17.10.2012 Aufrufe

1. Grundlegende Frage- stellungen - J. B. Metzler Verlag

1. Grundlegende Frage- stellungen - J. B. Metzler Verlag

1. Grundlegende Frage- stellungen - J. B. Metzler Verlag

MEHR ANZEIGEN
WENIGER ANZEIGEN

Sie wollen auch ein ePaper? Erhöhen Sie die Reichweite Ihrer Titel.

YUMPU macht aus Druck-PDFs automatisch weboptimierte ePaper, die Google liebt.

Vorwort<br />

Dieser Band bringt erstmalig eine Einführung in die französische Literaturwissenschaft<br />

und in die französische Kulturwissenschaft zusammen<br />

und führt damit die Einführung in die französische Literaturwissenschaft<br />

von Jürgen Grimm, Frank-Rutger Hausmann und Christoph Miething weiter.<br />

Neben grundlegenden Techniken der literaturwissenschaftlichen<br />

Text analyse (Kap. 2) und konkreten praktischen Tipps für das Studium<br />

der französischen Literatur (Kap. 5) will diese Einführung vor allem die<br />

enge Verfl echtung der Disziplinen aufzeigen. Kapitel 1 erläutert daher zunächst,<br />

wie aus heuristischen (d. h. pragmatischen) Gründen die Bereiche<br />

Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft und Landeskunde anhand<br />

ihrer spezifi schen <strong>Frage</strong><strong>stellungen</strong> unterschieden werden können. Die<br />

Kapitel 3 und 4 zeigen dann anhand ausgewählter grundlegender Themen,<br />

wie sich Literatur- und Kulturwissenschaft gegenseitig zuarbeiten<br />

und jeweils Hintergrundwissen füreinander bereitstellen. Kapitel 3 legt<br />

dementsprechend einen Schwerpunkt auf die Literatur, Kapitel 4 auf die<br />

Kultur Frankreichs.<br />

Alle Kapitel folgen konsequent der Auffassung, dass jede Darstellung<br />

von Literatur oder Kultur eine Konstruktion ist, die bestimmte (Erkenntnis-)Ziele<br />

verfolgt und ihre Gegenstände in Hinblick auf diese Ziele ordnet<br />

und bewertet (und damit immer notwendigerweise andere Ordnungsmöglichkeiten<br />

ausblendet). Diese Einführung ist daher ein Angebot zur<br />

Beschäftigung mit französischer Literatur und Kultur ohne Anspruch auf<br />

Allgemeingültigkeit. Sie legt ihre Kriterien und Ziele offen und ermöglicht<br />

dadurch, Gegenstände und Herangehensweisen an diese zu refl ektieren<br />

und zu ergänzen. Wie jede Einführung kann sie vertiefte systematische<br />

Studien nicht ersetzen; sollte sie zur Beschäftigung mit diesen anregen,<br />

hat sie ihr Ziel erreicht.<br />

Die Einführung richtet sich in erster Linie an Studierende des Französischen,<br />

wobei sie gleichermaßen als Einstieg ohne Vorkenntnisse wie<br />

auch als vertiefende studienbegleitende Lektüre geeignet ist. Sie orientiert<br />

sich sowohl an den Erfordernissen der Lehramtsstudiengänge als auch an<br />

denen der neuen BA-Studiengänge.<br />

Ein Hinweis zum durchgehenden Gebrauch der maskulinen Form bei<br />

Wörtern, die auch feminine Formen haben (wie Leser, Schreiber, Migrant<br />

etc.): Wir haben uns nach langen Überlegungen für den Gebrauch nur der<br />

maskulinen Form entschieden, einzig und allein um Sperrigkeit im Ausdruck<br />

zu vermeiden und nicht durch eine durchgehende oder nur gelegentliche<br />

Wahl der weiblichen Form ungewollte Nebenbedeutungen zu<br />

suggerieren. Die feminine Form sei stets mitgedacht.<br />

Wir danken Jürgen Grimm für anregende Vorgespräche zum Konzept<br />

des Buches sowie Johannes Bernhart, Miranda Elbert, Esther Suzanne<br />

IX


X<br />

Vorwort<br />

Pabst und Barbara Weyh für die sorgfältige und kritische Lektüre der Endfassung<br />

des Textes. Miranda Elbert hat wesentlich zur Überprüfung des<br />

Sachregisters beigetragen.<br />

Besonders herzlich möchten wir Frau Ute Hechtfi scher vom <strong>Metzler</strong>-<br />

<strong>Verlag</strong> danken für ihr unglaubliches Engagement bei der Entstehung<br />

dieses Bandes, für hilfreiche Kritik, Geduld und sachkundige Hinweise.<br />

Passau im August 2007 Gießen im August 2007<br />

Susanne Hartwig Hartmut Stenzel


<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

<strong>1.</strong> <strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong><strong>stellungen</strong><br />

<strong>1.</strong>1 Landeskunde, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft:<br />

zwei Beispiele<br />

<strong>1.</strong>2 Literatur und Kultur, Literaturwissenschaft<br />

und Kulturwissenschaft<br />

<strong>1.</strong>1 | Landeskunde, Literaturwissenschaft, Kulturwissenschaft:<br />

zwei Beispiele<br />

Studienanfänger sehen sich einer Fülle von Begriffen gegenüber, die<br />

Disziplinen mit ähnlichen Gegenstandsbereichen bezeichnen. Der<br />

Unterschied zwischen den Disziplinen liegt daher oftmals nur in der<br />

spezifi schen <strong>Frage</strong>stellung, und nicht im Gegenstand selbst. Daher ist<br />

es sinnvoll, zunächst einmal ›typisch literaturwissenschaftliche‹ und ›typisch<br />

kulturwissenschaftliche‹ <strong>Frage</strong>n von denen der Landeskunde zu<br />

unterscheiden.<br />

Erkenntnisinteresse: Jede Disziplin bestimmt, welche Gegenstände<br />

für sie wichtig sind, welche Zusammenhänge sie erforschen will und welche<br />

Blickwinkel sie einnimmt, kurz: welches Erkenntnisinteresse sie verfolgt.<br />

Schwerpunkte und Leitkonzepte unterliegen einem dynamischen,<br />

d. h. sich ständig verändernden Aushandlungsprozess, werden also von<br />

einer Wissenschaftsgemeinschaft konstruiert und sind nicht einfach<br />

›natürlich‹ vorgegeben: Sie ergeben sich nicht aus der ›Sache selbst‹. Das<br />

Erkenntnisinteresse einer Disziplin wandelt sich vielmehr mit der Zeit<br />

und ist zudem immer auch diskutierbar. Daher sollen im Folgenden zwei<br />

Beispiele konkrete Einblicke in die Arbeitsfelder der drei Disziplinen<br />

geben, so dass grundlegende Ähnlichkeiten und Unterschiede plastisch<br />

hervortreten. In beiden Beispielen werden Ansätze der Literaturwissenschaft,<br />

der Kulturwissenschaft und der Landeskunde auf eine ›idealtypische‹<br />

Weise vorgestellt, die sich in der konkreten Arbeit immer vielfältig<br />

überschneiden.<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Gegenstandsbereich<br />

1


<strong>1.</strong>1<br />

Landeskunde,<br />

Literaturwissenschaft,<br />

Kultur wissenschaft<br />

2<br />

<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

<strong>1.</strong><strong>1.</strong>1 | Die Marseillaise<br />

Als erstes Beispiel dient die französische Nationalhymne, die sogenannte<br />

Marseillaise:<br />

1<br />

Allons enfants de la Patrie,<br />

Le jour de gloire est arrivé !<br />

Contre nous de la tyrannie,<br />

L’étendard sanglant est levé, (bis)<br />

Entendez-vous dans les campagnes<br />

Mugir ces féroces soldats ?<br />

Ils viennent jusque dans vos bras<br />

Egorger vos fils, vos compagnes !<br />

Aux armes, citoyens,<br />

Formez vos bataillons,<br />

Marchons, marchons !<br />

Qu’un sang impur<br />

Abreuve nos sillons !<br />

2<br />

Que veut cette horde d’esclaves,<br />

De traîtres, de rois conjurés ?<br />

Pour qui ces ignobles entraves,<br />

Ces fers dès longtemps préparés ? (bis)<br />

Français, pour nous, ah ! quel outrage<br />

Quels transports il doit exciter !<br />

C’est nous qu’on ose méditer<br />

De rendre à l’antique esclavage !<br />

Aux armes, citoyens …<br />

3<br />

Quoi ! des cohortes étrangères<br />

Feraient la loi dans nos foyers !<br />

Quoi ! ces phalanges mercenaires<br />

Terrasseraient nos fiers guerriers ! (bis)<br />

Grand Dieu ! par des mains enchaînées<br />

Nos fronts sous le joug se ploieraient<br />

De vils despotes deviendraient<br />

Les maîtres de nos destinées !<br />

Aux armes, citoyens …<br />

4<br />

Tremblez, tyrans et vous perfides<br />

L’opprobre de tous les partis,<br />

Tremblez ! vos projets parricides<br />

Vont enfin recevoir leurs prix ! (bis)<br />

Tout est soldat pour vous combattre,<br />

S’ils tombent, nos jeunes héros,<br />

La terre en produit de nouveaux,<br />

Contre vous tout prêts à se battre !<br />

Aux armes, citoyens …<br />

5<br />

Français, en guerriers magnanimes,<br />

Portez ou retenez vos coups !<br />

Epargnez ces tristes victimes,<br />

A regret s’armant contre nous. (bis)<br />

Mais ces despotes sanguinaires,<br />

Mais ces complices de Bouillé,<br />

Tous ces tigres qui, sans pitié,<br />

Déchirent le sein de leur mère !<br />

Aux armes, citoyens …<br />

6<br />

Amour sacré de la Patrie,<br />

Conduis, soutiens nos bras vengeurs<br />

Liberté, Liberté chérie,<br />

Combats avec tes défenseurs ! (bis)<br />

Sous nos drapeaux que la victoire<br />

Accoure à tes mâles accents,<br />

Que tes ennemis expirants<br />

Voient ton triomphe et notre gloire !<br />

7<br />

Nous entrerons dans la carrière<br />

Quand nos aînés n’y seront plus,<br />

Nous y trouverons leur poussière<br />

Et la trace de leurs vertus (bis)<br />

Bien moins jaloux de leur survivre<br />

Que de partager leur cercueil,<br />

Nous aurons le sublime orgueil<br />

De les venger ou de les suivre<br />

Aux armes, citoyens …


<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

Diesen Text – ein und denselben Gegenstand – untersuchen Landeskunde,<br />

Literatur- und Kulturwissenschaft jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten<br />

in der <strong>Frage</strong>stellung.<br />

Landeskunde<br />

Eine landeskundlich orientierte Sichtweise arbeitet in erster Linie das<br />

konkrete Umfeld des Textes heraus. Dies ist in der Regel dessen sozialer,<br />

historischer und politischer Hintergrund.<br />

Der Text der Marseillaise entsteht 1792, als die Nationalversammlung<br />

Frankreichs Österreich und Deutschland den Krieg erklärt. Der Bürgermeister<br />

von Strasbourg, Baron Frédéric de Dietrich, bittet den capitaine<br />

Claude-Joseph Rouget de Lisle aus dem Bataillon »Les enfants de la Patrie«<br />

um einen Marsch zur Ermutigung der Truppen. In nur einer Nacht<br />

(25. April 1792) schreibt Rouget de Lisle den obigen Text unter dem Titel<br />

»Chant de guerre pour l’armée du Rhin«. Die Ursprungsversion hat nur<br />

sechs couplets (Strophen), die jedoch noch im gleichen Jahr von einem<br />

anonymen Autor um ein siebtes ergänzt werden, das couplet des enfants.<br />

Die Musik stammt vermutlich nicht von Rouget de Lisle.<br />

Wechselvolle Geschichte der späteren Nationalhymne: Das Lied wird<br />

unter dem Namen »Chant de guerre aux armées des frontières« von<br />

François Mireur verbreitet, der in Mar seille weilt, um einen Marsch von<br />

freiwilligen Revolutionä ren auf Paris zu organisie ren (Beginn der levée en<br />

masse). Der »Chant« wird zum Gassenhauer, die Revolutionäre singen ihn<br />

beim Einzug in die Hauptstadt am 30. Juli 1792 und bei der Verhaftung<br />

des Königs, weshalb die Pariser von der Marseil lai se sprechen. Zum Nationallied<br />

wird diese am 14. Juli 1795 erklärt (vgl. Vovelle 1997), nach dem<br />

Sturz des Kaiserreiches 1815 aber wieder offi ziell geächtet. Unter den autoritären<br />

Regimes des Premier Empire und der Restauration ist sie verboten,<br />

obwohl diejenigen, die den Ideen der Revolution die Treue halten, sie<br />

weiterhin hoch halten. Daher nimmt es nicht wunder, dass das Lied z. B.<br />

besonders bei der Julirevolution (27.–29. Juli 1830) glorifi ziert wird und der<br />

romantische Komponist Héctor Berlioz (1803–1869) ein eigenes musikalisches<br />

Arrangement entwirft. Nach dem Sturz des Second Empire (1870)<br />

wird die Marseillaise wieder offi ziell gesungen und zwar von dem großen<br />

Star der Epoche Rosa Bordas (1840–1901). Endgültig zur Nationalhymne<br />

wird sie 1879 erklärt (vgl. Hudde 1996, 99), wodurch sie unerlässliche Begleitmusik<br />

offi zieller Empfänge, Militärparaden und Staatsbesuche wird.<br />

Im Ersten Weltkrieg wird die Marseillaise zur Hymne des Patriotismus.<br />

Die derzeitige Verfassung Frankreichs von 1958 nennt sie in Artikel 2 als<br />

offi zielle Nationalhymne. Zu offi ziellen Anlässen wird die erste Strophe<br />

mit Chor gesungen.<br />

Wissen verschiedener Fachdisziplinen: Die Landeskunde bündelt Erkenntnisse<br />

aus den jeweiligen Fachdisziplinen (im vorliegenden Fall etwa<br />

Geschichte, Politik, Musikwissenschaften, Kunst), um ein komplexes Bild<br />

eines Gegenstandes zu entwerfen. So kann sie den staatsrechtlichen Stel-<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Die Marseillaise<br />

Entstehung<br />

Stellenwert einer<br />

Nationalhymne<br />

3


<strong>1.</strong>1<br />

Landeskunde,<br />

Literaturwissenschaft,<br />

Kultur wissenschaft<br />

François Rude:<br />

»Le départ des<br />

volontaires dit la<br />

Marseillaise«<br />

Analyse<br />

des Aufbaus<br />

4<br />

<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

lenwert einer Nationalhymne oder den musikalischen Aufbau<br />

der Marseillaise studieren wie etwa die charakteristische ›Molleintrübung‹<br />

(Wechsel zwischen Dur und Moll vor dem Refrain),<br />

die einen neuen Typ von Hymne begründet (Hudde 1996, 95 f.).<br />

Auch können Vergleiche mit Dar<strong>stellungen</strong> des historischen<br />

Sachverhaltes in anderen Bereichen erfolgen. In der bildenden<br />

Kunst bieten sich allegorische Repräsentationen der Marseillaise<br />

zur Untersuchung an wie z. B. das Relief am Arc de Triomphe in<br />

Paris, das von dem französischen Bildhauer der Romantik François<br />

Rude (1784–1855) stammt. Ursprünglich als Repräsentation<br />

des »Génie de la guerre« gedacht, wurde das Relief sofort bei<br />

der Enthüllung 1836 mit der Marseillaise assimiliert (»die Nation<br />

unter Waffen«) und mit dem Titel »Le départ des volontaires dit<br />

la Marseillaise« versehen. Die Marseillaise ist zudem vielfach Gegenstand<br />

des offi ziellen Kunsthandwerks, z. B. in Form von Briefmarken.<br />

Die ironische Verwendung der Marseillaise kann ebenfalls in einer<br />

landeskundlichen Untersuchung Erwähnung fi nden. So singt Serge Gainsbourg<br />

(1928–1991; s. S. 268) das erste und das sechste couplet der Nationalhymne<br />

zu einer Reggae-Musik unter dem Titel »Aux armes et caetera«<br />

(1979). Dass dies in der französischen Öffentlichkeit als Respektlosigkeit<br />

empfunden wird, verweist auf den nahezu sakrosankten Charakter der<br />

Hymne; ein Übergang zur Perspektive der Kulturwissenschaft besteht in<br />

der <strong>Frage</strong> nach den hinter dieser Haltung liegenden Denkmustern.<br />

Literaturwissenschaft<br />

Der literaturwissenschaftliche Blickwinkel betrachtet die Marseillaise vor<br />

allem unter äs thetischen Gesichtspunkten und beschreibt ihre Textmechanismen<br />

und deren Wirkung.<br />

Die Textanalyse baut auf einer genauen Beschreibung des Textes auf.<br />

Diese beginnt z. B. bei der Gliederung. Die Marseillaise besteht aus sieben<br />

Strophen (couplets) und einem Refrain, die jeweils einen eigenen Gedanken<br />

behandeln. Die ersten drei Strophen setzen den Feind, gegen den zu<br />

kämpfen der Refrain auffordert, in ein schlechtes Bild, indem sie dessen<br />

Unzivilisiertheit (1), erniedrigendes Verhalten (2) sowie Käufl ichkeit und<br />

Unterwürfi gkeit (3) anprangern. Die vierte Strophe ist eine direkte Kampfansage<br />

an die Tyrannen, die fünfte eine Ermutigung der eigenen Leute,<br />

die sechste eine Bekräftigung ewiger Werte und die siebte schließlich ein<br />

Verweis auf die Kontinuität des Revolutionsgedankens über die Generationen<br />

hinweg.<br />

Der Refrain drückt den eigentlichen Marschbefehl aus, der effektvoll<br />

wiederholt wird – das zweimalige »marchons« hat dabei die ursprüngliche<br />

Silbenzahl im Refrain (»Aux armes citoyens/Formez les bataillons/<br />

Marchons qu’un sang impur/abreuve nos sillons«) von 12 (6+6) auf 14<br />

(2+6+6) ausgedehnt, wodurch ihm auch rhythmisch eine herausragende<br />

Stellung zukommt. Der gesamte Refrain wirkt dabei stets wie eine direkte


<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

Folgerung aus dem vorher in der Strophe Gesagten. Dass Verse regelmäßig<br />

wiederkehren und einen Refrain bilden, ist ein Merkmal vieler Lieder.<br />

Ursprünglich geht der Kehrreim auf den Wechselgesang von Vorsänger<br />

und Chor zurück, ist also ein »Kunstmittel der Gemeinschaftsdichtung«<br />

(Wilpert 2001, 402) – das unterstützt die Funktion des Textes, eine Gemeinschaft<br />

in ihrem Identitätsgefühl zu stärken.<br />

Gattungsfragen: Der einprägsame Rhythmus ist das auffälligste Gestaltungsmerkmal<br />

der Marseillaise. Er entsteht durch den regelmäßigen<br />

Wechsel von Strophe und Refrain, aber auch durch wiederkehrende stilistische<br />

Mittel wie Ausruf und rhetorische <strong>Frage</strong> sowie viele parallelisierte<br />

Satzteile. Einprägsam wird der Text auch dadurch, dass die Sätze kurz<br />

und wenig komplex sind. Hier zeigt sich, dass er ursprünglich der Gattung<br />

Marschlied angehört, das aufgrund seiner Verwendung beim Marschieren<br />

hohen Wert auf rhythmische Elemente legt. Allerdings ist die<br />

Marseillaise rhythmisch und melodisch komplexer als ein gewöhnliches<br />

Marschlied. Gattungsmäßig kann sie aufgrund ihres späteren Gebrauchs<br />

auch zu den Hymnen gezählt werden, auch wenn sie nicht durchgehend<br />

ein »feierl[icher] Preis- oder Lobgesang« (Wilpert 2001, 359) ist, wie es die<br />

Defi nition der Hymne will. Schließlich fällt die Marseillaise auch in die<br />

Untergattung »Revolutionschanson«. Zuordnungen zu Gattungstraditionen<br />

ermöglichen Vergleiche mit anderen Texten.<br />

Wortfeldanalyse: Eine traditionell literaturwissenschaftliche <strong>Frage</strong>stellung<br />

ist die nach dominierenden Wortfeldern und Bildern sowie deren<br />

Beziehungen zueinander. Die Marseillaise erscheint hier recht monoton:<br />

Sie benutzt vornehmlich Vokabular aus dem Bereich ›Krieg‹ und einen<br />

zentralen Gegensatz, den zwischen Revolutionären (» citoyens«) und Tyrannen,<br />

d. h. zwischen alter und neuer Staatsform, der als ewiger Kampf<br />

zwischen Freiheit und Unfreiheit (siehe letzte Strophe) überhöht wird.<br />

■ Auf der Seite des Neuen stehen »enfants de la Patrie«, »citoyens«,<br />

»Français« (zweimal), »nos fi ers guerriers«, »nos jeunes héros« und<br />

»guer riers magnanimes« .<br />

■ Auf der Seite des Überholten fi nden sich »la tyrannie«, »féroces soldats«,<br />

»un sang impur«, »cette horde d’esclaves/De traîtres«, »rois<br />

conjurés«, »ces phalanges mercenaires«, »vils despotes«, »tyrans«,<br />

»perfi des«, »L’opprobre de tous les partis«, »ces tristes victimes«, »ces<br />

despotes sanguinaires«, »ces complices de Bouillé« und »ces tigres«.<br />

Wie man an der Gegenüberstellung sieht, überwiegen die (negativen)<br />

Bezeichnungen der Feinde. Deren Attribute sind entsprechend »fers dès<br />

longtemps préparés«, »le joug«, »projets parricides«. Den »citoyens« werden<br />

indes »gloire« (zweimal), »Amour sacré de la Patrie«, »Liberté, Liberté<br />

chérie« und »triomphe« zugeordnet. Der Text schafft also eine klar wertende<br />

Zweiteilung.<br />

Auf der Ebene der Syntax fallen die zahlreichen Imperative ins Auge.<br />

Die Häufung lässt darauf schließen, dass der Text in erster Linie die Funktion<br />

eines nachdrücklichen Appells hat, der im »marchons« des Refrains<br />

in regelmäßiger Wiederholung gipfelt.<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Die Marseillaise<br />

5


<strong>1.</strong>1<br />

Landeskunde,<br />

Literaturwissenschaft,<br />

Kultur wissenschaft<br />

Rhetorische Mittel<br />

Einfachheit<br />

und Komplexität<br />

des Liedes<br />

6<br />

<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

Eine ästhetische Analyse fördert eine Fülle rhetorischer Mittel zu Tage,<br />

die das Pathos des Liedes erhöhen und die rationale Botschaft des »marchons«<br />

emotional aufl aden (s. Kap. 2.4.3):<br />

■ Ausrufesätze (Exclamationes) wie »Le jour de gloire est arrivé!« und<br />

»Ils viennent jusque dans vos bras / Egorger vos fi ls, vos compagnes!«<br />

schaffen Dramatik.<br />

■ Rhetorische <strong>Frage</strong>n (Aussagesätze, die als <strong>Frage</strong>n formuliert werden,<br />

deren Antwort also von vornherein feststeht) beziehen die Adressaten<br />

emotional in das Geschehen ein, z. B. »Entendez-vous dans les campagnes<br />

/ Mugir ces féroces soldats?« oder » Que veut cette horde d’esclaves,<br />

/ De traîtres, de rois conjurés?«<br />

■ Wortum<strong>stellungen</strong> ( Inversion) legen den Akzent auf das vorangestellte<br />

Wort, hier die Tyrannei: »Contre nous de la tyrannie / L’étendard sanglant<br />

est levé« (statt »L’étendard sanglant de la tyrannie est levé contre<br />

nous«).<br />

■ Personifi kationen überhöhen das Geschehen und machen aus konkrethistorischen<br />

überhistorisch-allgemeinmenschliche Werte, was durch<br />

den Großbuchstaben angezeigt wird: »Amour sacré de la Patrie«, »Liberté,<br />

Liberté chérie«. Die sechste Strophe allegorisiert den Kampf und<br />

setzt an seine Spitze »Amour de la Patrie« und »Liberté«.<br />

■ Der häufi ge Gebrauch des Plural intensiviert und dramatisiert das Geschehen,<br />

z. B. »les campagnes«, »vos bras«, »ignobles entraves«, »nos<br />

destinées«, »tyrans«.<br />

■ Die Metapher »tigre« (gestützt noch durch das Wort »mugir«, was keinem<br />

menschlichen Laut, sondern dem eines wilden Tieres entspricht)<br />

drückt die Abwertung der Feinde in dichter Form aus: Diese gehören<br />

nicht zu den zivilisierten Menschen.<br />

Die genannten rhetorischen Mittel unterstreichen das Pathos des Moments,<br />

in dem es nicht nur um den Sieg der Revolutionäre Frankreichs,<br />

sondern um die Freiheit der Menschheit geht.<br />

Die geringe gedankliche Kom plexität des Textes kann man damit erklären,<br />

dass es sich um ein identitätsstiftendes Lied einer revolutionären<br />

Gruppe handelt, das auch von einfachen Leuten verstanden werden soll<br />

und der Anfeuerung im Kampf dient. Zugleich aber ästhetisiert eine ausgefeilte<br />

Wort- und Bilderwahl die klaren Aussagen und erinnert an das<br />

antike Epos, das in seinen kanonischen Ausprägungen ( Homers Ilias und<br />

Odyssee, Vergils Aeneis) Gründungsliteratur einer Kulturgemeinschaft<br />

ist: Die Metapher »tigre« drückt im antiken Epos z. B. gängig die Wildheit<br />

und Gefühllosigkeit eines Menschen aus; das Wort »parricide« verweist auf<br />

Vatermord (parricidium), der im republikanischen Rom ein Kapitalverbrechen<br />

war, »joug«, auf das Zeichen der Unterwerfung (besiegte Feinde<br />

mussten bei den Römern als Demütigung unter einem Joch durchgehen);<br />

vgl. auch »cohortes étrangères« (römische Heereseinheit) und »phalanges«<br />

(griechische Kampfaufstellung). Schließlich erinnert auch das in<br />

Strophe 4 benutzte Bild, dass die Erde menschliche Helden ›gebiert‹, an<br />

die griechische Sagenwelt – der Held Thessaliens, Jason, sät Drachenzäh-


<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

ne in einen Acker, aus denen Männer aus Eisen wachsen. Hier sieht man,<br />

dass die Marseillaise keineswegs so schlicht ist, wie es der schematische<br />

Aufbau und die wenig komplexe Syntax zunächst vermuten lassen.<br />

Kulturwissenschaft<br />

Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz fragt insbesondere nach allgemeinen<br />

kulturellen Denkmustern, die anhand des Textes konstruiert werden<br />

können.<br />

Nationalhymne: Bei der Marseillaise liegt es nahe, sie unter dem Aspekt<br />

der nationalen Identität zu untersuchen. Nationalhymnen drücken<br />

das Gemeinschaftsgefühl einer Kultur aus, weshalb sie zu feierlichen offi<br />

ziellen Anlässen ertönen. Die Marseillaise ist eng verknüpft mit einer Erlösungs-<br />

und damit Gründungserzählung. Der romantische Schriftsteller<br />

Victor Hugo (1802–1885) drückt das so aus: »La Marseillaise est liée à la<br />

Révolution et fait partie de notre délivrance« (Georgel/Delbart 1992, 14).<br />

Zwei zentrale Wörter der Marseillaise, » citoyen« und »tyran«, markieren<br />

den Übergang von einer alten zu einer neuen Ordnung: Ersterer verweist<br />

auf die Errungenschaft der Revolution, letzterer auf das Ancien Régime,<br />

das nicht mit dem Begriff »roi«, sondern mit dem negativen »tyran« (in der<br />

Antike Bezeichnung eines willkürlichen Gewaltherrschers) belegt wird.<br />

Hinter dieser Wortwahl stehen Legitimierungs verfahren und Verpfl ichtungen<br />

auf Ideale.<br />

Gedächtnis und Erinnerung: Nationalhymnen sind ein zentrales Medium<br />

einer nationalen Erinnerungskultur (s. Kap. 4.<strong>1.</strong>3). Dass der heute<br />

blutrünstig anmutende Text der ersten Strophe der Marseillaise immer<br />

noch zu offi ziellen Anlässen gesungen wird, zeigt die Kontinuität zwischen<br />

dem heutigen Frankreich und dem Pathos der Französischen Revolution<br />

(s. Kap. 4.3.3.1). Am 14. Juli 1915 wird die Asche Rouget de Lisles<br />

in den Invalidendom überführt, Zeichen dafür, dass der Verfasser der<br />

Nationalhymne nunmehr ein Nationalheld ist, der Ideen repräsentiert,<br />

mit denen sich jeder Franzose zumindest theoretisch identifi zieren kann.<br />

Dass die Erinnerung aktiv aufrechterhalten wird, bezeugt die Loi Fillon<br />

von 2005, die das Erlernen der Marseillaise in den classes maternelles und<br />

primaires vorschreibt.<br />

Mythisierung: Die Kulturwissenschaft untersucht auch das symbolische<br />

Netz, in dem sich Texte verorten. Ein solches zeigt sich darin, dass<br />

der historische Moment, dem die Hymne entspringt, mythisiert wird.<br />

Den Augenblick, in dem de Lisle 1792 zum ersten Mal die spätere Nationalhymne<br />

singt, stellt z. B. der romantische Dichter Alphonse de Lamartine<br />

(1790–1869) im 16. Buch seiner Histoire des Girondins (1847) verklärt<br />

dar (zu literarischen Texten über die Marseillaise u. a. von Chateaubriand,<br />

Goethe und Lamartine vgl. Robert 1989, 288 f.). Der bedeutendste französische<br />

Historiker des 19. Jh.s, Jules Michelet (1798–1874), preist hingegen<br />

in seiner Histoire de la Révolution française (1847–1853) gerade das vom<br />

Enthusiasmus getragene Volk (und nicht ein Individuum!) als den neuen<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Die Marseillaise<br />

Identität und<br />

Legitimation<br />

7


<strong>1.</strong>1<br />

Landeskunde,<br />

Literaturwissenschaft,<br />

Kultur wissenschaft<br />

Variationen<br />

der Marseillaise<br />

8<br />

<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

Akteur der revolutionären Bewegung: Durch das Volk sei die Marseillaise<br />

zu dem geworden, was sie sei; eine »foule émue« habe den »chant sacré«<br />

erschaffen (Robert 1989, 301). Der Dichter Paul Eluard (1895–1952) nimmt<br />

diesen Gedanken im 20. Jh. auf (vgl. Une icône républicaine, 23–26).<br />

Isidore Pils: » Rouget de Lisle chantant pour la première fois La Marseillaise chez Dietrick<br />

[sic] maire à Strasbourg«, 1849 – Das pathosgeladene Bild hält die ›Stunde Null‹ eines der<br />

wichtigsten Identifi kationsobjekte der Französischen Revolution fest. Die politische Brisanz<br />

des Bildes zeigt sich darin, dass es wie Eugène Delacroix’ »La liberté guidant le peuple«<br />

(s. S. 183) zeitweilig unter Verschluss gehalten wird (vgl. Une icône républicaine, 10).<br />

Symbol: Die Marseillaise wird zum Symbol für den legitimen Freiheitskampf,<br />

aber auch für übersteigerten Militarismus. Louis Aragon (1897–<br />

1982) schreibt 1934 z. B. eine ironische »Réponse aux jacobins« als Parodie<br />

der Marseillaise (Georgel/Delbart 1992, 13; zu »Les contre-Marseillaises«<br />

und Parodien vgl. Robert 1989, 183–214). Die Umformungen der Marseillaise<br />

reichen von einer erneuten Nutzung als Kriegsgesang, z. B. 1914<br />

in einer Verunglimpfung des Feindes Deutschland »Guillaume II, Kaiservampire«<br />

(Georgel/Delbart 1992, 93), über die Verwandlung zu einem<br />

Kampfl ied von Emanzipationsbewegungen, z. B. der Bewohner der ehemaligen<br />

Kolonien »La Marseillaise des Citoyens des Couleurs«, bis hin zur<br />

Umformung in einen universellen Friedensgesang, z. B. Jean-Martin Paschouds<br />

»Marseillaise de la Paix«, die die Zeilen enthält: »De l’universelle<br />

patrie, puisse venir le jour rêvé, de la paix, de la paix chérie« (ebd., 164).<br />

Auch die Melodie der Hymne lässt sich wie ein kulturelles Versatzstück<br />

benutzen, um- und neuinterpretieren (zu Arrangements und<br />

Ausgaben der Marseillaise vgl. Robert 1989, 236–239). Schon zwischen<br />

1792 und 1795 wird unter dem Titel »Offrande à la Liberté« eine ›scène<br />

lyrique‹ an der Pariser Oper aufgeführt, die als dramatischen Höhepunkt<br />

die Marseillaise in Szene setzt und großen Erfolg hat (Text: Gabriel Gardel,<br />

Musik: François-Joseph Gossec). Im 20. Jh. wird sie von bedeutenden<br />

Musikern wie dem französischen Jazz-Violonisten Stéphane Grappelli<br />

(1908–1997) oder dem belgischen Jazzgitarristen Jean-Baptiste ›Django‹<br />

Reinhardt (1910–1953) sowie von berühmten Sängerinnen wie Edith Piaf<br />

(1915–1963) und Mireille Mathieu (*1946) interpretiert. Unzählige Adaptationen<br />

hat die Marseillaise auch außerhalb Frankreichs erfahren; die<br />

wohl bekannteste davon ist die Eingangsmelodie zu »All you need is love«


<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

(1967) der Beatles (zu den von der Marseillaise inspirierten Musikwerken<br />

vgl. Robert 1989, 240–244).<br />

Ein weiter Fokus kann die Marseillaise als Symbol der Republik untersuchen<br />

und mit entsprechenden anderen offi ziellen Symbolen vergleichen:<br />

Marianne, Hahn, 14. Juli, Trikolore, Devise » Liberté, Egalité, Fraternité«<br />

und Siegel mit den Inschriften »République française démocratique<br />

une et indivisible« bzw. »Au nom du peuple français« und »Egalité, fraternité,<br />

liberté« (vgl. die Internet-Seite des Elysée-Palastes http://www.<br />

elysee.fr und Kap. 4.3.3.2). Wegen ihrer Repräsentationsfunktion wird<br />

die Verunglimpfung der Hymne als Provokation des Staates verstanden.<br />

2003 wird eine Gesetzesänderung (im Rahmen der »Loi d’orientation et<br />

de programmation pour la sécurité intérieure«) erlassen, die einen Strafgegenstand<br />

»outrage à l’hymne national français« schafft, der mit einer<br />

mehrmonatigen Gefängnisstrafe und mehreren Tausend Euro Geldstrafe<br />

geahndet werden kann. Doch gibt es zahlreiche Ausnahmen, auf die das<br />

Gesetz keine Anwendung fi ndet, damit es nicht mit dem Recht auf Meinungsfreiheit<br />

kollidiert.<br />

<strong>1.</strong><strong>1.</strong>2 | Le tour de la France par deux enfants<br />

Das erfolgreichste französische Schulbuch in der Zeit der Dritten Republik<br />

(1870–1940) ist das 1877 erschienene Le tour de la France par deux enfants.<br />

Unter dem Pseudonym G. Bruno veröffentlicht, hinter dem sich die Frau<br />

eines einfl ussreichen Professors der Philosophie verbirgt, verkaufen sich<br />

bis in die 1920er Jahre über zehn Millionen Exemplare. Mit seiner bürgerlich-patriotischen<br />

Morallehre stellt der Text den Schülern des cours<br />

moyen (der letzten beiden Klassen der école primaire, die man damals<br />

im Alter von 13 Jahren verlässt) eine grundlegende nationale und lebenspraktische<br />

Orientierung bereit. Diese kann um so mehr wirken, als<br />

um die Wende zum 20. Jh. in breiten Kreisen des ländlichen Frankreich<br />

Schullektüren die einzigen Bücher vieler Familien sind, denen allenfalls<br />

noch religiöse Erbauungsschriften Konkurrenz machen. Zweifellos haben<br />

wir es also mit einem Text zu tun, der für das Selbstverständnis und die<br />

Weltsicht vieler Franzosen in der ersten Hälfte des 20. Jh.s prägend ist<br />

(vgl. Maingueneau 1979; Ozouf/Ozouf 1997).<br />

An einem regnerischen Herbsttag des Jahres 1871 machen sich zwei<br />

Brüder, der vierzehnjährige André und der siebenjährige Julien, aus dem<br />

am Nordrand der Vogesen gelegenen Städtchen Pfalzburg (Phalsbourg)<br />

auf den Weg nach Marseille. Ihre Eltern sind gestorben, und so wollen sie<br />

zu ihrem nächsten Verwandten, der auch ihr gesetzlicher Vertreter werden<br />

soll. Sie mussten nämlich ihrem Vater auf dem Totenbett versprechen,<br />

Franzosen zu bleiben, eine Möglichkeit, die den Bewohnern des gerade<br />

vom deutschen Reich annektierten Elsass-Lothringen im Friedensvertrag<br />

von Frankfurt für ein Jahr eingeräumt worden war (allerdings um<br />

den Preis des Exils). Durch ihre vorbildliche Sauberkeit, Ordnungslie-<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Le tour de la France<br />

par deux enfants<br />

Le tour de la France<br />

par deux enfants:<br />

Inhalt<br />

9

Hurra! Ihre Datei wurde hochgeladen und ist bereit für die Veröffentlichung.

Erfolgreich gespeichert!

Leider ist etwas schief gelaufen!