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Anomie der Rollen<br />
Menschen können sich in einer Gesellschaft nur dann erhalten, wenn sie im<br />
Laufe ihres Lebens nacheinander und gleichzeitig sehr verschiedene soziale<br />
Positionen einnehmen. Jede dieser Positionen ist mit spezifischen Erwartungen<br />
verknüpft. Diese Erwartungen definieren die verschiedenen sozialen Rollen.<br />
Damit aber der einzelne sich nicht in den Rollen auflöste, mußte er mit ihnen<br />
aktiv umgehen und immer wieder die eigene Identität wahren. Dies ist<br />
besonders dann ein Problem, wenn die sozialen Rollen, die die Menschen dabei<br />
ausüben, sehr ambivalent sind. An jedem Typ von Rollensetzung sind, so<br />
Goffman, »drei Parteien beteiligt: die Person, die aufgrund der Regel legitimer<br />
Weise ›erwarten‹ und verlangen kann, in einer bestimmten Weise behandelt<br />
zu werden: die Person, die ›verpflichtet‹ ist, aufgrund der Regel in einer bestimmten<br />
Weise zu handeln; die Gemeinschaft, die die Legitimität dieser Erwartungen<br />
und Verpflichtungen aufrechterhält und bestätigt« (Goffman 1982:<br />
443). Es sind – nicht zufällig – dies jene Parteien, die Freud in anderer Weise<br />
auch beim Witz und seiner Aggression unterstellt. Nur geht es im Witz um<br />
den (unterdrückten) Protest gegen jene, die die Einhaltung bestimmter legitimer<br />
Regeln erwarten und denen man sich unterworfen hat.<br />
Normengerechtes Verhalten ist eine sehr komplizierte Aufgabe: Das Individuum<br />
»muß einerseits, damit die Inkonsistenz der Normen nicht zur Inkonsistenz<br />
seiner Person wird, in Rollenambivalenz die totale Erfüllung von Rollenverpflichtungen<br />
verweigern, aber es muß in Rollenkomplementarität andererseits<br />
trotz dieser Relativierung die Gültigkeit einer aktualisierten Rollennorm<br />
prinzipiell anerkennen können ...« (Oevermann 1972: 204). Gelingt dies<br />
nicht, so ist die soziale Identität der Person gefährdet. Dem stellten sich im Sozialismus<br />
einige spezifische Hindernisse in den Weg.<br />
Für die Dienstklasse im Staatssozialismus galt, daß ihr Rollenensemble<br />
im besonderen Maße konfliktträchtig war. Vereinfachend könnte man davon<br />
ausgehen, daß sie zwischen drei Rollenbündel geklemmt waren, die ideologische,<br />
die funktionale und die kommunitare Rolle. Dies wurde durch den<br />
spezifisch staatssozialistischen Umstand extrem zugespitzt, daß es zu einer<br />
»praktische(n) Entkopplung von offizieller Regulation des Systems und lebensweltlichen<br />
Verhaltensorientierungen der Individuen« (Land in Land/Brie<br />
1992: 90) kam. Systemischer Eigensinn und lebensweltlicher Sinn blieben<br />
unverbunden. Westliche Gesellschaften können diese unvermeidliche Differenz<br />
von Systemregulation einerseits und von individuellem oder durch<br />
Kleingruppen bedingtem Lebenssinn und informeller Steuerung andererseits<br />
zumeist so gestalten, daß sie letztlich gleichgerichtet wirken, sich letztlich<br />
verstärken und die jeweiligen Defizite des anderen ausbalancieren. Der Staatssozialismus<br />
dagegen war – entsprechend dieser These – dadurch gekennzeichnet,<br />
daß »die auf den informellen Wegen realisierten praktischen Verhaltensweisen<br />
letztendlich dem Zweck des intendierten Ganzen« völlig zuwi-<br />
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