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Der Islam und die westliche Welt - Akademie Forum Masonicum

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<strong>Der</strong> <strong>Islam</strong> <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>westliche</strong> <strong>Welt</strong>:<br />

Konfrontation oder Dialog?<br />

© Dr. Stephan Schlensog, Stiftung <strong>Welt</strong>ethos, Tübingen<br />

Lassen Sie mich beginnen, liebe Zuhörerinnen <strong>und</strong> Zuhörer, mit einem Zitat. Nicht<br />

aus einer heiligen Schrift, nicht von einem Theologen, sondern von einem Politi-<br />

ker: Helmut Schmidt. In seinen Lebenserinnerungen berichtet der frühere Bun-<br />

deskanzler von einem Gespräch in den 70er Jahren mit dem ägyptischen Staat-<br />

spräsidenten Muhammad Anwar as-Sadat:<br />

»Einmal führten wir in Ägypten mehrere Tage lang ein Gespräch<br />

über religiöse Fragen. Wir fuhren zu Schiff nilaufwärts, schließlich bis<br />

nach Assuan. Die Nächte waren völlig sternenklar. Wir saßen stun-<br />

denlang an Deck, hatten Un-endlichkeit <strong>und</strong> Ewigkeit über uns <strong>und</strong><br />

sprachen über Gott. ... Sadat hoffte auf eine große friedliche Begeg-<br />

nung von Judentum, Christentum <strong>und</strong> <strong>Islam</strong>. Sie sollte symbolisch<br />

auf dem Berge Sinai stattfinden, dem Mosesberg, wie er im Arabis-<br />

chen genannt wird. Dort sollten nebeneinander eine Synagoge, eine<br />

Kirche <strong>und</strong> eine Moschee gebaut werden, um <strong>die</strong> Eintracht zu<br />

bezeugen. Tatsächlich hat Sadat 1979, zwei Jahre nach seiner<br />

Jerusalemreise, dort einen Gr<strong>und</strong>stein für <strong>die</strong> Gotteshäuser gelegt ...<br />

Sadats Friedenswille entsprang dem Verständnis <strong>und</strong> dem Respekt<br />

vor den Religionen der anderen. Erst von ihm habe ich gelernt,<br />

Lessings Parabel von den drei Ringen voll zu begreifen. Sadat hat<br />

Lessing wohl kaum gekannt, aber er hat Lessings Mahnung nicht<br />

bedurft.«<br />

Nach dem historischen Friedensvertrag von Camp David mit Israel 1979 wurde<br />

Sadat im Oktober 1981 von einem islamistischen Soldaten bei einer Militär-<br />

parade ermordet. Sein Tod setzte allen Vorhaben <strong>und</strong> Visionen <strong>die</strong>ses ganz <strong>und</strong><br />

gar ungewöhnlichen Mannes ein Ende. Was zunächst als ein tragisches sin-<br />

guläres Politiker-Schicksal aussah, sollte sich bald als symptomatisch nicht nur<br />

für <strong>die</strong> politische Entwicklung im Nahen Osten sondern für <strong>die</strong> politische Entwick-<br />

lung weltweit herausstellen: Religiös motivierte politische Fanatiker werden zu Ak-<br />

tueren der <strong>Welt</strong>politik, <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Welt</strong>, vor allem der mächtige Westen, hat dem<br />

wenig entgegenzusetzen oder reagiert – so <strong>die</strong> Lehre aus den Reaktionen auf <strong>die</strong>


Pforzheim – 2<br />

Septemberanschläge 2001 – interessengelenkt <strong>und</strong> problematisch, oder, wie Kriti-<br />

ker heute sagen, schlicht falsch.<br />

Denn viele wollen es noch immer nicht wahrhaben: Schon 1992, unmittelbar nach<br />

dem unrühmlichen Ende des Ersten Irak-Krieges unter Präsident Bush sen. <strong>und</strong><br />

ein Jahrzehnt vor dem Zweiten – hatte in den USA eine kleine Gruppe »neokon-<br />

servativer« Ideologen <strong>und</strong> Machtpolitiker begonnen, einen möglichen Präventiv-<br />

krieg – um Ölreserven, amerikanische Hegemonie <strong>und</strong> Israels »Sicherheit« –<br />

ideologisch vorzubereiten. Einer ihrer Wortführer: Paul Wolfowitz, der designierte<br />

<strong>Welt</strong>bank-Chef. Sofort nach dem Amtsantritt von Präsident Bush jun. 1999 wurde<br />

<strong>die</strong>ser Krieg exakt geplant <strong>und</strong> <strong>die</strong> Anschläge 2001 dann als Anlaß genutzt, um<br />

einen Angriff zuerst gegen Afghanistan zu führen <strong>und</strong> ihn dem (an den Anschlä-<br />

gen unbeteiligten) Irak anzudrohen. Nach vergeblicher Bemühung um eine Zu-<br />

stimmung des <strong>Welt</strong>sicherheitsrates <strong>und</strong> nach einer geradezu Orwellschen Lügen-<br />

kampagne bezüglich Kriegsgründen <strong>und</strong> -zielen begann <strong>die</strong> Bush-Administration<br />

dann im März 2003 gegen Völkerrecht <strong>und</strong> <strong>Welt</strong>öffentlichkeit den Krieg gegen den<br />

Irak mit massivster militärischer Gewalt, der schnell gewonnen werden sollte, aber<br />

bis heute, wie wir wissen, faktisch nicht beendet ist. Bagdad <strong>und</strong> große Teile des<br />

Irak befinden sich nach wie vor im Ausnahmezustand, <strong>und</strong> <strong>die</strong> <strong>Welt</strong> ist von einer<br />

friedlichen <strong>Welt</strong>ordnung weiter entfernt denn je. Deshalb mein erster Punkt:<br />

1. Drei große weltpolitische Chancen<br />

Heute wissen wir: Es geht bei all dem nicht um punktuelle Konflikte zwischen ein-<br />

zelnen Staaten oder Staatenbündnissen. Es geht um einen politisch-kulturellen<br />

Großkonflikt zwischen <strong>westliche</strong>r <strong>und</strong> nahöstlich-islamischer <strong>Welt</strong> mit Wirkungen<br />

von globalem Ausmaß bis tief in <strong>die</strong> einzelnen Länder hinein. Es geht, wenn<br />

man so will, einmal mehr um <strong>die</strong> Frage nach einer zukünftigen <strong>Welt</strong>ordnung, aber<br />

nicht nur, wie Anfang des letzten Jahrh<strong>und</strong>erts, zwischen den europäischen Na-<br />

tionalstaaten oder den politischen Großideologien, sondern auch zwischen den<br />

Religionen <strong>und</strong> Kulturen.<br />

Erinnern wir uns, um aus der Geschichte zu lernen. Dreimal hatte man im letzten<br />

Jahrh<strong>und</strong>ert <strong>die</strong> Chance für eine friedliche <strong>Welt</strong>ordnung:<br />

– Erste Chance: 1918: Ende des Ersten <strong>Welt</strong>kriegs mit r<strong>und</strong> 10 Millionen Toten.<br />

Kollaps von Deutschem Kaiserreich, Habsburgerreich, Zarenreich, Osmanischem


Pforzheim – 3<br />

<strong>und</strong> zuvor schon chinesischem Kaiserreich. <strong>Der</strong> Anfang vom Ende des eurozentri-<br />

schen Imperialismus <strong>und</strong> Kolonialismus. <strong>Der</strong> Beginn eines noch nicht definierten,<br />

aber doch von weitsichtigen Politikern anvisierten neuen Paradigmas. Es wurde<br />

von den USA vorgeschlagen: Mit seinen »14 Punkten« skizzierte Präsident Woo-<br />

drow Wilson 1918 sein Friedensprogramm: einen »Gerechtigkeitsfrieden« ohne<br />

Besiegte <strong>und</strong> <strong>die</strong> »Selbstbestimmung der Völker« ohne Annexionen <strong>und</strong> Repara-<br />

tionsforderungen. Aber: das »Versailles« der Realpolitiker Clemenceau <strong>und</strong> Lloyd<br />

George hat <strong>die</strong> Realisierung <strong>die</strong>ses neuen friedlichen Paradigmas verhindert: statt<br />

Gerechtigkeitsfrieden ein Diktatfrieden ohne <strong>die</strong> Beteiligung der Besiegten. Die<br />

Folgen: Faschismus <strong>und</strong> Nazismus (sek<strong>und</strong>iert in Fernost vom japanischen Milita-<br />

rismus), was zwei Jahrzehnte später zum noch schlimmeren Zweiten <strong>Welt</strong>krieg<br />

führen sollte.<br />

– Zweite Chance: 1945, Ende des Zweiten <strong>Welt</strong>kriegs mit 50 r<strong>und</strong> Millionen To-<br />

ten <strong>und</strong> weiteren Millionen Vertriebener. Nazismus <strong>und</strong> Faschismus besiegt, der<br />

Sowjetkommunismus nach außen stärker denn je, aber innerlich wegen Stalins<br />

Politik bereits in der Krise. Wieder geht <strong>die</strong> Initiative für eine neue <strong>Welt</strong>ordnung<br />

von den USA aus: 1945 Gründung der Vereinten Nationen in San Francisco <strong>und</strong><br />

das Bretton-Woods Abkommen zur Neuordnung der <strong>Welt</strong>wirtschaft mit der Grün-<br />

dung von Internationalem Währungsfond <strong>und</strong> <strong>Welt</strong>bank, Menschenrechtserklä-<br />

rung 1948 <strong>und</strong> amerikanischer Wirtschaftshilfe für den Aufbau Europas <strong>und</strong> des-<br />

sen Einbezug in ein Freihandelssystem. Aber: der Stalinismus hat <strong>die</strong>ses neue<br />

Paradigma für seinen Einflußbereich blockiert <strong>und</strong> damit zur Teilung der <strong>Welt</strong> in<br />

<strong>die</strong> Blöcke Ost <strong>und</strong> West geführt.<br />

– Dritte Chance: 1989, Fall der Berliner Mauer. Die erfolgreiche friedliche Revo-<br />

lution in Osteuropa <strong>und</strong> der Kollaps des Sowjetkommunismus. Nach dem<br />

Golfkrieg wieder ein amerikanischer Präsident, der ein neues Paradigma, »a New<br />

World Order«, ankündigt <strong>und</strong> mit <strong>die</strong>ser Parole enthusiastisches Echo in der <strong>Welt</strong><br />

findet. Aber im Gegensatz zu seinem Vorgänger Wilson hatte Präsident George<br />

Bush sen. wenig Ahnung, wie <strong>die</strong>ses visionäre Paradigma – er nannte es kryp-<br />

tisch »vision thing« – aussehen sollte. Und – damit sind wir bei der heutigen Fra-<br />

gestellung – anders als versprochen, keine Demokratie in Kuwait, keine Förde-<br />

rung der Demokratisierung in Saudi-Arabien <strong>und</strong> anderen autokratisch regierten<br />

Staaten, kein Ende der israelischen Besetzung Palästinas – Nährboden allen ara-<br />

bischen Terrorismus. Jahrelang hofierten <strong>die</strong> USA in Nahost immer wieder <strong>die</strong> fal-<br />

schen Fre<strong>und</strong>e – in Iran zuerst den Schah, dann gegen Iran Saddam Hussein,<br />

dann gegen Saddam Hussein <strong>die</strong> Saudis <strong>und</strong> jetzt gegen <strong>die</strong> ganze arabische<br />

<strong>Welt</strong> Ariel Sharon …


Pforzheim – 4<br />

Die Frage drängt sich auf: Sind wir womöglich erneut dabei, <strong>die</strong> Chance für eine<br />

friedlichere <strong>Welt</strong> womöglich langfristig zu verpassen? Oder umgekehrt: Was muss<br />

geschehen, daß <strong>die</strong>se Chance nicht erneut verpasst wird. Deshalb:<br />

2. Für eine neue Kultur, ein neues Paradigma internationaler Beziehungen<br />

Mir geht es hier nicht, liebe Zuhörerinnen <strong>und</strong> Zuhörer, um Utopie. Mir geht es um<br />

eine realistische Vision, deren Realisierung bereits begonnen hat: Jahrh<strong>und</strong>er-<br />

telange Gegensätze zwischen verfeindeten Nationen konnten in den letzten Jahr-<br />

zehnten dank <strong>die</strong>ser neuen Art internationaler Beziehungen friedlich überw<strong>und</strong>en<br />

werden: Nicht nur in der EU, sondern im ganzen Bereich der OECD, aller westli-<br />

chen Industriestaaten – also neben den Europäern auch, wohlgemerkt, <strong>die</strong> USA,<br />

Kanada, Mexiko, Australien, Neuseeland <strong>und</strong> Japan: ein halbes Jahrh<strong>und</strong>ert<br />

des Demokratiefriedens! Wie läßt sich <strong>die</strong>ses neue Paradigma internationaler<br />

Beziehungen gr<strong>und</strong>sätzlich umschreiben?<br />

Es besagt gr<strong>und</strong>sätzlich: statt der neuzeitlichen nationalen Interessen-, Macht-<br />

<strong>und</strong> Prestigepolitik eine Politik regionaler Verständigung, Annäherung <strong>und</strong> Ver-<br />

söhnung! Von Frankreich <strong>und</strong> Deutschland ist <strong>die</strong>s trotz aller Schwierigkeiten ex-<br />

emplarisch vorgemacht worden; zwischen Deutschland <strong>und</strong> Polen sowie<br />

Deutschland <strong>und</strong> Tschechien sind Prozesse in Gang gekommen. Dies erfordert im<br />

konkreten politischen Handeln – ganz anders als jetzt im Nahen Osten – statt<br />

Konfrontation, Aggression <strong>und</strong> Revanche wechselseitige Kooperation, Interes-<br />

senausgleich, Kompromiß <strong>und</strong> Integration.<br />

Sie sehen: Diese neue politische Gesamtkonstellation setzt offenk<strong>und</strong>ig eine Ver-<br />

änderung der Gr<strong>und</strong>einstellung voraus, <strong>die</strong> weit über <strong>die</strong> Tagespolitik hinaus-<br />

geht:<br />

– Neue Organisationen reichen dafür nicht aus, es braucht eine neue Denkart,<br />

Mentalität in der großen Politik wie in jedermanns Alltag.<br />

– Nationale, ethnische, religiöse Verschiedenheit darf in der großen wie in der<br />

kleinen Politik nicht mehr gr<strong>und</strong>sätzlich als Bedrohung, sondern muß als zumin-<br />

dest mögliche Bereicherung verstanden werden.<br />

– Während das Denken im alten Paradigma immer einen Feind, gar Erbfeind<br />

voraussetzte, braucht das Denken im neuen Paradigma (wie schon innerhalb der


Pforzheim – 5<br />

EU) keinen Feind mehr, wohl aber Partner, Konkurrenten <strong>und</strong> oft auch Oppo-<br />

nenten.<br />

– Statt militärischer Konfrontation gilt auf allen Ebenen wirtschaftliche Koopera-<br />

tion <strong>und</strong> Wettbewerb.<br />

– Denn es hat sich gezeigt, daß Demokratie <strong>und</strong> nationale Wohlfahrt auf <strong>die</strong><br />

Dauer nicht durch Krieg, sondern nur durch Frieden befördert werden, nicht im<br />

Gegen- oder Nebeneinander, sondern im Miteinander.<br />

– Und weil <strong>die</strong> (selbstverständlich weiter virulenten!) unterschiedlichen Interessen<br />

im Miteinander, in der Interessenverflechtung, befriedigt werden, ist eine Politik<br />

notwendig, <strong>die</strong> nicht mehr ein Null-Summen-Spiel ist, bei welcher der eine auf Ko-<br />

sten des anderen gewinnt, sondern ein Positiv-Summen-Spiel, bei dem alle pro-<br />

fitieren.<br />

Eine solche Politik wird freilich auf Dauer nur Erfolg haben, wenn sie sich gründet<br />

auf einen Gr<strong>und</strong>konsens bezüglich bestimmter Gr<strong>und</strong>werte, Gr<strong>und</strong>rechte <strong>und</strong><br />

Gr<strong>und</strong>pflichten. Ein solcher Gr<strong>und</strong>konsens muß von allen Aktueren mitgetragen<br />

werden, von Glaubenden wie Nichtglaubenden, von den Angehörigen der ver-<br />

schiedenen Nationen, Religionen, Philosophien <strong>und</strong> <strong>Welt</strong>anschauungen. Wir<br />

brauchen, nicht nur national, sondern auch international, kein gemeinsames<br />

ideologisches oder ethisches System, gar – wie dem <strong>Islam</strong> oder dem Westen<br />

manchmal unterstellt – eine alles dominierende Kultur. Wir brauchen aber, wenn<br />

man so will, gemeinsame elementare Spielregeln: einen gemeinsamen<br />

Gr<strong>und</strong>bestand an elementaren Werten <strong>und</strong> Maßstäben, Rechten <strong>und</strong> Pflich-<br />

ten. Diese müssen – nebenbei bemerkt – aber nicht etwa neu erf<strong>und</strong>en werden,<br />

sondern sie sind bereits in den jahrtausendealten bestehenden gemeinsamen re-<br />

ligiös-philosophischen Ressourcen der Menschheit angelegt.<br />

Aber ist <strong>die</strong>s denn überhaupt realistisch? Hier gibt es, so mein nächster Punkt:<br />

3. Verflogene Illusionen – aber auch unerschütterte Hoffnungen<br />

Verflogen ist 1. <strong>die</strong> Illusion, der menschenverachtende Terror könne statt mit ei-<br />

ner konzentrierten Polizei-, Geheim<strong>die</strong>nst-, Finanz- <strong>und</strong> Politoperation durch einen<br />

Krieg überw<strong>und</strong>en werden, mit einer gigantischen Militärmaschinerie gegen gan-<br />

ze Nationen <strong>und</strong> unübersehbaren Zerstörungen <strong>und</strong> zivilen Opfern. <strong>Der</strong> Terror<br />

wurde durch <strong>die</strong>se Strategie nicht ausgelöscht, sondern weiter ausgebreitet.


Verflogen ist 2. <strong>die</strong> Illusion, <strong>die</strong> alleinige Supermacht könne auch ohne UNO-<br />

Pforzheim – 6<br />

Mandat <strong>und</strong> Konsens der Internationalen Gemeinschaft einen weder juristisch<br />

noch moralisch gerechtfertigten Präventivkrieg nicht nur beginnen, sondern auch<br />

durchhalten.<br />

Verflogen ist 3. <strong>die</strong> Illusion, Geheim<strong>die</strong>nste könnten eindeutiges Beweismaterial<br />

liefern, um statt der bewährten Eindämmungs- <strong>und</strong> Abschreckungsstrategie eine<br />

(völkerrechtswidrige) nationale Erstschlag-Strategie zu rechtfertigen. Alle »Bewei-<br />

se« für Massenvernichtungswaffen im Irak <strong>und</strong> für eine Verbindung des Irak mit<br />

al-Kaida haben sich ja als Lug <strong>und</strong> Trug herausgestellt.<br />

Verflogen ist 4. <strong>die</strong> Illusion, das imperialistische geopolitische Gesamtkalkül,<br />

von Wolfowitz <strong>und</strong> Gesinnungsgenossen im Auftrag Cheneys schon 1993 ausge-<br />

arbeitet, sei realistisch, wenn es statt auf formeller Allianzen auf militärischee Do-<br />

minaz setzt. Eine Hegemonie der USA (<strong>und</strong> Israels) im Nahen Osten <strong>und</strong> eine<br />

Unterordnung der Alliierten in aller <strong>Welt</strong> läßt sich auf Dauer kaum etablieren.<br />

Verflogen ist damit 5. <strong>die</strong> Illusion, man könne den Kampf gegen das Böse in der<br />

ganzen <strong>Welt</strong> gewinnen <strong>und</strong> als Supermacht eine erfolgreiche Politik betreiben,<br />

wenn man selbstherrlich unilateral handle, ohne Partner <strong>und</strong> echte, aufrichtige<br />

Fre<strong>und</strong>e. Als ob nicht jedes Imperium – das römische, das französische, das briti-<br />

sche, das deutsche – gescheitert wäre, als es seine Macht überdehnte <strong>und</strong> dem<br />

Größenwahn verfiel.<br />

Verflogen ist 6. <strong>die</strong> Illusion, eine bloße Symptombekämpfung könne uns vom<br />

Terror wirklich befreien, ohne daß man sich um eine Therapie an den sozialen,<br />

ökonomischen <strong>und</strong> politischen Wurzeln kümmern müsse. Nicht noch mehr Mil-<br />

liarden für militärische <strong>und</strong> polizeiliche Zwecke sind aufzubringen, sondern viel-<br />

mehr Mittel müssen aufgebracht werden für <strong>die</strong> Verbesserung der sozialen Lage<br />

der Massen im eigenen Land <strong>und</strong> für <strong>die</strong> Globalisierungsverlierer in aller <strong>Welt</strong>, ge-<br />

rade auch in den islamischen Ländern.<br />

Verflogen ist 7. <strong>die</strong> Illusion, das Palästinenserproblem würde durch Abwarten<br />

<strong>und</strong> folgenlose Friedensermahnungen nach beiden Seiten gelöst. Es steht drin-<br />

gend <strong>die</strong> Realisierung der von den USA, EU, Rußland <strong>und</strong> UNO gemeinsam be-<br />

schlossenen »Roadmap« zum Frieden an, <strong>die</strong> Hoffnungen geweckt hat, daß <strong>die</strong>


Pforzheim – 7<br />

Großmächte endlich eine bestimmte gemeinsame Anstrengung machen würden,<br />

ein Problem zu lösen, welches mehr als jedes andere seit Jahrzehnten <strong>die</strong> Bezie-<br />

hungen zwischen dem Westen <strong>und</strong> der islamischen <strong>und</strong> arabischen <strong>Welt</strong> vergiftet<br />

hat; aber bis jetzt ist kaum Effektives getan worden, um entweder <strong>die</strong> Verhandlun-<br />

gen vorwärts zu bringen oder <strong>die</strong> Gewalt einzudämmen. Ohne eine deutliche <strong>und</strong><br />

unzweideutige Distanzierung aller Beteiligten – Europäer, Amerikaner, Israeli,<br />

Christen, Muslime <strong>und</strong> Juden – sowohl von den Selbstmordattentaten der Palästi-<br />

nenser als auch von der Besatzungspolitik der Regierung Sharons, werden Terro-<br />

rismus <strong>und</strong> auch Antisemitismus eher zunehmen als abnehmen.<br />

Wir befinden uns, liebe Zuhörerinnen <strong>und</strong> Zuhörer, zweifellos in einer heiklen<br />

Schlüsselphase für <strong>die</strong> Neugestaltung der internationalen Beziehungen. Eine<br />

Schlüsselphase auch des Verhältnisses von <strong>westliche</strong>r <strong>und</strong> islamischer <strong>Welt</strong> <strong>und</strong><br />

auch der Beziehungen zwischen den drei abrahamischen Religionen Judentum,<br />

Christentum <strong>und</strong> <strong>Islam</strong>. Die Optionen liegen auf der Hand:<br />

– Entweder Rivalität der Religionen, Zusammenprall der Kulturen, Krieg der<br />

Nationen<br />

– oder Dialog der Kulturen <strong>und</strong> Frieden zwischen den Religionen als<br />

Voraussetzung für Frieden zwischen den Nationen!<br />

Doch viele fragen:<br />

4. Ist der <strong>Islam</strong> überhaupt fähig zum Dialog?<br />

Seien wir fair: Seit den Anschlägen 2001 droht ein Generalverdacht – jetzt nicht<br />

gegenüber Juden, sondern gegenüber Muslimen: Als ob sie, von ihrer Religion<br />

aufgehetzt, allesamt potenziell gewalttätig wären …<br />

Seien wir fair: Selbstverständlich lehnen wir Bürger eines demokratischen Rechts-<br />

staates im Namen der Menschenwürde Zwangsverheiratungen, Frauenunter-<br />

drückung, Ehrenmorde <strong>und</strong> andere archaische Unmenschlichkeiten ab. Aber das<br />

tun mit uns auch <strong>die</strong> meisten Muslime. Sie leiden darunter, daß oft allzu pauschal<br />

über »<strong>die</strong>« Muslime oder »den« <strong>Islam</strong> der Stab gebrochen wird. Sie erkennen<br />

sich in unserem <strong>Islam</strong>-Bild nicht wieder, denn sie wollen loyale Staatsbürger is-<br />

lamischer Religion sein.


Pforzheim – 8<br />

Seien wir fair: Wer »den« <strong>Islam</strong> für Entführungen, Selbstmordattentate, Auto-<br />

bomben <strong>und</strong> Enthauptungen einiger verblendeter Extremisten verantwortlich ma-<br />

chen will, könnte genau so umgekehrt für <strong>die</strong> barbarischen Gefangenen-<br />

misshandlungen <strong>und</strong> -tötungen, Bombar<strong>die</strong>rungen <strong>und</strong> Panzerangriffe der US-<br />

Armee »das« Christentum verurteilen <strong>und</strong> für den Terror der israelischen<br />

Besatzungsarmee in Palästina »das« Judentum.<br />

Entsprechend betonte UN-Generalsekretär Kofi Annan in seiner Tübinger <strong>Welt</strong>-<br />

ethos-Rede im Jahr 2003: »Keine Religion <strong>und</strong> kein ethisches System sollten je<br />

wegen moralischer Entgleisungen einiger ihrer Anhänger verurteilt werde. Wenn<br />

ich als Christ beispielsweise nicht will, dass mein Glaube nach den Handlungen<br />

der Kreuzritter oder der Inquisition beurteilt wird, muss ich auch selbst sehr vor-<br />

sichtig sein, um nicht den Glauben eines anderen nach den Handlungen zu beur-<br />

teilen, <strong>die</strong> einige wenige Terroristen im Namen ihres Glaubens begehen.«<br />

Sollen wir also mit gegenseitiger Aufrechnung weiterfahren, <strong>die</strong> nur tiefer in <strong>die</strong><br />

Misere führt? Nein, eine andere Gr<strong>und</strong>einstellung zu Gewalt <strong>und</strong> Krieg ist gefor-<br />

dert, <strong>die</strong> im Gr<strong>und</strong>e überall <strong>die</strong> Völker wünschen, wenn sie nicht von machtbe-<br />

sessenen <strong>und</strong> verblendeten Staatslenkern irregeführt <strong>und</strong> von Ideologen <strong>und</strong> De-<br />

magogen in den Me<strong>die</strong>n verdummt werden.<br />

Gewalt wurde im Zeichen des Halbmonds, aber auch im Zeichen des Kreuzes<br />

geübt, von mittelalterlichen <strong>und</strong> zeitgenössischen »Kreuzrittern«, <strong>die</strong> das Versöh-<br />

nungszeichen des Kreuzes in ein Kriegszeichen verkehrten. Beide Religionen ha-<br />

ben in der Geschichte ihre Einflussbereiche aggressiv ausgedehnt <strong>und</strong> ihre Macht<br />

mit Gewalt verteidigt. Sie haben in ihrem Bereich eine Ideologie nicht des Frie-<br />

dens, sondern des Krieges propagiert.<br />

Und wenn ich hier für einen kritischen Dialog von <strong>westliche</strong>r Kultur <strong>und</strong> <strong>Islam</strong><br />

plä<strong>die</strong>re, dann bin ich weder für eine Verwischung der Gegensätze noch für eine<br />

synkretistische Vermischung von Religionen <strong>und</strong> Kulturen. Ich plä<strong>die</strong>re für eine<br />

redliche Annäherung <strong>und</strong> Verständigung, <strong>die</strong> gründet in beidseitigem Selbstbe-<br />

wußtsein, in Sachlichkeit <strong>und</strong> Fairneß <strong>und</strong> im Wissen um das Trennende, aber<br />

auch um das Verbindende.<br />

Innerislamische Faktoren, welche <strong>die</strong>sen Prozeß bremsten <strong>und</strong> bremsen, sind<br />

hinlänglich bekannt:


Pforzheim – 9<br />

– Ein ungehmmtes Bevölkerungswachstum führte in vielen muslimischen Län-<br />

dern zu Massen von arbeitslosen Jugendlichen, zu Auswanderung <strong>und</strong> vor allem<br />

zu religiöser Radikalisierung.<br />

– Westliche politische Einmischung, Arroganz <strong>und</strong> Überlegenheitsdenken nährten<br />

das Klischee vom amoralischen Westen <strong>und</strong> förderten umgekehrt <strong>die</strong> Entwicklung<br />

eines neuen islamischen – oder besser: islamistischen – Selbstbewusstseins.<br />

– <strong>Der</strong> Zusammenbruch des Kommunismus ließ den <strong>Islam</strong> <strong>und</strong> den Westen ohne<br />

gemeinsamen Feind zurück, was <strong>die</strong> gegenseitige Feindbild-Entwicklung ver-<br />

stärkte.<br />

– Die zunehmende Vermischung der Kulturen durch Immigration <strong>und</strong> Mobilität<br />

förderte vor allem in traditionell-islamischen Kreisen verstärkt kulturelle Profilie-<br />

rung <strong>und</strong> religiöses Identitätsbewusstsein mit all den bekannten negativen Fol-<br />

gen für Dialogfähigkeit <strong>und</strong> Integration.<br />

Aber: Wie das Christentum im 19. <strong>und</strong> beginnenden 20. Jahrh<strong>und</strong>ert so steht der<br />

<strong>Islam</strong> weltweit heute vor der Frage, inwieweit es gelingt, islamische Substanz <strong>und</strong><br />

muslimische Identität zu verbinden mit den Herausforderungen des 21.<br />

Jahrh<strong>und</strong>erts. Welche Tendenzen werden sich hier im <strong>Islam</strong> schließlich<br />

durchsetzen?<br />

Diese Frage ist offen. Aber auch im <strong>Islam</strong> gibt es bei allen reaktionären Gegen-<br />

bewegungen jene vielen aufgeklärten Muslime, <strong>die</strong> eine »Über-setzung« der ur-<br />

sprünglichen islamischen Botschaft ins Heute versuchen, um so authentische<br />

religiöse Identität zu verbinden mit den Anforderungen einer demokratischen,<br />

pluralistischen <strong>und</strong> leistungsorientierten Gesellschaft mit Konsequenzen im<br />

Politischen wie Religiösen:<br />

• Politisch: Viele Muslime von Marokko bis Iran, von Afghanistan bis Indonesien<br />

hoffen (<strong>und</strong> treten auch offen dafür ein), daß <strong>Islam</strong> <strong>und</strong> moderne Demokratie<br />

sich finden: ein demokratisches System mit Gewaltenteilung, eine von der<br />

Geistlichkeit unabhängige Regierung <strong>und</strong> unabhängige Parteien. Glaubens-<br />

<strong>und</strong> Gewissensfreiheit, Widerstandsrecht <strong>und</strong> legale Opposition. Für <strong>die</strong><br />

Frauen das Recht der Eigenverantwortung <strong>und</strong> der Teilnahme an allen Berei-<br />

chen des öffentlichen Lebens, an Bildung <strong>und</strong> politischen Entscheidungen.<br />

• Religiös: Viele gebildete Muslime, aufgeschlossene Ulama ebenso wie inter-<br />

essierte »Laien«, möchten den geschichtlichen Charakter der göttlichen Of-<br />

fenbarung im Koran ernstnehmen. Also keine buchstabenfixierte Auslegung<br />

<strong>und</strong> traditionsfixierte Argumentation, sondern eine Auslegung nach Geist <strong>und</strong>


Pforzheim – 10<br />

Sinn des gesamten prophetischen Buches. Kein legalistisch überwuchertes,<br />

sondern ein nach den Maßstäben des Ur-<strong>Islam</strong> geläutertes <strong>und</strong> für unsere Zeit<br />

neu interpretiertes religiöses Erbe.<br />

Tatsache ist freilich, daß <strong>die</strong> islamische <strong>Welt</strong> den Westen mit all seinen offen-<br />

sichtlichen gesellschaftlichen Problemen nicht einfach kopieren will oder kopieren<br />

wird. Dazu sind wir in vielerlei Hinsicht ein zu schlechtes Vorbild. Und Tatsache ist<br />

auch, daß <strong>die</strong> nicht-muslimische <strong>Welt</strong> ganz wesentlich mitentscheiden wird, wie<br />

sich der <strong>Islam</strong> <strong>und</strong> sein Verhältnis zur nichtmuslimischen <strong>Welt</strong> in den nächsten<br />

Jahren <strong>und</strong> Jahrzehnten entwickelt. Prüfstein wird dabei zweifelsohne der Nahost-<br />

Konflikt sein, aber auch andere regionale Krisen- <strong>und</strong> Konfliktherde besonders in<br />

Afrika <strong>und</strong> Asien, <strong>die</strong> nicht ohne unparteiische <strong>und</strong> ehrliche Maklerschaft <strong>und</strong><br />

Hilfe der Völkergemeinschaft befriedet werden können. Nur eine gerechte poli-<br />

tische Lösung <strong>die</strong>ser Konfliktherde kann langfristig f<strong>und</strong>amentalistischen Scharf-<br />

machern <strong>die</strong> Argumente aus der Hand nehmen <strong>und</strong> damit helfen, innerislamisch<br />

aufgeklärten <strong>und</strong> reformbereiten Kräften den Rücken zu stärken.<br />

Damit aber genug der weltpolitischen Betrachtung <strong>und</strong> zum Schluß den Blick<br />

zurück zu uns nach Deutschland:<br />

5. Innerdeutsche Herausforderungen <strong>und</strong> zu lösende »Hausaufgaben«<br />

Über drei Millionen Menschen islamischen Glaubens leben bei uns in Deutsch-<br />

land, viele von ihnen bereits in der zweiten <strong>und</strong> dritten Generation. Um so er-<br />

schreckender ist das Ausmaß an Gleichgültigkeit <strong>und</strong> Unverständnis, an Ableh-<br />

nung oder gar Aggression, das immer noch herrscht. Nach wie vor wissen wir –<br />

auf beiden Seiten – viel zu wenig voneinander.<br />

Hier sind zu allererst Erziehung <strong>und</strong> Bildung gefragt. Daß hier gerade auf Seiten<br />

der muslimischen Mitbürger immense Probleme <strong>und</strong> Defizite herrschen, darf nicht<br />

verschwiegen oder verschönert werden. Nur einige Beispiele:<br />

– Nach wie vor werden muslimische Kinder Opfer traditioneller Familienstruk-<br />

turen. Immer noch suchen oft <strong>die</strong> Väter in türkischen Familien in der alten Hei-<br />

mat eine Ehepartnerin oder einen Ehepartner für ihr Kind aus. Viele der jungen,<br />

aus der Türkei eingeflogenen Ehefrauen können noch nicht einmal Türkisch le-<br />

sen <strong>und</strong> schreiben.


Pforzheim – 11<br />

– Nach einer UNESCO-Statistik sind weit über 20% der Frauen in der Türkei An-<br />

alphabetinnen. So entstehen Familien, in denen Kinder als zweisprachige An-<br />

alphabeten aufwachsen.<br />

– Fast 40% der in Berlin eingeschulten türkischen Kinder sprechen kein Deutsch.<br />

Die Folge ist oft ein frühes Bildungsfiasko. Weit über ein Drittel der jungen<br />

Türken in Berlin schafft keinen Hauptschulabschluß.<br />

– Regen Zulauf haben – freilich mangels Alternativen! – <strong>die</strong> Koranschulen <strong>die</strong><br />

oft f<strong>und</strong>amentalistische Gruppen in vielen Städten unterhalten. Die türkische<br />

Schauspielerin <strong>und</strong> Buchatorin Renan Demirkan schrieb dazu schon vor über<br />

zehn Jahren in einem Spiegel-Essay: »Keiner wollte ihre Sprache hören, nie-<br />

mand ihre Musik, nur ganz wenige Nachbarn interessierten sich für ihren Alltag<br />

<strong>und</strong> kaum jemand hat je nach ihren Träumen <strong>und</strong> Gebeten gefragt – hat sie<br />

ernst genommen. Seit 1984 habe ich immer wieder auf den Religionsunterricht<br />

in den Hinterhöfen hingewiesen, um dafür zu werben, den <strong>Islam</strong> aus der<br />

Anonymität in <strong>die</strong> Öffentlichkeit der Schulen zu bringen, damit den moslemis-<br />

chen <strong>und</strong> den christlichen Kindern- eine Begegnung zu ermöglichen <strong>und</strong> Äng-<br />

ste abzubauen. Das wurde aber nicht ernst genommen. Und plötzlich ist <strong>die</strong>se,<br />

seit zwei Jahrzehnten ghettoisierte, Religion eine Bedrohung geworden.« Da-<br />

ran hat sich bis heute nicht sehr viel geändert.<br />

– <strong>Der</strong> Trend der Abkapselung wird durch <strong>die</strong> Me<strong>die</strong>n, den Konsum einseitiger<br />

<strong>und</strong> mitunter auch fragwürdig-tendenziöser TV-Programme verstärkt: Dem<br />

Zentrum für Türkeistu<strong>die</strong>n in Essen zufolge sehen türkische Jugendliche zwis-<br />

chen 14 <strong>und</strong> 19 Jahren via Kabel <strong>und</strong> Satellit fast nur noch türkische Pro-<br />

gramme <strong>und</strong> koppeln sich damit auch medial von dem Land ab, in dem sie ge-<br />

boren <strong>und</strong> aufgewachsen sind.<br />

– Dieser Mehrheitstrend unter den türkischen Jugendlichen verspricht eine hoch-<br />

gradig konflikthafte Entwicklung, denn <strong>die</strong> wirklich Integrationswilligen treffen<br />

umgekehrt oft auf eine Gesellschaft, <strong>die</strong> ihnen kaum signalisiert, daß sie Wert<br />

auf sie legt. Dabei flüchten sich Jugendliche auch in neue Formen national-<br />

istischer Selbstdefinition <strong>und</strong> -abgrenzung: Mehr als ein Drittel von reprä-<br />

sentativ befragten türkischen Jugendlichen im Alter zwischen 15 <strong>und</strong> 21 Jahren<br />

fühlt sich durch <strong>die</strong> extreme islamische <strong>und</strong> nationalistische Gruppen gut<br />

vertreten.<br />

Die Liste der Probleme liese sich noch lange fortsetzen.


Die Lösungen liegen aber bei uns, gemeinsam zu finden von Muslimen <strong>und</strong><br />

Pforzheim – 12<br />

Nichtmuslimen. Denn wir hier in Deutschland müssen politische Wege finden,<br />

wie wir mit der Integrationsproblematik fertig werden <strong>und</strong> das Funktionieren einer<br />

multi-religiösen <strong>und</strong> multi-kulturellen Gesellschaft, <strong>die</strong> wir nun einmal haben, ob<br />

wir wollen oder nicht, bewerkstelligen.<br />

Wer bei uns leben will, braucht seine kulturelle Herkunft nicht zu verleugnen. Er<br />

muss aber bereit sein, so wird zurecht immer wieder betont, <strong>die</strong> Gr<strong>und</strong>werte unse-<br />

rer Verfassung <strong>und</strong> unsere demokratischen Regeln zu akzeptieren. Und <strong>die</strong> mei-<br />

sten Muslime, <strong>die</strong> bei uns leben, wissen den Schutz unserer Verfassung <strong>und</strong> <strong>die</strong><br />

Offenheit <strong>die</strong>ser Gesellschaft zu schätzen. Und sie wissen, dass beides eng mit-<br />

einander zusammen hängt: Wir können nur dann eine offene Gesellschaft bleiben,<br />

wenn sich keine Inseln bilden, <strong>die</strong> außerhalb unseres gesellschaftlichen Gr<strong>und</strong>-<br />

konsenses liegen.<br />

Ich möchte hier deshalb abschließend knapp drei wie mir scheint zentrale Pro-<br />

blem- <strong>und</strong> Handlungsfelder benennen, <strong>die</strong> Liste ließe sich leicht verlängern:<br />

1. Schulen <strong>und</strong> Bildung: Seit zwei Jahrzehnten diskutiert man in Deutschland<br />

unter Spezialisten, in Kommissionen <strong>und</strong> Arbeitskreisen, in Parteigremien <strong>und</strong><br />

Ausschüssen über den islamischen Religionsunterricht – ohne dabei bisher zu<br />

tragfähigen Lösungen gekommen zu sein. Pilotprojekte <strong>und</strong> Modellversuche – oft<br />

auf Privatinitiative entstanden – zeigen: Nur wenn wir jungen Muslimas <strong>und</strong> Mus-<br />

limen das Angebot eines deutschsprachigen, nach unseren Regeln strukturierten<br />

<strong>und</strong> konzipierten islamischen Religionsunterrichts machen, können wir der Selbst-<br />

ghettoisierung ernsthaft etwas entgegensetzen. Dazu brauchen wir muslimische<br />

Lehrerinnen <strong>und</strong> Lehrer, Erzieherinnen <strong>und</strong> Erzieher, <strong>die</strong> wir hier in Deutschland<br />

nach unseren Standards ausbilden <strong>und</strong> qualifizieren. Kindergärten <strong>und</strong> Schulen<br />

müssen Lernorte werden für interkulturelles Lernen, wo sonst, wenn nicht dort,<br />

<strong>und</strong> zwar möglichst früh, soll <strong>die</strong>s denn geschehen?<br />

2. Die Sprachbarriere: Aus falsch verstandener Toleranz <strong>und</strong> politisch einseitiger<br />

Ideologie wurde allzu lange das Problem mangelnder sprachlicher Integration –<br />

vor allem muslimischer Frauen <strong>und</strong> Mädchen – völlig unterschätzt. Auch hier ist<br />

<strong>die</strong> Politik gefordert mit der Erstellung gesetzlicher Rahmenbedingungen <strong>und</strong> Mi-<br />

nimalanforderungen als Voraussetzung für Bleiberecht <strong>und</strong> Integration. Hier le-<br />

bende Muslime müssen unsere Sprache sprechen, damit sie unsere Gesellschaft


Pforzheim – 13<br />

verstehen <strong>und</strong> damit sich unsere Gesellschaft ihnen verständlich machen kann,<br />

von den Folgen für Gleichberechtigung <strong>und</strong> Bildung ganz zu schweigen. Seit<br />

Jahrzehnten ist <strong>die</strong>s in vielen außereuropäischen Ländern Standard <strong>und</strong> wird dort<br />

mit Erfolg praktiziert.<br />

3. Christliche Theologie <strong>und</strong> Kirchen: Nach wie vor haben <strong>die</strong> christlichen Kir-<br />

chen ein – gelinde gesagt – vages Verhältnis zu den <strong>Welt</strong>religionen allgemein <strong>und</strong><br />

dem <strong>Islam</strong> im Besonderen. Theologen <strong>und</strong> kirchliche Be<strong>die</strong>nstete sind in interreli-<br />

giösen Fragen schlecht oder oft gar nicht augebildet. <strong>Der</strong> Erwerb interreligiöser<br />

Kompetenz ist bis heute nicht Bestandteil theologisch-pastoraler Ausbildung.<br />

Doch sind gerade <strong>die</strong> Kirchen in religiösen Fragen unentbehrliche Gespräch-<br />

splattform <strong>und</strong> Gesprächspartner. Politisch-soziale Integration <strong>und</strong> religiöse<br />

Verständigung müssen Hand in Hand gehen, wenn sie langfristig Bestand haben<br />

wollen.<br />

Und damit komme ich, liebe Zuhörerinnen <strong>und</strong> Zuhörer, endlich zum Schluß: Es<br />

gibt in <strong>die</strong>sen komplizierten Fragen interkultureller Verständigung keine Patentre-<br />

zepte. Sollte ich <strong>die</strong>sen Eindruck erweckt haben, dann haben Sie mich falsch ver-<br />

standen. Ob aber jene, <strong>die</strong> heute einen Zusammenprall der Kulturen als unaus-<br />

weichliches Szenario <strong>die</strong>ses Jahrh<strong>und</strong>erts prognostizieren, am Ende Recht be-<br />

kommen, hängt von uns allen ab: lokal, national weltweit. Die Probleme, <strong>die</strong>s<br />

wollte ich Ihnen heute zeigen hängen zusammen, im Großen wie im Kleinen, in<br />

der <strong>Welt</strong>politik wie in unserem Land.<br />

Deshalb am Ende nochmals jene Sätze, welche zum Programm meiner/unserer<br />

theologischen Arbeit wurden <strong>und</strong> welche <strong>die</strong>sen Zusammenhang programmatisch<br />

auf den Punkt bringen:<br />

Kein Friede unter den Nationen ohne Friede zwischen den Religionen, <strong>und</strong><br />

kein Friede zwischen den Religionen ohne kritischen <strong>und</strong> aufrichtigen Dia-<br />

log!

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