Diese eben aufgezeigten vier Motive dürften bei der sonstigen großen<br />
Verwandtschaft von Mt 5, 43–48 bzw. Lk 6, 27–36 mit Lk 10, 30–35 89 ) noch am ehesten<br />
diejenigen Motive sein, die ursrpünglich hinter der Erzählung vom barmherzigen<br />
<strong>Samariter</strong> gestanden haben.<br />
Bevor wir aber die Folgerungen aus diesem Ergebnis ziehen, können wir sogar noch<br />
einen Schritt weitergehen. Alle Motive, die wir als Begründung des geforderten Handelns<br />
in unserem Abschnitt der Bergpredigt bzw. der Feldrede aufzeigten, finden sich nämlich,<br />
abgewandt, aber doch ähnlich, auch in dem heutigen Kontext unserer Beispielerzählung,<br />
Lk 10, 25–29 und 36f. wieder.<br />
a) Wir haben in den vorigen Kapiteln gesehen, daß die Auslegungen gerade auch zu<br />
Lk 10, 25–29 und 36f. auf die Vollmacht Jesu hinweisen 90 ).<br />
Im Blick darauf ist auch die Stellung zu beachten, die der Kontext durch die<br />
Verbindung mit Lk 10, 30–35 bekommt. Es ist so, daß Jesus hier nicht als irgendein<br />
„Lehrer“ fragt oder Anweisungen gibt 91 ), sondern offensichtlich als der, der allein das<br />
Gesetz authentisch auszulegen vermag. Zudem ähnelt die Wendung Vers 36 τίς τούτων<br />
τών τριών . . . stark der in Gleichnissen allgemein üblichen τίς έξ ύµών, in der sich nach<br />
H. Greeven ja dasselbe souveräne Selbstverständnis Jesu ausspricht, wie in dem έγώ λέγω<br />
ύµίν der Bergpredigt 92 ).<br />
Nicht unwichtig ist endlich, daß es in der unserem Kontext verwandten Perikope über<br />
die Frage nach dem großen Gebot Mt 22, 34ff. bzw. Mk 12, 28ff. darum geht, den<br />
Anspruch Jesu als legitim zu erweisen 93 ).<br />
89) S. o. S. 167.<br />
90) S. o. S. 148; vgl. auch schon S. 129.<br />
91) V. 28 und 37.<br />
92) „Wer unter euch . . . ?“, in: Wort und Dienst, Jahrbuch der Theol. Schule Bethel, 1952, S. 101.<br />
93) R. Bultmann hält offensichtlich den Mk-Text (Mk 12, 28ff.) für die älteste erreichbare Form und<br />
streicht dabei als redaktionell nur V. 28b und 34b (Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3.<br />
Aufl. 1957, S. 21). Es ist aber durchaus auch zu fragen, ob Lk 10, 25–28 nicht die älteste Gestalt<br />
der Überlieferung bewahrt hat (so G. Bornkamm, Das Doppelgebot der Liebe, in: Ntl. Studien für<br />
R. Bultmann, 1954, S. 93).
174<br />
b) Auch der Hinweis auf den Bund Gottes, den wir in der angezogenen Partie der<br />
Bergpredigt bzw. der Feldrede fanden, klingt im Kontext unserer Erzählung deutlich an.<br />
Das Gebot der Gottesliebe, das hier mit dem der Nächstenliebe verbunden ist, weist ja auf<br />
Deut. 6, 4ff. hin und somit ebenfalls auf das im Zusammenhang der Bundesverheißung<br />
gegebene Gesetz 94 ). Besonders tritt das in der mit unserem Kontext Lk 10, 25–28<br />
verwandten, oben erwähnten Perikope Mk 12, 28ff. hervor, da dort das Doppelgebot<br />
sogar ausdrücklich mit dem Sch’ma (Deut. 6, 4), dem höchsten Ausdruck israelitischen<br />
Bundesdenkens, zusammen angeführt wird 95 ).<br />
Von Bedeutung scheint uns in diesem Zusammenhang ferner, daß auch in der Stelle<br />
2. Chron. 28, 5–15, deren „Parallelität“ mit Lk 10, 30ff. bisweilen vermerkt wird 96 ), die<br />
Israeliten ebenfalls auf den „Gott der Väter“ 97 ) und damit auf den Bund mit den Vätern<br />
hin ausgesprochen werden. Schließlich ist darauf hinzuweisen, daß die Lk 10, 37<br />
gebrauchte Wendung έλεος ποιεΐν µετά . . . in den Vorgeschichten in einem<br />
Zusammenhang gebraucht wird, in dem ausdrücklich auf die διαθήκη Bezug genommen<br />
wird 98 ).<br />
c) Hinsichtlich des Moments des Lohnes, wie wir es in Mt 5, 46 bzw. Lk 6, 35<br />
vorfanden, brauchen wir nur auf jene Ausleger zu verweisen, die die Wendung τούτο<br />
ποίει καί ζήση Lk 10, 28 im gleichen Sinne interpretieren 99 ). Ein eschatalogisches<br />
Verständnis wird durch das Futur von ζάω angedeutet. Die Zusammengehörigkeit von<br />
ζήση Vers 28 und ζωήν αίώνιον κληρονοµήσω Vers 25 weist auch hier darauf hin, daß<br />
der Lohngedanke vom Gnadengedanken 100 ) gehalten ist.<br />
d) Im Kontext unserer Erzählung findet sich auch der Hinweis auf die Autorität<br />
Gottes und die persönliche Beziehung zu ihm. Die Schwergewichte sind hier allerdings<br />
anders verteilt. War in der Bergpredigt und in der Feldrede (Mt 5, 43ff. und Lk 6, 27ff.)<br />
gleichsam<br />
94) Vgl. dazu auch Deut. 6, 10, 18–25.<br />
95) Vgl. auch Mk 10, 18 parr in der mit unserem Kontext gleichfalls verwandten Erzählung vom<br />
Reichen Jüngling.<br />
96) So z. B. R. Bultmann, Die Geschichte der synoptischen Tradition, 3. Aufl. 1957, S. 222.<br />
97) Vgl. 2. Chron. 28, 9.<br />
98) Vgl. Lk 1, 72; vgl. aber auch Lk 1, 50 und 54.<br />
99) S. o. S. 149.<br />
100) Vgl. dazu auch Mk 10, 17b parr und Mk 10, 21b parr in der Perikope vom reichen Jüngling.
175<br />
vom gebietenden Vater die Rolle, so steht in Lk 10, 25ff. der Gebieter, zu dem eine<br />
besondere persönliche Beziehung besteht, im Hintergrund. Es ist jedoch nicht von<br />
ungefähr, wenn in dem Hinweis auf die Gottesliebe (Lk 10, 27) die Wendung κύριον τόν<br />
θεόν σου aufgenommen wird, eine Wendung, die analog dem alttestamentlichen<br />
Sprachgebrauch ist, der deutlich immer wieder die beiden obengenannten Momente<br />
zugleich zur Geltung bringt 101 ). Auch die Nebeneinanderstellung von κύριον τόν θεόν σου<br />
und πλησίον σου sollte beachtet werden. Die Beziehung zu dem κύριος ist vergleichbar<br />
der Beziehung zu dem πλησίον Wie sehr der Vaterbegriff, der ja diese persönliche<br />
Beziehung im Neuen Testament zum Ausdruck bringt, mit dem Kyrios-Begriff<br />
zusammenhängt, kann man im weiteren Kontext unserer Erzählung Lk 10, 21 sehen, wo<br />
die Anrede Jesu lautet: πάτερ, κύριε τοΰ ούρανοΰ καί τής γής und auch der Mt 5, 45<br />
ähnliche Rekurs auf die Schöpfergewalt Gottes wichtig ist. Wenn schließlich die in Lk<br />
10, 37 gebrauchte Wendung έλεος deutlich auf die Hymnen in der lukanischen<br />
Vorgeschichte zurückweist, so ist auch das in diesem Zusammenhang wichtig. In den<br />
Hymnen wird nämlich Lk 1, 54 als der Empfänger der Barmherzigkeit ‘Ισραήλ als παΐς,<br />
Lk 1, 69 Δαυίδ als παΐς und 1, 76 Joh. als προφήτης ύφίστου genannt. Gewiß ist damit<br />
zunächst die Vorstellung vom „Knecht Gottes“ angesprochen 102 ). Andererseits darf<br />
jedoch nicht vergessen werden, daß „sogar in der Königsideologie . . . , unbeschadet ihrer<br />
staatsrechtlichen Struktur, bei der Verwendung des Wortes ,Sohn’ das Leitmotiv nicht<br />
ganz beiseite“ bleibt 103 ). Beide Momente, die persönliche Beziehung wie die Autorität<br />
Gottes, stehen also sowohl hinter Lk 10, 25–28, 36f., als auch hinter Mt 5, 43–48 bzw. Lk<br />
6, 27–36. Endlich zeigt sich, daß die Formulierung von Lk 10, 37, wo von dem έλεος des<br />
<strong>Samariter</strong>s die Rede ist, auf einen Zusammenhang weist, in dem es um das έλεος Gottes<br />
geht. Wie es Mt 5, 48 darum geht, im Blick auf die τελειότης Gottes τέλειος zu sein, bzw.<br />
in Lk 6, 36<br />
101) Vgl. ebenso Mk 12, 30. Von daher ist die Auslassung von σοΰ (Lk 10, 27) im ursprünglichen Text<br />
des Vatikanus und in Seidelianus II unwahrscheinlich.<br />
102) Vgl. dazu W. Zimmerli, ThWB V, S. 665 und J. Jeremias, ThWB V, S. 668, Artikel παΐς<br />
103) So G. Quell, ThWB V, S. 970, Artikel πατήρ; vgl. dazu auch Lk 1, 54 in Verbindung mit der dort<br />
zugrunde gelegten Stelle Jes. 41, 8f. (LXX); vgl. zum Ganzen auch O. Cullmann, Die Christologie<br />
des Neuen Testaments, 1957, S. 279 und 290.
176<br />
darum, im Blick auf Gott als den οίκτίρµςν selbst ein οίκτίιρµων zu sein, so schwingt hier<br />
mit, man müsse έλεος üben im Blick auf Gottes έλεος Was also in der angezogenen Stelle<br />
der Bergpredigt bzw. der Feldrede deutlich ausgesprochen wird, steht im Kontext der<br />
Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> deutlich im Hintergrund: Beide Male wird nicht<br />
etwa nur ein Gebot Gottes proklamiert, sondern es wird zugleich zur Nachahmung des<br />
väterlichen Handelns Gottes aufgerufen.<br />
Damit ist unser Vergleich von Lk 10, 25–37 mit Mt 5, 43–48 bzw. Lk 6, 27–36<br />
abgeschlossen. Er hat ergeben, daß der eigentliche Text der Erzählung (Lk 10, 30–35) am<br />
ehesten mit der genannten Partie der Bergpredigt bzw. der Feldrede über die Feindesliebe<br />
zusammengehört. Umgekehrt finden sich aber auch alle Motive, mit denen das geforderte<br />
Handeln in der Bergpredigt bzw. der Feldrede begründet wird, im heutigen Kontext der<br />
Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> (Lk 10, 25–29, 36f.) wieder. Dies führt auf den<br />
Schluß, daß unsere Erzählung von Anfang an in einem Kontext gestanden hat, der<br />
denselben Duktus hatte, wie er in den in der Bergpredigt bzw. der Feldrede aufgezeigten<br />
Begründungsmotiven zum Ausdruck kommt und wie er auch ebenso dem heutigen<br />
Kontext zugrunde liegt. Muß auch damit gerechnet werden, daß der Kontext in seiner<br />
heutigen Gestalt nicht ursprünglich ist 104 ), so sind wir in der Frage des Zusammenhangs<br />
von Text und Kontext unserer Erzählung doch einen Schritt weitergenommen. Inhaltlich<br />
liegt der jetzige Kontext offensichtlich genau in der Richtung, in die unsere Erzählung<br />
von Anfang an zielte.<br />
7. Stimmt es aber, daß der Duktus des heutigen Kontextes immer schon mit unserer<br />
Erzählung verbunden gewesen ist, ungeachtet seiner heutigen Gestalt, dann lassen sich<br />
daraus verschiedene, für die Auslegung von Lk 10, 30ff. grundlegende Folgerungen<br />
ziehen:<br />
a) In unserer Erzählung liegt eine „explizite“ Christologie nicht vor. Indirekt wird<br />
deutlich auf zweierlei hingewiesen: Auf Jesu Vollmacht, die sich in seiner<br />
abschließenden und endgültigen Interpretation des alttestamentlichen Gesetzes erweist 105 )<br />
und auf Gottes Güte und Macht, die den Hintergrund des Jesu Bewußtsein formen-<br />
104) Vgl. dazu oben S. 156f.<br />
105) Die Formulierung wurde in Anlehnung an K. H. Rengstorfs Begriff der „abschießenden und<br />
endgültigen Explikation“ gewählt; vgl. dazu jedoch bereits oben S. 167ff., aber auch S. 148 und<br />
150.
177<br />
den Gottesbildes ausmacht 106 ). Mehr aber ist aus unseren Texten exegetisch nicht<br />
herauszulesen. Im Interesse einer strengen historisch-kritischen Exegese muß das vor<br />
allen homiletischen Überlegungen klar anerkannt werden. Eine christologische<br />
Auslegung unserer Erzählung dagegen, wie wir sie kennengelernt haben, wäre nur<br />
gerechtfertigt, wenn man von einer klar ausgeprägten, fertigen Christologie ausgehen<br />
könnte. Sie vorausgesetzt, würde sich Jesus dann in dieser Erzählung als der die Sünden<br />
der Menschheit heilende Soter darstellen, der von der Judenschaft zurückgewiesen, aber<br />
von der Heidenheit angenommen wird. Es steht uns nun im Rahmen dieser Untersuchung<br />
nicht an, die Möglichkeit einer „expliziten Christologie“ in den älteren Schichten der<br />
synoptischen Evangelien überhaupt zu bestreiten 107 ). Es liegt aber auf der Hand, daß wir<br />
mit einer „expliziten Christologie“, wie sie den christologischen Auslegungen dieses<br />
Textes, Lk 10, 30–35, zugrunde liegt, in eine Vorstellungswelt kommen, die deutlich<br />
noch nicht die von Mt 5, 43–48 und Lk 6, 27–36 bzw. auch die von Lk 10, 25–29, 35f.<br />
ist 108 ). Besteht wirklich ein enger Zusammenhang dieser Stellen der Bergpredigt bzw. der<br />
Feldrede mit unserer Erzählung, dann ist eine christologische Auslegung unserer<br />
Erzählung heute, bei historisch-kritischer Exegese, nicht mehr möglich.<br />
b) Stimmen die bisherigen Überlegungen, so bekommen wir nun auch positiv ein<br />
Kriterium für die Auslegung unserer Erzählung. Dann wird nämlich deutlich, daß eine<br />
Lösung der Frage, wie unsere Erzählung nun tatsächlich auszulegen sei, im<br />
Entscheidenden nur von einer bestimmten Gruppe von Auslegern kommen kann, nämlich<br />
von denen, die einerseits nichtchristologisch auslegen, die andererseits aber damit<br />
rechnen, daß der Duktus des heutigen Kontextes die ursprüngliche Intention der<br />
Erzählung noch wiedergibt 109 ).<br />
Hier läßt sich sagen, daß nur in ganz wenigen Fällen die sonst in der Gegenwart für<br />
die neutestamentliche Ethik so bedrohliche Gefahr auftaucht, das geforderte Handeln<br />
einseitig als Mittel zur De-<br />
106) Siehe dazu oben S. 171ff., aber auch bereits S. 150f.<br />
107) Zumal W. Marxsen gezeigt hat, daß die Alternative explizit—implizit die Problematik unzulässig<br />
vereinfacht (Anfangsprobleme der Christologie, 1960, S. 48 u. ö.).<br />
108) Vgl. dazu schon oben S. 134ff.<br />
109) Dabei ist es für unsere weiteren Überlegungen nun unerheblich, ob die betreffenden Ausleger nur<br />
den Duktus unseres Kontextes oder den Kontext in seiner heutigen Gestalt als ursprünglich zu der<br />
Erzählung gehörig ansehen.
178<br />
monstration eines Größeren, „Höheren“ zu sehen, nämlich des Glaubens bzw. der<br />
christlichen Entscheidung. Wo man solcher Gefahr unterliegt, ist es nur noch ein Schritt<br />
dahin, daß man neutestamentliche Texte, die an sich klar auf das Handeln abzielen,<br />
überhaupt uminterpretiert, wie sich das für die christologischen Auslegungen unseres<br />
Textes nachweisen ließ 110 ). Demgegenüber ist bei denjenigen Auslegern, von denen man<br />
eine Klärung am ehesten erwarten kann, deutlich, daß sie unsere Erzählung mit geradezu<br />
erdrückender Mehrheit ethisch im Vollsinne exegesieren 111 ): Das Ziel, das anvisiert wird,<br />
ist das Handeln am anderen Menschen und nicht etwa nur die Möglichkeit, daran etwas<br />
anderes, Wesentlicheres zu exemplifizieren. Nur bei vier modernen Auslegern läßt sich<br />
feststellen, daß nichtethische Motive im Vordergrund stehen, nämlich bei C. W. F. Smith,<br />
M. S. Enslin, B. T. D. Smith und F. J. Leenhardt 112 ). Indes finden drei von ihnen<br />
beizeichnenderweise den entscheidenden Punkt der Auslegung nicht im Text selbst, ja,<br />
nicht einmal im engeren Kontext, sondern nur im weiteren Zusammenhang 113 ). <strong>Der</strong><br />
vierte 114 ) geht ganz und gar davon aus, daß unsere Erzählung ein Teil der<br />
Auseinandersetzung Jesu mit Israel ist, ohne zu berücksichtigen, daß damit noch<br />
keineswegs alles über den Scopus gesagt zu sein braucht. Wir haben ja gesehen, wie die<br />
antijudaistischen Züge in den meisten Auslegungen 115 ) keineswegs einfach als<br />
nichtethisch bezeichnet werden können. Es geht bei ihnen nicht in erster Linie darum,<br />
den Gegensatz der Verkündigung Jesu zum Judentum schlechthin und als solchen<br />
aufzuzeigen, sondern eben um die wesensmäßige Unterschiedenheit des von Jesus und im<br />
Judentum geforderten Handelns.<br />
c) Mit dem eben Ausgeführten stehen wir auf dem Boden der nicht mehr neuen<br />
Erkenntnis, daß selbstverständlich jede das Handeln des Menschen betreffende Aussage,<br />
auch unserer Erzählung, eine<br />
110) S. o. S. 134ff.<br />
111) So z. B. Jülicher, Fonck, Wellhausen, Zahn, Plummer, Loisy, Simòn, Schlatter, Bartelt, Fendt,<br />
Macholz, Hirsch, Scheitlin, Brouwer, Lagrange, Findlay, Geldenhuys, Ginn, Bornkamm, W.<br />
Manson, Staab, Herbst, Leaney, Hunter, Lindijer, Linnemann, Rengstorf.<br />
112) S. o. S. 143ff.<br />
113) B. T. D. Smith, Enslin und Leenhardt, s. o. S. 143ff.<br />
114) C. W. F. Smith.<br />
115) S. o. S. 141f.
179<br />
den christlichen Glauben betreffende Seite hat, wie umgekehrt auch jede Aussage über<br />
den Glauben, jede in diesem Sinne „theologische“ Aussage, eine ethische Seite besitzt.<br />
Wir werden auch die anhand der Bergpredigt oben aufgezeigten Begründungsmotive für<br />
das christliche Handeln 116 ), die den Hintergrund unserer Erzählung vom barmherzigen<br />
<strong>Samariter</strong> auszumachen scheinen, in der Tat nur recht verstehen, wenn wir sie als<br />
konkrete Hinweise auf diesen umfassenden Tatbestand nehmen. So erklärt z. B. G.<br />
Bornkamm im Zusammenhange der Erläuterung unserer Beispielerzählung, unseres<br />
Erachtens völlig zu Recht, es gehe in dem Aufruf zur Nächstenliebe um „Hingabe an<br />
Gott“, um „Wachsein . . . für Gott, der im anderen mich anruft“ 117 ), doch Bornkamm<br />
äußert sich so erst, nachdem er schon vorher energisch das Mißverständnis abgewehrt<br />
hat, als nähme „Jesus der Liebe zum Nächsten gleichsam ihr menschliches Gegenüber<br />
und mache sie zum bloßen Mittel der Gottesliebe“ 118 ).<br />
In der Tat scheint sich auch in der Auslegung unserer Erzählung auf allen Seiten<br />
immer mehr die Erkenntnis durchzusetzen, daß eine „unauflösliche Einheit zwischen der<br />
theologischen und der ethischen Frage“ 119 ) besteht, bzw., wohl besser formuliert, ein<br />
unauflösliches Korrelat zwischen beiden. Für die richtige Beurteilung der Anfänge der<br />
christologischen Auslegung in der Alten Kirche ist entscheidend, daß sich die Väter über<br />
dieses Korrelat zwischen ethischer und theologischer Frage noch nicht oder nicht<br />
hinreichend klar gewesen sind. Zugegeben, die christologische Auslegung unserer<br />
Erzählung hatte damals ihr relatives Recht als Platzhalter des theologischen Aspektes der<br />
ethischen Problematik. Andererseits jedoch liegt es in der Natur der Sache, daß die<br />
christologische Auslegung dann doch der Erkenntnis des Doppelcharakters<br />
neutestamentlicher Aussagen geradezu im Wege stand und sich zu verabsolutieren<br />
suchte. Nachdem nun aber der Doppelcharakter neutestamentlicher Aussagen im Sinne<br />
des obengenannten Korrelats erkannt ist, kann der christologischen Auslegung unserer<br />
Erzählung ein Recht nicht mehr zuerkannt werden. Sie ist im Gegenteil ein<br />
Anachronismus. Vielmehr<br />
116) S. o. S. 167ff.<br />
117) Jesus von Nazareth, S. 102.<br />
118) AaO S. 101.<br />
119) So Bornkamm über das Gebot der Gottes- und Nächstenliebe, aaO S. 102.
180<br />
gilt es, nun mit der dargelegten Eigenart neutestamentlicher Aussagen voll ernst zu<br />
machen, so daß wir grundsätzlich überhaupt nicht mehr auf den Einzelerweis der<br />
theologischen Relevanz unserer Erzählung angewiesen sind, auch wenn sich diese<br />
durchgehende Relevanz an einzelnen Stellen besonders zu erkennen gibt.<br />
Daneben aber muß gerade zu unserer Erzählung festgehalten werden: Wenn auch<br />
grundsätzlich bei allen neutestamentlichen Aussagen ein unauflösbares Korrelat zwischen<br />
der theologischen und der ethischen Frage besteht, so ist damit keineswegs<br />
ausgeschlossen, daß der Akzent einmal mehr auf dem ethischen Aspekt und einmal mehr<br />
auf dem theologischen Aspekt liegen kann. Die Frage „ethisch oder nichtethisch“ ist<br />
damit keineswegs aufgehoben, sondern bekommt vielmehr innerhalb jener Korrelation<br />
ihren rechten Platz.<br />
Wir haben nun im Laufe unserer Arbeit gesehen, wie der Akzent in der Auslegung<br />
unserer Erzählung vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> ganz überwiegend auf den ethischen<br />
Gesichtspunkt gelegt wird. Es bleibt und nur noch zu fragen, warum eigentlich eine so<br />
erdrückende Mehrzahl der Ausleger unserer Erzählung durch die Jahrhunderte hin die<br />
ethische Frage jedenfalls im Vordergrund gesehen hat. Bei ihnen ist der eigentliche<br />
Grund, daß das in unserer Erzählung geschilderte Handeln so breit und detailliert<br />
dargestellt wird, während die theologischen Motive expressis verbis einen relativ<br />
schmalen Raum einnehmen. In diesem Sinne führt z. B. auch G. Bornkamm im Anschluß<br />
an das oben dargebotene Zitat 120 ) aus: „Beispielhaft ist die Liebe zum Nächsten in der<br />
Geschichte vom barmherzigen <strong>Samariter</strong> geschildert. Was der <strong>Samariter</strong> an dem unter die<br />
Räuber Gefallenen tut, ist nichts, als was die Not des anderen erfordert. Dies wird mit<br />
höchster Sorgfalt geschildert . . . . In dem allen ist nicht eine einzige religiöse Floskel.<br />
Was er tut, gilt dem Elenden und schielt nicht auf Gott“ 121 ). Vor allem muß hier aber<br />
doch wohl das oben dargelegte Ergebnis geltend gemacht werden, daß in den das<br />
Handeln begründenden Motiven sehr stark die Verbindungslinie zum Alten Testament<br />
gezogen wird. Wenn hier nun wirklich an eine neue, abschließende Interpretation des<br />
alttestamentlichen Gebotes durch Jesus gedacht ist, bei der die Diskontinuität wie die<br />
120) S. o. S. 179 bei Anm. 3.<br />
121) Jesus von Nazareth, S. 101.
181<br />
Kontinuität seiner Botschaft zum mosaischen Gesetz im Hintergrund steht 122 ), dann wird<br />
man jede Auslegung unserer Erzählung als unangemessen erklären müssen, die den<br />
ethischen Charakter ihres Scopus zu erweichen droht.<br />
122) S. o. S. 146f. und 147f.