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1. Grundlegende Frage- stellungen - J. B. Metzler Verlag

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<strong>Grundlegende</strong> <strong>Frage</strong> <strong>stellungen</strong><br />

ne in einen Acker, aus denen Männer aus Eisen wachsen. Hier sieht man,<br />

dass die Marseillaise keineswegs so schlicht ist, wie es der schematische<br />

Aufbau und die wenig komplexe Syntax zunächst vermuten lassen.<br />

Kulturwissenschaft<br />

Ein kulturwissenschaftlicher Ansatz fragt insbesondere nach allgemeinen<br />

kulturellen Denkmustern, die anhand des Textes konstruiert werden<br />

können.<br />

Nationalhymne: Bei der Marseillaise liegt es nahe, sie unter dem Aspekt<br />

der nationalen Identität zu untersuchen. Nationalhymnen drücken<br />

das Gemeinschaftsgefühl einer Kultur aus, weshalb sie zu feierlichen offi<br />

ziellen Anlässen ertönen. Die Marseillaise ist eng verknüpft mit einer Erlösungs-<br />

und damit Gründungserzählung. Der romantische Schriftsteller<br />

Victor Hugo (1802–1885) drückt das so aus: »La Marseillaise est liée à la<br />

Révolution et fait partie de notre délivrance« (Georgel/Delbart 1992, 14).<br />

Zwei zentrale Wörter der Marseillaise, » citoyen« und »tyran«, markieren<br />

den Übergang von einer alten zu einer neuen Ordnung: Ersterer verweist<br />

auf die Errungenschaft der Revolution, letzterer auf das Ancien Régime,<br />

das nicht mit dem Begriff »roi«, sondern mit dem negativen »tyran« (in der<br />

Antike Bezeichnung eines willkürlichen Gewaltherrschers) belegt wird.<br />

Hinter dieser Wortwahl stehen Legitimierungs verfahren und Verpfl ichtungen<br />

auf Ideale.<br />

Gedächtnis und Erinnerung: Nationalhymnen sind ein zentrales Medium<br />

einer nationalen Erinnerungskultur (s. Kap. 4.<strong>1.</strong>3). Dass der heute<br />

blutrünstig anmutende Text der ersten Strophe der Marseillaise immer<br />

noch zu offi ziellen Anlässen gesungen wird, zeigt die Kontinuität zwischen<br />

dem heutigen Frankreich und dem Pathos der Französischen Revolution<br />

(s. Kap. 4.3.3.1). Am 14. Juli 1915 wird die Asche Rouget de Lisles<br />

in den Invalidendom überführt, Zeichen dafür, dass der Verfasser der<br />

Nationalhymne nunmehr ein Nationalheld ist, der Ideen repräsentiert,<br />

mit denen sich jeder Franzose zumindest theoretisch identifi zieren kann.<br />

Dass die Erinnerung aktiv aufrechterhalten wird, bezeugt die Loi Fillon<br />

von 2005, die das Erlernen der Marseillaise in den classes maternelles und<br />

primaires vorschreibt.<br />

Mythisierung: Die Kulturwissenschaft untersucht auch das symbolische<br />

Netz, in dem sich Texte verorten. Ein solches zeigt sich darin, dass<br />

der historische Moment, dem die Hymne entspringt, mythisiert wird.<br />

Den Augenblick, in dem de Lisle 1792 zum ersten Mal die spätere Nationalhymne<br />

singt, stellt z. B. der romantische Dichter Alphonse de Lamartine<br />

(1790–1869) im 16. Buch seiner Histoire des Girondins (1847) verklärt<br />

dar (zu literarischen Texten über die Marseillaise u. a. von Chateaubriand,<br />

Goethe und Lamartine vgl. Robert 1989, 288 f.). Der bedeutendste französische<br />

Historiker des 19. Jh.s, Jules Michelet (1798–1874), preist hingegen<br />

in seiner Histoire de la Révolution française (1847–1853) gerade das vom<br />

Enthusiasmus getragene Volk (und nicht ein Individuum!) als den neuen<br />

<strong>1.</strong>1<br />

Die Marseillaise<br />

Identität und<br />

Legitimation<br />

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