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Leseprobe - J. B. Metzler Verlag

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1. „Das Unglück eines besiegten Volks“ – Einleitung<br />

Heinrich Heine in der Matratzengruft, seit dem Winter 1847/1848 ans Bett gefesselt, gelähmt,<br />

fast blind: Kontakt zur Außenwelt ist dem Dichter nur noch über Briefe und über Gespräche<br />

mit Ehefrau und Sekretär, mit Ärzten, Pflegerin und Besuchern möglich – und durch Lektüreerfahrungen,<br />

für die er zumeist auf Vorleser angewiesen ist. Wie der junge Heine aus seinen<br />

„großen Schmerzen […] die kleinen Lieder“ (DHA I, 167) gemacht hat, münzt auch der<br />

Heine der Matratzengruft sein Leiden in Literatur um – und entschädigt sich zugleich für die<br />

verwehrten Lebens- und Erlebensmöglichkeiten, indem er seiner Lyrik neue Räume erschließt:<br />

Die „Historien“ und die „Hebräischen Melodien“, erster und dritter Teil des „Romanzero“,<br />

der 1851 veröffentlichten dritten1 Lyriksammlung Heines und ersten Buchpublikation<br />

seit dem gesundheitlichen Zusammenbruch 18482 , entführen den Leser an geographisch<br />

und historisch weit entfernte Schauplätze, nach Siam, Mexiko und Jerusalem, ins Mittelalter,<br />

in biblische Zeiten und ins alte Ägypten. 3 In einem der „Gedichte. 1853 und 1854“ hat Heine<br />

den Schaffensprozeß im Angesicht des Todes reflektiert und eine Art Poetik der Matratzengruft<br />

geliefert. 4 Ob er überhaupt noch zu den Lebenden zählt und ob er noch ganz bei<br />

Verstand ist, scheint dem Sprecher in seiner Grenzsituation nicht sicher:<br />

Vielleicht bin ich gestorben längst;<br />

Es sind vielleicht nur Spukgestalten<br />

Die Phantasieen, die des Nachts<br />

Im Hirn den bunten Umzug halten.<br />

Es mögen wohl Gespenster seyn,<br />

Altheidnisch göttlichen Gelichters;<br />

Sie wählen gern zum Tummelplatz<br />

Den Schädel eines todten Dichters. –<br />

Die schaurig süßen Orgia,<br />

Das nächtlich tolle Geistertreiben,<br />

Sucht des Poeten Leichenhand<br />

Manchmal am Morgen aufzuschreiben. (DHA III, 199)<br />

Was der kranke Autor des Nachts zusammenphantasiert und des Tags teils diktiert, teils mit<br />

dem Bleistift auf große, querformatige Blätter kritzelt, hat Kompensationsfunktion: der<br />

Dichter in der Matratzengruft, die ganze Welt in seinem Kopf. Das erklärt die Fülle an<br />

exotischen Schauplätzen, grellen Bildern, bewegter Handlung, an Grausamkeit, Komik und<br />

Erotik, aber auch an imaginierten Ausflügen in Godesberger Weinschenken und Pariser<br />

Theater in der späten Lyrik Heines. Daß der neue Ton und die neuen Themen des<br />

„Romanzero“ etwas mit der Lebens- und Leidenssituation seines Autors zu tun haben müssen,<br />

war schon der zeitgenössischen Kritik klar. Bezogen auf denjenigen Text aus dem „Ro-<br />

1 Die Ende 1821 (mit der Jahreszahl 1822) erschienene und später in weiten Teilen im „Buch der Lieder“ aufgegangene<br />

Sammlung der „Gedichte“, Heines erste Buchpublikation, sei hier außen vor gelassen.<br />

2 Von 1848 bis zur Veröffentlichung des „Romanzero“ im Herbst 1851 erschienen nur neue Auflagen dreier<br />

„Reisebilder“-Bände, des ersten „Salon“-Bandes und des „Buchs der Lieder“ sowie eine Titelauflage der „Tragödien<br />

nebst einem lyrischen Intermezzo“.<br />

3 In den „Florentinischen Nächten“ scheint der Erzähler Maximilian die raum- und zeitübergreifende Vielfalt des<br />

„Romanzero“ vorwegnehmend zu beschreiben: „Manchmal, wenn ich mir in einem großen Salon die Menschen<br />

betrachtete, die sich dort friedlich versammelt, glaubte ich mich in jenen Raritätenboutiquen zu befinden, wo die<br />

Reliquien aller Zeiten kunterbunt neben einander ruhen: ein griechischer Apollo neben einer chinesischen Pagode,<br />

ein mexikanischer Vitzliputzli neben einem gothischen Ecce-homo, egyptische Götzen mit Hundköpfchen,<br />

heilige Fratzen von Holz, von Elfenbein, von Metall u.s.w.“ (DHA V, 236)<br />

4 Vgl. Arnold Pistiak, „… die selbstbewußte Freyheit des Geistes“, S. 228: „Wir dürfen das Gedicht deshalb<br />

wohl als eine poetische Äußerung über wesentliche Umstände des eigenen Spätschaffens ansehen.“<br />

11


manzero“, von dem im folgenden die Rede sein wird, bemerkt Robert Prutz in einer der ersten<br />

Rezensionen des Gedichtbands:<br />

Das lange, bandwurmartige Gedicht von Vitzliputzli ist das lendenlahmste, prosaischste<br />

Gereimsel, das uns seit Langem vorgekommen; wir begreifen, wie man sich mit dergleichen<br />

Reimereien die Langeweile des Krankenbettes zu vertreiben sucht: aber wie man einen<br />

hochgeachteten, einen klassischen Namen haben, und dabei dergleichen Zeug kann<br />

drucken lassen, das begreifen wir nicht. 5<br />

Grundton des „Romanzero“ sei, so die communis opinio der Heine-Forschung, ein tiefer Pessimismus,<br />

der sich aus Heines doppelter Erfahrung des Scheiterns der Revolution von 1848<br />

und des eigenen körperlichen Zusammenbruchs zu Beginn des Revolutionsjahres speise.<br />

„Sieben Jahre nach dem Wintermärchen, das ‚Ein neues Lied, ein besseres Lied‘ versprach,<br />

stimmt der Romanzero das Lied vom Schlechten an“, schreibt Gerhard Höhn. 6 Auf den<br />

Zusammenhang, den der späte Heine zwischen persönlichem Leid und gesellschaftlicher<br />

Stagnation herstellt, weist Georg Lukács hin:<br />

Die Verzweiflung Heines, die in seiner letzten Gedichtsammlung, im „Romanzero“, so<br />

ergreifende Töne findet, ist also keine Privatverzweiflung über ein persönliches Schicksal<br />

oder zumindest nicht nur eine private Verzweiflung. Es ist die Verzweiflung über den<br />

Weltlauf, über die Menschheitsentwicklung, über das Schicksal der Vernunft und der Gerechtigkeit,<br />

über das Schicksal der Revolution. Das Grundmotiv fast aller Romanzen und<br />

Historien des „Romanzero“ ist die Trauer darüber, daß in dieser Wirklichkeit stets und<br />

überall das Schlechte über das Gute triumphiert [...]. 7<br />

Heine selbst hat im Nachwort zum „Romanzero“ die symbolische Inszenierung seines körperlichen<br />

Zusammenbruchs vor der Venus-Statue im Louvre in den Mai des Revolutionsjahres<br />

1848 gelegt8 , und auch in zumindest nicht unmittelbar für die Öffentlichkeit bestimmten<br />

Äußerungen betont er die Koinzidenz von Krankheit und politischer Desillusionierung. An<br />

Julius Campe schreibt er am 28. Januar 1852: „In demselben Maße wie die Revolution Rückschritte<br />

macht, macht meine Krankheit die ernstlichsten Fortschritte“ (HSA XXIII, 175), und<br />

gegenüber Ludwig Kalisch äußert er Anfang 1850:<br />

Ich bin nicht Nazarener geworden [, ...] aber das Griechenthum, so schön und heiter es<br />

auch ist, genügt mir nicht mehr, seitdem ich selbst nicht mehr schön und heiter bin. Ich<br />

bin in Passy gelegen, als meine böse Krankheit anfing. Während ich mich krampfhaft auf<br />

dem Lager wälzte, wurde draußen der entsetzliche Junikampf gekämpft. Der Kanonendonner<br />

zerriß mein Ohr. Ich hörte das Geschrei der Sterbenden; ich sah den Tod mit seiner<br />

unbarmherzigen Sense die Pariser Jugend hinmähen. 9<br />

Mit dieser Absage an das „Griechenthum“ scheint Heine sich von der sensualistischen Utopie10<br />

früherer Jahre abzuwenden, Abschluß einer Entwicklung, die bereits Mitte der 1840er<br />

5 Deutsches Museum. Zeitschrift für Literatur, Kunst und öffentliches Leben. Leipzig. 1851. Okt.-Dez., S. 785-<br />

790. Zitiert nach: Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Bd. 10, S. 558-565, hier: S. 562 f.<br />

6 Gerhard Höhn, Heine-Handbuch, S. 142.<br />

7 Georg Lukács, Heinrich Heine als nationaler Dichter, S. 306.<br />

8 Vgl. DHA III, 181. – Mit dem Zusammentritt des Paulskirchenparlaments in Frankfurt und der Preußischen<br />

Nationalversammlung in Berlin sowie mit der zweiten Revolutionswelle in Wien ließ der Mai 1848 noch Hoffnungen<br />

auf einen Erfolg der demokratischen Bewegungen zu – während der Juni in Prag und Paris zeigte, mit<br />

welcher Brutalität die Vertreter der alten Ordnung ihre Herrschaft zu bewahren wußten.<br />

9 Begegnungen mit Heine, Bd. 2, S. 155.<br />

10 Wenn von Heines Sensualismus gesprochen wird, so im Sinne seiner eigenen Definition in der Schrift „Zur<br />

Geschichte der Religion und Philosophie in Deutschland“: „Ich habe mich oben vielleicht schon mehrmals der<br />

Worte Spiritualismus und Sensualismus bedient; diese Worte beziehen sich aber hier nicht, wie bey den französischen<br />

Philosophen, auf die zwey verschiedenen Quellen unserer Erkenntnisse, ich gebrauche sie vielmehr, wie<br />

schon aus dem Sinne meiner Rede immer von selber hervorgeht, zur Bezeichnung jener beiden verschiedenen<br />

Denkweisen, wovon die eine den Geist dadurch verherrlichen will, daß sie die Materie zu zerstören strebt, während<br />

die andere die natürlichen Rechte der Materie gegen die Ursurpazionen des Geistes zu vindiziren sucht.“<br />

12


Jahre einsetzt und sich exemplarisch am (nicht zufällig auf den Karfreitag 1847 datierten)<br />

Vorwort zu Alexander Weills Novellen ablesen läßt. 11 Wie oft bei Heine transportiert der<br />

Gelegenheitstext zentrale poetologische wie ideologische Selbstaussagen, die in diesem Fall<br />

einen Schlüssel zum Verständnis des Spätwerks und auch des „Vitzliputzli“ bieten. Im Weill-<br />

Vorwort wird die Hoffnung auf das emanzipatorische Potential der Sinnlichkeit durch das<br />

Eingedenken an den leidenden Leib, auf den die Karfreitagsdatierung und der Rekurs auf das<br />

„schauerliche[ ] Leichenmahl“ (DHA X, 285) der christlichen Eucharistie verweisen, mit der<br />

Erfahrung persönlichen wie kollektiven, geschichtlichen Leidens verknüpft. Das ist kein Verzicht<br />

auf die Utopie, die 1844 das „Wintermährchen“ ungebrochen als „Ein neues Lied, ein<br />

besseres Lied“ (DHA IV, 92) verkündet hatte, wohl aber der Verlust der Fortschrittsgewißheit.<br />

Wie Heine nach 1848 die eigene Lähmung und den politischen Stillstand im Nachmärz verknüpft,<br />

erhebt er im Weill-Vorwort das Individuelle zum Signum des Allgemeinen und bindet<br />

das Politisch-Historische an das Konkretum des menschlichen Leibes. Nicht Heines kranker<br />

Leib, sondern der leidende menschliche Körper schlechthin wird zum Zeichen für das gesellschaftliche<br />

Unrecht und Leid. Im Gestus der Stellvertretung inszeniert sich Heine als gemarterter<br />

Christus12 , der sich im Vorwort zu Weills Novellen als Schriftsteller (Heine meint den<br />

von ihm mal als Afterpoet gescholtenen, mal als „Sohn der Bewegung“ [DHA X, 284] gelobten<br />

Alexander Weill, vor allem aber sich selbst) in der düsteren Gegenwart für das Paradies<br />

der Zukunft opfert:<br />

Ja, solche Menschen sind nicht allein die Träger einer Idee, sondern sie werden selbst davon<br />

getragen, und zwar als gezwungene Reiter ohne Sattel und Zügel: sie sind gleichsam<br />

mit ihrem nackten Leibe festgebunden an die Idee, wie Mazeppa an seinem wilden Rosse<br />

auf den bekannten Bildern des Horaz Vernet – sie werden davon fortgeschleift, durch alle<br />

fürchterliche Consequenzen, durch alle Steppen und Einöden, über Stock und Stein – das<br />

Dornengestrüppe zerfleischt ihre Glieder – die Waldesbestien schnappen nach ihnen im<br />

Vorüberjagen – ihre Wunden bluten – Wo werden sie zuletzt anlangen? Unter donischen<br />

Kosacken, wie auf dem Vernetschen Bilde? Oder an dem Goldgitter der glückseligen<br />

Gärten, wo da wandeln jene Götter ....(DHA X, 284)<br />

Hinter dem Bild des auf sein Pferd gebundenen Kosakenführers Mazeppa13 , das Heine als Allegorie<br />

des engagierten Schriftstellers einführt, verbirgt sich das des gekreuzigten Christus:<br />

„mit ihrem nackten Leibe festgebunden“ sind Heine, Weill und ihre Gesinnungs- und Lei-<br />

(DHA VIII, 29) – Heines sensualistische Utopie wäre dann jene Vision einer im Sinnlichen befriedeten Gesellschaft,<br />

wie sie, als eine „freudige Götterversammlung“ (DHA X, 284 f.), das Weill-Vorwort oder, als diesseitiges<br />

Paradies voller „Zuckererbsen für Jedermann“ (DHA IV, 92), das Eingangscaput von „Deutschland. Ein Wintermährchen“<br />

beschwören. – Eine umfassende Analyse der Heineschen Sensualismuskonzeption als Religion,<br />

politische Position, anthropologische Kategorie und ästhetische Haltung bietet Olaf Hildebrand, Emanzipation<br />

und Versöhnung, S. 217-321.<br />

11 Vgl. Lothar Schneider, Der Dichter als Daguerreotyp, S. 51-53.<br />

12 Diese Rolle hatte der Autor sein Text-Ich bereits in „Ideen. Das Buch Le Grand“ einnehmen lassen, wenn der<br />

Lyzeumsschüler Harry Heine zum Kruzifix im aufgehobenen Franziskanerkloster betet: „O du armer, ebenfalls<br />

gequälter Gott“ (DHA VI, 188). In „Deutschland. Ein Wintermärchen“ motiviert sie das Zwiegespräch des Reisenden<br />

mit dem Korpus an einem Wegkreuz bei Paderborn:<br />

Mit Wehmuth erfüllt mich jedesmahl<br />

Dein Anblick, mein armer Vetter,<br />

Der du die Welt erlösen gewollt,<br />

Du Narr, du Menschheitsretter! (DHA IV, 118)<br />

Zu Heines Christus-Identifikation vgl. Beate Wirth-Ortmann, Heines Jesusbilder, S. 339 f., und Karl-Josef<br />

Kuschel, „Vielleicht hält Gott sich einige Dichter...“, S. 53 f.<br />

13 Zum Mazeppa-Sujet vgl. Lothar Schneider, Der Dichter als Daguerreotyp, S. 45-49. – Nach DHA XIII, 1556,<br />

hat Heine bei einem Konzert am 27. März 1841 Friedrich Liszt seine „Mazeppa“-Etüde spielen hören. Der aus<br />

Heines Artikel für die „Allgemeine Zeitung“ vom 29. April 1841 ausgeschiedene Vergleich von Liszt und Byron<br />

(vgl. DHA XIII, 337) könnte durch beider Arbeit mit dem „Mazeppa“-Stoff angeregt sein.<br />

13


densgenossen nicht an den Rücken eines Pferdes, sondern ans Kreuz, die Details des Ritts<br />

durch die Steppe sind die der Passion, „das Dornengestrüppe zerfleischt ihre Glieder“, und<br />

„ihre Wunden bluten“ (DHA X, 284). Christus aber ersteht (wie der Lazarus des Johannes-<br />

Evangeliums14) leiblich vom Tode: Auch dem geschundenen Leib bleibt die Hoffnung auf ein<br />

besseres Dasein, stellvertretend übernimmt der Autor Heine und übernehmen seine literarischen<br />

Selbstentwürfe die Rolle des Leidenden und halten damit zugleich weiterhin am Heilsversprechen<br />

einer befreiten Sinnlichkeit15 fest, an der „Messiade des Fleisches“ 16, wie Nikolaus<br />

Lenau ihre literarischen Manifestationen in einem Brief an Hans Lassen Martensen ablehnend<br />

nennt. Im Gestus der Stellvertretung behauptet sich die sensualistische Utopie: Nicht<br />

darauf, daß Heine seine Krankheit als Signum der politischen Misere versteht, liegt der Akzent,<br />

sondern darauf, und das wurde in der Heine-Forschung bisher zuwenig gesehen, daß es<br />

überhaupt der menschliche Leib ist, dem Unrecht geschieht.<br />

Als ausschließlich pessimistisch und jede Hoffnung auf geschichtlichen Fortschritt<br />

verneinend wird man Heines späte Schriften und damit auch die Gedichte des „Romanzero“<br />

angesichts des im Insistieren auf der Leiblichkeit aufgehobenen sinnlichen Potentials nicht<br />

auffassen dürfen. Hartmut Steinecke schlägt den vorsichtigeren Begriff eines „growing skepticism<br />

toward faith in progress“ 17 vor, um die Geschichtsauffassung in den historischen Gedichten<br />

des späten Heine zu charakterisieren.<br />

Inwieweit für den „Vitzliputzli“, der immer wieder als Beleg für Heines Pessimismus angesichts<br />

eines blutigen Geschichtsverlaufs herangezogen wird18 , gilt, daß in der Präsenz der<br />

Sinne und des Körpers im Text weiterhin ein Konzept emanzipatorischer Sinnlichkeit und,<br />

wenn auch gebrochener, utopischer Hoffnung erhalten bleibt, wird im folgenden zu zeigen<br />

sein. Auch der Heine der Matratzengruft läßt sein Text-Ich nach wie vor als „des Lebens treuste[n]<br />

Sohn“ (DHA III, 58) auftreten, um selbst im Blutrausch der historischen Wirklichkeit<br />

einen Vorschein möglichen irdischen Glücks und eine Alternative wenigstens jenseits der<br />

Geschichte zu bewahren.<br />

Als der „Romanzero“ im Oktober 1851 ausgeliefert wurde, reagierte die Kritik zwiespältig<br />

auf Heines neue Gedichtsammlung. 19 Die zeitgenössische Kritik hielt dem Autor nach wie vor<br />

Sensualismus und Obszönität vor:<br />

Wir finden noch dieselbe graziöse Frivolität, dieselbe süß vergiftete Sinnlichkeit, dieselbe<br />

Satyre und Grobheit in despectirlichen Saft- und Kraftausdrücken, die uns oft aus dem<br />

holden sentimentalen Traume der Poesie mit der Harlekinpritsche aufweckt und den heiligsten<br />

Ernst mit diabolischem Gelächter erstickt. Ja es ist sogar diese Heine’sche Eigenthümlichkeit,<br />

welche oft durch den unnachahmlichsten Humor versöhnt und für zer-<br />

14 Zu Heines Lazarus-Identifikation vgl. Joseph A. Kruse, Heinrich Heine – Der Lazarus, und René Anglade,<br />

Heines zweifache Kontrafaktur.<br />

15 Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Olaf Hildebrand, Emanzipation und Versöhnung, S. 323, ausgehend<br />

von Heines 1849 in der „Allgemeinen Zeitung“ veröffentlichten „Berichtigung“ kursierender Gerüchte über<br />

seinen Gesundheitszustand (vgl. DHA XV, 112 f.): „Die Tatsache, daß Heine den Bruch mit dem Hellenentum<br />

auf eine physische Ursache – die ‚Krämpfe in der Wirbelsäule‘ – zurückführt, belegt an sich schon die Kontinuität<br />

des sinnlich-somatischen Argumentationsmusters.“<br />

16 Nikolaus Lenau, Brief an Hans Lassen Martensen vom 24. April 1838. In: Nikolaus Lenau, Sämtliche Werke<br />

und Briefe in sechs Bänden. Bd. 4, S. 274-276, hier: S. 275.<br />

17 Hartmut Steinecke, „The Lost Cosmopolite“, S. 151.<br />

18 So z.B. Helene Herrmann, für die der „Vitzliputzli“ Ausdruck ist eines „Pessimismus, der ethisch wertet,<br />

Verdienst und Schicksal abwägt“ (Helene Herrmann, Studien zu Heines Romanzero, S. 20). John Carson Pettey<br />

bezieht den Pessimismus des „Vitzliputzli“ vor allem auf Heines Haltung zur Religion: „an aggressive pessimism<br />

still dominated much of his thoughts on institutionalized religion [...]. Indeed, his ‚Vitzliputzli‘ could then<br />

serve as a historical counterpart to ‚Disputation‘, which [...] underscores his cynical view of religious disputes.“<br />

(John Carson Pettey, Anticolonialism in Heine’s „Vitzliputzli“, S. 44)<br />

19 Einen Überblick bietet Alberto Destro, Öffentlich und privat. – Gesammelt liegen die Rezensionen vor in:<br />

Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Bd. 10 und 11.<br />

14


störte Stimmungen entschädigt, mehr als sonst zur Manier geworden, und die höhere<br />

poetische Seelenweihe des Dichters hat sich nicht geläutert. 20<br />

Neben der „Disputazion“ aus den „Hebräischen Melodien“ war es vor allem der „Vitzliputzli“,<br />

der von der Kritik als anstößig empfunden wurde und dessen Parallelisierung von<br />

heidnischem Menschenopfer und christlicher Eucharistie einen wesentlichen Anlaß für das<br />

Verbot des „Romanzero“ in Preußen gab. 21 Der „Vitzliputzli“ mit seiner harschen Religionskritik<br />

ließ die Rezensenten ratlos nach metaphorischen Umschreibungen für Heines kritischen<br />

Impetus suchen22 , und offenbar blieb dieser Text ein Stein des Anstoßes. So nimmt Friederike<br />

Kempner in einem ihrer beiden Heine gewidmeten Gedichte den aufs Biedermeierliche<br />

reduzierten Dichter gegen jene Teile seines Werks in Schutz, die nicht in ihr harmloses, für<br />

die bürgerliche Heine-Rezeption in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts symptomatisches<br />

Bild vom romantischen Liedersänger passen:<br />

Singe in des Himmels Sphäre!<br />

Alle Engel stimmen ein,<br />

Witzli Putzli sei vergeben –<br />

Alle Poesie ist rein! 23<br />

Heines „Vitzliputzli“ nimmt eine Episode aus der Geschichte der Eroberung Lateinamerikas24 zum Ausgangspunkt: Die spanischen Eroberer unter Fernando Cortez25 bringen in Mexiko<br />

den Aztekenherrscher Montezuma in ihre Gewalt und sehen sich nach dessen Tod dem Zorn<br />

der aztekischen Bevölkerung ausgesetzt. Bei dem blutigen Ausbruchsversuch der Spanier aus<br />

der Stadt Mexiko gerät ein Teil von ihnen in aztekische Gefangenschaft und wird, in Sichtweite<br />

der Entronnenen, dem aztekischen Kriegsgott Vitzliputzli geopfert. Heine hatte sich<br />

schon in den 1820er Jahren mit altamerikanischer Geschichte und besonders mit dem Untergang<br />

des Aztekenreiches beschäftigt, und für den Entstehenszeitraum des „Vitzliputzli“ wird<br />

man eine neuerliche Lektüre historischer Werke und literarischer Bearbeitungen annehmen<br />

können. Eine frühe Anregung gab William Bullocks Reisebericht, aus dem er im „Nordsee“-<br />

Reisebild die Episode von der ungebrochenen Verehrung der heidnischen Götter durch die<br />

mexikanische Bevölkerung wiedergibt. 26 Aus Alexander von Humboldts Veröffentlichungen,<br />

der sein vierundreißigbändiges Reisewerk zwischen 1805 und 1839 drucken ließ27 , oder aus<br />

Gesprächen mit dem Naturforscher, den er in Berlin und Paris gelegentlich getroffen hatte,<br />

könnten weitere Anregungen stammen, sich mit der Eroberung von Mexiko zu beschäftigen.<br />

Humboldt selbst betont in seinem „Versuch über den politischen Zustand des Königreichs<br />

Neu-Spanien“:<br />

Ich bin überzeugt, daß eine ausführliche Beschreibung der Sitten, des Karakters, des physischen<br />

und intellectuellen Zustands der Ureinwohner von Mexico, die die spanischen<br />

20 Otto Alexander Banck im „Dresdener Journal“, Nr. 285 vom 31. Oktober 1851. Zitiert nach: Heinrich Heines<br />

Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Bd. 10, S. 595-600, hier: S. 596 f.<br />

21 So wenigstens vermutet Richard Georg Spiller von Hauenschild in einem Brief an Heines Verleger Campe.<br />

(Vgl. DHA III, 704.)<br />

22 Rudolf Gottschall etwa schreibt im „Freischütz“, Nr. 134 vom 8. November 1851, im „Vitzliputzli“ „fliegt der<br />

Humor Heine’s aus, wie eine Fledermaus, um die theologischen Perücken in Unordnung zu bringen.“ (Heinrich<br />

Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Bd. 10, S. 648-650, hier: S. 648).<br />

23 Friederike Kempner, Heinrich Heine (letzte Strophe). – Vgl. Christian Höpfner, „Jener Lieder süße Worte“.<br />

Friederike Kempners Heine-Gedichte.<br />

24 Einen knappen Überblick über die Eroberung Mexikos gibt, auf der Grundlage seiner umfassenden Studie<br />

(Hugh Thomas, Die Eroberung Mexikos), Hugh Thomas, Die Conquista, vor allem S. 75-78.<br />

25 Für die literarische Figur im „Vitzliputzli“ wird Heines Schreibweise „Fernando Cortez“ verwendet, für die<br />

historische Person „Hernán Cortés“. Auch die Namen des Kolumbus und des Vitzliputzli/Huitzilopochtli werden<br />

jeweils wiedergegeben wie in den Quellen, von denen die Rede ist.<br />

26 Vgl. DHA VI, 160 f., und Kapitel 2.3. Schöne neue Welt.<br />

27 Vgl. Frank Holl, Alexander von Humboldt – „Geschichtsschreiber der Kolonien“, S. 10.<br />

15


Gesetze mit dem Namen, Indianer, bezeichnen, viel Anziehendes für den Leser haben<br />

würde. Das allgemeine Interesse, welches man in Europa für diese Reste der primitiven<br />

Bevölkerung des neuen Continents hegt, stammt aus einem moralischen, die Menschheit<br />

ehrenden, Grunde; in dem die Geschichte der Eroberung von America [...] das Gemälde<br />

eines völlig ungleichen Streits zwischen Völkern auf der einen Seite darstellt, die in den<br />

Künsten schon sehr weit fortgeschritten waren, und zwischen Völkern auf der andern, die<br />

sich noch auf der ersten Stufe der Civilisation befanden. [...] denn so groß ist das Interesse,<br />

welches das Unglück eines besiegten Volks einflößt, daß es oft sogar gegen die Abkömmlinge<br />

seiner Sieger ungerecht macht. 28<br />

Eines der zentralen Themen des „Vitzliputzli“, der Konflikt der Kulturen und die Frage nach<br />

Siegern und Besiegten, ist hier bereits formuliert. Ob Heine 1827 in London die aztekischen<br />

Skulpturen aus Bullocks Sammlung im British Museum gesehen hat, läßt sich nicht belegen,<br />

aber in einem 1836 in Paris veröffentlichten Buch hätte er zumindest Abbildungen jener von<br />

Bullock ausgegrabenen Statue der Göttin Coatlicu entdecken können, deren Verehrung durch<br />

die Mexikaner er im „Nordsee“-Reisebild beschreibt. 29 Zudem befanden sich in Paris zwei<br />

der bedeutendsten aztekischen Bilderhandschriften, der Codex Borbonicus30 und der Codex<br />

Telleriano-Remensis. 31 Als häufiger Bibliotheksnutzer mit einer Vorliebe für illuminierte<br />

Handschriften32 könnte Heine sich auch die fremdartigen Manuskripte dieser ihn<br />

interessierenden Kultur angesehen haben. In der Literatur seines Gastlandes Frankreich gab es<br />

zudem seit 1840 zahlreiche (vor allem Abenteuer-) Romane, die Stoffe aus Mexikos<br />

Geschichte und Gegenwart verarbeiten; Sylvain Venayre führt dieses Interesse auf die<br />

Bedeutung Mexikos als französisches Auswanderungsland zurück. 33 Auch wenn Heine mit<br />

seinem Kurzepos vom Konflikt der Kulturen und Religionen ganz andere Wege beschreitet<br />

als die französische Trivialliteratur der Zeit, könnte hier zumindest eine weitere Wurzel seines<br />

Interesses am Thema liegen.<br />

Wesentliche Parallelen zu Heines Gedicht finden sich in zeitgenössischen Darstellungen der<br />

Eroberung Mexikos. 34 Neben historischen Werken sind vor allem die 1845 in der „Revue des<br />

28 Alexander von Humboldt, Versuch über den politischen Zustand des Königreichs Neu-Spanien, Bd. 1, S. 114.<br />

29 Es handelt sich um Carl Nebels „Voyage pittoresque et archéologique dans la partie la plus intéressante du<br />

Mexique“. Vgl. Azteken (Ausstellungskatalog Berlin – Bonn 2003/2004), S. 20 und S. 508.<br />

30 Vgl. Hugh Thomas, Die Eroberung Mexikos, S. 868.<br />

31 Vgl. Azteken (Ausstellungskatalog Berlin – Bonn 2003/2004), S. 490.<br />

32 Im vierten Buch der Börne-Denkschrift behauptet Heine, sein erster Gang in Paris habe ihn in die Bibliothek<br />

geführt: „daß ich nemlich gleich bey meiner Ankunft nach der Bibliotheque-royale gegangen und mir vom Aufseher<br />

der Manuskripte den Manessischen Codex der Minnesänger hervorholen ließ.“ (DHA XI, 92) – Fritz<br />

Mende, Heinrich Heine. Chronik seines Lebens und Werkes, S. 90, datiert den sonst nicht bezeugten Besuch auf<br />

den 21. Mai 1831.<br />

33 Vgl. Sylvain Venayre, Le moment mexicain dans l’histoire française de l’aventure (1840-1860), S. 130-132.<br />

Der Aufsatz bietet einen Überblick über die einschlägigen Romane, von denen zumindest der Cortez-Roman von<br />

Henri Lebrun (zuerst 1839) als Quelle des „Vitzliputzli“ infrage kommt.<br />

34 Vgl. den Kommentar von Jonas Fränkel in W III, 474 f., und den von Alberto Destro in DHA III, 677-720.<br />

Letzterer bietet Auszüge aus einer zeitgenössischen Übertragung des Berichts des Conquistadors Bernal Diaz del<br />

Castillo und aus William H. Prescotts „Geschichte der Eroberung von Mexico“, deren deutsche Übersetzung<br />

1845 erschien. (Vgl. DHA III, 684-701.) Vermutlich wird Heine auch Schriften des Kolonialismuskritikers Bartolomé<br />

de Las Casas gekannt haben. Susanne Zantop verweist darauf, daß die Höhepunkte der europäischen<br />

Rezeption von Las Casas während der französischen Aufklärung und während der lateinamerikanischen Unabhängigkeitskämpfe<br />

im 19. Jahrhundert lagen. „Im deutschen Kontext [...] liegen die Akzente allerdings anders“,<br />

schreibt Zantop, doch für den in Paris lebenden Heine ist sicher auch der französische Rezeptionsstrang von<br />

Bedeutung. (Vgl. Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland [1770-1870], S. 40,<br />

Anm. 20, Zitat ebd.) Daß Las Casas’ ungedruckte Schriften in „Fachkreisen“ durchaus bekannt waren und rezipiert<br />

wurden, betont Mariano Delgado. (Vgl. seine Einleitung zu Bartolomé de Las Casas, Kurze apologetische<br />

Geschichte, S. 339.) Aufgrund der Stelle aus der „Romantischen Schule“, die von den auf Menschen abgerichteten<br />

Bluthunden der Spanier auf Kuba spricht (vgl. DHA VIII, 189), vermutet auch Alberto Destro im Kommen-<br />

16


deux Mondes“ abgedruckten Aufsätze des mit Heine befreundeten 35 Michel Chevalier, „De la<br />

civilisation Mexicaine avant Fernand Cortez“ und „La conquête du Mexique par Fernand<br />

Cortez“, für den „Vitzliputzli“ bedeutend. 36 Die „Revue des deux Mondes“ bietet auch selbst<br />

ein Motiv für die kritische Spiegelung der Alten in der Neuen Welt, die Heines „Vitzliputzli“<br />

vollzieht: Seit der „Harzreise“-Übertragung durch Loève-Veimar, die dort im Juni 1832 erschien,<br />

ist die „Revue“ für Heine eines der wichtigsten Publikationsmedien in Frankreich. 37<br />

Den Anspruch für beide Welten, Alte und Neue, zuständig zu sein, führt die „Revue des deux<br />

Mondes“ programmatisch im Titel, seit 1830 sogar mit dem Untertitel „Journal des voyages“.<br />

38 Eine Gruppe von sieben Gedichten aus dem „Romanzero“, darunter der den<br />

Zusammenprall der „deux Mondes“ thematisierende „Vitzliputzli“, erschien parallel zur<br />

deutschen Buchausgabe am 15. Oktober 1851 in der Übersetzung von Saint-René Taillandier<br />

in der „Revue“. 39 Und nicht nur Chevaliers Cortez-Aufsätze und Heines „Vitzliputzli“ wurden<br />

in diesem Zeitraum in der „Revue des deux Mondes“ publiziert, sondern, wie Jochen Heymann<br />

herausgestellt hat, eine Vielzahl von politischen, historischen, geographischen und<br />

literarischen Beiträgen zu Lateinamerika, in den 1840er Jahren mit einem Schwerpunkt auf<br />

Mexiko. 40<br />

Eine Passage in der Vorrede von William H. Prescotts „Geschichte der Eroberung von Mexico“,<br />

einem Werk, das sich, 1845 in deutscher Übersetzung erschienen, als mögliche Quelle<br />

Heines empfiehlt 41 , kann erklären, was Heine daran gereizt haben wird, ausgehend von den<br />

tar der DHA, daß Heine Las Casas’ kritische Berichte (zumindest aus zweiter Hand) kannte. (Vgl. DHA III,<br />

701.)<br />

35 In einem Empfehlungsschreiben an Gustav Kolb, den Redakteur der Augsburger „Allgemeinen Zeitung“,<br />

schreibt Heine am 1. August 1840: „Der Ueberbringer dieser Zeilen ist Michel Chevallier, ein Name der ihm<br />

schon hinlänglich zur Empfehlung dienen könnte. Ich will also kein preisendes Wort hinzufügen und nur bemerken,<br />

daß Michel Chevallier seit fast zehn Jahren einer meiner geliebtesten Freunde ist.“ (HSA XXI, 372) Mit<br />

dem Saint-Simonisten Chevalier stand Heine seit Beginn seiner Pariser Zeit in Kontakt, Chevalier hat u.a. im<br />

„Globe“ die Schrift „Kahldorf über den Adel“ und im „Courrier français“ „De la France“ rezensiert. (Vgl. Fritz<br />

Mende, Heinrich Heine. Chronik seines Lebens und Werks, S. 94 und S. 112.)<br />

36 Auf Parallelen zu Chevalier hat zuerst Helene Herrmann, Studien zu Heines Romanzero, S. 15-17, hingewiesen.<br />

– Daß Heine die Aufsätze Chevaliers kannte, kann als sicher angenommen werden. Der erste der beiden<br />

Texte eröffnet das Heft 6 im neunten Band (1845) der „Nouvelle Série“ der „Revue des deux Mondes“, das für<br />

Heine auch aufgrund anderer Artikel interessant war: Auf Chevalier folgt ein Aufsatz „Le Christianisme et la<br />

Philosophie“ und, weiter hinten, ein Beitrag von Henri Blaze de Bury, der im Inhaltsverzeichnis fälschlicherweise<br />

„Henri Heine“ zugeschrieben wird. Da im ersten Heft des neunten Bandes (der die Hefte des ersten Quartals<br />

1845 sammelt) auch noch eine ausführliche Besprechung von Heines „Neuen Gedichten“ durch Saint-René<br />

Taillandier enthalten ist, scheint es nahezu ausgeschlossen, daß Heine den Band nicht eingesehen und den Beitrag<br />

Chevaliers registriert hat.<br />

37 Während Heine auf dem französischen Buchmarkt mit den bei Renduel verlegten Bänden nur mäßig erfolgreich<br />

war (vgl. Jan-Christoph Hauschild und Michael Werner, „Der Zweck des Lebens ist das Leben selbst“, S.<br />

293 f.), erreichte er mit der „Revue“ ein relativ breites Publikum. „De l’Allemagne depuis Luther“ erschien dort<br />

1834, der „Atta Troll“ 1847, zudem wichtige Texte des Spätwerks: „Méphistophéla et la légende de Faust“ 1852,<br />

„Les dieux en exil“ 1853 und schließlich 1854 die französische Version der „Geständnisse“, „Les aveux d’un<br />

poète“.<br />

38 Vgl. DHA VI, 684.<br />

39 Vgl. DHA III, 1006 und 1020.<br />

40 Vgl. Jochen Heymann, Amerika für Jedermann: Reiseberichte über Lateinamerika in der Revue des Deux<br />

Mondes (1830-1876). – Der Studie lassen sich aus den Registerbänden der Zeitschrift erschlossene Zahlen entnehmen<br />

(vgl. ebd., S. 361), zudem erfährt man, daß Michel Chevalier neben seinen beiden Aufsätzen über die<br />

aztekische Kultur und die Conquista ein Jahr später einen hundertseitigen Essay über die Gold- und Silberminen<br />

Mexikos in der „Revue“ veröffentlicht hat. (Vgl. ebd., S. 366.)<br />

41 Vgl. DHA III, 692-701. – Wenn im folgenden aus Prescotts Werk zitiert wird, dann stets Passagen, die der<br />

Kommentar der DHA nicht berücksichtigt. Alberto Destro will sich dort im Anschluß an Helene Herrmann,<br />

Studien zu Heines Romanzero, S. 17 f., nicht festlegen, ob gerade Prescott Heines Quelle gewesen sei, doch<br />

sprechen zahlreiche Indizien dafür, daß Heine sich tatsächlich (unter anderem) auf Prescott gestützt hat.<br />

17


Lektüreeindrücken von Michel Chevaliers Aufsätzen seine eigene Version von der Begegnung<br />

der Kulturen und Religionen zu schaffen:<br />

Unter allem, was die Spanier im sechzehnten Jahrhundert Merkwürdiges vollbrachten,<br />

spricht die Einbildungskraft nichts so lebhaft an, als die Eroberung von Mexico. Der Umsturz<br />

eines großen Reiches durch eine Handvoll Abenteurer, betrachtet mit Allem, was er<br />

Fremdartiges und malerisch Schönes bietet, hat mehr das Ansehen eines Romans als<br />

nüchterner Geschichte, und es ist keine leichte Aufgabe, einen solchen Gegenstand nach<br />

den strengen Regeln geschichtlicher Prüfkunst zu behandeln. 42<br />

Anders als Prescott hat sich Heine des Stoffes nicht „nach den strengen Regeln geschichtlicher<br />

Prüfkunst“ bemächtigt. Ihn haben daran mehr das Fremdartige und das Malerische als<br />

das Schöne angezogen; kein Wunder, daß Karl Rosenkranz den „Vitzliputzli“ als Exemplum<br />

in seiner „Ästhetik des Häßlichen“ heranziehen konnte. 43 Wichtiger als die historischen Quellen<br />

Heines sind ohnehin die literarischen Bezugstexte des „Vitzliputzli“.<br />

Wenn die vielen historischen und literarischen Auseinandersetzungen mit der Conquista auch<br />

immer wieder auf dieselben Quellentexte zurückgreifen und einzelne inhaltliche Übereinstimmungen<br />

daher nicht überbewertet werden können, kann doch als sehr wahrscheinlich<br />

gelten, daß Heine einige der zahlreichen Dramen und Romane kannte, die sich mit der<br />

Entdeckung und Eroberung der Neuen Welt beschäftigen. Susanne M. Zantop beobachtet in<br />

ihrer Studie „Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870)“ ein „latentes,<br />

diffuses Kolonialstreben“ 44 und einen regelrechten deutschen „Okzidentalismus“ 45 , der als ein<br />

besonderes Interesse an Lateinamerika seinen literarischen Ausdruck in Texten von<br />

Auffenberg bis Zachariä findet. Daß Heine in seiner literarischen Reise in die Neue Welt auch<br />

das um die Jahrhundertmitte virulente Thema des Kolonialismus aufnimmt, liegt nahe: Auch<br />

„Bimini“ wird einen alternden und scheiternden Eroberer zeigen, auch das „Sklavenschiff“<br />

das Menschenrecht der in Ketten gelegten Afrikaner einklagen, und bereits in der „Reise von<br />

München nach Genua“ hatte Heine bei seinem emphatischen Ruf nach der „Emanzipazion der<br />

ganzen Welt“ auch die „westindischen Schwarzen“ (DHA VII, 69) im Blick und im<br />

Manuskript zum Korrespondenzartikel für die Augsburger „Allgemeine Zeitung“ vom 19.<br />

Dezember 1841 beklagt, „wie England durch Plünderung und Ausbeut‹un›g fremder Länder“<br />

(DHA XIII, 357) sich nähre.<br />

Ein Fokus der folgenden Untersuchung liegt auf den intertextuellen Bezügen des „Vitzliputzli“.<br />

46 In der Heine-Forschung ist das Problem der Intertextualität nicht erschöpfend<br />

behandelt. „Eine vollständige Geschichte seiner Anleihen und dessen, was vielleicht Anleihen<br />

sind, könnte ebenso viele Bände füllen als er selbst schrieb“ 47 , vermutet Barker Fairley. René<br />

Anglade hat darauf hingewiesen, daß gerade der „Romanzero“ als „Rekapitulation eines<br />

Lebens und als kritische Bilanz der Zeit an Anspielungen, Reminiszenzen, Verweisen und<br />

Zitaten verschiedener Art besonders reich“ ist. 48 Als sinnvoller Zugang zu Heines Werken,<br />

wie er auch hier versucht wird, kann daher nur ein Verfahren gelten, das Norbert Altenhofers<br />

Forderung nach einer tiefenhermeneutischen Lektüre ernstnimmt:<br />

42 William H. Prescott, Geschichte der Eroberung von Mexico, Bd. 1, S. VIII f.<br />

43 Vgl. Karl Rosenkranz, Ästhetik des Häßlichen, S. 219. – Für die Popularität des „Romanzero“ spricht, daß<br />

mehrere Gedichte der Sammlung, als Beispiele aktueller Literatur, den Weg in Rosenkranz’ Buch gefunden<br />

haben, dessen Vorrede auf den 16. April 1853 datiert ist.<br />

44 Susanne M. Zantop, Kolonialphantasien im vorkolonialen Deutschland (1770-1870), S. 10.<br />

45 Ebd., S. 20.<br />

46 Intertextualität soll hier schlicht verstanden werden als die Eigenschaft literarischer Texte, auf andere Texte<br />

bezogen zu sein. (Vgl. Richard Aczel, Intertextualitätstheorien und Intertextualität, S. 241.)<br />

47 Barker Fairley, Heinrich Heine, S. 167. – Joseph A. Kruse, Heines Leihpraxis und Lektürebeschaffung, S. 78,<br />

geht aufgrund der Vorarbeiten zur Düsseldorfer Heine-Ausgabe von mehr als 2000 Titeln aus, die Heine „erwähnt,<br />

auf die er anspielt, die er kritisiert bzw. gelesen hat.“<br />

48 René Anglade, Heines zweifache Kontrafaktur, S. 91 f.<br />

18


Es bedarf einer literarischen Kompetenz zur Entschlüsselung von Anspielungen, (zum<br />

Teil kryptischen) Zitaten, Motti, Parodien, die den Text erst als einen vielfach auf andere<br />

Texte bezogenen transparent macht. […] Durch den Text scheinen andere Texte hindurch,<br />

die mitentziffert werden müssen: die literarische Tradition, das Leben des Autors,<br />

die Geschichte seiner Zeit. 49<br />

Die Reihe der im „Vitzliputzli“ aufgehobenen Prätexte ist lang: Von Quellenwerken zur Geschichte<br />

der Eroberung von Mexiko bis zu Georg Friedrich Daumers „Geheimnissen des<br />

christlichen Alterthums“, von der Bibel bis Goethe, von Homer bis Wieland. Auffällig ist vor<br />

allem eine Auseinandersetzung mit denjenigen Zeugnissen des kolonialen Diskurses, die den<br />

Eroberer Cortez, manchmal auch den Entdecker Kolumbus, als eine heilbringende Erlösergestalt<br />

auftreten lassen, der das blutige Menschenopfer durch den unblutigen christlichen Gottesdienst<br />

ersetzt und, so heißt es in Ignaz Franz Castellis deutschem Libretto zu Spontinis<br />

Cortez-Oper, den „Liebesgott“ gegen den „Rachegott“ stellt. 50 Das argumentative Muster, die<br />

Eroberung der Neuen Welt heilsgeschichtlich zu überhöhen, prägt schon die Berichte der<br />

Eroberer selbst, erlebt aber zu Heines Lebzeiten eine Renaissance. Wenn Heine auf diese<br />

heilsgeschichtliche Deutung der Conquista reagiert, öffnet sich der Blick notwendigerweise<br />

auf das Feld der Religion, ein Thema, das für den Heine der Matratzengruft noch einmal virulent<br />

wird. Ein Leitmotiv, in dem sich der Zusammenprall der Kulturen und Religionen im<br />

„Vitzliputzli“ als ein Aufeinandertreffen der Kulte und Opferpraktiken manifestiert, ist das<br />

des Blutes, das zurückverweist auf die Thematik der Leiblichkeit, die beim kranken Heine in<br />

seinen letzten Lebensjahren präsent bleibt. Neben der intertextuellen steht daher<br />

gleichberechtigt die kontextuelle Ebene, die den „Vitzliputzli“ in Beziehung zu Heines<br />

übrigem Werk setzt – mit dem Anspruch, bei allen Besonderheiten von Heines Matratzengruft-Werk<br />

die „dennoch sichtbare Kontinuität bis in die späten Gedichte hinein kenntlich<br />

zu machen“ 51 , wie Gerhard Sauder es an den „Hebräischen Melodien“ des „Romanzero“<br />

vorgeführt hat.<br />

Eine Besonderheit in den intertextuellen Verweisen des „Vitzliputzli“ liegt darin, daß nicht<br />

nur die von Susanne M. Zantop als „Okzidentalismus“ bestimmte Traditionslinie literarischer<br />

Texte zur Entdeckung und Eroberung Lateinamerikas aufgerufen wird, sondern auch Texte,<br />

die in die Geschichte oder Vorgeschichte dessen gehören, was als Orientalismus literarische<br />

und gesellschaftliche Mode im 19. Jahrhundert war. 52 Im „Romanzero“ scheint der Orient an<br />

vielen Stellen auf, in einigen der „Historien“ und natürlich in den „Hebräischen Melodien“.<br />

Im mittelalterlichen Spanien der „Disputazion“ oder des „Jehuda ben Halevy“ berühren sich<br />

Orient und Okzident, der „Vitzliputzli“ schließlich weist in den äußersten Westen und stellt<br />

dem modischen Orientalismus eine wahrhaft Neue Welt entgegen. Die Goethesche Wortverbindung<br />

„west-östlich“ erhält so in der Spannbreite des „Romanzero“ eine ganz neue Bedeutung53<br />

, der Orient spiegelt sich im Okzident, wie im „Vitzliputzli“ vor allem an den zahlreichen<br />

Verweisen auf Wielands „Oberon“ und auf August von Platens „Abbassiden“ zu zeigen<br />

49 Norbert Altenhofer, Die verlorene Augensprache, S. 63.<br />

50 Ignaz Franz Castelli, Ferdinand Cortez, S. 12.<br />

51 Gerhard Sauder, Blasphemisch-religiöse Körperwelt, S. 121 f.<br />

52 Ob sich, wie Edward Said konstatiert, hinter dem Phantasie-Orient des 19. Jahrhunderts, der einen starken<br />

(und vor allem erotisch gefärbten) utopistisch-eskapistischen Zug hat, tatsächlich vor allem „a Western style for<br />

dominating, restructuring, and having authority over the Orient“ (Edward Said, Orientalism, S. 3) verbirgt, sei<br />

dahingestellt. Es geht sowohl bei den Bildern des Orients wie bei denen der Neuen Welt darum, eine Projektionsfläche<br />

zu schaffen, die jedoch allenfalls sehr vermittelt in Beziehung zu einer politischen oder kolonialistischen<br />

Wirklichkeit steht.<br />

53 Sigrid Weigel, Heinrich Heines orientalische und okzidentalische Wechsel, S. 136, sieht in den „Berührungen<br />

einer morgen- und abendländischen Topographie“ eine Grundstruktur der Werke Heines. Ute Gerhard, Multikulturelle<br />

Polyphonie bei Heine, S. 203 f., beobachtet bei Heine „Entstellungen und Verkehrungen der Orient/<br />

Okzident-Dichotomie“ (ebd., S. 204), die im Vergleich der aztekischen Tempel mit Gemälden orientalischer<br />

Bauwerke eine „ironische und gebrochene Position zum Orientalismus“ (ebd.) markierten.<br />

19


sein wird. 54 In seiner Einleitung zum Vorabdruck einiger „Romanzero“-Gedichte in der „Revue<br />

des deux Mondes“ hatte Saint-René Taillandier diese west-östliche Dimension der späten<br />

Lyrik Heines benannt: „[…] tout un romancero qui embrasse l’Orient et l’Occident, tout un<br />

cycle étrange qui va du fond de la vieille Asie au fond de la jeune Amérique.“ 55<br />

Das Nachwort zum „Romanzero“ beginnt Heine mit dem Satz: „Ich habe dieses Buch Romanzero<br />

genannt, weil der Romanzenton vorherrschend in den Gedichten, die hier gesammelt.“<br />

(DHA III, 177) Will man mit Hanne Gabriele Reck unter Romanzen (oder näherhin<br />

„spanischen Romanzen“) bei Heine diejenigen Gedichte verstehen, „die in vierhebigen Trochäen<br />

und in vierzeiligen Strophen abgefaßt sind (sei es mit oder ohne Reim oder Assonanz)<br />

und darüber hinaus Themen und Motive aus der hispanischen Welt zum Inhalt haben“ 56, dann<br />

wird man den wohl zwischen 1848 und 1851 entstandenen 57 „Vitzliputzli“ unter diese<br />

Kategorie einzuordnen haben. Der Begriff der Romanze ist unscharf und wird auch von Heine<br />

nicht präzise gefaßt. 58 In der zeitgenössischen Poetik wird noch versucht, die Romanze gegen<br />

die Ballade abzugrenzen, so zum Beispiel von Max Wilhelm Götzinger:<br />

Bei der Ballade ist immer die Handlung Hauptsache, das Lyrische beruht in der Darstellung;<br />

bei der Romanze ist der Ausdruck der Empfindung Hauptsache, die sich nur an ein<br />

Geschehenes knüpft. Beide verhalten sich gegen einander wie das eigentliche Drama zur<br />

Oper, und will man die Ballade ein episch-lyrisches Gedicht nennen, so wäre die Romanze<br />

ein lyrisch-episches. 59<br />

Selbst Götzinger in seinem für die Unterrichtsvorbereitung von Lehrern gedachten Lehr- und<br />

Lesebuch muß aber einräumen, daß schon bei Schiller und Bürger zwischen beiden Formen<br />

des erzählenden Gedichts nicht sauber geschieden wird, „ohne daß man einen genügenden<br />

Grund dieser verschiedenen Benennungen einsähe“ 60 , und leitet dann literaturgeschichtlich<br />

her, warum eine Unterscheidung auch in der Tat wenig hilfreich ist:<br />

54 Auch in den „Geständnissen“ spiegelt Heine Westen und Osten, wenn er von der „Wahlverwandtschaft“ zwischen<br />

jüdischem und germanischem Volk spricht: „Judäa erscheint mir immer wie ein Stück Occident, das sich<br />

mitten in den Orient verloren.“ (DHA XV, 46) Als Reflex auf die Juli-Revolution spielt bereits das Schlusswort<br />

der „Englischen Fragmente“ mit einer Ost-West-Vertauschung: „Nein, mein Kaiser, es ist die Sonne, obgleich<br />

sie im Westen hervorsteigt – seit sechstausend Jahren sah man sie immer aufgehen im Osten, da wird es wohl<br />

Zeit, daß sie mahl eine Verändrung vornehme in ihrem Lauf.“ (DHA VII, 272)<br />

55 Saint-René Taillandier, Romancero. Poésies inédites, S. 133. – Die „Blätter für literarische Unterhaltung“<br />

drucken im Februar 1852 Tallandiers Text in Übersetzung nach: „[…] Alles ein Romanzero der Abendland und<br />

Morgenland umfaßt, ein seltsamer Cyklus der vom Innern des alten Asiens bis ins Innere des jungen Amerika<br />

sich erstreckt.“ (Blätter für literarische Unterhaltung. Leipzig. 1852. Nr. 9. 28. Februar. S. 209 f. Zitiert nach:<br />

Heinrich Heines Werk im Urteil seiner Zeitgenossen. Bd. 11, S. 101-105, hier: S. 104)<br />

56 Hanne Gabriele Reck, Die spanische Romanze im Werke Heinrich Heines, S. 10.<br />

57 So Alberto Destro in DHA III, 677, der auf den Bezug auf Heines Krankheit in V. 20 des „Präludiums“ verweist<br />

und Stil, Komposition und exotisches Sujet als „charakteristisch für die Spätzeit“ (ebd.) bestimmt. – Neben<br />

den Anspielungen auf Rückenmarkserkrankung und Syphilis weisen auch die politischen Bezüge den Text als<br />

nachmärzlich aus. Möglicherweise gab, neben Chevaliers Aufsätzen von 1845, die Beschäftigung mit Simrocks<br />

„Faust“-Puppenspiel Anfang 1847 (vgl. DHA IX, 983), in dem ein Teufelchen Vitzliputzli heißt, einen Anlaß,<br />

sich damit zu beschäftigen, wie denn der mexikanische Gott zum europäischen Teufel wurde. Erst 1851 scheidet<br />

Heine ein langes Simrock-Exzerpt, in dem Vitzliputzli auftritt, aus den Erläuterungen zum „Doktor Faust“ aus.<br />

In der ursprünglichen Konzeption, die das Tanzpoem als Teil des „Romanzero“ vorsah, hätte der Leser also<br />

erfahren können, wie wenig glanzvoll Vitzliputzlis „neue Carrière“ (DHA III, 75) ausgesehen hätte: „Zurück, wo<br />

du hergekommen bist.“ (DHA IX, 274) weist Faust das Teufelchen ab. In der „‹Gliederung des Höllenreiches›“,<br />

die Heine exzerpiert hat (vgl. DHA IX, 282 f.), taucht Vitzliputzli gar nicht erst auf.<br />

58 Vgl. Gerhard Sauder, Blasphemisch-religiöse Körperwelt, S. 124: „Heine ließ sich auf die kaum lösbare<br />

Problematik einer präzisen Gattungsbestimmung (v.a.: Unterscheidung von der Ballade) mit Recht nicht ein.“ –<br />

Zu einer ähnlichen Einschätzung gelangt Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 563 f.: „Heines Begriff von<br />

der Romanze ist, nach dem Ausweis der Abteilung Romanzen in den Neuen Gedichten, sehr großzügig.“<br />

59 Max Wilhelm Götzinger, Deutsche Dichter, S. 70.<br />

60 Ebd.<br />

20


So wollen also R o m a n z e und B a l l a d e eigentlich dasselbe bezeichnen: ein Lied in<br />

der Sprache und im Tone des Volkes, vorzugsweise ein erzählendes. Allein da die Ballade<br />

nordischen, die Romanze südlichen Ursprungs ist: so gingen beide von vorn herein<br />

auseinander und unterschieden sich überhaupt wie Nordländer und Südländer. Dies geht<br />

aber uns Deutsche eigentlich gar nichts an, denn unsre Ballade soll ja weder spanisch<br />

noch brittisch, noch angelsächsisch sein, sondern deutsch; daß jene beiden Namen in<br />

Deutschland aufkamen, ist rein zufällig: Gedichte dieser Art gab es lange zuvor, ehe man<br />

von Balladen und Romanzen etwas wußte. 61<br />

Bei den vier Teilen des „Vitzliputzli“ (den Heine in einem Brief an seine Mutter schlicht als<br />

„Gedicht“ bezeichnet62 ) wird man also im Einklang mit dem Verständnis der Zeit und Heines<br />

eigener Auffassung von Romanzen sprechen können – zumal Heine in der Komposition des<br />

„Romanzero“ selbst einen Fingerzeig in diese Richtung gibt, indem im zwischen „Vitzliputzli“<br />

und „Spanische Atriden“ (und damit genau am Ausgang der „Historien“-Abteilung)<br />

stehenden Gedicht „Waldeinsamkeit“ von den Nixen, die das lyrische Ich im Wald aufsucht,<br />

gesagt wird, sie „Trällerten, trillerten welsche Romanzen“ (DHA III, 80), diejenigen nämlich,<br />

die der Leser des „Romanzero“ unmittelbar vorher und nachher selbst aufnimmt.<br />

Faßt man den „Vitzliputzli“ als Zyklus von drei oder, das „Präludium“ mitgerechnet, vier<br />

Romanzen auf, stellt sich die Frage, ob angesichts dieser häufiger zu beobachtenden „Wahl<br />

fast epischer Formen für die nach 1848 entstandenen Gedichte“ 63 hier nicht von einem<br />

Romanzenepos gesprochen werden kann, so, wie Friedrich Sengle bereits den in derselben<br />

(allerdings ungereimten) Strophenform geschriebenen „Atta Troll“ in der „versepischen<br />

Tradition“ gesehen hat, „[…] obwohl es sich um kürzere Gesänge als im normalen ‚Heldengedicht‘<br />

handelt; denn die hier zugrunde liegende Form des Romanzenepos hatte schon<br />

Herder geschaffen, sie war in der Biedermeierzeit eine anerkannte Gattung […].“ 64 Für diese<br />

Einordnung spricht, daß unter den Texten, auf die der „Vitzliputzli“ zustimmend oder<br />

ablehnend, parodistisch oder affirmativ reagiert, zahlreiche Versepen sind, von Wielands<br />

„Oberon“ und Immermanns „Tulifäntchen“ bis hin zu Platens „Abbassiden“ und Zachariäs<br />

„Cortes“. Auf die epische Dimension der Eroberung von Mexiko hatte Michel Chevalier in<br />

seinem Aufsatz aufmerksam gemacht und den Kampf des Cortez um das Aztekenreich mit<br />

Homers „Ilias“, mit Vergils „Aeneis“ und mit Tassos „Befreitem Jerusalem“ verglichen. 65<br />

Hinter diesem Urteil könnte Hegels Auffassung stehen, daß die dem Epos angemessene<br />

Situation die kriegerische Auseinandersetzung von Nationen als Zusammenprall zweier<br />

Totalitäten sei. 66 Zumindest mit der letztgenannten Bestimmung wäre auch der ins<br />

Grundsätzliche zielende und nicht zu vermittelnde Konflikt zwischen der christlich-spanischen<br />

und der heidnisch-mexikanischen Kultur in Heines „Vitzliputzli“ auf den Punkt gebracht.<br />

Daß die Taten der Entdecker geeignete Gegenstände zu einer epischen Behandlung<br />

geben, wußte auch Schiller. An Goethe schreibt er am 13. Februar 1798: „Es ist keine Frage,<br />

daß ein Weltentdecker oder Weltumsegler wie Cook einen schönen Stoff zu einem epischen<br />

Gedichte entweder selbst abgeben oder doch herbeiführen könnte […].“ 67<br />

61 Ebd., S. 71.<br />

62 Heine an seine Mutter, 5. Dezember 1851 (HSA XXIII, 166): „Meine Verbrengerin hat sich eine grünseidene<br />

Robe angeschafft, welche ich die Vitzliputzli-Robe nenne; ich habe ihr nämlich berechnet, daß die Robe so viel<br />

kostet wie das Honorar beträgt für das Gedicht Vitzliputzli, welches im Romancero enthalten ist.“<br />

63 Gerhard Sauder, Blasphemisch-religiöse Körperwelt, S. 10. – Neben dem „Vitzliputzli“ sind im „Romanzero“<br />

„Jehuda ben Halevy“, die „Disputazion“ und „Spanische Atriden“ zu dieser Gruppe zu rechnen, aus der übrigen<br />

späten Lyrik das Fragment „Bimini“.<br />

64 Friedrich Sengle, Biedermeierzeit, Bd. 3, S. 576.<br />

65 Vgl. Michel Chevalier, La conquête du Mexique par Fernand Cortez, S. 226-233.<br />

66 Vgl. Winfried Woesler, Heines Tanzbär, S. 102. – In seiner Habilitationsschrift zum „Atta Troll“ geht Woesler<br />

ausgiebig auf die Bedeutung des Epos für Heine ein.<br />

67 Der Briefwechsel zwischen Goethe und Schiller, S. 525.<br />

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