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Vortrag Dr. Sabine Zinn-Thomas - Integrationspotenziale

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Identität und Fremdheit im ländlichen Raum 1<br />

<strong>Sabine</strong> <strong>Zinn</strong>-<strong>Thomas</strong><br />

Sehr geehrte Damen und Herren,<br />

„Identität und Fremdheit im ländlichen Raum“ – dieser Titel suggeriert, dass die Sicht<br />

von Fremdheit und der Umgang damit in einem wie auch immer definierten<br />

ländlichen Raum ein anderer sein könnte und daher die Integration anders erfolgen<br />

muss als in der Stadt.<br />

Vor diesem Hintergrund möchte ich in meinem Beitrag klären, inwiefern der ländliche<br />

Raum nicht nur andere Rahmenbedingungen für den Umgang mit Fremdheit und<br />

damit auch für Integration setzt als die Stadt, sondern auch generell nach dem<br />

Stellenwert des Ortes für Integrationsprozesse fragen.<br />

Dazu werde ich im Folgenden erläutern, was im Einzelnen mit Identität, Fremdheit<br />

und ländlichem Raum gemeint ist bzw. was darunter verstanden wird, gerade auch<br />

im Kontext von Integration. Erst dann lässt sich bewerten, welchen Stellenwert dem<br />

Ort für Integrationsprozesse zukommt. Abschließend gehe ich der Frage nach,<br />

inwiefern das Konzept einer „Integration vor Ort“ heute noch immer trägt.<br />

1. Identität und Fremdheit<br />

Doch zunächst möchte ich auf die Begriffe Identität und Fremdheit eingehen.<br />

1.1. Identitätsbegriffe<br />

Der Einzelne als Individuum nimmt sich als Teil der Menschheit, als Verkörperung<br />

einer gegebenen und durch Traditionen festgeschriebenen sozialen Ordnung und als<br />

Mitglied einer sozialen Gruppe wahr. Unterschieden wird zwischen persönlicher,<br />

sozialer und Ich-Identität.<br />

Persönliche Identität definiert den Einzelnen als biographische Einheit mit<br />

Identitätsmerkmalen (wie Name, Adresse, Aussehen, Lebenslauf), die den einen<br />

Menschen vom anderen unterscheidet. Das Selbst meint in diesem Kontext die<br />

1 Der Beitrag ist die um Anmerkungen ergänzte Fassung des <strong>Vortrag</strong>s auf der Tagung der Schader-<br />

Stiftung am 7. Oktober 2011 in Berlin.<br />

1


Gesamtheit der Erfahrungen, die das Verständnis einer Person von ihrem Platz in<br />

der Welt spiegeln.<br />

Die soziale Identität bezieht sich auf den Einzelnen als Teil einer gesellschaftlichen<br />

Gruppe, in der er eine soziale Position einnimmt (z.B. Rolle, Status, Amt, Beruf). Das<br />

Bedürfnis nach positiver sozialer Identität führt dabei zur Abgrenzung gegenüber<br />

anderen.<br />

Die Ich-Identität bezieht sich auf die reflexive Ebene des Menschen, darauf, wie er<br />

seine Situation, seine Kontinuität in der Zeit und seine Eigenart reflektiert.<br />

Mit Identität wird also die Übereinstimmung des Einzelnen mit sich selber bezeichnet<br />

und zwar im Spannungsfeld zwischen Regelverhalten und eigenem Verhalten. Es<br />

stellt sich dabei aber auch die Frage nach der Bedeutung des Einzelnen für Kultur<br />

und Gesellschaft. Damit haben wir es mit einem Doppelcharakter des Menschen zu<br />

tun und zwar als Einzelwesen und als Teil einer Gemeinschaft.<br />

Der Herstellungsprozess von Identität wird als offener Prozess gesehen, der eine<br />

alltägliche und lebenslange Bearbeitung von Entwicklungsaufgaben meint. Identität<br />

wird somit bestimmt als eine relationale Verknüpfungsarbeit, als Konfliktaushandlung,<br />

als Ressourcen- und Narrationsarbeit. Das Produkt bzw. Ergebnis dieser, unserer<br />

Identitätsarbeit sind subjektive Konstruktionen von Identität, d.h. in und mit seiner<br />

Selbsterzählung konstruiert der Mensch sich ständig selber. 2<br />

1.2. Raumbezogene/Lokale Identität (Ortsbezogenheit/Heimat/)<br />

Als eine wesentliche Bezugsebene von Identität/Identitätskonstruktionen sind Raum<br />

und Ort zu nennen, d.h. es geht darum, wie Menschen ihre Identität im Nahraum<br />

verankern, wie sie sich verorten. Bei diesen „Praxen der Beheimatung“ wird nach<br />

den Bedingungen für das Wechselverhältnis von Bewegung und Sesshaftigkeit<br />

gefragt.<br />

Damit eine Person sich einem Ort zugehörig definieren kann, müssen bestimmte<br />

institutionalisierte Merkmale vorliegen, wie etwa Wohndauer oder Festansässigkeit.<br />

2<br />

Mit dieser Syntheseleistung der Identitätsarbeit beschäftigt sich vor allem die Psychologie. Sie fragt<br />

danach: Wie gelingt es dem Subjekt aus der Vielzahl der Möglichkeiten für sich stimmige<br />

Identitätsprojekte zu realisieren und dabei trotz aller Verschiedenheit sich als kohärent zu erleben; vgl.<br />

Heiner Keupp: Identitätskonstruktion. Das Patchwork der Identitäten in der Spätmoderne. Reinbek bei<br />

Hamburg 2008. S. 190.<br />

2


Erst die Interaktion mit Menschen in einem bestimmten Situationszusammenhang,<br />

der den Ort betrifft, führt jedoch zur emotionalen Besetzung eines Ortssymbols. 3<br />

Identität erscheint dann als Ergebnis gelungener Beheimatung. Heimat meint hier<br />

Lebensmöglichkeit und nicht Herkunftsnachweis. Heimat als Teil unserer Identität<br />

und als Imagination ist Ressource, um sich an einem Ort und zwischen Orten zu<br />

beheimaten.<br />

Dabei soll nicht übersehen werden, dass Heimat und Identität beides<br />

Homogenisierungsbegriffe sind, die ihr Profil der Modernisierung verdanken. Heimat<br />

wirkt dabei als Gemeinschaftszauber einer hypertrophen Vorstellung von<br />

Homogenität, es imaginiert eine Identität als Übereinstimmung, die es in unserer<br />

Gesellschaft nicht gibt, weil es eine Identität für alle nicht geben kann. 4<br />

Heimat-Haben wird dann zur Praxis der Positionierung und Grenzziehung. 5 Gerade<br />

für den ländlichen Raum spielt dieser Aspekt eine wichtige Rolle, wird hier doch<br />

oftmals von Vorstellungen ausgegangen, die diesen Raum als Kulturraum<br />

imaginieren, der nicht nur durch eine homogene Kultur, sondern auch durch die<br />

Homogenität seiner Bewohner geprägt sei. Diese äußere sich u.a. durch ein<br />

ausgeprägtes Regionalbewusstsein bzw. eine Identifikation der Bewohner mit ihrem<br />

Ort/ihrer Region.<br />

Was heißt das nun für den Umgang mit Fremdheit?<br />

1.3. Fremdheit<br />

Fremdheit als relationale Größe ist die Definition einer Beziehung, die auf der<br />

Wahrnehmung von Differenz basiert. Ob wir diese Differenz als Andersheit oder<br />

Fremdheit bezeichnen bzw. deuten, ist individuell verschieden und ist bis zu einem<br />

gewissen Grad willkürliche Setzung. Es hängt von uns und unseren Vorstellungen<br />

und Erfahrungen ab, was wir als anders wahrnehmen, was wir als eigen bzw. fremd<br />

3<br />

Heiner Treinen hat hier bereits 1965 unterschieden zwischen einer symbolischen Ortsbezogenheit<br />

und einem Heimatgefühl. Heiner Treinen: Symbolische Ortsbezogenheit. Eine soziologische<br />

Untersuchung zum Heimatproblem. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie 7<br />

(1965), S. 73-79 und S. 254-297.<br />

4<br />

Vgl. Konrad Köstlin: Heimat als Identitätsfabrik. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 99<br />

(1996), S. 321-338.<br />

5<br />

Vgl. Beate Binder: Heimat als Begriff der Gegenwartsanalyse? Gefühle der Zugehörigkeit und soziale<br />

Imaginationen in der Auseinandersetzung um Einwanderung. In: Zeitschrift für Volkskunde 104 (2008)<br />

S. 1-17.<br />

3


identifizieren und welchen Status wir zuschreiben – etwa den des Einheimischen<br />

oder Fremden. In jedem Fall ist damit immer auch ein Prozess der Inklusion<br />

(Vereinnahmung) bzw. Exklusion (Abgrenzung) verbunden. Wir entscheiden, wer als<br />

zu uns (zu unserer Gruppe) gehörig bzw. als nicht zu uns gehörig angesehen wird.<br />

Wer, wann, wo und von wem als fremd wahrgenommen oder bezeichnet wird, ist<br />

also Ergebnis einer Zuschreibung.<br />

Der Gegensatz zum Fremden ist das Bekannte und Vertraute, allgemein: das<br />

Eigene. Eigenes und Fremdes stehen sich einander gegenüber, sie werden als<br />

Gegensatzpaar gedacht und sind dichotomisch konzipiert. Dazu gehört, dass das<br />

Fremde erst sichtbar wird vor der Folie des Eigenen. Andere als Fremde einzustufen<br />

führt zu Selbstidentifikationen.<br />

Eine wichtige Rolle spielt dabei die räumliche Beziehung, das Verhältnis von nah und<br />

fern, wie es der Soziologe Georg Simmel schon 1908 in seinem „Exkurs über den<br />

Fremden“, beschrieben hat. Er sieht den Fremden nicht als den Wandernden, der<br />

heute kommt und morgen geht, sondern der Fremde ist der, der heute kommt und<br />

morgen bleibt. 6<br />

Und für Otto Bollnow (1924) sind „die Fremden (sind) schon im frühesten<br />

Sprachgebrauch die Ausländer, die nicht am eigenen Wohnort beheimateten<br />

Menschen.“ (..) Ursprünglich, so Bollnow, wird es als „elend“ empfunden, wenn der<br />

Mensch, aus seiner Heimat vertrieben, in der Fremde leben muss. (…) Im<br />

Unterschied zu der freien Weite, in die der Mensch von sich aus hinaus strebt, ist die<br />

Fremde etwas Unangenehmes, ein bedrohlicher Bereich.“ 7<br />

Inwiefern trifft dies nun für den ländlichen Raum zu?<br />

2. Ländlicher Raum<br />

Über den ländlichen Raum existieren in Wissenschaft und Planungspraxis<br />

verschiedene und oft widersprüchliche Definitionen. Dies wird nicht zuletzt als eine<br />

Folge der komplexen und unterschiedlichen, in verschiedenen Teilräumen<br />

6 Georg Simmel: Exkurs über den Fremden. In: Ders.: Soziologie. Untersuchungen über die Formen<br />

der Vergesellschaftung. (= Gesammelte Werke, Bd. 2) Ffm. 1968. S. 509-512 (Erstveröffentlichung<br />

1908).<br />

7 Otto F. Bollnow: Das kritische Verstehen. In: Ders.: Studien zur Hermeneutik. Band I: Zur<br />

Philosophie der Geisteswissenschaften. Freiburg und München 1982. S. 73-102 (Erstdruck 1924).<br />

4


vorherrschenden Siedlungsstruktur gesehen, die eher einem Stadt-Land-Kontinuum<br />

entspricht. Ein eher intuitiv begründeter Konsens besteht darin, den ländlichen Raum<br />

als Gebiet außerhalb von Städten oder städtischen Gebieten zu verstehen. Die<br />

größte Schwierigkeit wird darin gesehen, den ländlichen Raum vom suburbanen<br />

Raum abzugrenzen. 8<br />

Vorstellungen vom ländlichen Raum korrespondieren sehr häufig mit Vorstellungen<br />

über dessen Sozialstruktur und damit einhergehenden Lebensstilen. Wird mit Stadt<br />

eher eine dichte Ansammlung heterogener Menschen assoziiert, fungiert<br />

demgegenüber der ländliche Raum als Kontrastfolie: dünn besiedelt, kleine<br />

Gemeinden mit einer homogenen Bevölkerungsstruktur. Dementsprechend würde es<br />

auf dem Land ruhiger zugehen, der Umgang miteinander sei komplexer und es<br />

dominiere eine eher konservative Grundstimmung. Sozialer Wandel geschehe dort<br />

später und weniger tiefgreifend.<br />

Entsprechend wurden bis in die 1980er Jahre hinein Dörfer charakterisiert als<br />

homogene, „ganze“ Dorfgemeinschaften, in denen ein starkes Wir-Gefühl,<br />

traditionelle Wertorientierungen und eine wechselseitige soziale Kontrolle herrschten,<br />

die eine soziale Ausdifferenzierung verhinderten. 9<br />

Die fortschreitende Suburbanisierung in den letzten Jahren stellt die Frage nach<br />

Gebietsgrenzen und Stadt-Land-Differenzierungen in neuer <strong>Dr</strong>inglichkeit. Aber nicht<br />

nur Suburbanisierungsprozesse, sondern auch der Einfluss neuer Informations- und<br />

Kommunikationstechnologien sowie Mobilität und Globalisierungsprozesse haben zur<br />

Folge, dass die Vorstellung einer Polarisierung von Stadt und Land/Dorf schon lange<br />

nicht mehr angemessen erscheint, vielmehr gilt es, die gesellschaftsabhängigen<br />

Eigenarten und Wechselwirkungen beider Siedlungsformen zu betonen. 10<br />

„Ländlicher Lebensstil“ erscheint zwar in den letzten Jahren in ungemein<br />

erfolgreichen Lifestyle-Magazinen wie etwa „Landlust“ als Ausdruck einer homogen<br />

konzipierten „Landkultur“ oder Lebensart, ist jedoch vielmehr marktgängige<br />

Konstruktion als empirisch zu verifizierende Wirklichkeit.<br />

8<br />

Claus Schlömer und Martin Spangenberg: Städtisch und ländlich geprägte Räume:<br />

Gemeinsamkeiten und Gegensätze. BBSR-Online-Publikation 34/2009.<br />

9<br />

Siehe hierzu Michael Hainz: Dörfliches Sozialleben im Spannungsfeld der Individualisierung. Bonn<br />

1999. S. 264.<br />

10<br />

Annette Spellerberg: Ländliche Lebensstile – ein praxisnaher Forschungsüberblick. In: Gerhard<br />

Henkel (Hrsg.): Dörfliche Lebensstile – Mythos, Chance oder Hemmschuh? Essen 2004. S. 37-51.<br />

5


Studien über den ländlichen Raum der letzten 15 Jahren kommen zu einem deutlich<br />

heterogeneren Bild der Land- bzw. Dorfbewohner als es oftmals die Vorstellung<br />

suggeriert: Unterschieden werden muss nach Hainz zwischen „Altdörflern“<br />

(„Ureinwohner mit langer dörflicher Tradition und entwickeltem Wir-Bewusstsein“;<br />

„konservative Lokalmacht“); „Neudörfler“ („(…) mit mittelständischem Lebensstil und<br />

hohen Freizeitansprüchen. Sie stellen die neuen Funktionäre.“); „emanzipierten<br />

Dörflern“ („(…) mit kritischer Haltung dem Dorf gegenüber.“) und „Dorfranddörflern“<br />

(„(…), die ausgegrenzt sind oder sich selbst isolieren und zum Teil unfreiwillig Dörfler<br />

geworden sind.“). Diese vier Gruppen weisen unterschiedliche Ortsbindungen und<br />

Identifikationen mit dem Ort auf. 11<br />

Es zeigt sich, dass sich jedes Dorf aus einer sozialstrukturell hoch differenzierten<br />

Einwohnerschaft zusammensetzt, wodurch das überkommene Bild homogener<br />

Dorfgesellschaften obsolet geworden ist bzw. tatsächlich auch so nie existiert hat.<br />

Heute stellt das Dorf lediglich einen Teillebensraum seiner Bewohner dar. Ihre<br />

sozialen Beziehungen erstrecken sich weit über den eigenen Ort hinaus. Die<br />

Dorfbewohner betrachten eine „weitreichende räumliche Mobilität“ als ein<br />

wesentliches Merkmal des Lebens im Dorf. 12 Kennzeichnend ist auch die<br />

Mannigfaltigkeit ihres Dorfbezugs. Diese umfasst unterschiedlichste Nuancen von<br />

Beheimatung und Heimatverlust, Wertschätzungen der örtlichen Lebensqualität<br />

sowie Ansprüche an die Art, wie Bewohner miteinander verkehren sollten. Die<br />

Menschen im Dorf kennen sich gegenseitig weder so umfassend noch so gründlich<br />

wie meist unterstellt wird. Auch die Art der Beziehung und Kenntnis zwischen<br />

Nachbarn hängt stark mit der eigenen Beziehungswahl zusammen.<br />

Nachbarschaftsbeziehungen fallen höchst unterschiedlich aus, sie gelten dann als<br />

gut, wenn eine gewisse Distanz gewahrt wird. 13<br />

Insgesamt lässt sich also feststellen:<br />

- Der Topos „ländlicher Raum“ muss differenziert gesehen werden.<br />

Entsprechend differenziert muss auch der Umgang mit Fremden gesehen werden.<br />

11<br />

Siehe hierzu: Gerhard Henkel (Hrsg.): Dörfliche Lebensstile – Mythos, Chance oder Hemmschuh?<br />

Essen 36 (2004).<br />

12<br />

Damit ist gemeint, dass es oftmals im Dorf keine Einkaufsmöglichkeiten oder gar Arbeitsplätze gibt,<br />

die Dorfbewohner zur Mobilität gezwungen sind. Diese korrespondiert mit zum Teil eingeschränkten<br />

Mobilitätsmöglichkeiten durch den öffentlichen Nahverkehr.<br />

13<br />

Vgl. Hainz: Dörfliches Sozialleben (wie Anm. 9) S. 265.<br />

6


- Denn den Umgang mit Fremdheit auf dem Land gibt es genauso wenig wie es<br />

auch die Fremden gibt.<br />

- Lokale Identität ist das Ergebnis gelungener „Beheimatung“. Heimat als Teil<br />

unserer Identität im Sinne einer positiv erfahrenen Verortung und als<br />

Imagination ist Ressource, um sich an einem Ort und zwischen Orten zu<br />

beheimaten.<br />

3. Stellenwert des Ortes für Integrationsprozesse<br />

Was bedeutet das alles nun für den Umgang mit Fremdheit und damit<br />

einhergehenden Integrationsprozessen vor Ort? Das möchte in nun kurz vor dem<br />

Hintergrund meiner eigenen Forschungen darstellen.<br />

In meiner Arbeit habe ich das Zusammenleben von Einheimischen mit zwei<br />

unterschiedlichen Gruppen von Fremden untersucht. Zunächst das Zusammenleben<br />

mit amerikanischen Soldaten und Familien, die auf dem Flugplatz Hahn im Hunsrück<br />

nach dem zweiten Weltkrieg mehr als 40 Jahre lang stationiert waren und in dieser<br />

Region lebten – aus Sicht „der Einheimischen“ 14 durchaus eine dauerhafte Institution.<br />

Nach der deutschen Wiedervereinigung zogen die amerikanischen Soldaten ab und<br />

der Flughafen Hahn wurde Schritt für Schritt in einen zivilen Passagier- und<br />

Frachtflughafen konvertiert. Zeitgleich wurden viele Tausende russlanddeutsche<br />

Aussiedler in dieser sehr dörflich geprägten Region angesiedelt. Innerhalb von nur<br />

wenigen Jahren wurde somit eine Gruppe von Fremden durch eine andere Gruppe<br />

von Fremden ersetzt. Und in beiden Fällen war die Gruppe der Fremden in der<br />

Region fast genauso groß wie die der Einheimischen.<br />

Was hat nun das Zusammenleben mit diesen Fremden aus Sicht „der<br />

Einheimischen“ ausgemacht?<br />

Die Erinnerungen an das Zusammenleben mit „den Amerikanern“ wurden durch<br />

deren Status als amerikanische Soldaten maßgeblich beeinflusst. Zunächst als<br />

14 Eingedenk der Tatsache, dass nicht von einer homogenen Gruppe „der Einheimischen“, „der<br />

Amerikaner“ oder „der Russlanddeutschen Aussiedler“ ausgegangen werden kann, wurde hier<br />

dennoch diese vereinheitliche Bezeichnung aufgrund der besseren Lesbarkeit verwendet, diese<br />

jedoch in Anführungszeichen gesetzt.<br />

7


Sieger- und Besatzungsmacht wahrgenommen wurde ihr Bild geprägt von<br />

militärischer Macht und wirtschaftlicher Überlegenheit.<br />

Hinzu kam der von ihnen gerade in den 1950er und 1960er Jahren verkörperte<br />

„american way of life“, einhergehend mit einer generellen Amerikanisierung der<br />

westdeutschen Gesellschaft, der dazu führte, dass viele Einheimische den<br />

amerikanischen Soldaten gegenüber zunehmend positiv eingestellt waren. So<br />

konstatierte etwa ein älterer Landwirt: „Die Amis haben die Moderne gebracht in<br />

Form von Kühlschränken, TV-Serien und westlichem Denken.“ 15<br />

Das Fremde und die Fremden faszinierten, weswegen sie für viele zum Vorbild<br />

wurden und ihre Nähe gesucht war (besonders von Jugendlichen): Sprache, Essen,<br />

Musik, Mode und eine scheinbar lockere Art im Umgang mit „den Einheimischen“<br />

führte dazu, dass ihnen auch vieles nachgesehen wurde. „Die Amis“ faszinierten<br />

aber nicht nur, sondern „die Einheimischen“ konnten auch an ihrem Wohlstand<br />

teilhaben und von ihnen profitieren, etwa als Vermieter oder als Gastwirte. Daher war<br />

es für viele Einheimische auch selbstverständlich, Englisch zu lernen und nicht zu<br />

erwarten, dass die Amerikaner Deutsch lernen würden. Das Engagement des Militärs<br />

vor Ort, sei es bei Feuerwehrübungen oder beim Musikverein, und die Möglichkeit,<br />

auch als deutscher Zivilist auf dem Luftwaffenstützpunkt Arbeit zu finden, wirkten sich<br />

positiv auf die Wahrnehmung „der Einheimischen“ aus und führten sogar zu einer<br />

gewissen Loyalität gegenüber den Fremden, die mit der Zeit für viele Einheimische<br />

zu Freunden wurden. 16<br />

Ganz anders sah und sieht das Zusammenleben mit „den Russlanddeutschen“ aus:<br />

Hier herrschte zunächst eine Erwartungshaltung bei vielen Einheimischen vor, die im<br />

krassen Gegensatz zu derjenigen stand, die anfangs das Zusammenleben mit den<br />

Amerikanern prägte. Wurden „die Amerikaner“ als dominierende (Militär-)Macht<br />

wahrgenommen, fühlten sich nun viele Einheimische gegenüber den vermeintlich<br />

„armen“ Russlanddeutschen als eindeutig überlegen. Nicht wenige hatten sogar<br />

Mitleid und boten deswegen auch breitwillig ihrer Hilfe an.<br />

15 <strong>Sabine</strong> <strong>Zinn</strong>-<strong>Thomas</strong>: Fremde vor Ort. Selbstbild und regionale Identität in Integrationsprozessen.<br />

Eine Studie im Hunsrück. Bielefeld 2010. S. 161.<br />

16 Erwähnenswert ist in diesem Zusammenhang, dass es zur Zeit der Aktivitäten der<br />

Friedensbewegungen auf dem Hunsrück in den 1980er Jahren es für viele Einheimische einen<br />

inneren Konflikt bedeutete, einerseits bei den Amerikanern als Zivilangestellte tätig zu sein und<br />

andererseits mit den Zielen der Friedenbewegung zu sympathisieren.<br />

8


So meinte etwa eine 53 jährige Frau: „Die Russlanddeutschen haben mit uns nichts<br />

gemeinsam. Für uns liegen sie mindestens 50 Jahre zurück. Wir haben uns den<br />

Amerikanern angenähert und wir leben eher das Leben, was die Amerikaner gelebt<br />

haben und wollen mit dem Leben, was die Russlanddeutschen kennen, nichts mehr<br />

zu tun haben.“ 17<br />

Gerade aufgrund der Erfahrungen mit „den Amerikanern“ glaubten viele mit den<br />

neuen Fremden besonders gut zu Recht kommen zu können, sozusagen „Profi“ zu<br />

sein im Umgang mit Fremdheit. Auch schienen viele über das Schicksal der<br />

Russlanddeutschen Bescheid zu wissen, etwa dass sie nur mit dem Nötigsten hier<br />

angekommen seien, es Russland wirtschaftlich schlecht gegangen wäre und die<br />

Aussiedler Deutschstämmige seien, die zurück in die alte Heimat gewollt hätten. Dies<br />

trug dazu bei, diesen zunächst relativ offen und hilfsbereit gegenüber zu treten.<br />

Nach der anfänglichen Euphorie mussten jedoch viele Einheimische im Laufe der<br />

Zeit feststellen, dass „die Aussiedler“ sich nicht so verhielten, wie es von ihnen<br />

erwartet wurde, nämlich so wie „die Einheimischen“ sich damals gegenüber „den<br />

Amerikanern“ verhielten: interessiert und offen gegenüber einem neuen und<br />

modernen und deswegen auch besseren Lebensstil, bereit, eine neue Sprache zu<br />

lernen und sich vor Ort zu engagieren und natürlich anzupassen.<br />

Immer öfter wurde deswegen von den Einheimischen der Vorwurf laut, „die<br />

Aussiedler“ würden zu sehr unter sich bleiben und zu wenig auf „die Einheimischen“<br />

zugehen, die angebotene Hilfe nicht annehmen oder nicht genügend dankbar sein<br />

etwa für alte Möbel oder Kleidungsspenden, die mit der Zeit von „den Aussiedlern“<br />

wieder entsorgt worden seien.<br />

Dieser kurze Einblick in meine Forschungsarbeit zeigt deutlich, wie sehr der Umgang<br />

mit den verschiedenen Gruppen von Fremden von unterschiedlichen<br />

Rahmenbedingungen abhängig ist – bei „den Amerikanern“ ganz andere als bei „den<br />

Aussiedlern“. Das führte zu einem unterschiedlichen Umgang mit Fremdheit.<br />

Deswegen muss nochmals betont werden: Den Umgang mit Fremdheit gibt es nicht.<br />

Vielmehr ist er geprägt und abhängig von den Rahmenbedingungen vor Ort vor allem<br />

von den sozio-ökonomische Strukturen, aber auch von Parametern wie dem<br />

17 <strong>Zinn</strong>-<strong>Thomas</strong>: Fremde vor Ort (wie Anm. 15) S. 187.<br />

9


Verhältnis Mehrheit/Minderheit, von der Herkunft der Zugezogenen, dem Wissen<br />

voneinander, von Erwartungen und Erfahrungen mit anderen Fremden sowie<br />

letztendlich auch der Offenheit und der Bereitschaft, aufeinander zuzugehen.<br />

Ortsbewusstsein, lokale Identität, Heimat kommen besonders dann ins Spiel, wenn<br />

es gilt, sich voneinander abzugrenzen und sich als eigene Gruppe zu konstituieren.<br />

Per se spielen sie nur eine untergeordnete Rolle beim Umgang mit Fremdheit bzw.<br />

für den Integrationsprozess. Integration vor Ort, häufig missverstanden als eine<br />

Anpassungsleistung an lokale oder regionale Besonderheiten, meint eine Integration<br />

in komplexe soziale Verhältnisse, bei denen der Ort oder die damit assoziierte Kultur<br />

eine eher untergeordnete Rolle spielen. Sie erhalten dann erst pragmatische<br />

Relevanz, wenn sie zur Abgrenzung instrumentalisiert werden.<br />

4. Fazit<br />

Festzuhalten bleibt also, dass die spezifischen Rahmenbedingungen vor Ort für den<br />

Integrationsprozess eine wichtige Rolle spielen, unabhängig davon, ob es sich um<br />

eine Großstadt oder um einen ländlichen Raum handelt.<br />

Genauso wenig wie es den Umgang mit Fremdheit gibt, gibt es den übergreifenden<br />

ländlichen Raum, denn auch andere Faktoren haben einen wichtigen Einfluss darauf,<br />

wie mit Fremdheit und Fremden umgegangen wird.<br />

Was kann das nun für unser Thema Umgang mit Fremdheit/Integration im ländlichen<br />

Raum bedeuten? Generell ist Integration auf dem Land nicht besser oder schlechter<br />

als in der Stadt zu leisten. Vielmehr hängt der Erfolg des Miteinander-Lebens von<br />

den speziellen Bedingungen vor Ort ab. Das ist grundsätzlich eine gute Botschaft,<br />

denn Bedingungen sind gestaltbar, somit auch im Sinne von Integration zu gestalten.<br />

Konkret am Beispiel der russlanddeutschen Aussiedler im Hunsrück gab es eine<br />

Reihe von Gestaltungselementen, die sich positiv auf das Zusammenleben<br />

ausgewirkt haben:<br />

- Lokale Initiativen, wie etwa der „Verein Begegnungshaus e.V.“, die<br />

gemeinsame Projekte mit Aussiedlern und Einheimischen initiierten. Viele<br />

Einheimische bekamen erst dadurch vertiefte Einblicke in das Leben der<br />

„neuen“ Fremden und erkannten durchaus auch Gemeinsamkeiten aus<br />

früherer Zeit<br />

10


- Zudem besaß die überwiegende Zahl der Aussiedler bereits die deutsche<br />

Staatsbürgerschaft und wurde „als deutschstämmig“ wahrgenommen. Daher<br />

stellte sich zwar nicht die Frage nach ihrer nationalen Zugehörigkeit bzw.<br />

Staatsangehörigkeit, es entstand jedoch eine Erwartungshaltung bei den<br />

Einheimischen im Hinblick auf ihre kulturelle Verortung bzw. Zugehörigkeit<br />

(etwa sich wie „Deutsche“ zu benehmen hätten, Deutsch zu sprechen usw.)<br />

- Wie erwähnt hatten viele Hunsrücker bereits Erfahrungen im Umgang mit<br />

Fremden. Die Erfahrungen mit den Amerikanern waren mittlerweile Teil ihrer<br />

lokalen Identität. Dies erleichterte gerade in der Anfangszeit die<br />

Kontaktaufnahme mit den Aussiedlern.<br />

- Ganz entscheidend aber war die Tatsache, dass in der Region eine positive<br />

Wirtschafts- und Strukturentwicklung gelungen ist, allen voran die erfolgreiche<br />

Konversion des Flugplatzes Hahn, wodurch Arbeitsplätze geschaffen wurden.<br />

Zudem war genügend freier Wohnraum vorhanden. Insgesamt war somit das<br />

Potenzial für soziale Konflikte begrenzt.<br />

- Problematisch war von Anfang an die Tatsache, dass Einheimische und<br />

Fremde im Hunsrück zwei in etwa gleich große Gruppen darstellten. Dadurch<br />

entstand der Eindruck von jeweils homogenen Gruppen, die sich hier<br />

gegenüberstanden.<br />

Trotzdem ist festzustellen, dass das Zusammenleben von Einheimischen und<br />

Fremden sich im Großen und Ganzen positiv entwickelt hat, gerade wegen der<br />

bereits erwähnten überwiegend günstigen Rahmenbedingungen.<br />

Das alles sind Beispiele, wie konkrete Bedingungen unseren jeweiligen Umgang mit<br />

Fremdheit bestimmen. Unser Denken in dichotomischen Kategorien führt zwar dazu,<br />

dass wir gelernt haben, zwischen eigen und fremd zu unterscheiden. Wir sollten uns<br />

jedoch dem Konstruktcharakter dieser Aufteilung bewusst sein, um keine mentalen<br />

Barrieren für das Zusammenleben entstehen zu lassen.<br />

11

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