Historisches Erbe und Transformation: „Lateinische“ Gewinner ...
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Anschrift des Autors:<br />
<strong>Historisches</strong> <strong>Erbe</strong> <strong>und</strong> <strong>Transformation</strong>:<br />
<strong>„Lateinische“</strong> <strong>Gewinner</strong> - „Orthodoxe“ Verlierer ?<br />
von<br />
FB Wirtschaftswissenschaften, AWM<br />
Universität Hamburg<br />
Von-Melle-Park 5<br />
20146 Hamburg<br />
Germany<br />
Stephan Panther<br />
Tel.: +49 40 4123 5573<br />
Fax: +49 40 4123 6329<br />
email: panther @ hermes1.econ.uni -hamburg.de
1 Einleitung<br />
Die Euphorie, welche den Beginn der <strong>Transformation</strong> in den ehemals sowjetsozialistischen<br />
Staaten Mittel- <strong>und</strong> Osteuropas in den Jahren 1989-1991 begleitete ist verflogen,<br />
Erfolgsmeldungen mischen sich mit Hiobsbotschaften, man beginnt die Entwicklungschancen<br />
der verschiedenen Staaten unterschiedlich zu beurteilen. Im folgenden wird argumentiert, daß<br />
es sich nicht zufälligerweise abzeichnet, daß die Grenze zwischen relativ erfolgreicher <strong>und</strong><br />
eher scheiternder <strong>Transformation</strong> mit derjenigen zwischen „lateinischen“ <strong>und</strong> „orthodoxen“<br />
Staaten zusammenfällt. 1 Vielmehr wird hier eine kulturelle Scheidelinie sichtbar, 2 die<br />
historische Erbschaften trennt, welche die Chancen des erfolgreichen Übergangs zu<br />
demokratischen <strong>und</strong> marktwirtschaftlichen Gesellschaften unterschiedlich verteilen. Nach der<br />
Erläuterung der hierbei vermuteten Kausalitäten liegt der Schwerpunkt der Untersuchung auf<br />
der Darstellung der historischen Genese dieser Erbschaften. 3<br />
Die Grenze zwischen „lateinischem“ <strong>und</strong> „orthodoxen“ Europa verläuft in etwa zwischen<br />
Estland, Lettland, Litauen, Polen, der Slowakei, Ungarn <strong>und</strong> Kroatien im Westen <strong>und</strong><br />
Rußland, Weißrußland, der Ukraine, Rumänien <strong>und</strong> Rest-Jugoslawien im Osten. Die<br />
Bevölkerung der Staaten westlich dieser Linie ist bis heute vorwiegend römisch-katholisch<br />
bzw. protestantisch. Bis zur Reformation bildete dies das Gebiet der „lateinischen<br />
Christenheit“. Von diesem Begriff leitet sich das hier benutzte Kürzel „lateinsch“ zur<br />
Benennung dieser Staatengruppe ab. Die Staaten südlich <strong>und</strong> östlich von dieser Linie sind bis<br />
heute vorwiegend griechisch-orthodox, mit moslemischen Minderheiten <strong>und</strong> der Ausnahme<br />
1 Diese These wurde bisher vor allem von Politikwissenschaftlern diskutiert. Beispiele sind<br />
Geiss (1991) <strong>und</strong> Huntington (1993), oder auch Foucher <strong>und</strong> Geremek (1992). Rondholz<br />
(1994) ist eine kritische Literaturdiskussion.<br />
2 Davies (1996, S. 18, 27-29) gibt einen Überblick über verschiedene kulturelle<br />
Trennungslinien in Europa.<br />
3 Der vorliegende Beitrag ist einer von dreien, die mit unterschiedlichen Schwerpunkten um<br />
die selben zentralen Thesen kreisen. Panther (1997a) setzt sich intensiv mit der<br />
Konzeptionalisierung kulturellen Einflusses auf die Ökonomie im Umfeld der Neuen<br />
Institutionenökonomik auseinander, Panther (1997b) unterwirft die zentralen Thesen einer<br />
ersten empirischen Überprüfung.<br />
1
des moslemisch geprägten Albanien. Bosnien hat, wie inzwischen auf tragische Weise<br />
bekannt, Anteil an beiden Welten. 4<br />
Die hier vertretene Argumentation, warum orthodoxe <strong>und</strong> lateinische Staaten unterschiedliche<br />
Voraussetzungen für eine erfolgreiche <strong>Transformation</strong> mitbringen, läßt sich in zwei<br />
Hypothesen zusammenfassen:<br />
Hypothese 1:<br />
Der Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft ist in lateinischen Staaten höher als in<br />
orthodoxen. Je länger die Dauer lateinischer Dominanz (je größer die “Latinität“), um so<br />
stärker die Zivilgesellschaft.<br />
Hypothese 2:<br />
Der Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft ist der entscheidende institutionelle Faktor für<br />
den politischen <strong>und</strong> ökonomischen <strong>Transformation</strong>serfolg in Osteuropa.<br />
Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft meint dabei die Verbreitung einer bestimmten<br />
Kombination von Werten, Normen <strong>und</strong> Interaktionsstrukturen, die u.a. zu einem<br />
vergleichsweise hohen Vertrauen der Bürger eines Landes in dessen staatliche Strukturen <strong>und</strong><br />
untereinander führen. Bereits an dieser Stelle soll gesagt werden, daß die in Hypothese 1<br />
unterstellte Kausalität nicht auf Religion als primären Faktor abstellt. Das religiöse<br />
Bekenntnis hat zwar anfänglich durchaus eine Rolle gespielt, allerdings eher aufgr<strong>und</strong><br />
institutioneller, weniger aufgr<strong>und</strong> dogmatischer Unterschiede. 5 Diese <strong>und</strong> andere Unterschiede<br />
formeller <strong>und</strong> informeller Institutionen verstärken sich im folgenden kumulativ. Der<br />
Gesamtkomplex liegt der ersten Hypothese zugr<strong>und</strong>e.<br />
Der Einfluß des Entwicklungsstandes der Zivilgesellschaft auf den <strong>Transformation</strong>serfolg<br />
gemäß Hypothese 2 schließt den in der Neuen Institutionenökonomik traditionell vor allem<br />
thematisierten Einfluß formeller Institutionen auf den ökonomischen <strong>Transformation</strong>serfolg<br />
4 Auch in anderen Gebieten ist die Zuordnung nicht eindeutig. Weißrußland <strong>und</strong> große Teile<br />
der Ukraine gehörten im 15.-18. Jhdt. zu Polen-Litauen <strong>und</strong> haben daher bis heute mit Rom<br />
unierte Minderheitskirchen. Der westlich der Karpaten gelegene Teil Rumäniens gehörte bis<br />
1918 zu Ungarn <strong>und</strong> beherbergt bis heute eine starke ungarische (<strong>und</strong> eine kleine deutsche)<br />
Minderheit. Ähnliches gilt für den Norden des heutigen Jugoslawiens. Für den Rest der<br />
Untersuchung gehen wir von der im Haupttext aufgezeigten Grenze aus.<br />
5 Siehe S. 8, 14.<br />
2
mit ein. 6 Die Errichtung dieser Institutionen, die private Eigentumsrechte <strong>und</strong> staatliche<br />
Zurückhaltung bei Eingriffen in den Markt garantieren sollen - im Zusammenhang mit der<br />
<strong>Transformation</strong> häufig unter den Schlagwörtern Liberalisierung <strong>und</strong> Demokratisierung<br />
zusammengefaßt - stellt ja gerade den politischen <strong>Transformation</strong>serfolg dar. In der Sicht<br />
dieses Beitrags läßt sich dieser jedoch vor allem de facto um so weitgehender durchsetzen, je<br />
stärker die zivilgesellschaftlichen Traditionen eines Landes sind. Darüber hinaus erleichtern<br />
diese unmittelbar die Kooperation der wirtschaftlichen Akteure. Abbildung 1 faßt die gesamte<br />
Argumentationsstruktur noch einmal schematisch zusammen.<br />
Reform formeller<br />
Institutionen:<br />
Liberalisierung <strong>und</strong><br />
Demokratisierung<br />
Ökonomische Effizienz<br />
<strong>und</strong> Wachstum<br />
Entwicklungsstand der<br />
Zivilgesellschaft<br />
„Latinität“<br />
Abbildung 1: Schema der Argumentation<br />
6 Insbesondere im Anschluß an North (1990) finden sich in jüngster Zeit zunehmend auch<br />
Analysen informeller Institutionen im Umfeld der Neuen Institutionenökonomik. Für eine<br />
ausführlichere Diskussion siehe Panther (1997a). Aus dieser Sicht zur<br />
<strong>Transformation</strong>sproblematik vgl. auch Leipold (1997) <strong>und</strong> die darin enthaltenen<br />
Literaturangaben.<br />
3
Der folgende Abschnitt wird Hypothese 2 erläutern. In Abschnitt 3 werden die historischen<br />
Bedingungen für die Entstehung zivilgesellschaftlicher Strukturen in Westeuropa erläutert.<br />
Abschnitt 4 vergleicht dann die historische Entwicklung im lateinischen <strong>und</strong> orthodoxen<br />
Osteuropa miteinander <strong>und</strong> mit derjenigen in Westeuropa, um so Hypothese 1 historisch zu<br />
belegen. Abschnitt 5 zieht die Schlußfolgerungen.<br />
2 Zivilgesellschaft<br />
2.1 Das Konzept der Zivilgesellschaft<br />
Das Konzept der Zivilgesellschaft ist zu Beginn der neunziger Jahre in die<br />
sozialwissenschaftliche Diskussion zurückgekehrt. 7 Es beinhaltet eine bestimmte Sicht auf das<br />
was - um ein anderes geläufiges Konzept zu benutzen - die bürgerliche Gesellschaft ausmacht.<br />
Wir benutzen es in der Operationalisierung, die ihm Putnam (1993) in einer Studie über<br />
Italien gegeben hat. 8 Danach ist eine gut entwickelte Zivilgesellschaft, im italienischen<br />
Kontext sind dies die nördlichen Regionen, gekennzeichnet durch Werte <strong>und</strong> Normen, die von<br />
den Akteuren verlangen, einander als Gleiche zu behandeln <strong>und</strong> Toleranz zu üben, sowie<br />
wechselseitige Solidarität ermutigen. Dieser normative Kanon ist durch wechselseitige<br />
Verstärkungen verb<strong>und</strong>en: Wenn Mitglieder einer Zivilgesellschaft miteinander zu tun haben,<br />
sehen sie sich nicht in erster Linie als Vertreter unterschiedlicher Stände, Klassen oder<br />
Regionen, sondern als gleichberechtigte Mitglieder einer Gesellschaft. Dabei handelt es sich<br />
in erster Linie um eine subjektive Gleichheit. Allerdings dürfte diese mit krasser objektiver<br />
7 Das Konzept wurde im 18. Jhdt. als der Zentralbegriff liberaler Gesellschaftstheorie<br />
entwickelt, wurde aber nach seiner vollen Entfaltung im Werk von Tocqueville im 19. Jhdt.<br />
kaum noch benutzt. Gellner (1995) <strong>und</strong> Seligman (1992) sind aktuelle konzeptionelle <strong>und</strong><br />
historische Darstellungen.<br />
8 Putnam begann seine Studie „Making Democracy Work“ (1993) als empirische<br />
Untersuchung der Leistungsfähigkeit der Anfang der 70’er Jahre in Italien neu eingeführten<br />
Regionalregierungen. Die Daten wurden in den folgenden zwei Jahrzehnten nach<br />
verschiedenen Methoden (repräsentative <strong>und</strong> Expertenumfragen, Feldstudien, Auswertung<br />
offizieller Statistiken) gewonnen. Der den Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft messende<br />
Index erklärte die Leistung der Regionalregierungen am besten. Er nahm von Norden nach<br />
Süden ab.<br />
4
Vermögens- <strong>und</strong> Einkommensungleichheit unvereinbar sein. 9 Gleichberechtigte Interaktion<br />
erzeugt ein allgemeines Gefühl der gegenseitigen Solidarität. Nicht daß die Mitglieder einer<br />
Zivilgesellschaft Heilige wären oder ihre individuelle Identität zugunsten einer<br />
Gruppenidentität verschwände. Vielmehr geht es hier um eine gr<strong>und</strong>sätzliche Einstellung. 10<br />
Gegenseitige Toleranz ermöglicht es in spezifischen Angelegenheiten miteinander zu<br />
kooperieren, über bestehende (Interessen)Unterschiede auf anderen Gebieten hinweg. Es<br />
entsteht ein dichtes Netz von Vereinigungen, zu den verschiedensten, politischen,<br />
ökonomischen <strong>und</strong> anderen Zwecken, in denen sich Akteure zur gemeinsamen Verfolgung<br />
gemeinsamer Interessen zusammenschließen. Eine Zivilgesellschaft ist als Konsequenz durch<br />
ein vergleichsweise hohes Maß an Interesse an öffentlichen Angelegenheiten gekennzeichnet,<br />
gekoppelt mit der Bereitschaft, ein nicht unbeträchtliches Maß an Zeit <strong>und</strong> Energie auf sie zu<br />
verwenden. Als Folge findet man das bereits erwähnte hohe Maß an Vertrauen zwischen<br />
Nichtverwandten <strong>und</strong> in öffentliche Institutionen. 11<br />
Im letzten Kapitel seines Buches, nähert Putnam dieses Konzept an aus der Neuen<br />
Institutionenökonomik vertraute Denkfiguren an. Eine Zivilgesellschaft ist danach ein<br />
bestimmtes soziales Gleichgewicht für die Vielfalt an Kooperationsspiele, die in einer<br />
Gesellschaft zumindest potentiell stattfinden. Ein wichtiges Element dieses Gleichgewichtes<br />
sind Normen generalisierter Reziprozität, einer Austauschnorm, der langfristige Beziehungen<br />
zugr<strong>und</strong>e liegen. Die „Konten“ sind dabei normalerweise zu jedem bestimmten Zeitpunkt<br />
unausgeglichen, aber die Partner gehen davon aus, daß gewährte Unterstützung über die Zeit<br />
erwidert wird. Diese Norm wird durch die zahlreichen Kontakte, die sie erzeugt<br />
aufrechterhalten. Die Akteure sind Mitglieder überlappender Netzwerke, z.T. informeller<br />
Natur, z.T. in Vereinigungen, die mehr oder weniger gleichwertige Mitglieder horizontal<br />
verbinden. Diese Netzwerke erleichtern es Abweichungen von der Norm generalisierter<br />
Reziprozität zu sanktionieren. Weicht ein Akteur in einer Beziehung von der Norm ab, so<br />
wird diese Information verbreitet <strong>und</strong> auch andere Beziehungen sind gefährdet. Jenseits dieses<br />
traditionellen spieltheoretischen Rahmens kann davon ausgegangen werden, daß diese Netze<br />
9 Putnam betont hier die subjektive, politische Seite. Die weiter gefaßte Interpretation ist vom<br />
Autor.<br />
10 Lindenberg (1988) hat dies im Kontext von Verträgen ausgearbeitet.<br />
11 Vertrauen innerhalb der Familie, bzw. der Großfamilie ist ein fast universales<br />
Charakteristikum jeder Gesellschaft.<br />
5
die Internalisierung von Reziprozitätsnormen begünstigen. Auch stellen sie nach Zeiten, in<br />
denen externe Umstände die Rolle der Zivilgesellschaft zurückgedrängt haben, ein kollektives<br />
Gedächtnis für die Möglichkeit dar, Kooperationsprobleme durch gemeinsames Vorgehen zu<br />
lösen. 12<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das hier benutzte Konzept der Zivilgesellschaft sich<br />
von einer anderen Interpretation der bürgerlichen Gesellschaft, die der Neuen<br />
Institutionenökonomik nahesteht, der „Privatrechtsgesellschaft“, vor allem dadurch<br />
unterscheidet, daß nicht formelle sondern informelle Institutionen im Zentrum stehen:<br />
interpersonelle Netzwerke <strong>und</strong> die durch sie unterstützten Normen.<br />
2.2 Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft als Explanans 13<br />
Ausgehend von diesem Verständnis der Zivilgesellschaft, gilt es nun zu untersuchen, wie ihr<br />
Entwicklungsstand den wirtschaftlichen Erfolg einer Gesellschaft <strong>und</strong> die Effektivität eines<br />
liberalen, demokratischen Rechtsstaats beeinflussen kann. 14 Wir gehen dabei von der bereits<br />
geschilderten Auffassung aus, daß Kooperationsprobleme zusammen mit den traditionell von<br />
Ökonomen analysieren Koordinationsproblemen im Zentrum moderner arbeitsteiliger<br />
Gesellschaften stehen. Sie liegen vor, wo auch immer Öffentliche Güter oder Externalitäten<br />
relevant sind, sie stehen im Zentrum jeder Organisation, privat oder öffentlich, <strong>und</strong> tauchen<br />
selbst in der einfachsten vertraglichen Vereinbarung auf.<br />
Der direkte Einfluß des Entwicklungsstands der Zivilgesellschaft auf die wirtschaftliche<br />
Leistungsfähigkeit einer Gesellschaft beruht auf der Schmiermittelfunktion, die Vertrauen in<br />
einer Welt mit unvollkommener Durchsetzbarkeit von Verträgen <strong>und</strong> Eigentumsrechten hat.<br />
Verträge werden eher eingehalten, Konflikte über unvorhergesehene Vorkommnisse im<br />
Rahmen unvollständiger Verträge fairer gelöst, auch auf Nichtverwandte kann man sich als<br />
Geschäftspartner verlassen, etc.. Daher werden in Ökonomien mit entwickelter<br />
Zivilgesellschaft mehr Verträge geschlossen, d.h. mehr Möglichkeiten zu gegenseitig<br />
vorteilhaftem Tausch werden wahrgenommen. Somit wird Effizienz <strong>und</strong> Wachstum der<br />
Ökonomie begünstigt.<br />
12 In spieltheoretischer Interpretation entspricht dies der Existenz eines bestimmten „focal<br />
points“.<br />
13 Der etwas schwerfällige Terminus „Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft“ steht hier für<br />
den Begriff „civicness“, den Putnam verwendet.<br />
14 Vgl. auch Kiwit <strong>und</strong> Voigt (1995).<br />
6
Auf der politischen Seite existiert vermutlich ein ähnlicher positiver direkter Effekt einer gut<br />
entwickelten Zivilgesellschaft auf die Unbestechlichkeit <strong>und</strong> Kooperationswilligkeit von<br />
Amtsinhabern. Wir vermuten jedoch, daß ein anderer Effekt wichtiger ist. In einer gut<br />
entwickelten Zivilgesellschaft ist es vergleichsweise leicht kollektive Interessen zu<br />
organisieren. Dies macht es Partikularinteressen so schwer wie möglich politische<br />
Entscheidungen <strong>und</strong> deren Umsetzung dauerhaft in ihrem Sinne zu beeinflussen.<br />
„Öffentliches Leben“ im Sinne einer regen Vereinigungskultur stellt einen schützenden Puffer<br />
gegen konfiskatorische <strong>und</strong> willkürliche staatliche Politik dar. Man beachte hier den<br />
Gegensatz zur Olsonschen Perspektive. 15 Zu der direkten Wirkung eines hohen<br />
Entwicklungsstands der Zivilgesellschaft auf die ökonomische Leistungsfähigkeit kommt also<br />
eine indirekte hinzu, indem er die Verabschiedung <strong>und</strong> Umsetzung einer Politik begünstigt,<br />
die effizienzsteigernd wirkt.<br />
Damit ist die Argumentation, die der ersten Hypothese zugr<strong>und</strong>eliegt, zunächst einmal<br />
hinreichend dargestellt. Sie wird allerdings noch erheblich deutlicher, wenn wir als Kontrast<br />
betrachten, welche Auswirkungen eine gering entwickelte Zivilgesellschaft hat. Putnam<br />
(1993) beschreibt auch dieses soziale Gleichgewicht, dem eher die süditalienischen Regionen<br />
entsprechen. Es existiert sehr wenig Vertrauen zwischen Nichtverwandten. Nur die Existenz<br />
von Patronagenetzen scheint einen Hobbesschen Krieg aller gegen alle zu verhindern. Dies<br />
sind vertikal strukturierte Netzwerke, in denen untergeordnete Klienten Unterstützung<br />
verschiedenster Art gegen Begünstigungen durch übergeordnete Patrone tauschen. Diese<br />
Begünstigungen können die Form erwünschter staatlicher Entscheidungen, insbesondere<br />
durch die Exekutive, annehmen. Damit wird die Gleichheit vor dem Gesetz zerstört. Während<br />
es individuell rational ist, zu einem Patronagenetz zu gehören, sichert deren Existenz in<br />
gesamtgesellschaftlicher Betrachtung die Ausbeutung des gegenseitigen Mißtrauens der<br />
Klienten durch die Patrone. Vertrauen zwischen Nichtverwandten wird nicht aufgebaut.<br />
In einer solchen Gesellschaft sollten wir ein generelles Mißtrauen gegenüber jedem<br />
Versprechen stabiler Eigentumsrechte erwarten. Der Königsweg, Reichtum zu erwerben, ist<br />
das Erklimmen einer möglichst einflußreichen hierarchischen Position, um Begünstigungen<br />
verteilen zu können. Es wird davon ausgegangen, daß es größeren Erfolg bringt, Regeln zu<br />
seinen Gunsten zu schaffen oder zu umgehen, als sich auf das Versprechen zuverlässiger<br />
Regeln einzulassen. So werden Investitionen vermieden bzw. solche gewählt, die sich schnell<br />
15 Siehe auch Panther (1997c).<br />
7
amortisieren. Die Akteure sind stark in rent-seeking Aktivitäten involviert. Ist der Staat<br />
schwach, entstehen nicht selten mafiaartige Organisationen. 16<br />
Um Mißverständnisse zu vermeiden, muß an dieser Stelle hinzugefügt werden, daß hier nicht<br />
die These vertreten wird, daß die Zivilgesellschaft der einzige kulturelle Hintergr<strong>und</strong> ist, der<br />
eine hohe wirtschaftliche Leistungsfähigkeit erlaubt. Besonders ostasiatische Beispiele für<br />
eine erfolgreiche nachholende Entwicklung lassen die Interpretation zu, daß auch andere<br />
kulturelle Rahmen effektive staatliche Politik <strong>und</strong> ein vertragsfre<strong>und</strong>liches gesellschaftliches<br />
Klima ermöglichen können. Es wird hier allerdings davon ausgegangen, daß Putnams<br />
Untersuchungen im europäischen Kontext verallgemeinerbar sind <strong>und</strong> entwickelte<br />
europäische Zivilgesellschaften dem norditalienischen, schwache Zivilgesellschaften dem<br />
süditalienischen Muster ähneln werden.<br />
3 Die Historische Entstehung von Zivilgesellschaften im „lateinischen“ Westen<br />
3.1 Die Anfänge (1000-1500)<br />
Die Entstehung entwickelter Zivilgesellschaften in Westeuropa steht am Ende eines<br />
Prozesses, den man zumindest bis ins europäische Mittelalter zurückverfolgen muß. 17<br />
Entscheidend für ihr Entstehen ist die pluralistische, konfliktreiche, aber dennoch nur<br />
beschränkt destruktive Konkurrenz verschiedener hierarchischer Ordnungen, die außerhalb<br />
Westeuropas in der Regel in einer umfassenden Hierarchie vereinigt wurden.<br />
Die wohl f<strong>und</strong>amentalste Konkurrenz dieser Art ist dabei diejenige zwischen religiöser <strong>und</strong><br />
weltlicher Hierarchie. 18 Seit dem Kollaps des weströmischen Reichs hat die lateinische Kirche<br />
eine gewisse Unabhängigkeit von den jeweiligen Herrschern errungen. Als in Form des<br />
16 Die meisten Historiker sehen die Mafia Süditaliens als direkten Nachfolger traditionellerer<br />
Patronagenetzwerke. Die Mafia schwächt die Staatsgewalt durch den Aufbau eines parallelen<br />
Regeldurchsetzungssystems mit Gewaltandrohung. Ein schwacher Staat stärkt umgekehrt die<br />
Mafia, da sie denjenigen unter ihrem Schutz eine gewisse Verläßlichkeit in geschäftlichen<br />
Transaktionen garantiert. Um die Nachfrage nach Schutzleistungen zu erhalten, wird dafür<br />
gesorgt, daß das Mißtrauen unter den Klienten erhalten bleibt.<br />
17 Jones (1981) beginnt seine Spurensuche nach den Wurzeln des europäischen W<strong>und</strong>ers<br />
früher. Entwicklungsspuren einer Zivilgesellschaft, in der Sicht dieses Beitrag ein zentrales<br />
Element jenes europäischen W<strong>und</strong>ers, lassen sich aber erst nach dem Jahr 1000 verorten.<br />
18 In diesem Sinne argumentiert jüngst auch Kaufmann (1997, insbesondere S. 87-90).<br />
8
Fränkischen Reichs eine einigermaßen stabile Form von Staatlichkeit wiederhergestellt wurde,<br />
blieb das Verhältnis gespannt, trotz des Anspruches Karls, Oberhaupt von Staat <strong>und</strong> Kirche zu<br />
sein (Vgl. Kaufmann, 1997, S. 88). Die Konkurrenz zwischen Byzanz <strong>und</strong> dem karolingischen<br />
Reich dürfte für die Position der Kirche dabei hilfreich gewesen sein, womit eine weitere<br />
zentrale Bruchlinie, die territoriale Konkurrenz innerhalb desselben kulturellen <strong>und</strong><br />
wirtschaftliche Raums, zum Vorschein kommt. 19 Weltliche <strong>und</strong> kirchliche Macht kämpften<br />
mit wechselndem Resultat um die Dominanz über die jeweils andere Seite. 20 Letztlich gewann<br />
keine der beiden Seiten. Vielmehr war seit dem Kompromiß zwischen Kaiser <strong>und</strong> Papst 1122<br />
die Perspektive einer dauerhaften Trennung von religiöser <strong>und</strong> weltlicher Hierarchie gegeben,<br />
deren Bedeutung als Beispiel für mögliche Autonomie innerhalb des Staates nicht unterschätzt<br />
werden darf.<br />
Eine weitere wichtige Bruchlinie für hierarchisch-zentralistische Machtausübung war die<br />
Position des Adels. Selbst in seiner Blütezeit behielt das feudale Lehnsverhältnis in<br />
Westeuropa einen stark vertraglichen Charakter, eine erhebliche Gleichheit der Lehnsparteien<br />
implizierend. 21 Zunächst war das Lehnsverhältnis persönlich <strong>und</strong> beim Tod einer der Parteien<br />
gegenstandslos. Bereits weit vor dem Jahr 1000 war das Lehen jedoch erblich geworden. Die<br />
Aristokratie wurde zu einem erheblichen Machtfaktor. Erbliche Adelstitel gab es natürlich<br />
immer wieder auch in staatlichen Strukturen mit typisch imperialen Charakter, dort aber<br />
regelmäßig vor allem in Zeiten des Niedergangs. In Europa blieb die Macht des Adels auch in<br />
dem um 1000 einsetzenden <strong>und</strong> bis 1300 dauernden wirtschaftlichen Aufschwung erhalten.<br />
In diesem säkularen Aufschwung in einer Welt mit konkurrierenden Machtzentren entstanden<br />
die ersten Elemente der westeuropäischen Zivilgesellschaft. 22 Sie entstanden in den von<br />
neuem wachsenden Städten, die in dieser Konstellation eine einmalige Entwicklung nahmen.<br />
19 Siehe auch unten S. 12.<br />
20 Um 1200 schien die Kirche unter Innozenz III. die Vorherrschaft errungen zu haben,<br />
während des „Exils“ der Päpste in Avignon (1309-1377), die weltliche Seite in Gestalt des<br />
französischen Königs.<br />
21 Dies wurde auch in der Zeremonie bei Verleihung des Lehens deutlich. Ein zukünftiger<br />
Vasall kniete vor seinem Herrn, mit aufrechter Kopfhaltung. Die Zeremonie endete mit einem<br />
Kuß (vgl. Szücs, 1994, S.24). Unterwerfungsgesten wie Niederwerfen, oder Küssen der Füße<br />
deuten auf sehr viel strengere hierarchische Regimes hin.<br />
22 Vgl. für das folgende insbesondere Weber (1972 [1922], S. 741-757), Braudel (1985a, S.<br />
558-570) <strong>und</strong> Putnam (1993, S. 124-134).<br />
9
Diese bestand nicht in besonders schnellem Wachstum oder besonderer Größe. Die<br />
Hauptstädte großer Reiche, wie Konstantinopel, Bagdad oder Kairo, waren regelmäßig größer<br />
<strong>und</strong> prächtiger. Vielmehr entwickelte sich, beginnend in Norditalien <strong>und</strong> dort unter<br />
unmittelbarer Ausnutzung der Rivalität zwischen Kaiser <strong>und</strong> Papst, ein in seiner Dichte<br />
einmaliges Netz untereinander wirtschaftlichen <strong>und</strong> intellektuellen Austausch pflegender,<br />
zuweilen politisch zusammenarbeitender (Lombardischer Städteb<strong>und</strong>, Hanse) Städte. Ihr<br />
herausragendes Kennzeichen war ihre immer größerer Autonomie, die in Norditalien<br />
schließlich zu selbständigen Stadtstaaten führte. Diese Autonomie wurde anfänglich<br />
regelmäßig erkämpft durch Verbrüderungen von gleichberechtigten Stadtbewohnern. Diese<br />
waren eingebettet in ein vielfältiges Netz von religiösen Vereinigungen, Gilden zum<br />
gegenseitigen Schutz 23 <strong>und</strong> beruflichen Vereinigungen (Kaufmannsgilden,<br />
Handwerkerzünfte). 24 Alle diese waren wesentlich Vereinigungen gleichberechtigter<br />
Mitglieder, auch wenn gegen Ende des Mittelalters regelmäßig ein städtisches Patriziat ein<br />
Monopol auf wichtige Ämter erlangt hatte. Die außerstädtischen Standesunterschiede hatten<br />
in der Stadt jedoch keine Geltung, persönlich Unfreie erlangten in der Stadt ihre Freiheit,<br />
Stadtluft machte frei. Im Innenverhältnis war wesentlich, daß diese Vereinigungen einzelne<br />
Individuen verbanden, über Sippschaftsgrenzen hinweg. Während die mittelalterliche<br />
Stadtverfassung keineswegs demokratisch im modernen Sinn war, so verwirklichte sie doch in<br />
hohem Maße horizontale Kooperation <strong>und</strong> Partizipation <strong>und</strong> durfte von den Stadtbürgern eine<br />
nicht unerhebliche Loyalität erwarten. Für Norditalien, bis 1500 an vorderster Stelle an der<br />
ökonomischen <strong>und</strong> sozialen Entwicklung beteiligt, konstatiert Putnam (1993, S. 130) ab 1300<br />
eine Kultur, in der zivilgesellschaftliche Elemente die Gr<strong>und</strong>lage für die Lösung privater <strong>und</strong><br />
öffentlicher Kooperationsprobleme darstellen. Ähnliches läßt sich sicherlich für Flandern,<br />
sowie für Teile Englands, Frankreichs <strong>und</strong> Westdeutschlands sagen.<br />
23 Dies betraf sowohl das, was wir heute als innere Sicherheit bezeichnen würden als auch<br />
Schutz bei Krankheit, Alter, Tod.<br />
24 Die Rolle die Max Weber (1972[1922], S. 754) diesem Netz an Vereinigungen zumißt,<br />
ähnelt frappierend der obigen Beschreibung ihrer Rolle in einer Zivilgesellschaft: „...alle diese<br />
Einungen wirkten in der Regel wesentlich indirekt: durch jene Erleichterung des<br />
Zusammenschlusses der Bürger, welche aus der Gewöhnung an die Wahrnehmung<br />
gemeinsamer Interessen durch freie Einungen überhaupt entstehen mußte: durch Beispiel <strong>und</strong><br />
Personalunion der führenden Stellungen ...“.<br />
10
Damit ist die Vielfalt der Bruchlinien hierarchischer Machtausübung in der<br />
spätmittelalterlichen Gesellschaft beschrieben, die als Ständegesellschaft mit den<br />
Vereinigungen der Städte, des Adels <strong>und</strong> der Kirche, ihre horizontalen Elemente auch auf<br />
gesamtstaatlicher Ebene noch einmal spiegelte.<br />
Es ist instruktiv an dieser Stelle kurz die Entwicklung in Süditalien zu skizzieren, da sie ein<br />
gutes Beispiel für eine europäische nicht-zivilgesellschaftlichen Entwicklung im Mittelalter<br />
<strong>und</strong> darüber hinaus darstellt (vgl. Putnam, 1993, S. 122-124). Hier war die anfängliche<br />
Schwäche der politischen Zentralgewalt kürzer <strong>und</strong> weniger ausgeprägt als im Norden<br />
Italiens. Auf byzantinische <strong>und</strong> arabische Gr<strong>und</strong>lagen aufbauend gründeten die Normannen<br />
einen stark zentralisierten Staat, der durch den Staufer Friedrich II perfektioniert wurde. Das<br />
erste kodifizierte Verwaltungsrecht in Europa <strong>und</strong> die Ausbildung zukünftiger Beamter an der<br />
Universität in Neapel waren die Gr<strong>und</strong>lagen einer effizienten Politik. Diese fußte jedoch auf<br />
einem autokratischen Regime, bar jeder Kontrolle durch die Untertanen, das die feudale<br />
Gesellschaftsordnung stützte. Zwar wuchsen die Städte, aber sie blieben von der<br />
Zentralgewalt abhängig, kontrolliert <strong>und</strong> reguliert. Als nachfolgende Herrscher schwächer <strong>und</strong><br />
weniger „aufgeklärt“ als Friedrich II wurden, gewann die Aristokratie an Macht, die Städte<br />
verharrten jedoch in Abhängigkeit.<br />
3.2 Durststrecke (1500-1789) <strong>und</strong> Durchbruch (ab 1789)<br />
Die weitere Entwicklung in Westeuropa war zunächst gekennzeichnet durch ein erneutes<br />
erstarken des Zentralstaats, das in Spanien <strong>und</strong> Frankreich, in geringerem territorialen Umfang<br />
auch in Italien <strong>und</strong> in Westdeutschland 25 im absolutistischen Staat mündete. Adel, Städte, in<br />
den protestantischen Ländern <strong>und</strong> in Frankreich auch die Kirche, wurden politisch<br />
entmachtet. 26 Dennoch zeigen die schlagwortartig in den Begriffen Renaissance, Reformation<br />
<strong>und</strong> Aufklärung zusammengefaßten Entwicklungen, daß die zivilgesellschaftlichen Ansätze<br />
überlebten <strong>und</strong> sich auf nationaler Ebene neu formierten. Dies zeigt sich insbesondere auch in<br />
25 Preußen wurde zweifelsohne ein absolutistischer Staat, gehört aber aufgr<strong>und</strong> der geringen<br />
Rolle des bürgerlich-städtischen Elements <strong>und</strong> der „zweiten Leibeigenschaft“ (siehe unten S.<br />
19) zur östlichen Hälfte Europas.<br />
26 Die militärische Revolution des 16. Jahrh<strong>und</strong>erts, Fortschritte in der Artillerie kombiniert<br />
mit den Vorteilen stehender Heere, spielten bei der Ausschaltung von Städten <strong>und</strong> Adel eine<br />
wesentliche Rolle (vgl. z.B. Davies, 1996, S: 518f.).<br />
11
den begleitenden strukturellen Veränderungen, so z.B. im Kult der Fre<strong>und</strong>schaft 27 , in den<br />
Akademien, in philanthropischen <strong>und</strong> Geheimgesellschaften, im Herausbilden einer<br />
„öffentlichen Meinung“ (Schrader, 1997, S. 30-36, 65-95). Während der Staat die Stadt<br />
politisch dominierte, dominierte das städtische Bürgertum zunehmend Wirtschaft,<br />
Gesellschaft <strong>und</strong> intellektuelles Leben. Als mittelbare Konsequenz erlangten auch die Bauern<br />
in Westeuropa allmählich ihre persönliche Freiheit. Dies bedeutete zwar häufig<br />
wirtschaftliche Einbußen für sie, da das ihnen gebliebene Land nicht ausreichte. Auf diese<br />
Weise dehnten sich persönliche <strong>und</strong> wirtschaftliche Autonomie aber allmählich über die Stadt<br />
hinaus aus.<br />
Offensichtlich konnten im Westeuropa dieser Epoche die traditionellen Folgen der<br />
Zusammenballung von Macht, Ausbeutung <strong>und</strong> willkürliche, periodische Enteignung<br />
städtischen Reichtums, Kontrolle <strong>und</strong> Erstarrung des geistigen Lebens, sowie Verlangsamung<br />
der wirtschaftlichen <strong>und</strong> technischen Entwicklung in Grenzen gehalten werden. Der<br />
Untergang der Zivilgesellschaft wurde durch das Weiterbestehen einer entscheidenden<br />
Bruchlinie hierarchischer Machtausübung verhindert, der Konkurrenz verschiedener Staaten<br />
um das Ressourcen schaffende, kommerzielle <strong>und</strong> technologische Know-how der bürgerlichen<br />
Schichten der Städte innerhalb eines kulturell <strong>und</strong> wirtschaftlich integrierten<br />
westeuropäischen Raumes 28 . Zum Teil genügten die wirtschaftlichen Folgen autokratischer<br />
Herrschaft um den absolutistischen Staat zu bremsen, zum Teil trugen Emigranten das ihrige<br />
zur Verschiebung der Machtbalance bei. Wurden die Verhältnisse in einem Staat untragbar,<br />
konnte man zeitweise oder für immer in einen anderen auswandern <strong>und</strong> seine Talente dort<br />
zum Einsatz bringen. Verstärkend kam hinzu, daß die Herrschaft absolutistischer Monarchen<br />
27 Als persönliche Beziehung zwischen Nichtverwandten ist Fre<strong>und</strong>schaft ein wesentliches<br />
Element der Überwindung gemeinschaftlicher Schranken.<br />
28 Vgl. insbesondere Jones (1981, S. 104-126). Folgendes Zitat von Max Weber (1958 [1923],<br />
S. 288f.) ist jedoch in seiner Klarheit bemerkenswert: „... Tatsächlich sind die Städte in der<br />
Neuzeit ihrer Freiheit ganz ebenso beraubt worden wie in der Antike mit der Aufrichtung der<br />
Römerherrschaft. Aber zum Unterschied zu damals gerieten sie in die Gewalt konkurrierender<br />
Nationalstaaten, die in ständigem friedlichen <strong>und</strong> kriegerischen Kampf um die Macht lagen.<br />
Dieser Konkurrenzkampf schuf dem neuzeitlich-abendländischen Kapitalismus die größten<br />
Chancen. Der einzelne Staat mußte um das freizügige Kapital konkurrieren, das ihm die<br />
Bedingungen vorschrieb, unter denen es ihm zur Macht verhelfen wollte. Aus dem<br />
notgedrungenen Bündnis des Staates mit dem Kapital ging der nationale Bürgerstand hervor,<br />
die Bourgeoisie im modernen Sinn des Wortes.“<br />
12
sich nicht überall in Westeuropa durchsetzte. In den Niederlanden seit 1566/1648 <strong>und</strong> in<br />
England seit 1689 entstanden sich konstitutionelle Monarchien mit starkem bürgerlichem<br />
Einfluß.<br />
Mit der französischen Revolution steht dann die Durchsetzung der Früchte einer entwickelten<br />
Zivilgesellschaft, demokratisch-liberaler Staats- <strong>und</strong> Gesellschaftsordnungen, in<br />
Gesamteuropa auf der Tagesordnung. Parallel dazu breiten sich sukzessive industrielle<br />
Revolutionen aus. Im 19. Jahrh<strong>und</strong>ert sind diese ökonomischen mit den politisch/sozialen<br />
Entwicklungen eng verzahnt. Die Zeit von 1914-1945 bringt deren Entkoppelung im Zeichen<br />
autoritärer <strong>und</strong> totalitärer Ideologien, <strong>und</strong> damit eine vorläufig letze Krise der liberal-<br />
demokratischen Zivilgesellschaft im Westen Europas, in der diese selbst vor 1939 nur im<br />
Kern Westeuropas <strong>und</strong> in Skandinavien siegreich bleibt, 29 bevor sie schließlich nach 1945 zur<br />
klar dominierenden Struktur im Westen wird.<br />
4 Lateinischer Osten: Entwickelte Zivilgesellschaft - Orthodoxer Osten : Abwesenheit<br />
einer Zivilgesellschaft ?<br />
4.1 Das Mittelalter (1000-1500): Entwicklung einer Scheidelinie<br />
Die Gr<strong>und</strong>lage für die unterschiedliche Entwicklung der Länder Europas östlich der Ostgrenze<br />
des fränkischen Reichs unter Karl dem Großen wurden in den darauffolgenden zwei<br />
Jahrh<strong>und</strong>erten gelegt. Die römische Kirche expandierte ostwärts, eine Bewegung, die in der<br />
endgültigen Christianisierung Böhmens 30, Polens <strong>und</strong> Ungarns um das Jahr 1000 kulminierte.<br />
Estland <strong>und</strong> Lettland folgten zu Beginn des 13. Jhdts., Litauen schließlich als letztes<br />
europäisches Land überhaupt, 1385. Ausgehend von Byzanz wurden zunächst in der zweiten<br />
Hälfte des neunten Jahrh<strong>und</strong>erts Bulgaren <strong>und</strong> Serben für die griechisch-orthodoxe Kirche<br />
gewonnen, gefolgt 988 von den Kiewer Rus. Damit begann die kulturelle Zweiteilung des<br />
Ostens Europas.<br />
Lateinischer Osten<br />
Die neu christianisierten Polen, Ungarn, Kroaten <strong>und</strong> Tschechen assimilierten die westlichen<br />
mittelalterlichen Strukturen in einer eher kurzen Zeitperiode von 1200-1350. Dieser Prozeß<br />
wurde in nicht unerheblichem Maße bewußt von „von oben“ durch charismatische Herrscher<br />
29 Eine Ausnahme stellt die Tschechoslowakei dar. Siehe auch S. 30<br />
30 Hier <strong>und</strong> im folgenden wird die Bezeichnung Böhmen für das gesamte heutige Tschechien,<br />
d.h. Böhmen <strong>und</strong> Mähren zusammengenommen, benutzt.<br />
13
herbeigeführt. Etwaige Freiheiten wurden also viel stärker als im Westen nicht erkämpft,<br />
sondern gewährt. Das Lehnsverhältnis nach westlichen Muster wurde ins Leben gerufen,<br />
Städte <strong>und</strong> Universitäten wurden gegründet, Generalstände einberufen (Vgl. Szücs, 1974, S.<br />
47-51). Die „freie“ Stadt wurde nach deutschem Recht etabliert <strong>und</strong> auch der Anteil der<br />
ethnisch deutschen Stadtbürger ist überall erheblich. Doch machten die institutionelle<br />
Änderungen an den ethnischen Grenzen nicht halt, unabhängig davon ob das Zusammenleben<br />
der Ethnien mehr oder weniger konfliktreich war. Die Entwicklung im Baltikum hat in<br />
Estland <strong>und</strong> Lettland durch den Deutschritterorden, <strong>und</strong> insgesamt durch die sehr späte<br />
Wendung nach Westen noch einmal ihre eigene Besonderheit, ohne gr<strong>und</strong>sätzlich von diesem<br />
Muster abzuweichen.<br />
Während der lateinische Osten auf diese Weise kulturell ein Teil des Westens wurde, fallen<br />
einige strukturelle Besonderheiten auf. Zentral ist dabei der sehr viel geringere<br />
Verstädterungsgrad, das viel weitmaschigere Städtenetz. Der Adel hatte eine sehr viel stärkere<br />
Stellung. Er war mit 4-5% der Bevölkerung in Ungarn, 7-8% in Polen auch sehr viel<br />
zahlreicher als im Westen (ca. 1%) (Szücs, 1974, S.51). 31 Dies sollte für die Zukunft<br />
entscheidend sein.<br />
Orthodoxer Osten: Balkan<br />
War der Dualismus zwischen weltlicher <strong>und</strong> kirchlicher Macht der erste entscheidende Bruch<br />
hierarchischer Machtfülle im lateinischen Westen, so war seine Abwesenheit im griechisch-<br />
orthodoxen Osten ein wichtiger Pfeiler zentralisierter Herrschaft. Byzanz 32 war das Muster<br />
eines Caesaro-Papistischen Systems, in dem die höchste politische <strong>und</strong> geistliche Autorität in<br />
einer Person zusammenfließen. Dies war aber alles andere als eine bloße Personalunion<br />
ansonsten getrennter Körperschaften. Auch wenn kirchliche <strong>und</strong> weltliche Hierarchien nicht<br />
verschmolzen, so entwickelte sich doch nie die Konzeption der Kirche als eigene, getrennte,<br />
Körperschaft innerhalb des Staates, wozu auch das fehlende Zölibat der Priesterschaft beitrug.<br />
Der Adel war Dienst- <strong>und</strong> Hofadel, die Städte <strong>und</strong> das gesamte wirtschaftliche Leben blieben<br />
31 Böhmen war strukturell am westlichsten, Polen <strong>und</strong> Ungarn nahmen eine mittlere Position<br />
ein, Kroatien <strong>und</strong> Litauen zeigten am stärksten archaische Strukturen.<br />
32 Vgl. zu folgendem z.B. Davies (1996, S. 246-251 <strong>und</strong> 318-321).<br />
14
unter zentralstaatlicher Kontrolle von planwirtschaftlichem Ausmaß. Theologie <strong>und</strong> Künste<br />
blieben konservativ. 33<br />
Bulgaren <strong>und</strong> Serben, machtpolitische Konkurrenten von Byzanz auf dem Balkan,<br />
übernahmen byzantinische Religion <strong>und</strong> Kultur. 34 Sicher ist, daß auch hier wie in der<br />
Walachei <strong>und</strong> in Moldawien keine in irgendeiner Weise mit der Entwicklung im lateinischen<br />
Westen vergleichbare Entwicklung hin zu autonomen Städten stattfand. Das Städtenetz selbst<br />
war kaum existent. Dieser Mangel an urbaner Aktivität kann möglicherweise z.T. auf die<br />
Seltenheit schiffbarer Flüsse, sicher aber in den Jahren nach 1000 <strong>und</strong> noch deutlicher nach<br />
1300 auf die sich ständig unter heftigen kriegerischen Auseinandersetzungen verschiebenden<br />
Grenzen der staatlichen Einheiten zurückgeführt werden. 35<br />
Dies führte auch zu einer Verlagerung ländlicher Bevölkerung weg vom Ackerbau hin zur<br />
halbnomadischen Viehhaltung, ein Muster, das auch später immer wieder auftrat. Auch<br />
nichtnomadische Viehzucht spielte, insbesondere in der Walachei <strong>und</strong> in Moldawien, eine<br />
große Rolle. Mit zu dieser Entwicklung beigetragen haben in Serbien <strong>und</strong> Bulgarien Versuche<br />
des Adels, die Frondienste der Bauern zu erhöhen (vgl. Adanir, 1989, S. 131-133). Von der<br />
technischen Innovation des Eisenpfluges blieb die Region abgeschnitten.<br />
Durch die osmanische Eroberung verlor der Adel seine Stellung. Lediglich in den<br />
tributpflichtigen Fürstentümern Rumäniens östlich der Karpaten (Walachei, Moldawien) blieb<br />
sie ihm in relativ schacher Form erhalten.<br />
33 Müller-Armack (1959) bietet einige an Max Weber angelehnte weitergehende Hypothesen<br />
zu den Auswirkungen insbesondere der unterschiedlichen Wirtschaftsethiken der beiden<br />
christlichen Bekenntnisse.<br />
34 Die sozial- <strong>und</strong> wirtschaftshistorischen Informationen über die orthodoxen Gebieten des<br />
Balkans sind vergleichsweise rar. Das folgende beruht weitgehend auf Lampe (1989, S. 179-<br />
181).<br />
35 Das zu seinem Höhepunkt in etwa das heutige Serbien, Bulgarien <strong>und</strong> Makedonien<br />
umfassende erste Bulgarische Reich wurde 971/1018 wieder von Byzanz erobert. Das 1186<br />
wieder entstehende, territorial ähnlich gestaltet 2. Bulgarische Reich wurde 1330 entscheidend<br />
von Serbien besiegt, das für kurze Zeit (-1355) seine Nachfolge antrat. Nach dessen Zerfall<br />
wurde das Gebiet bis zum Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts von den Osmanen erobert. Walachei <strong>und</strong><br />
Moldawien gewannen 1330/1359 ihre Staatlichkeit im Kampf gegen die Mongolenherrschaft,<br />
nur um 1411/1504 dem osmanischen Reich tributpflichtig zu werden.<br />
15
Orthodoxer Osten: Rußland<br />
Das Verhältnis von weltlicher <strong>und</strong> geistlicher Autorität entsprach auch in Rußland von Beginn<br />
der Christianisierung an dem byzantinischen Muster. Bereits 1051 ernannte Fürst Jaroslav von<br />
Kiew den dortigen Metropoliten, das Oberhaupt der russischen orthodoxen Kirche ohne<br />
Rücksprache mit Byzanz (vgl. Goehrke et al. 1972, S. 48). Zwar erhielt die orthodoxe Kirche<br />
zahlreiche Sonderrechte <strong>und</strong> wurde auch „immun“, d.h. war in der Verwaltung der eigenen<br />
Organisation <strong>und</strong> des Gr<strong>und</strong>besitzes autonom, sie verstand sich jedoch nie als ein<br />
konkurrierendes Machtzentrum.<br />
Städte scheinen sich zunächst relativ rasch entwickelt zu haben (vgl. zum folgenden Absatz<br />
Goehrke et al. 1972, 59-70). Bereits im 11. Jhdt. begannen sich in den größeren unter ihnen<br />
(z.B. Nowgorod, Kiew) genossenschaftliche Organisationsformen zu bilden, die<br />
Mitbestimmungsrechte über die Geschicke ihrer Stadt einforderten. 36 Die Mitte des<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts einsetzenden Fehden um den Großfürstenthron, ein Charakteristikum der<br />
russischen Geschichte bis ins 15. Jhdt., boten zunächst auch einen fruchtbaren Boden für diese<br />
Bestrebungen. Während in einigen Städten mehr oder weniger starke Einschränkungen der<br />
Fürstenmacht durchgesetzt werden konnten, gelang jedoch nur in Nowgorod eine Loslösung<br />
von derselben, zunächst in Form eines Wahlfürstentums, später als Republik. Ähnlich wie in<br />
Siena waren es aber nicht Kaufleute <strong>und</strong> Handwerker sondern eine Oligarchie städtischer<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzer, die die Geschicke der Stadt <strong>und</strong> ihrer Gebiete führten.<br />
Diese Entwicklungen wurden direkt oder indirekt durch die Mongolenherrschaft (1237-1408)<br />
beendet (vgl. zum folgenden Goehrke et al. 1972, 86-89, 103-109). Insbesondere die Regionen<br />
im Süden des früheren Kiewer Reiches wurden verwüstet, die Bevölkerung verlagerte sich in<br />
Richtung Nordosten. Die Städte schrumpften enorm, der Warenaustausch zwischen ihnen <strong>und</strong><br />
dem Umland kam fast völlig zum erliegen, ganze Handwerkszweige starben vorübergehend<br />
aus. Damit wurden die bescheidenen Ansätze städtischer Autonomie zerstört. Dort wo die<br />
Städte im 14. Jhdt. wieder zu erstarken begannen, wurden durch Ansiedlung unfreier<br />
Stadtbürger in - steuerbefreiten - klösterlichen <strong>und</strong> fürstlichen Wirtschaftshöfen die feudale<br />
Zersplitterung in die Städte hineingetragen. Eine auf genossenschaftlicher Verbindung<br />
fußende Loyalität der Stadt gegenüber entstand auf russischem Boden somit nicht. Politisch<br />
konnte sich zwar im Nordwesten Nowgorod gegen die Mongolen behaupten <strong>und</strong> erlebte im<br />
36 Ihr Organ war die „vece“, die Stadtversammlung.<br />
16
14. Jhdt. seine Blütezeit, zur Bojarenoligarchie degeneriert fiel es aber schließlich 1478 an<br />
Moskau.<br />
Dieses hatte sich als neues Machtzentrum etabliert. Zunächst oberster Garant für den Tribut<br />
der Mongolen, erlangte es ab 1452 <strong>und</strong> endgültig ab 1480 unter dem “Zar aller Russen“ 37 Ivan<br />
III. (1465-1505) die volle Souveränität. Gleichzeitig begann sich der vom lateinischen Westen<br />
abweichende soziale <strong>und</strong> politische Weg Rußlands deutlich abzuzeichnen. Neben dem Fehlen<br />
eines selbständigen Stadtbürgertums mit eigener Identität, bestand dieser vor allem in der<br />
schwachen Stellung des Adels <strong>und</strong> der vollständigen Abhängigkeit der Bauern.<br />
Noch im 14. Jhdt. war der russische Adel faktisch Eigentümer seines Landes, das er auch<br />
behielt, wenn er seinen Dienstherren wechselte, ein Recht, daß er bis ins 15. Jhdt. verteidigen<br />
konnte (vgl. hier <strong>und</strong> im folgenden Goehrke et al. 1972, 114-116, 130-135). Geschwächt<br />
wurde er durch das Prinzip der Erbteilung, auch konnte er nie die Mediatisierung der Bauern<br />
durchsetzen, die direkt dem Fürsten abgabe- <strong>und</strong> dienstpflichtig waren. Ivan III. setzte dann<br />
immer stärker das Prinzip der an einen bestimmten Dienst geknüpften bedingten Landvergabe<br />
durch, die spätestens mit dem Tod des Dienstleistenden erlosch. Damit wurde auch für diese<br />
Bevölkerungsschicht die Unterordnung unter eine Autorität wichtiger als die Entwicklung<br />
eigener Individualität <strong>und</strong> Organisationsfähigkeit innerhalb eines korporativen Stands (vgl.<br />
Goehrke et al. 1972, 135).<br />
Auch die freien Bauern, von denen es im 14. Jhdt., einer Zeit der Rodungen <strong>und</strong> immer<br />
wiederkehrender Hungerperioden, mit dem daraus folgenden Arbeitskräftemangel, noch viele<br />
gab, gerieten zunehmend in Abhängigkeit. Diese wurde durch die zunehmende Erschwerung<br />
des Abzugs, als, nunmehr von Zwang geprägte, Reaktion auf erneuten Arbeitskräftemangel,<br />
immer intensiver. 1497 erhielt die Schollenpflichtigkeit der Bauern schließlich Gesetzeskraft,<br />
die Möglichkeit des Abzugs wurde zunächst auf eine Woche im Herbst beschränkt.<br />
4.2 Frühe Neuzeit (1500-1800): Verwischen einer Scheidelinie<br />
Lateinischer Osten<br />
Die Entwicklung der lateinischen Länder östlich der alten karolingischen Ostgrenze nahm in<br />
der frühen Neuzeit einen eigenen, vom lateinischen Westen <strong>und</strong> orthodoxen Osten in<br />
37 Dieser Titel wurde von Ivan III zum ersten mal zu verschiedenen Gelegenheiten verwendet,<br />
setzte sich aber erst in den Jahrzehnten danach vollständig durch. Er hatte dem Anspruch nach<br />
außenpolitisch insbesondere nach Westen hin einen expansionistischen Anspruch,<br />
innenpolitisch den der Selbstherrschaft.<br />
17
charakteristischer Form unterscheidbaren Gang. An den intellektuellen Entwicklungen im<br />
Westen nahmen sie teil. Ihre soziale, politische <strong>und</strong> ökonomische Entwicklung wich jedoch<br />
erheblich von der des (Nord)Westens des Kontinents ab. Entscheidendes Kennzeichen dieser<br />
Gesellschaften wurde die klare Dominanz des Adels gegenüber Bauern, städtischem<br />
Bürgertum <strong>und</strong> dem König/Zentralstaat. Entscheidend für diese Entwicklung dürfte die<br />
Schwäche des städtisch-bürgerlichen Elements in diesen Gesellschaften gewesen sein.<br />
Mit der möglichen Ausnahme von Böhmen war das Städtenetz im Lateinischen Osten weniger<br />
dicht, die Städte kleiner, Handel <strong>und</strong> Gewerbe weniger entwickelt als weiter im Westen. In<br />
Polen hielt ihr Wachstum bis zum Ende des Getreidebooms in der Mitte des 17. Jhdts. an.<br />
Dennoch waren sie bereits entscheidend durch den Adel geschwächt: 1496 wurde es Bürgern<br />
verboten Land zu besitzen <strong>und</strong> Händlern verboten, das Land zu verlassen, 1565 wurden<br />
polnische Händler gänzlich vom Getreideexport zugunsten der Holländer ausgeschlossen (vgl.<br />
Szücs, 1994, S.17, Kochanowicz, 1989, S.112f). Nach dem Ende des Getreidebooms <strong>und</strong> den<br />
Kriegen des 17.Jhdts, die die Städte besonders hart trafen, fand schließlich vielfach eine<br />
Reagrarisierung statt.<br />
In Ungarn begann der Niedergang der Städte früher. Erst zu Beginn des 15. Jhdts. hatte sich<br />
um die freien Städte ein arbeitsteiliger Wirtschaftskreislauf mit der Stadt als gewerblichem<br />
Zentrum herausgebildet. Doch die Konkurrenz aus Westeuropa, insbesondere für den<br />
gehobenen Bedarf, verhinderte zusammen mit der geringen Bevölkerungsdichte das weitere<br />
Wachstum der gewerblichen Städte. Um 1500 gab es weniger von ihnen als im 14. Jhdt.,<br />
während die agrarischen Marktflecken an Zahl <strong>und</strong> Bevölkerung zunehmen. (Vgl. Makkai,<br />
1986, S. 1007, 1013-1016). Schließlich wuchs die Dominanz des Adels soweit, daß im 17.<br />
Jhdt auch die Städte vermehrt unter seinen Einfluß gerieten (Makkai, 1986, S. 1019).<br />
Die Entwicklung im Baltikum ist erratisch <strong>und</strong> durch die häufigen Kriegswirren geprägt. Im<br />
Resultat ähnelt sie derjenigen in Polen-Litauen <strong>und</strong> Ungarn. In Böhmen hingegen entwickelt<br />
sich ausgehend von dem hohen Verstädterungsgrad, trotz zweiter Leibeigenschaft, z.T. durch<br />
staatliche Förderung des Manufakturwesens gestützt, die bürgerlichste Gesellschaft des<br />
lateinischen Ostens: Die Städte können ihre relativ gute Position in der sozialen Struktur<br />
zumindest halten (Gunst, 1989, S.75f, Szücs, 1994, S.81).<br />
Die Dominanz des Adels zeigt sich am augenfälligsten in der Agrarverfassung. Während im<br />
Westen Naturalabgaben <strong>und</strong> Frondienste mehr oder weniger schnell <strong>und</strong> vollständig in<br />
monetäre Abgaben umgewandelt <strong>und</strong> die Bauern zunehmend de facto persönlich frei wurden,<br />
wurden im Osten die Bauern erneut an das Land geb<strong>und</strong>en <strong>und</strong> die Frondienste zunehmend<br />
18
erhöht, ein Phänomen, das als „zweiten Leibeigenschaft“ bezeichnet wurde. Diese<br />
Entwicklung wurde in „gespenstischer Gleichzeitigkeit“ (Szücs, 1994, S. 60) durch Gesetze in<br />
Brandenburg (1494), Polen-Litauen (1496), Böhmen (1497) <strong>und</strong> Ungarn (1492, 1498)<br />
eingeläutet.<br />
In Polen, Brandenburg <strong>und</strong> dem Baltikum war sie verb<strong>und</strong>en mit der Entwicklung der<br />
Gutswirtschaft. (Vgl. Gunst, 1989 <strong>und</strong> Kochanowicz, 1989) Der Großadel produzierte auf<br />
eigenem Land, das er durch Kolonisation oder Bauernlegen vermehrte, unter Ausnutzung der<br />
Fronarbeit, insbesondere Getreide für den Export in die Niederlanden. Diese<br />
Exportkonjunktur dauerte bis in die Mitte des 17.Jhdts. Ihr Abflauen führte eher zur<br />
Verschärfung der Fronarbeit. Gegen Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts erreichte auch der Zwangsverkauf<br />
von Alkohol relevante Größenordnungen (Kochanowicz, 1989, S. 102).<br />
Die Entwicklung im nicht zu Polen-Litauen gehörenden Teil des Baltikums ist derjenigen in<br />
Polen-Litauen ähnlich. Allerdings wurde die Schärfe der Leibeigenschaft in der Zeit der<br />
Zugehörigkeit zu Schweden (1582/1629 bis 1709/1721) z.T. beträchtlich abgeschwächt, wenn<br />
auch Bestrebungen zu ihrer Aufhebung am Widerstand des deutschen Adels scheiterten. Nach<br />
Etablierung der Zarenherrschaft wurde diese Entwicklung jedoch mehr als rückgängig<br />
gemacht (Ludwig, 1992, S.43f).<br />
Ebenso wie in Polen-Litauen gelang es in Ungarn dem Adel die auch hier in den beiden<br />
vorigen Jahrh<strong>und</strong>erten existierende Tendenz zur Lockerung des bäuerlichen<br />
Abhängigkeitsverhältnisses umzukehren, Bauern erneut an die Scholle zu binden <strong>und</strong> ihnen<br />
vermehrt Frondienste abzuverlangen um ihre eigenen Güter zu bewirtschaften. 38 Dies gilt<br />
auch hier vor allem für den Getreideanbau. Da Ungarn jedoch wegen des fehlenden<br />
Meerzugangs 39 kaum Getreide exportierte, war die Fron vor allem in den abgelegeneren<br />
Gebieten weniger hart. Dort waren, wie in den östlichen Gebieten Polen-Litauens, auch<br />
monetäre Abgaben üblich. Auch Ungarns Hauptexportprodukt, Rinder, wurde weiterhin von<br />
in Marktflecken ansässigen Bauern gezüchtet, die sich erhebliche Freiheiten bewahren<br />
38 Die Verurteilung der abhängigen Bauern zu „völliger <strong>und</strong> ewiger Knechtschaft“ nach dem<br />
Bauernkrieg von 1514 war jedoch sicherlich eher der Anfang als der Endpunkt dieser<br />
Entwicklung.<br />
39 Getreidetransport war in dieser Epoche nur per Schiff wirtschaftlich.<br />
19
konnten <strong>und</strong> auch Lohnarbeiter beschäftigten (vgl. Makkai, 1986, S.1012f., 1016-1018, 1021-<br />
1023). 40<br />
Böhmen war nicht am Getreideexport beteiligt. Hier war es das am weitesten entwickelte<br />
Städtenetz des lateinischen Ostens, das eine vielfältige Nachfrage nach Agrargütern entfaltete.<br />
Diese wurde sowohl von den Bauern als auch von den ebenfalls existierenden<br />
Gutswirtschaften bedient. Die Frondienste waren hier ebenfalls weniger ausgeprägt als in<br />
Gereideexportgebieten, die Wirtschaft in erheblich stärkeren Maße monetarisiert (vgl. Gunst,<br />
1989, S.69f, 75f).<br />
Die Ursachen der zweiten Leibeigenschaft sind unter Historikern umstritten (vgl. z.B. Davies,<br />
1996, S. 583f., Gunst, 1989, S. 96-100). Die Exportnachfrage nach Getreide hat die Fron<br />
sicherlich verschärft, Chronologie <strong>und</strong> die Entwicklung in Böhmen <strong>und</strong> Ungarn sprechen<br />
jedoch gegen die These, daß sie für deren Existenz notwendig war. Vielmehr scheint sich hier<br />
eine bereits bestehende Stärke des Adels zu manifestieren. Diese wiederum ist mit der<br />
Schwäche der Städte verknüpft. Dort wo die Städte relative arm <strong>und</strong> weit entfernt waren, ist es<br />
schwieriger <strong>und</strong> weniger attraktiv für den Bauern, der Fron durch Flucht in die Stadt zu<br />
entkommen 41 <strong>und</strong> leichter für den Adel, Zwang auszuüben <strong>und</strong> z.B. Gesetze zur<br />
Schollenpflichtigkeit des Bauern durchzusetzen. 42 Gleichzeitig ist es für den Bauern<br />
schwieriger durch Produktion für nahegelegene Städte in den monetären Wirtschaftskreislauf<br />
integriert zu werden, <strong>und</strong> damit zur Quelle monetärer Renten für den Gr<strong>und</strong>herrn zu werden.<br />
Er bleibt daher eher auf Naturalabgaben <strong>und</strong> Frondienste angewiesen. Exportnachfrage wirkt<br />
nicht in derselben Weise, wenn man voraussetzt, daß die Existenz großer Güter die<br />
Transaktions- <strong>und</strong> Transportkosten reduziert. Allerdings wird dieses letzte Argument mit<br />
guten Gründen bezweifelt.<br />
In jedem Fall ermöglicht es Zwangsarbeit, die Kompensation des Faktors Arbeit zu reduzieren<br />
<strong>und</strong> war daher für den Adel profitabler als monetäre Renten (vgl. Kochanowicz, 1989, S. 98,<br />
110). In jedem Fall bleibt die geringe Urbanisierung, ob ausschließlich durch die Stärkung der<br />
Zwangsgewalt des Adels oder in Kombination mit der durch sie erzeugten<br />
40 Dennoch scheint der Adel auch hier mittels Zwangsabgaben mitverdient zu haben (Vgl.<br />
Gunst, 1989, S. 71).<br />
41 Aus diesem Mangel an Alternativen heraus interpretiert Kochanowicz (1989, S. 111) die<br />
Leibeigenschaft als in gewissem Sinn „freiwillig“.<br />
20
Nachfrageschwäche entscheidend für die dem Westen diametral entgegengesetzte<br />
Entwicklung der Agrarverfassung im Lateinischen Osten.<br />
Mit Ausnahme Preußens, war das politische Ergebnis der Vorherrschaft des Adels die<br />
Schwächung der Zentralgewalt <strong>und</strong> als Konsequenz das Fehlen eines autochthonen<br />
Absolutismus <strong>und</strong> über kurz oder lang der weitgehende Verlust der Eigenstaatlichkeit.<br />
Am frühesten geschah dies in Ungarn, wo sich die vom Adel beherrschten Stände nach dem<br />
Verlust des türkischen Kernlandes an die Osmanen 1526 den Habsburgern unterwarfen. 43 Die<br />
Entwicklung des Habsburgerreichs zu einem absolutistischen Staat provozierten seit 1703 den<br />
Widerstand des Adels, der 1708 militärisch gebrochen wurde <strong>und</strong> 1711 zu einem Kompromiß<br />
führte, der zwar einerseits den Weg zu einer Adelsrepublik nach polnischem Vorbild<br />
endgültig versperrte, andererseits die ständische Vertretung erhielt <strong>und</strong> die „zweite<br />
Leibeigenschaft“ festigte.<br />
In Böhmen erfolgte die Niederlage der Stände 1620 (Schlacht am Weißen Berg). Sie war im<br />
Gegensatz zu Ungarn total <strong>und</strong> führte zur Enteignung <strong>und</strong> physischen Vernichtung großer<br />
Teile des Adels, der durch einen dynastietreuen ersetzt wurde. Der Böhmische Adel blieb<br />
zwar sozial mächtig, war jedoch in viel höherem Maß als der ungarische an die Zentralmacht<br />
geb<strong>und</strong>en, ein Modell das am ehesten dem westlichen Muster entsprach (vgl. Szücs, 1994, S.<br />
80f).<br />
In der polnisch-litauischen Adelsrepublik ist die politische Dominanz des Adels am<br />
deutlichsten. Hier erfolgte der Verlust der Souveränität am spätesten, mit der zweiten <strong>und</strong><br />
dritten polnischen Teilung 1793/95, nach vergeblichen Versuchen (Verfassung von 1792) den<br />
Weg zu einer parlamentarischen Monarchie zu gehen. Allerdings war die Niederlage dann<br />
auch vollständig. Die ständischen Privilegien gingen verloren, mit besonderer Schärfe in den<br />
Rußland zugeschlagenen Teilen <strong>und</strong> hier vor allem im früheren Litauen, wo auch zahlreiche<br />
Enteignungen stattfanden. In Estland <strong>und</strong> Lettland blieb dagegen zumindest die soziale <strong>und</strong><br />
ökonomische Position des Adels vollständig erhalten, bzw. wurde gegenüber unter den<br />
Schweden gemachten Einschränkungen sogar gestärkt (vgl. Davies, 1996, S. 655).<br />
42 Die folgende Argumentation geht im Kern bereits auf Max Weber (1923 [1958], S.90)<br />
zurück.<br />
43 Erst 1486 war König Matthias Corvinus mit dem Versuch gescheitert, den Adel zu<br />
entmachten.<br />
21
Orthodoxer Osten: Balkan<br />
Mit der Überschreitung der Dardannellen, 1354 begannen die türkischen Osmanen ihre<br />
Eroberung des Balkans, den sie bis weit in 19. Jhdt. beherrschen sollten. Konstantinopel fiel<br />
1453, womit das byzantinische Reich endgültig erlosch. 1529 war Ungarn besiegt, Wien<br />
wurde zum ersten mal belagert.<br />
Das Osmanische Reich hatte alle Charakteristika, die für die großen orientalischen Reiche<br />
typisch waren. Höchste religiöse <strong>und</strong> politische Autorität waren im Sultan vereint. Die<br />
Einschränkung wurde der despotischen Entscheidungsfülle des Sultans durch seine Bindung<br />
an das religiöse Gesetz in seiner Interpretation durch die höchsten religiösen Autoritäten war<br />
eher nominell ( Jones, 1981, S. 183). Gelichzeitig verstärkte der islamische Charakter des<br />
Reichs die Vermischung staatlicher <strong>und</strong> weltlicher Bereiche. Straf- <strong>und</strong> Zivilrecht waren,<br />
zumindest für muslimische Untertanen, an den Koran <strong>und</strong> die Tradition, die „Hadith“<br />
geb<strong>und</strong>en. Die "Kadi", die vor Ort die Richter- <strong>und</strong> auch einige administrative Funktionen<br />
ausübten, gehörten zur "Ulema", der Gruppe der Rechtsgelehrten, welche die Tradition<br />
auslegten (Faroqhi, 1986, p. 1254).<br />
Der autokratische Charakter der Reiches wird auch in der Agrarverfassung deutlich. Fast alles<br />
Land ist zunächst Staatsbesitz. Nur durch besonders konstruierte religiöse Stiftungen ließ sich<br />
Privateigentum an Land absichern <strong>und</strong> vererben (Vgl. Hütteroth, 1993, S. 348). Erbadel war<br />
unbekannt. Von Istanbul eingesetzte <strong>und</strong> wieder abrufbare Steuereintreiber trieben reguläre<br />
<strong>und</strong> insbesondere in Kriegszeiten auch Sondersteuern ein, zumeist in Naturalien. Sie dienten<br />
direkt oder indirekt (nach Verkauf auf dem lokalen Markt) zur Unterhaltung von Hof,<br />
Bürokratie <strong>und</strong> Militär des Sultans. Zunächst waren die Steuern zentral fixiert, gegen Ende<br />
des 16.Jhdts. ging man dazu über, das Steueraufkommen eines Gebietes meistbietend zu<br />
verpachten, zunächst jährlich, später auf Lebenszeit, nachdem die jährliche Verpachtung zu<br />
extremen Auswüchsen bei der de facto Steuerlast geführt hatte (Vgl. Hütteroth, 1993, S. 349).<br />
Im Rahmen dieses Systems entwickelten sich dann ab dem späten 17 Jhdt. Tendenzen, die als<br />
eine gewisse Feudalisierung interpretiert werden können. Zum einen wurde die Funktion des<br />
lokalen Steuereintreibers, der die Steuerpacht für den eigentlichen Bieter eintrieb was<br />
erhebliche finanziellen Privilegien mit sich brachte, erblich. Auch entwickelten sich größere<br />
landwirtschaftliche Einheiten, die durch Zwangsarbeit bewirtschaftet wurden, ohne allerdings<br />
22
zu einem dominanten Element der Agrarverfassung zu werden. 44 Diese Entwicklungen waren<br />
insgesamt aber ein gutes Stück davon entfernt eine einheitliche, auf politische<br />
Selbstorganisation <strong>und</strong> Mitsprache drängende, Adels- oder Großgr<strong>und</strong>besitzerschicht<br />
hervorzubringen.<br />
Der Bauernschaft blieb die zweite Leibeigenschaft erspart. Sie nutzten diese persönliche<br />
Freiheit durchaus für geographische <strong>und</strong> berufliche Mobilität (Vgl. Adanir, 1989, S. 140).<br />
Diese nahm die Form der Flucht vor übermäßigen Steuern an, zum einen in abgelegenere<br />
Bergregionen, wo man auf schlechteren Böden Weidewirtschaft betrieb, aber unabhängiger<br />
war, 45 zum anderen in die durch künstlich niedrige Getreidepreise subventionierten Städte.<br />
Diese waren jedoch keinesfalls Inseln bürgerlicher Freiheit.<br />
Vielmehr ist das für die Entwicklung oder aber Nichtentwicklung einer Zivilgesellschaft<br />
entscheidende strukturelle Element der Gesellschaften unter der Herrschaft der Osmanen die<br />
Abwesenheit städtisch-bürgerlicher Elemente im westlichen Sinne. Zwar entwickelte sich im<br />
Zentrum des Reiches, in Istanbul <strong>und</strong> den angrenzenden Reichsteilen eine Schicht zum Teil<br />
sehr wohlhabender Händler 46 <strong>und</strong> auch das Handwerk erlebte zumindest im 16.Jhdt. einen<br />
großen Aufschwung. Auch existierten Vereinigungen dieser Berufsgruppen. 47 Nirgends gibt<br />
es jedoch Anzeichen städtischer Autonomie, auch wenn städtische Oberschichten in der<br />
Peripherie insbesondere in den späteren Jahrh<strong>und</strong>erten ein gewisses Eigenleben führen<br />
konnten. Vielmehr blieb das Eigentum der Händler <strong>und</strong> Handwerker dem unkontrollierten<br />
Zugriff der Steuern des Sultans unterworfen, <strong>und</strong> ihre unternehmerische Dispositionsfreiheit<br />
wurde regelmäßig durch Preiskontrollen untergraben. (Faroqhi, 1986, S. 1256, 1259). 48<br />
44 Die Diskussion um die Rolle <strong>und</strong> den Stellenwert dieser sogenannten „çiftliks“ findet sich<br />
gut zusammengefaßt in Adanir (1989, S. 146-150) <strong>und</strong> Lampe (1989, S. 187-190).<br />
45 Dies verstärkte den ohnehin eher archaischen Charakter der Landwirtschaft (Vgl. Schultz,<br />
1997, S. 61).<br />
46 Daneben existierte vor allem gegen Ende der Epoche eine kleine aber rege Schicht<br />
wandernder Händler ( Vgl. Lampe, 1989, S.190f.).<br />
47 Allerdings hatten diese eher einen Zwangscharakter <strong>und</strong> dienten den fiskalischen Interessen<br />
des Staates mehr als daß sie Repräsentationsorgane eines selbstbewußten Standes waren<br />
(Weber, 1922 [1985], S. 740f.).<br />
48 Dabei wurde der Handel, der fester Bestandteil des traditionellen islamischen<br />
Gesellschaftsbilds war, gegenüber Handwerk <strong>und</strong> Gewerbe privilegiert (Vgl. Schultz, 1997,<br />
S.62f.)<br />
23
Insgesamt war der Zentralstaat - Hof, Bürokratie, Militär - das dominierende Element dieser<br />
Gesellschaft. Sein Zustand war ein wesentlicher Bestimmungsfaktor für den Zustand von<br />
Ökonomie <strong>und</strong> Gesellschaft. Im 16.Jhdt. trugen ein unzweifelhaft straff organisierter Staat zur<br />
Blüte der osmanischen Gesellschaft bei, die Verfallserscheinungen der folgenden zwei<br />
Jahrh<strong>und</strong>erte zu deren Auszehrung: Dekadenz der Sultane, Faktionenstreit um die Besetzung<br />
von Ämtern, Korruption, Zunehmender Einfluß der „Prätorianer“ der Janitscharentruppe bei<br />
Hofe. Der bereits beschriebene Machtzuwachs regionaler Potentaten, die Erstarrung des<br />
Geisteslebens, insbesondere die zunehmende Abschottung von europäischen Entwicklungen 49<br />
<strong>und</strong> vermehrte Unsicherheit durch Banden <strong>und</strong> das militärische Potential der lokalen<br />
Machthaber waren die Folge.<br />
Orthodoxer Osten: Rußland<br />
In Rußland war die Zentralisierung politisch <strong>und</strong> gesellschaftlicher Macht in dieser Epoche<br />
vergleichbar mit der im Osmanischen Reich. 50 Allerdings blieb hier der Zerfall des<br />
Zentralstaats aus. Mit der endgültigen Übernahme des Zarentitels zu Beginn der<br />
Regierungszeit von Ivan dem IV, 1547, wurde die Übernahme der byzantinischen<br />
Staatsideologie, die theologische Überhöhung des Fürstenamts, offiziell (Goehrke, 1986, pp.<br />
1040-1045). Die Identifizierung der kirchlichen mit den staatlichen Interessen wurde<br />
schließlich noch durch die Umwandlung der Kirchenleitung in einen Teil der staatlichen<br />
Bürokratie durch Peter I. (1721) deutlicher gemacht.<br />
Der Dienstadel wurde zu Beginn der Epoche durch Ivan IV. systematisch ausgebaut, zunächst<br />
durchaus gegen den alten Bojarenadel <strong>und</strong> mit z.T. grausamer Gewalt (Goehrke et al., 1972,<br />
S. 149). Der Dienstadel wurde von nun an endgültig die Gr<strong>und</strong>lage des russischen Staates,<br />
wobei sich die Positionen von Altadel <strong>und</strong> neuem Dienstadel anglichen. Letzterer konnte seit<br />
der Mitte des 17. Jhdts. de facto über seine Ländereien wie über Eigentum verfügen,<br />
andererseits wurde die Dienstpflicht durch Peter I. auf den gesamten Adel ausgedehnt. Seit<br />
49 Vgl. Jones, 1981, 179-186. Der präzise Beginn des Niedergangs ist Gegenstand<br />
wissenschaftlicher Debatten <strong>und</strong> wird auch je nach Betonung politischer, intellektueller <strong>und</strong><br />
ökonomischer Faktoren anders akzentuiert (Vgl. z.B. Braudel, 1986b, S.523). Auch war der<br />
Niedergang nicht monoton, das 18. Jhdt. brachte eine gewisse Stabilsierung, nachdem im<br />
17.Jhdt. eine Agrarkrise klassischen Typs den säkularen Verfall akzentuiert hatte (Vgl.<br />
Adanir, 1989, 142-146, Lampe, 1989, S. 184).<br />
50 Davies (1996, S. 1265) sieht das Osmanische Reich, Rußland <strong>und</strong> den Kirchenstaat als die<br />
autokratischsten Regimes im Europa dieser Epoche.<br />
24
1722 war der Adel durch die Petersche „Rangtabelle“ ein offener Stand, in den man sich<br />
durch Erklimmen bestimmter Positionen im Dienst des Zaren empordienen konnte (Leitsch,<br />
1993, S. 790). In der Folgezeit konsolidierte sich die Position des Adels durch die<br />
Abschaffung der Dienstpflicht 1762 <strong>und</strong> das Adelsprivileg von 1785, ohne daß dies an der<br />
überragenden Position des Zaren <strong>und</strong> der Dominanz des Dienstprinzips etwas änderte. Selbst<br />
in der größten Schwächeperiode der Zarenherrschaft, der „Zeit der Wirren“ (1605-16) 51<br />
konnte sich trotz entsprechender Ansätze kein ständisches Mitbestimmungsrecht des Adels<br />
durchsetzen (Goehrke, 1986, S. 1046). Die Dominanz des Dienstadels in den entsprechenden<br />
Versammlungen dürfte hierfür nicht unwesentlich gewesen sein. Der Adel, durch die<br />
„Platzordnung“ in unterschiedlichem Grade mit Privilegien ausgestattet, ökonomisch äußerst<br />
heterogen, entwickelte auch später nie ein einheitliches Standesbewußtsein.<br />
Die Städte wurden in dieser Epoche endgültig refeudalisiert, die Zahl der Einwohner, die dem<br />
Staat, der Kirche oder einem Adligen hörig war, nahm ständig zu. Steuern <strong>und</strong> Dienstpflichten<br />
der „freien“ Städter werden übereinstimmend für beträchtlich gehalten. Ab 1649 wurden die<br />
„freien“ Stadtbürger schließlich in einer dem Bauern vergleichbaren Weise an die Stadt<br />
geb<strong>und</strong>en. Es ist bezeichnend, daß viele gewerbliche <strong>und</strong> Handelstätigkeiten von Leibeigenen<br />
unternommen wurden. Die einzige wirklich wohlhabendere Schicht, die Händler, führte ihre<br />
Geschäfte in enger Anlehnung an den Zentralstaat (Leitsch, 1993, S.773, Szücs, 1994, S. 68).<br />
Die Abhängigkeit der Bauern vom Adel wurde immer stärker. 1592 wurde die<br />
Abzugsmöglichkeit gänzlich aufgehoben, 1649 jede Rückführungsfrist. Allmählich<br />
verwischten die Unterschiede zwischen freien <strong>und</strong> unfreien Bauern, die Fronlasten wurden<br />
erhöht, insbesondere auch mit dem Erstarken gutswirtschaftlicher Tendenzen Mitte des 17.<br />
Jhdts (Goehrke et al., 1972, S. 163). Leibeigene - ca. 80% der Bauern - konnten sich ab 1767<br />
nicht mehr bei Hofe über ihren Herrn beklagen (Leitsch, 1993, S. 762), dessen Machtfülle<br />
damit nahe an die eines Sklavenhalters kam. 52 Die Flucht an oder über die Reichsgrenzen<br />
(Kosaken!) war häufig die einzige, risikoreiche, Möglichkeit diesem Schicksal zu entgehen.<br />
51 Diese wird häufig mit den Folgen einer Art „imperial overstrech“ unter Ivan IV. In<br />
Verbindung gebracht. Die Bauern flohen vor Schollenbindung, steigender Abgabenlast zur<br />
Finanzierung der Kriege <strong>und</strong> genereller drakonischer Willkür, was zur „Großen<br />
Wüstungsperiode“ führte (Vgl. Goehrke et al., 1972, S.150f.).<br />
52 So auch Schultz (1997, S.59). Es existierte ein Handel mit Leibeigenen, <strong>und</strong> obgleich die<br />
Trennung von Familien verboten war, geschah dies regelmäßig (Leitsch, 1993, S. 763).<br />
25
Die Reformen Peters <strong>und</strong> Katharinas zu Beginn bzw. zum Ende des 18. Jahrh<strong>und</strong>erts waren<br />
hauptsächlich militärisch motiviert. Sie erreichten sicherlich die Entstehung einer moderneren<br />
Verwaltung, die Errichtung militärtechnisch wichtiger Manufakturen, sowie die intellektuelle<br />
<strong>und</strong> z.T. auch wirtschaftliche Öffnung nach Westen <strong>und</strong> die Erhöhung des Bildungsstandes<br />
des Adels. Die Machtfülle des Zaren <strong>und</strong> die durchgehend hierarchische Gesellschaftsstruktur<br />
tasteten sie nicht an. Auch blieben sie in ihrer Tiefenwirkung deutlich beschränkt.<br />
4.3 Das 19te <strong>und</strong> 20ste Jahrh<strong>und</strong>ert: Kontinuität im Wandel<br />
Zwischenbilanz<br />
Am Vorabend der Industrialisierung hatten die lateinischen <strong>und</strong> die orthodoxen Gesellschaften<br />
der heutigen <strong>Transformation</strong>sländer gut unterscheidbare Entwicklungspfade beschritten. Die<br />
orthodoxen Länder waren durchgehend autokratischer Herrschaft unterworfen, einheimisch in<br />
Rußland, Fremdherrschaft auf dem Balkan. Religiöse <strong>und</strong> politische Macht waren eng<br />
miteinander verflochten. Der „Staat“ - Militär, Hof, Dienstadel - beanspruchte so gut wie den<br />
gesamten Surplus, den die Bauern erzeugen konnten. Diesen blieb die Flucht als einzige<br />
Möglichkeit, ihre Lage erträglicher zu gestalten. Die städtischen wirtschaftliche Aktivitäten<br />
wurden in erheblichem Maße vom Zentralstaat reguliert. Städtischer Reichtum blieb ständig<br />
von willkürlicher Konfiskation bedroht. Ständiges Lavieren mit den Mächtigen war nötig, um<br />
eine gewisse Einkommenssicherheit zu erlangen. Macht <strong>und</strong> Wohlstand waren jedoch vor<br />
allem mit guten Positionen in der hierarchischen politischen Struktur verb<strong>und</strong>en.<br />
Zusammengenommen waren die Machtlosigkeit der Bauern, die fehlende Autonomie der<br />
Städte <strong>und</strong> die enge Allianz zwischen Kirche <strong>und</strong> Staat, kurz, die Dominanz hierarchischer<br />
Beziehungen, geradezu ideale Negativbedingungen, die hier das Entstehen einer<br />
Zivilgesellschaft verhinderten. 53<br />
Die lateinischen Länder hatten hingegen in viel stärkerem Maß an den großen intellektuellen<br />
Strömungen des Westens teilgenommen. Sie besaßen ein eigenes Bürgertum, das jedoch<br />
53 Das folgende, auf den Balkan bezogene Zitat von Davies (1996, S. 646) drückt dies sehr<br />
deutlich aus: „... none of the great civilizing movements that shook the Western world -<br />
Renaissance, Reformation, Science, Enlightenment, Romanticism - could effectively penetrate<br />
the Balkan countries. Political traditions owed little to rationalism, absolutism or<br />
constitutionalism; kinship politics dominated at all levels; nepotism lubricated by bribery was<br />
a way of life. „Power is a trough“ ran the Turkish proverb, „and he who does not feed is a<br />
pig.“ The border of the shrinking enclave of what came to be called „Turkey-in-Europe“<br />
formed one of Europe’s most deep-seated cultural fault lines.“<br />
26
weniger bedeutend war als im Westen <strong>und</strong> seine Macht an den im Vergleich zu Westeuropa<br />
viel zahlreicheren Adel verlor. Selbst eine Stand von mehr oder minder Gleichrangigen,<br />
dominierte dieser Staat <strong>und</strong> Gesellschaft, insbesondere zwang er die Bauern in die zweite<br />
Leibeigenschaft. Das bürgerliche Element in der Gesellschaft <strong>und</strong> der Adel brachten<br />
persönliche Freiheit <strong>und</strong> Elemente horizontaler Beziehungen in die Gesellschaften ein, die<br />
aber an dem „Geburtsfehler“ krankten, daß sie viel stärker als im Westen auf der<br />
Unterdrückung der großen Mehrheit der Bevölkerung aufbauten, auch wenn diese nicht das<br />
Ausmaß erreicht haben dürfte, das insbesondere in Rußland vorherrschte. 54 Somit dürften<br />
zivilgesellschaftliche Elemente in diesen Ländern existiert haben, jedoch in deutlich<br />
geringerem Maße als im lateinischen Westen.<br />
Die Entwicklungen der folgenden zwei Jahrh<strong>und</strong>erte läßt sich vor diesem Hintergr<strong>und</strong> sowohl<br />
als durch den unterschiedlichen Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft mitbedingt als auch<br />
diesen reproduzierend verstehen.<br />
Das 19. Jahrh<strong>und</strong>ert (1789-1914)<br />
Die lateinischen Staaten, nach der Teilung Polens im 19.Jhdt. vollständig unter fremder<br />
Herrschaft, wurden früher <strong>und</strong> intensiver als ihre orthodoxen Nachbarn von den<br />
entscheidenden Entwicklungen des 19. Jahrh<strong>und</strong>erts, Agrarmodernisierung, Industrielle<br />
Revolution <strong>und</strong> Liberaler Nationalismus, erfaßt. 55 Wie bisher folgt Tschechien dem<br />
westlichen Beispiel besonders eng. Die Bauern wurden hier bereits im 18. Jhdt durch die<br />
Bauernschutzgesetze Maria Theresias von einem Gutteil der Fron befreit, bevor die letzten<br />
Elemente persönlicher Unfreiheit 1848 verschwanden. Obgleich große Unterschiede in den<br />
Betriebsgrößen verblieben, erfaßte die Agrarmodernisierung Bauern wie Großgr<strong>und</strong>besitz. Die<br />
bereits im 18. Jhdt. begonnene Protoindustrialisierung ging schon zu Beginn des 19. Jhdts in<br />
die Frühindustrialisierung über <strong>und</strong> setzte sich systematisch fort. Ein tschechischer liberaler<br />
Nationalismus zeigte sich 1848 <strong>und</strong> ab 1868 konnte dieser durch die Einführung von<br />
Elementen regionaler Selbstverwaltung politische Erfahrung sammeln.<br />
54 Insbesondere die Entwicklungen in Polen in den Jahrzehnten um die Wende vom 18. Zum<br />
19. Jahrh<strong>und</strong>ert deutet an, daß auch von dieser Basis her ein sehr viel schnellere Entwicklung<br />
einer vollausgebildeten Zivilgesellschaft möglich gewesen wäre. Externe Einflüsse<br />
verhinderten dies.<br />
55 Berend <strong>und</strong> Ranki (1974) ist nach wie vor die umfassendste Monographie zur<br />
ökonomischen Seite dieses Prozesses im lateinischen Osten <strong>und</strong> im orthodoxen Balkan. Die<br />
folgende Darstellung folgt ihrer Generallinie.<br />
27
In Ungarn, Polen <strong>und</strong> dem Baltikum wurde die Entwicklung durch die Dominanz des adligen<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzes bestimmt. In Ungarn war sie unangefochten. Die 1848 erfolgte<br />
Bauernbefreiung ließ 60% der Bauern ohne Land <strong>und</strong> erzeugte zahlreichen kaum<br />
lebensfähigen Kleinbesitz. So blieb die Agrarmodernisierung auf den Getreide exportierenden<br />
Großgr<strong>und</strong>besitz beschränkt. Die Industrialisierung erfolgte im letzten Viertel des<br />
Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> blieb (Getreidemühlen!) eng an den Agrarsektor gekoppelt. Auch politisch<br />
dominierte der Adel das seit 1867 mit einem hohen Maße an Autonomie <strong>und</strong> einem formal<br />
nach liberalen Regeln arbeitenden Staatsapparat ausgestattete Ungarn. Die städtische<br />
Opposition blieb zu schwach, in den ländlichen Gebieten sicherte eine Mischung aus nicht-<br />
geheimer, indirketer Wahl <strong>und</strong> Zwang das gewünschte politische Resultat (Stokes, 1989, S.<br />
224).<br />
Wegen der fehlenden Souveränität bzw. Autonomie 56 war in Polen <strong>und</strong> auf dem Baltikum die<br />
politische Vorherrschaft des Adels schwächer als in Ungarn. Dies änderte jedoch nichts an<br />
seiner sozialen <strong>und</strong> wirtschaftlichen Dominanz. Bauernbefreiung <strong>und</strong> Agrarmodernisierung<br />
folgten insgesamt dem ungarischen Muster. 57 Insbesondere in Kongreßpolen erfolgte in der<br />
zweiten Hälfte des Jahrh<strong>und</strong>erts hinter den russischen Zollmauern eine beachtliche, auf den<br />
russischen Markt ausgerichtete Industrialisierung, die dem Ausmaß nach mit Ungarn<br />
vergleichbar war.<br />
Die Entwicklung in Rußland erfolgte zunächst deutlich langsamer als im lateinischen Osten.<br />
Erst nach der Niederlage im Krimkrieg entschloß man sich 1861 die Leibeigenschaft<br />
aufzuheben. Auch hier wurden den Bauern erhebliche Ablöselasten auferlegt, ihre Einbindung<br />
in den „mir“, die Dorfgemeinde, die nach wie vor in bestimmten Abständen die Felder neu<br />
verteilte <strong>und</strong> für die Steuern der einzelnen haftete, blieb bestehen. In der Folge blieb die<br />
Agrarmodernisierung jedoch nicht nur auf Seiten der Bauern aus. Auch die Gutsbesitzer<br />
modernisierten erst gegen Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts ihren Betrieb, <strong>und</strong> dann vor allem wo im<br />
56 In den zu Rußland <strong>und</strong> zu Preußen gehörenden Teilen Polens ging diese mit dem<br />
gescheiterten Aufstand von 1830 verloren. 1846, 1848 <strong>und</strong> 1863 folgten weitere Aufstände.<br />
57 Die Bauernbefreiung begann früher <strong>und</strong> endete z.T. später als in Ungarn: Posen 1807, 1816<br />
(persönliche Freiheit, selbst kultiviertes Land in geringem Maße an Bauern)/1850,<br />
Kongreßpolen 1809 (persönliche Freiheit ohne Land)/1864 (Eigentum an kultiviertem Land,<br />
nach dem Aufstand von 1863 gegen den Adel gerichtet <strong>und</strong> vergleichsweise günstig für die<br />
Bauern ), Galizien 1781 (persönliche Freiheit)/1848, Estland <strong>und</strong> Lettland 1816-19<br />
(persönliche Befreiung ohne Land)/1849, 1856 (Bauern können kultiviertes Land erhalten).<br />
28
Westen <strong>und</strong> Süden Rußlands der Export leichter möglich war (Kahan, 1985, S. 519-522). Erst<br />
die nach 1905 ergriffenen Maßnahmen waren dann konsequent auf eine erfolgreiche<br />
Agrarmodernisierung zugeschnitten. Die Industrialisierung gewann ab 1880 an Momentum.<br />
War ihre Geschwindigkeit <strong>und</strong> ihr absoluter Umfang vor 1914 zweifelsohne beträchtlich, so<br />
änderte sie dennoch nicht die überragende Dominanz des agrarischen Sektors.<br />
Ein liberaler Nationalismus hat in Rußland nie dominiert. Zweifelsohne hat u.a. die<br />
Einführung der Normen des bürgerlichen Rechts 1864 sowie von Elementen lokaler<br />
Selbstverwaltung 1864/1870, die aber bald vom Adel dominiert wurden, die allmähliche<br />
Herausbildung von Ansätzen einer Zivilgesellschaft begünstigt. Sie blieb aber politisch wie<br />
gesellschaftlich schwach. Erst nach der erneuten militärischen Katastrophe von 1905 wurde<br />
eine Verfassung verabschiedet.<br />
Wie wir heute wissen, war der Zeitraum von ca. 30 Jahren vor dem Krieg, in dem sich<br />
Rußland immer schneller modernisierte, nicht ausreichend um den erneuten Rückfall in eine<br />
hierarchische, autokratische <strong>und</strong>, da mit modernen Mitteln ausgestattet, totalitäre,<br />
Gesellschaftsform zu verhindern.<br />
Erst gegen Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts begannen sich auch auf dem orthodoxen Balkan<br />
durchgreifende Wandlungen durchzusetzen. Zwar hatten die Sultane des Osmanischen Reichs<br />
insbesondere nach 1830 Reformen verkündet, die Sicherheit des Eigentums <strong>und</strong> Beständigkeit<br />
der Besteuerung sichern sollten, diese wurden jedoch nur teilweise vor Ort durchgesetzt. Der<br />
Export von Agrargütern erhöhte sich dennoch stark, ohne jedoch die Agrarstruktur wesentlich<br />
zu verändern. Eine Ausnahme ist Rumänien (jenseits der Karpaten), das im 19. Jhdt eine Art<br />
„nachholende zweite Leibeigenschaft“ erlebte. Allerdings war der Rumänische<br />
Großgr<strong>und</strong>besitzer, seinem Ursprung im osmanischen Steuerpächter treu bleibend,<br />
typischerweise ein Rentier, der von dem ihm unterstehenden Kleinbauern sehr hohe<br />
Naturalpachten erhob. In Bulgarien <strong>und</strong> Serbien dominierte bäuerlicher Kleinbesitz weiterhin<br />
ohne die Zwischenschaltung von Rentiers. Nach Anfängen zu Beginn des Jahrh<strong>und</strong>erts<br />
werden 1878 alle Balkanstaaten unabhängig, 1913 erreichten sie gegenüber dem Osmanischen<br />
Reich ihre endgültigen Grenzen. Damit entstand der Akteur, dem die Initiation f<strong>und</strong>amentaler<br />
Änderungen vorbehalten blieb, der neue Zentralstaat. Sich formal an liberalen westlichen<br />
Vorbildern orientierend, schwankte er zwischen autoritären <strong>und</strong> demokratischen<br />
Gepflogenheiten. Trotz ganz erheblicher Korruption <strong>und</strong> Verschwendung in<br />
überdimensionierten Projekten, wurden von den neuen Bürokratien der Ausbau von<br />
29
Infrastruktur, Bildungswesen <strong>und</strong> die Industrialisierung selbst vorangetrieben, so daß diese in<br />
den letzen beiden Jahrzehnten vor dem ersten Weltkrieg erste erhebliche Fortschritte machte.<br />
Sie blieb aber deutlich hinter derjenigen Ungarns <strong>und</strong> Polens zurück.<br />
Das 20. Jahrh<strong>und</strong>ert (1914-1989)<br />
Zusammenfassend läßt sich sagen, daß das „lange“ 19. Jahrh<strong>und</strong>ert (1789-1914/18) durch die<br />
langsame Verbreitung der Errungenschaften des „Sieges der Zivilgesellschaft“ im Westen<br />
Europas - Gleichheit vor dem Gesetz, Regierung mittels Verfassung <strong>und</strong> Gesetzen,<br />
Industrialisierung - die nachholende Entstehung bzw. Weiterentwicklung einer<br />
Zivilgesellschaft im gesamten Osteuropa begünstigte. Die Voraussetzungen hierfür waren<br />
jedoch um so günstiger, je höher der Entwicklungsstand der Zivilgesellschaft bereits zu<br />
Beginn der Epoche war, <strong>und</strong> so dürfte das diesbezügliche Gefälle, ähnlich etwa dem Gefälle<br />
in der Industrialisierung, auch am Ende der Epoche deutlich gewesen sein.<br />
Das folgende kurze 20.Jahrh<strong>und</strong>ert (1918-1989) sah im gesamten Osteuropa hingegen die<br />
Umkehrung des Trends hin zur Stärkung zivilgesellschaftlicher Strukturen. Mit Ausnahme der<br />
Tschechoslowakei wurden die Staaten Osteuropas in der Zwischenkriegszeit von immer<br />
stärker autoritären Regierungen geprägt. Zu den ubiquitären Problemen dieser Epoche kamen<br />
hier zusätzlich die durch extensive Verschiebung der Grenzen <strong>und</strong> Neuentsehung von Staaten<br />
verursachten politischen <strong>und</strong> ökonomische Schwierigkeiten hinzu. Halbherzige Landreformen<br />
ließen die Agrarfrage ungelöst. Deren Lösung ist, zusammen mit Urbanisierung,<br />
Industrialisierung <strong>und</strong> der Durchsetzung eines Westeuropa vergleichbaren Bildungsniveaus,<br />
sicher eine der bleibenden Leistungen des sowjetsozialistischen Regimes. Die extreme<br />
Hierarchisierung <strong>und</strong> der totalitäre Anspruch des Regimes warfen die Entwicklung der<br />
Zivilgesellschaft jedoch zweifellos zurück. Erneut konnte der einzelne nicht selbst die<br />
Verantwortung für sein ökonomisches <strong>und</strong> politisches Schicksal übernehmen. Vielmehr sah es<br />
sich einem Staat gegenüber der nur durch eine Mischung aus Korruption <strong>und</strong> Gehorsam in<br />
Schach gehalten werden konnte, <strong>und</strong> dennoch eine ständige Quelle potentieller Unsicherheit<br />
blieb. Ein Indikator dafür, daß auch dies den unterschiedlichen Entwicklungsstand der<br />
Zivilgesellschaft zu Beginn dieser Epoche nicht einebnen konnte, ist die Tatsache, daß<br />
zwischen 1945 <strong>und</strong> 1989 in jedem der selbständigen lateinischen Staaten zumindest ein<br />
größerer Aufstand gegen das Sowjetregime stattfand, während dies in den selbständigen<br />
orthodoxen Staaten ausblieb. Auch die Zwitterstellung Jugoslawiens paßt hier angesichts<br />
seiner über die hier thematisierte Scheidelinie hinweg zusammengefaßten Territorien gut ins<br />
Bild.<br />
30
5 Schlußbetrachtung<br />
Es wurde hier argumentiert, daß der „lateinische“ Teil der Reformstaaten bessere Chancen für<br />
eine erfolgreiche <strong>Transformation</strong> hat als der „orthodoxe“, da ersterer über eine entwickeltere<br />
Zivilgesellschaft verfügt als letzterer, <strong>und</strong> da eine entwickelte Zivilgesellschaft ein<br />
entscheidender Faktor für eine erfolgreiche <strong>Transformation</strong> darstellt. Zivilgesellschaft wurde<br />
verstanden als geprägt von vielfältiger, gleichberechtigter Interaktion der<br />
Gesellschaftsmitglieder, informell <strong>und</strong> in zahlreichen Vereinigungen zur Verfolgung<br />
gemeinsamer Interessen, als gekennzeichnet durch auf diese Strukturen aufbauende Normen<br />
der gr<strong>und</strong>sätzlichen Solidarität der Gesellschaftsmitglieder untereinander, durch Toleranz<br />
gegenüber Unterschieden, auch der Interessen, <strong>und</strong>, als Resultat, durch relativ großes<br />
interpersonelles <strong>und</strong> institutionelles Vertrauen.<br />
Eine entwickelte Zivilgesellschaft ermöglicht liberale <strong>und</strong> demokratische rechtliche<br />
Strukturen, <strong>und</strong> vor allem, ihre de facto Umsetzung. Dadurch, <strong>und</strong> durch den unmittelbar<br />
transaktionsfördernden Aspekt interpersonellen Vertrauens, wird Effizienz <strong>und</strong> Wachstum der<br />
Ökonomie begünstigt.<br />
Schwerpunkt des Beitrags war die Darstellung der Geschichte West- <strong>und</strong> vor allem<br />
Osteuropas unter dem Gesichtspunkt der Entstehung oder eben Nichtentstehung einer<br />
Zivilgesellschaft. Tabelle 1 stellt den Versuch einer stichwortartigen Zusammenfassung dar.<br />
31
1000-<br />
1500<br />
1500-<br />
1789<br />
1789-<br />
1914<br />
1914-<br />
1945<br />
1945-<br />
1989<br />
Lateinischer Westen Lateinischer Osten Orthodoxer Osten<br />
• Kirche vs. "Staat"<br />
• Erbadel mit<br />
Gr<strong>und</strong>besitz<br />
• autonome Städte<br />
→Ständegesellschaft<br />
• politisch:<br />
Staat > Stadt<br />
• ökonomisch,<br />
ideologisch:<br />
Stadt > Staat<br />
• allmähliche<br />
Bauernbefreiung<br />
• Liberalisierung<br />
• Demokratisierung<br />
• Agrarmodernisierung<br />
• Industrielle Revolution<br />
• umfassende Krise mit<br />
autoritären Tendenzen<br />
• erneute Liberalisierung<br />
<strong>und</strong> Demokratisierung<br />
• ab1200 rapide<br />
"Verwestlichung" aber:<br />
• starker Adel<br />
• schwache Städte<br />
• Adel > Staat, Stadt<br />
• (Fremdherrschaft)<br />
• zweite Leibeigenschaft<br />
• Liberalisierung<br />
• Nationalismus<br />
• Agrarfrage<br />
• Industrialisierung: spät,<br />
teilweise, „von oben“<br />
• umfassende Krise<br />
• autoritäre Regimes<br />
• Staatskirchentum<br />
• Autokratie<br />
• Land Staatseigentum,<br />
"Dienstadel"<br />
• kontrollierte, regulierte<br />
Städte,<br />
• Abschöpfung<br />
bäuerlichen Surplus’<br />
durch offenen Zwang:<br />
(zweite Leibeigenschaft<br />
bzw. Steuerpacht)<br />
• demokratisch/liberale<br />
Ansätze: sehr spät<br />
• Nationalismus<br />
• Agrarfrage<br />
• Industrialisierung: sehr<br />
spät, teilweise bzw.<br />
Anfänge, „von oben“<br />
• autoritäre Regimes<br />
32<br />
bzw. Sowjetsozialismus<br />
• Sowjetsozialismus • Sowjetsozialismus<br />
Tabelle 1: Historische Zusammenfassung 58<br />
58 Die Schattierung versucht das Ausmaß, in dem in einer Epoche <strong>und</strong> Zone für die
Zentrales Element der Entstehung <strong>und</strong> Entwicklung einer Zivilgesellschaft war das Ausmaß,<br />
in dem unbeschränkte <strong>und</strong> umfassende Machtkonzentration durch gesellschaftliche<br />
Bruchlinien verhindert wurde. Im Westen Europas ließen die Gegensätze zwischen Kirche<br />
<strong>und</strong> „Staat“, Adel <strong>und</strong> König/Kaiser <strong>und</strong> zwischen den regionalen Dynastien bzw. Staaten den<br />
Raum, in dem - historisch einmalig - ein Netz autonomer Städte entstehen konnte, in denen<br />
sich der Anfang einer von Stadtbürgern getragenen Zivilgesellschaft entwickelte. In der<br />
östlich angrenzenden Zone, im lateinischen Osten, wurde das entstehende westeuropäische<br />
Modell „von oben“ eingeführt, mit dem Adel als dominierendes Element. Die orthodoxe Zone<br />
wurde von diesen Entwicklungen nicht erreicht. Sie verharrte im Zyklus von Aufstieg <strong>und</strong><br />
Niedergang imperialer, autokratischer Mächte, wohletabliert auf dem Balkan, zum ersten Mal<br />
in ihn eintretend in Rußland.<br />
Der allgemeine Machtzuwachs der zentralen politischen Autoritäten in der folgende Epoche<br />
bis 1800 hatte auf diesem Hintergr<strong>und</strong> je nach kultureller Zone unterschiedliche<br />
Auswirkungen. Der westliche Absolutismus blieb im Vergleich zur traditionellen Despotie<br />
Stückwerk. Unter seinem Mantel entwickelte, verbreiterte <strong>und</strong> verallgemeinerte sich die<br />
entstandene Zivilgesellschaft dank der Konkurrenz der verschiedenen Staaten um ihre<br />
ökonomischen Früchte. Im orthodoxen Osten führte er zu vollentwickelten imperialen<br />
Staaten, die alles von ihnen unabhängige gesellschaftliche Leben erstickten. Im lateinischen<br />
Osten konnte der Adel den Machtzuwachs des Zentrums bremsen oder verzögern. Ein<br />
untereinander mehr oder weniger gleichberechtigt interagierender Adel nahm auf Kosten der<br />
in die zweite Leibeigenschaft gezwungenen Bauern wirtschaftlich <strong>und</strong> kulturell an den<br />
westeuropäischen Entwicklungen teil. Was dagegen an bürgerlicher Zivilgesellschaft existiert<br />
hatte, wurde marginal.<br />
Als das 19. Jhdt. den Sieg der Zivilgesellschaft im Westen brachte, reagierten die beiden<br />
östlichen Zonen mit inzwischen charakteristischer Differenz. Der lateinische Osten nahm die<br />
Entwicklung mit einiger Verzögerung auf, ohne aber seinen „Geburtsfehler“ zu überwinden.<br />
Städtische Schwäche <strong>und</strong> Großgr<strong>und</strong>besitz blockierten die gesellschaftliche Modernisierung<br />
für die große Mehrheit der Bauern, <strong>und</strong> damit der Gesamtbevölkerung. Im Gegensatz zum<br />
Mittelalter wurde diesmal auch der orthodoxe Osten in die Entwicklung einbezogen, jedoch<br />
erst gegen Ende des Jahrh<strong>und</strong>erts <strong>und</strong> nur in abgeschwächter Form.<br />
Entwicklung einer Zivilgesellschaft förderliche Bedingungen herrschten, abzubilden. Je heller<br />
die Schattierung, um so förderlicher die Bedingungnen. Ein quantitativer Anspruch wird nicht<br />
erhoben.<br />
33
Entsprechend unterschiedlich waren die Entwicklungen in <strong>und</strong> nach der Krise in den Jahren<br />
1914-1945. Während die autoritäre <strong>und</strong> totalitäre Alternative zur Zivilgesellschaft im Westen<br />
nach 1945 endgültig überw<strong>und</strong>en wurde, behielt sie im Osten spätestens seit 1945 zunächst<br />
die Oberhand. Was von Zwangsindustrialisierung, Lösung der Agrarfrage, <strong>und</strong> Errichtung<br />
einer relativ modernen Infrastruktur nach 1989 übrig bleibt, hängt in unserer Sicht nun<br />
entscheidend davon ab, ob sich zivilgesellschaftliche Strukturen (wieder)entwickeln können.<br />
Wir gehen davon aus, daß sie in den lateinischen Staaten Osteuropas nie völlig verschw<strong>und</strong>en<br />
sind, in städtisch-bürgerlichen Rückzugsgebieten überlebt <strong>und</strong> sich in der Opposition gegen<br />
das Sowjetregime z.T. sogar neu entwickelt haben, 59 kurz, daß die alten kulturellen Zonen<br />
Osteuropas das sowjetische Experiment überdauert hat.<br />
Es ist vermutlich ein leichtes, dem in diesem Beitrag Vorgetragenen Gegenbeispiele<br />
entgegenzuhalten, geographische <strong>und</strong> zeitliche Gegentrends aufzuzeigen. Dies gilt nicht<br />
zuletzt für die Gruppierung der Länder oder der Gültigkeit der für diese Regionen<br />
herausgearbeiteten Generaltrends für einzelne Länder oder deren Teile. So gibt es natürlich<br />
die hier aufgezeigten Zusammenhänge überlagernde Faktoren <strong>und</strong> Differenzierungen<br />
innerhalb der Regionen <strong>und</strong> beides möglicherweise kumulativ. Auch ist die hier unterstellte<br />
Stabilität zentraler gesellschaftlicher Muster angesichts moderner Umwälzungen alles andere<br />
als offensichtlich. 60 Litauen stellt für beides ein gutes Beispiel dar. Erst sehr spät (1395) in<br />
den Orbit des lateinischen Westeuropas eingefügt, wurde es bereits nach 400 Jahren aus ihm<br />
herausgerissen. Schon früh hat die russische Autokratie hier nicht unerheblich in die sozialen<br />
Verhältnisse eingegriffen, im Gegensatz zum benachbarten Estland <strong>und</strong> Lettland. Das 20.<br />
Jahrh<strong>und</strong>ert hat dann massive Bevölkerungsbewegungen <strong>und</strong> -verluste gebracht. Bei alledem<br />
eine systematische soziale Differenz zu benachbarten orthodoxen Gebieten zu konstatieren ist<br />
alles andere als selbstverständlich, wird hier jedoch angesichts der trotz allem bestehenden<br />
sozialen Kontinuitäten in den hier zugr<strong>und</strong>e gelegten kulturellen Zonen Europas getan.<br />
Ob dies gerechtfertigt ist <strong>und</strong> die historisch unterlegte Argumentation dieses Beitrags der<br />
tatsächlichen Entwicklung standhält, bleibt eine offene Frage, der empirisch nachgegangen<br />
werden sollte.<br />
6 Literatur<br />
59 Vgl. Kiwit <strong>und</strong> Voigt (1995) für eine Diskussion der Rolle institutioneller „Inseln“ für den<br />
Wandel informeller Institutionen.,<br />
60 Siehe jedoch Panther (1997a) für eine ausführliche Begründung.<br />
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