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Geschichte 16. Antisemitismus: Historische Entwicklung

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<strong>Geschichte</strong><br />

Frage 16 | <strong>Antisemitismus</strong>: <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong><br />

<strong>16.</strong> <strong>Antisemitismus</strong>: <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong><br />

Die negative Seite der Erwählung<br />

Marius Kaltenberger<br />

Das religiöse Judentum verstand und versteht auch heute noch den <strong>Antisemitismus</strong> als die negative<br />

Seite der Erwählung Israels zum Gottesvolk. In diesem Sinn gab es das Phänomen des <strong>Antisemitismus</strong><br />

schon in vorchristlicher Zeit. Der Begriff „<strong>Antisemitismus</strong>“ ist jedoch erst gegen Ende des 19.<br />

Jahrhunderts aufgekommen.<br />

Antike: Judentum als einziges Volk mit einem Ein-Gott-Glauben<br />

Als einzige unter den Religionen der Welt forderte das Bekenntnis Altisraels die Verehrung nur eines<br />

Gottes. Allen anderen Religionen war der Begriff eines einzigen und wahren Gottes, neben dem es<br />

keine anderen Götter geben darf, fremd. Die Juden der Antike stellten somit als einzige Religion, die<br />

Berechtigung der anderen Religionen in Frage. Die Reaktion der Heiden darauf war bereits das, was<br />

heute <strong>Antisemitismus</strong> genannt wird.<br />

Entstehung des Christentums und Beschuldigung der Juden als Gottesmördervolk<br />

Der Absolutheitsanspruch des Gottes Israels wurde von den Christen übernommen und gegen die<br />

Juden ausgespielt. Den Anfang bildete die kritische Auseinandersetzung Jesu mit seinen Jüdischen<br />

Zeitgenossen. Diese wurde von den ersten Judenchristen aufgegriffen und verschärft. Es handelte<br />

sich um eine „innerjüdische“ Auseinandersetzung, die aber übertragen in den heiden-christlichen<br />

Raum zur Rechtfertigung und Verfestigung der schon sowieso vorhandenen antijüdischen Einstellung<br />

führte. So wurde aus dieser innerjüdischen Auseinandersetzung die harte Beschuldigung des<br />

Gottesmordes. Die Bezeichnung des Judentums als Gottesmördervolk forderte zahlreiche jüdische<br />

Blutopfer.<br />

Christentum wird zur Staatsreligion, alle anderen Religionen werden Aussenseiter<br />

Das Christentum wurde seit dem 4. Jahrhundert zur Staatsreligion im Römischen Reich. Für das<br />

Judentum galten nunmehr besondere Bestimmungen. Die Zeit des Heidentums war entgültig vorbei.<br />

Das Judentum jedoch konnte als versteinerter Zeuge für die Gottheit Jesu Christi gedeutet werden.<br />

Irgendwann sollten die Juden erkennen, dass ihre Vorväter bei der Verurteilung Jesu einen<br />

verhängnisvollen Irrtum begangen haben. Im Gegensatz zu den Heiden waren jedoch die Juden im<br />

Besitz von heiligen Büchern, durch die ihnen politisch gesehen das volle Aufgehen in der christlichen<br />

Staatsgesellschaft ermöglicht werden sollte.


<strong>Geschichte</strong><br />

Frage 16 | <strong>Antisemitismus</strong>: <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong><br />

Juden, Christen und Sklaven<br />

Marius Kaltenberger<br />

Der Satz „Der Ältere soll dem Jüngeren dienen“ (Genesis 25,33), der sich ursprünglich auf das<br />

Verhältnis zwischen Esaus zu Jakob bezieht, wurde schon um 200 n. Chr. erstmals auf das Verhältnis<br />

der Juden zu den Christen bezogen. Das Gottesvolk des Alten Bundes sollte in einem knechtischen<br />

Verhältnis dem Gottesvolk des Neuen Bundes gegenüberstehen. Daraus resultierte dann im hohen<br />

und späten Mittelalter die Anwendung des Sklavenrechts auf die Juden. Sie galten als „Sklaven der<br />

Kirche“ und damit auch als Kammerknechte der jeweils Herrschenden. Die Grundlage dafür bot<br />

schon der Codex Theodosianus aus dem Jahre 438 n. Chr. In diesem wird neben anderen<br />

Bestimmungen den Juden verboten, über Christen eine obrigkeitliche Stellung zu haben. In einer auf<br />

unfreier Arbeit begründeten Gesellschaft durften Juden also keine christlichen Sklaven für sich<br />

arbeiten lassen und waren somit von etlichen Erwerbszweigen ausgeschaltet.<br />

Juden als Zwischenhändler für die europäische und arabische Welt im Mittelalter<br />

Die gesellschaftliche Einordnung durch Sonderrechte und Sonderbestimmungen hatte zunächst für<br />

die Juden nicht nur negative Folgen. Gerade dieses Aussenseitertum befähigte das Judentum,<br />

dringend notwendige gesellschaftliche Positionen einzunehmen, für die die Christen weder geeignet<br />

waren und auch kein Interesse dafür hatten. Die durch die Völkerwanderung neu entstandene<br />

städtische Kultur bedurfte neuerlichen Handelsverbindungen. In diesem Sinne wurden die Juden für<br />

die städtische <strong>Entwicklung</strong> im frühen und hohen Mittelalter unentbehrlich. Sie waren zu dieser Zeit<br />

wohl das einzige wirklich mobile Element. Wo auch immer sich eine jüdische Gemeinde befand, war<br />

gleichzeitig ein jüdischer Handelsstützpunkt. Hinzu kam noch, dass das östliche Mittelmeerbecken<br />

und Nordafrika seit dem 7. Jahrhundert islamisch wurden. Christen galten den Muslims als<br />

unzuverlässige Handelspartner und ebenso umgekehrt. Damit boten sich wie von selbst die Juden als<br />

Vermittler an. Die Juden lebten in beiden Kulturbereichen, im christlichen wie im islamischen, in<br />

einer ähnlichen Rechtslage. Sie konnten niemandem wirklich gefährlich werden, da sie überall nur<br />

eine geduldete Minderheit waren.<br />

Weitreichende Folgen daraus auch in der Kunst<br />

Die überragende Stellung der Juden im Fernhandel – teilweise bis Indien und China – sicherte ihnen<br />

auch den Zutritt zu den höchsten Gesellschaftskreisen. Schutzbriefe hoben die einschränkenden<br />

Bestimmungen des Codex Theodosianus wieder auf. Die heidnischen Sklaven, die im Besitz der Juden<br />

waren, durften auf Grund dieser Schutzbriefe nicht getauft werden, wenn deren jüdischen Besitzer<br />

dies nicht erlaubten. In der ersten Hälfte des 9. Jahrhunderts führte dies zu einer heftigen<br />

Konfrontation zwischen Ludwig dem Frommen und Bischof Agobard von Lyon. Deren<br />

Auseinandersetzung hatte indirekt weitreichende Folgen, vor allem in der christlichen Kunst. Seit<br />

dem 9. Jahrhundert findet sich die Szene von Kirche und Synagoge unter dem Kreuz. Jedoch wurde<br />

die das Judentum darstellende Synagoge immer mehr mit der Seite des Todes und des Teufels<br />

gleichgesetzt.


<strong>Geschichte</strong><br />

Frage 16 | <strong>Antisemitismus</strong>: <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong><br />

Kreuzzüge und deren Auswirkung auf das Judentum<br />

Marius Kaltenberger<br />

Die Kreuzzugsbewegungen gaben den judenfeindlichen Strömungen großen Auftrieb. „Warum sollen<br />

wir in das heilige Land ziehen, um es von den Ungläubigen zu befreien, wenn wir hier mitten unter<br />

uns die ungläubigen Juden ungestört gewähren lassen?“, war eine Parole des ersten Kreuzzuges<br />

1096. Daraufhin stellten die Kreuzfahrer die Juden Deutschlands vor die Wahl: Tod oder Taufe. Die<br />

meisten Juden, oft ganze jüdische Gemeinden, zogen den Tod vor. Viele Juden begangen Selbstmord,<br />

nachdem sie ihre Familienangehörigen zuvor getötet hatten. Dies deuteten sie als neuerliches<br />

Abrahamsopfer, das ihnen als Strafe für das Goldene Kalb, mit dem sich ihre Vorfahren versündigt<br />

hatten, auferlegt worden sei. Sie verstanden ihrer und ihrer Angehörigen Tod als „Heiligung Gottes“.<br />

Diese Blutopfer führten im 12. Jahrhundert bei den besten Christen zu einem neuen theologischen<br />

Nachdenken über das Phänomen des Judentums. Anlässlich des 2. Kreuzzuges 1146 wurde offen für<br />

die Juden Stellung genommen, um ein abermaliges Blutvergießen zu verhindern. Ebenfalls wurden<br />

die damaligen Juden mit Saulus/Paulus verglichen. Nicht aus Hass gegen Christus lehnen sie den<br />

Glauben an ihn ab, sondern aus Liebe zum Gesetz des Moses.<br />

Verteufelung der Juden als Ritualmörder, Hostienschänder und Brunnenvergifter<br />

Doch all dies konnte die Verteufelung der Juden in den Augen der christlichen Staatsgesellschaft<br />

nicht verhindern. Es wurde sogar behauptet, dass die Juden den Teufel zum Vater hätten und dass<br />

nur der Teufel es sei, der am weiteren Bestand des Judentums interessiert sei. Ebenfalls werden die<br />

Juden für die Irrlehren im Rahmen des Christentums verantwortlich gemacht. Machtpolitisch äußerte<br />

sich eine derartige Einstellung gegenüber dem Judentum in der Verbrennung von etwa 20.000<br />

hebräischen Handschriften in Paris im Jahre 1242 und in der Verbrennung Tausender jüdischer<br />

Menschen auf Grund der Beschuldigung von Ritualmord, Hostienschändung oder Brunnenvergiftung.<br />

Auch die Wiener jüdische Gemeinde fand auf einem Riesenscheiterhaufen in Erdberg im Jahre 1421<br />

ihr Ende, nachdem den Juden vorgeworfen worden war, eine aus der Pfarrkirche in Enns gestohlene<br />

Hostie entweiht zu haben. Man dämonisierte die Juden zum leibhaften Teufel, tat ihnen aber alles<br />

an, was man ihnen zur Last legte.<br />

Aufklärung und Kapitalismus<br />

Dieses Judentumsbild blieb in der christlichen Gesellschaft vorherrschend, bis durch die Aufklärung<br />

seit der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts eine Wende eintrat. Lessings „Nathan der Weise“ war<br />

hierfür charakteristisch. Somit setzte eine <strong>Entwicklung</strong> ein, die nach mehreren Rückschlägen zur<br />

vollen bürgerlichen Gleichstellung der Juden führte: in Österreich-Ungarn 1867, in Deutschland 1869.<br />

Gerade die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts aber war ein Zeitalter hektischer <strong>Entwicklung</strong>. Das<br />

kapitalistische Wirtschaftssystem mit seinem Konkurrenzdenken begann sich durchzusetzen, die<br />

Presse bekam eine bisher noch nie dagewesene Bedeutung. Auf der Seite der neuen <strong>Entwicklung</strong> in<br />

Wirtschaft und Politik sahen die Gewerbetreibenden die Juden an führenden Stellen und fühlten sich<br />

mehr durch sie als durch die <strong>Entwicklung</strong> selbst bedroht. Juden wurden sowohl für die Auswüchse<br />

des Kapitalismus als auch für die Verbreitung revolutionärer Ideen verantwortlich gemacht. So<br />

entstand der typisch mittelständische christlichsoziale <strong>Antisemitismus</strong>.


<strong>Geschichte</strong><br />

Frage 16 | <strong>Antisemitismus</strong>: <strong>Historische</strong> <strong>Entwicklung</strong><br />

Rassisch und großdeutsch<br />

Marius Kaltenberger<br />

Seit den achtziger Jahren des 19. Jahrhunderts setzte eine neue <strong>Entwicklung</strong> ein: der rassische – in<br />

Österreich großdeutsch bestimmte – <strong>Antisemitismus</strong>. Dieser richtete sich nicht nur gegen das<br />

Judentum, sondern auch gegen die christlichen Kirchen, weil diese durch die Bibel semitischen Geist<br />

verbreiteten. Die getauften Juden wurden nach diesem Konzept den Glaubensjuden gleichgestellt.<br />

Die Kirchenfeindlichkeit des Nationalsozialismus hatte in derartigen Auffassungen ihren Ursprung.<br />

Der Kampf der Rassenantisemiten richtete sich gegen die bürgerliche Gleichstellung der Juden. So<br />

war die bürgerliche Entrechtung der Juden durch die Nürnberger Gesetze von 1935 nur eine Frage<br />

der Zeit. Nun nahm die schrecklichste <strong>Entwicklung</strong> in der <strong>Geschichte</strong> des <strong>Antisemitismus</strong> ihren Lauf:<br />

Der Versuch der vollständigen Vernichtung des Judentums.<br />

Gründe für den <strong>Antisemitismus</strong><br />

Psychologische: Der Mensch hat Aggressionen und lenkt diese auf Minderheiten bzw. für ihn<br />

Minderwertige.<br />

Religiöse: Den Juden die Schuld am Kreuzestod Jesu anzulasten, ist biblisch nicht<br />

begründbar und wird von der Kirche abgelehnt (erst seit Vatikan II).<br />

Wirtschaftliche: Wegen des Handwerkverbots im Babylonischen Exil (587-538 v. Chr.) ver-<br />

legten sich die Juden auf den Handel. Auf dem Laterankonzil 1215 wurde den<br />

Christen verboten, für geliehenes Geld Zinsen zu nehmen. So kam das Geld-<br />

verleihgeschäft fast ausschließlich in jüdische Hände. Dieses Monopol, das<br />

die Zeitumstände, nicht aber die Juden selbst schufen, war die Hauptquelle<br />

allen Unheils, das vom 11. bis zum <strong>16.</strong> Jahrhundert über die mittel-<br />

europäischen Juden gekommen war.<br />

Politische: Ab Kaiser Konstantin (313 Edikt von Mailand) wurde es vorteilhaft ein Christ<br />

zu sein. Die Juden hatte ab diesem Zeitpunkt keine Vorteile mehr. Im Mittel-<br />

alter herrschte der Einheitsgedanke (ein Kaiser, ein Reich, ein Gott, eine<br />

Wahrheit...). Die Juden wurden als Fremdkörper empfunden (daher Ghettos).<br />

Rassich-Biologische: Von Friedrich Nietzsche stammt die Idee vom „Übermenschen“<br />

(„Nicht fort sollst du dich pflanzen, sondern hinauf!“). Der National-<br />

sozialismus sah im Deutschtum eine Herrenrasse, im Judentum<br />

Untermenschen (daher Eheverbote, Rechtlosigkeit der Juden durch<br />

die Nürnberger Gesetze von 1935).

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