Wie kommt die Wirklichkeit in Sprache und Denken? - Konzepte und ...
Wie kommt die Wirklichkeit in Sprache und Denken? - Konzepte und ...
Wie kommt die Wirklichkeit in Sprache und Denken? - Konzepte und ...
Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.
YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.
5<br />
10<br />
15<br />
20<br />
25<br />
30<br />
35<br />
40<br />
45<br />
ARBEITSMATERIAL <strong>Konzepte</strong> <strong>und</strong> Frames COPY<br />
M 5 Charlotte <strong>Wie</strong>demann: Die gerahmte Welt (2004)<br />
Ferne Länder s<strong>in</strong>d wie Erzählungen. Es ist schwer, aus e<strong>in</strong>er<br />
solchen Erzählung auszubrechen, wenn sie sich erst e<strong>in</strong>mal<br />
festgesetzt hat, wenn sie durch vielfaches <strong>Wie</strong>derholen r<strong>und</strong><br />
geschliffen worden ist zu e<strong>in</strong>em handlichen Stück<br />
Gebrauchs-Wahrheit. Will e<strong>in</strong> Korrespondent <strong>die</strong> Erzählung<br />
eigenmächtig ändern, dann reagieren <strong>die</strong> Redakteure <strong>in</strong> der<br />
Zentrale so entrüstet wie K<strong>in</strong>der, denen plötzlich e<strong>in</strong>e veränderte<br />
Fassung ihres Liebl<strong>in</strong>gsmärchens erzählt wird. Indonesien<br />
hatte lange Zeit nur e<strong>in</strong>e Po<strong>in</strong>te: Wann zerbricht das<br />
Inselreich? Die Annahme, es zerbräche nicht, verriet Leichtfertigkeit<br />
oder schlimmer: Unkenntnis. Die Po<strong>in</strong>te konnte nur<br />
verdrängt werden durch e<strong>in</strong>e andere, noch stärkere Po<strong>in</strong>te:<br />
Wird Indonesien islamistisch? Falls der Terrorismus je aufhören<br />
sollte, <strong>die</strong> Perspektive unserer Weltsicht zu bestimmen,<br />
wird gewiss das Zerbrechen des Inselreichs erneut e<strong>in</strong> drängendes<br />
Thema.<br />
Fram<strong>in</strong>g nennen Me<strong>die</strong>nwissenschaftler <strong>die</strong>sen Mechanismus:<br />
Journalisten beschreiben <strong>die</strong> Realität <strong>in</strong>nerhalb e<strong>in</strong>es<br />
Rahmens, der sich im Laufe der Zeit eher unbewusst etabliert<br />
hat. Das Bild <strong>in</strong>nerhalb des Rahmens ist nicht falsch im<br />
engen S<strong>in</strong>ne des Wortes, auch nicht gefälscht, aber es wirkt<br />
verfälschend, weil es nur e<strong>in</strong>e sehr verengte Perspektive auf<br />
<strong>die</strong> Realität erlaubt. Und das Fatale ist: Wir, <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>nnutzer,<br />
bemerken es nicht. Auch wenn wir uns für gebildet <strong>und</strong><br />
kritisch halten. Der ständigen <strong>Wie</strong>derholung <strong>und</strong> der Macht<br />
der Bilder kann sich niemand entziehen. E<strong>in</strong> Fernsehzuschauer,<br />
der aus Pakistan nur Fäuste schüttelnde, bärtige<br />
Männer zu sehen be<strong>kommt</strong>, hält <strong>die</strong>ses Land naturgemäß für<br />
<strong>in</strong>tolerant <strong>und</strong> bedrohlich. Er weiß nicht, dass jedem Trupp<br />
bärtiger Männer e<strong>in</strong> Trupp Kameramänner auf den Fersen<br />
ist. Als <strong>die</strong> Amerikaner im Irak Saddam Husse<strong>in</strong> <strong>in</strong> se<strong>in</strong>em<br />
Erdloch gefangen nahmen, brach <strong>in</strong> Bagdad helle Begeisterung<br />
aus, wer e<strong>in</strong>e Waffe hatte, schoss <strong>in</strong> <strong>die</strong> Luft vor Freude.<br />
So sah es jedenfalls bei BBC aus; st<strong>und</strong>enlang, <strong>in</strong> jedem<br />
Nachrichtenblock wurde gefeiert <strong>und</strong> geschossen. E<strong>in</strong>e deutsche<br />
Kolleg<strong>in</strong> vor Ort fuhr mit dem Wagen durch Bagdad,<br />
suchte <strong>die</strong> Feiernden <strong>und</strong> fand so gut wie ke<strong>in</strong>e. Die BBC-<br />
Bilder zeigten nur <strong>die</strong> Reaktion e<strong>in</strong>es kle<strong>in</strong>en Segments der<br />
irakischen Gesellschaft.<br />
Oft s<strong>in</strong>d sich <strong>die</strong> Journalisten des Fram<strong>in</strong>g selbst gar<br />
nicht bewusst. Im Kreislauf der sich selbst bestätigenden<br />
Gebrauchswahrheiten s<strong>in</strong>d sie sowohl Treiber als auch Getriebene,<br />
Täter wie Opfer. Aufgr<strong>und</strong> der Umsatzgeschw<strong>in</strong>digkeit<br />
<strong>und</strong> des Umsatzvolumens von Nachrichten ist auch der<br />
Korrespondent vor Ort <strong>in</strong> großem Maße e<strong>in</strong> Me<strong>die</strong>nkonsument<br />
auf dem Gebiet, wo er oder sie eigentlich Produzent ist.<br />
50<br />
55<br />
60<br />
65<br />
70<br />
75<br />
80<br />
85<br />
[…]<br />
Von Bangkok aus <strong>die</strong> Geschehnisse <strong>in</strong> Afghanistan vermelden,<br />
von Delhi aus <strong>die</strong> Motive der Freischärler <strong>in</strong> den<br />
südlichen Philipp<strong>in</strong>en analysieren, das ist längst ke<strong>in</strong> Notbehelf<br />
mehr, sondern oftmals Alltag.<br />
Wenn <strong>in</strong>des an den Schauplätzen jener Krisen <strong>und</strong> Kriege,<br />
<strong>die</strong> als vorrangig gelten, tatsächlich H<strong>und</strong>erte oder Tausende<br />
Berichterstatter vor Ort s<strong>in</strong>d, geschieht etwas Erstaunliches:<br />
Die Konkurrenz führt <strong>in</strong> der Regel nicht zur Vielfalt, sondern<br />
im Gegenteil zur E<strong>in</strong>falt. Beim Kampf der vielen um <strong>die</strong> knappen<br />
Bildmotive <strong>und</strong> <strong>die</strong> kargen Informationen wird fram<strong>in</strong>g<br />
zum Überlebenspr<strong>in</strong>zip. […]<br />
Dank Internet <strong>und</strong> Satellitenfernsehen kann e<strong>in</strong><br />
schreibender Korrespondent, der <strong>in</strong> Jordanien sitzt, <strong>die</strong> Folgen<br />
e<strong>in</strong>es Erdbebens im Iran so farbig schildern, als wäre er<br />
dort. We<strong>in</strong>ende Angehörige <strong>und</strong> <strong>die</strong> Trümmer e<strong>in</strong>er Stadt<br />
lassen sich auch vom Fernsehschirm weg beschreiben. Nur:<br />
Es s<strong>in</strong>d Informationen aus zweiter Hand, Fram<strong>in</strong>g ist unvermeidbar.<br />
E<strong>in</strong>e englischsprachige <strong>in</strong>dische Zeitung zitiert <strong>in</strong><br />
ihrer Onl<strong>in</strong>e-Ausgabe e<strong>in</strong>en namenlosen Mann von der Straße<br />
zum Kaschmir-Konflikt; es ist e<strong>in</strong> Rikschafahrer aus Delhi,<br />
willkürlich herausgegriffen. B<strong>in</strong>nen St<strong>und</strong>en radelt unser<br />
Rikschafahrer durch <strong>die</strong> Weltpresse, nun das <strong>in</strong>dische Volksempf<strong>in</strong>den<br />
repräsentierend. Es ist <strong>in</strong> Mode gekommen, Berichten<br />
derart e<strong>in</strong>e Als-ob-Authentizität zu verleihen. Die<br />
Nähe zum Geschehen muss simuliert werden, das Erkennenlassen<br />
der realen Distanz wäre verdächtig. […]<br />
Was also gilt? Was wissen wir? E<strong>in</strong>e Mittelklasse-<br />
Gegend <strong>in</strong> den Philipp<strong>in</strong>en mag für unsere Augen aussehen<br />
wie e<strong>in</strong> Armutsviertel. Wir s<strong>in</strong>d Bl<strong>in</strong>de, sobald wir unseren<br />
vertrauten Kulturkreis verlassen, <strong>die</strong> Zone der uns vertrauten<br />
Zeichen. Simpler <strong>und</strong> zugleich schwerer als <strong>die</strong> Deutung<br />
e<strong>in</strong>es tibetanischen Rollbildes ist: Alltag entziffern. Zäune,<br />
Feldgröße, Straßenbreite <strong>in</strong>terpretieren. Dächer lesen. Was<br />
ist arm? <strong>Wie</strong> viele Kochtöpfe verraten sozialen Aufstieg? <strong>Wie</strong><br />
riecht gutes Leben im Schlechten? Die Maßstäbe dafür<br />
kommen nur offl<strong>in</strong>e <strong>in</strong> unsere Köpfe, durch beobachten,<br />
vergleichen. <strong>Wie</strong> viele unserer journalistischen Urteile entstehen<br />
aufgr<strong>und</strong> falscher Wahrnehmung, falscher Maßstäbe?<br />
[…] Wofür ich plä<strong>die</strong>re: den Rahmen weit machen, Entfernungen<br />
wieder anerkennen, Zweifel honorieren. Nichts ist so<br />
lächerlich wie der Glaube, durch unser Rähmchen würden<br />
wir <strong>die</strong> Welt erkennen.<br />
aus: Freitag 12 (12. März 2004), auf:<br />
www.freitag.de/2004/12/04120801.php, aufgerufen am 31.5.09<br />
Foto: E<strong>in</strong>ecke<br />
Deutschunterricht extra “Reflexion über <strong>Sprache</strong>”. 2009 (Günther E<strong>in</strong>ecke) westermann 31