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1. Grundlegende Frage- stellungen - J. B. Metzler Verlag

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<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

Diesen Text – ein und denselben Gegenstand – untersuchen Landeskunde,<br />

Literatur- und Kulturwissenschaft jeweils mit unterschiedlichen Schwerpunkten<br />

in der <strong>Frage</strong>stellung.<br />

Landeskunde<br />

Eine landeskundlich orientierte Sichtweise arbeitet in erster Linie das<br />

konkrete Umfeld des Textes heraus. Dies ist in der Regel dessen sozialer,<br />

historischer und politischer Hintergrund.<br />

Der Text der Marseillaise entsteht 1792, als die Nationalversammlung<br />

Frankreichs Österreich und Deutschland den Krieg erklärt. Der Bürgermeister<br />

von Strasbourg, Baron Frédéric de Dietrich, bittet den capitaine<br />

Claude-Joseph Rouget de Lisle aus dem Bataillon »Les enfants de la Patrie«<br />

um einen Marsch zur Ermutigung der Truppen. In nur einer Nacht<br />

(25. April 1792) schreibt Rouget de Lisle den obigen Text unter dem Titel<br />

»Chant de guerre pour l’armée du Rhin«. Die Ursprungsversion hat nur<br />

sechs couplets (Strophen), die jedoch noch im gleichen Jahr von einem<br />

anonymen Autor um ein siebtes ergänzt werden, das couplet des enfants.<br />

Die Musik stammt vermutlich nicht von Rouget de Lisle.<br />

Wechselvolle Geschichte der späteren Nationalhymne: Das Lied wird<br />

unter dem Namen »Chant de guerre aux armées des frontières« von<br />

François Mireur verbreitet, der in Mar seille weilt, um einen Marsch von<br />

freiwilligen Revolutionä ren auf Paris zu organisie ren (Beginn der levée en<br />

masse). Der »Chant« wird zum Gassenhauer, die Revolutionäre singen ihn<br />

beim Einzug in die Hauptstadt am 30. Juli 1792 und bei der Verhaftung<br />

des Königs, weshalb die Pariser von der Marseil lai se sprechen. Zum Nationallied<br />

wird diese am 14. Juli 1795 erklärt (vgl. Vovelle 1997), nach dem<br />

Sturz des Kaiserreiches 1815 aber wieder offi ziell geächtet. Unter den autoritären<br />

Regimes des Premier Empire und der Restauration ist sie verboten,<br />

obwohl diejenigen, die den Ideen der Revolution die Treue halten, sie<br />

weiterhin hoch halten. Daher nimmt es nicht wunder, dass das Lied z. B.<br />

besonders bei der Julirevolution (27.–29. Juli 1830) glorifi ziert wird und der<br />

romantische Komponist Héctor Berlioz (1803–1869) ein eigenes musikalisches<br />

Arrangement entwirft. Nach dem Sturz des Second Empire (1870)<br />

wird die Marseillaise wieder offi ziell gesungen und zwar von dem großen<br />

Star der Epoche Rosa Bordas (1840–1901). Endgültig zur Nationalhymne<br />

wird sie 1879 erklärt (vgl. Hudde 1996, 99), wodurch sie unerlässliche Begleitmusik<br />

offi zieller Empfänge, Militärparaden und Staatsbesuche wird.<br />

Im Ersten Weltkrieg wird die Marseillaise zur Hymne des Patriotismus.<br />

Die derzeitige Verfassung Frankreichs von 1958 nennt sie in Artikel 2 als<br />

offi zielle Nationalhymne. Zu offi ziellen Anlässen wird die erste Strophe<br />

mit Chor gesungen.<br />

Wissen verschiedener Fachdisziplinen: Die Landeskunde bündelt Erkenntnisse<br />

aus den jeweiligen Fachdisziplinen (im vorliegenden Fall etwa<br />

Geschichte, Politik, Musikwissenschaften, Kunst), um ein komplexes Bild<br />

eines Gegenstandes zu entwerfen. So kann sie den staatsrechtlichen Stel-<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Die Marseillaise<br />

Entstehung<br />

Stellenwert einer<br />

Nationalhymne<br />

3

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