Was heißt denn schon „normal“ ?
Was heißt denn schon „normal“ ?
Was heißt denn schon „normal“ ?
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© privat (Dr. Lütz); © Sergej Seemann / Fotolia.com (li. oben)<br />
kann das sehr anstrengend sein. Das<br />
gilt besonders am Arbeitsplatz, weil<br />
man von 168 Wochenstunden am<br />
meisten Zeit mit den Kolleginnen und<br />
Kollegen verbringt. Aber wir dürfen<br />
nicht jeden Konflikt, der am Arbeits-<br />
platz auftritt, gleich zum Burnout stili-<br />
sieren. Wenn der Chef sagt: „Sie<br />
könnten aber auch mal morgens pünkt-<br />
licher kommen“, löst das noch kein<br />
Burnout-Syndrom aus. Es entsteht da<br />
heute bisweilen eine Empfindlichkeit,<br />
die problema-<br />
tisch ist. Auch<br />
große Belastun-<br />
gen wie Ehe-<br />
scheidung, der Tod eines nahen Ange-<br />
hörigen oder eine schwerwiegende<br />
körperliche Diagnose lösen nicht not-<br />
wendigerweise eine psychische Stö-<br />
rung aus. Sie sind eine existenzielle<br />
Erschütterung. Da ist dann jemand<br />
traurig oder verzweifelt. Das ist ganz<br />
normal für Menschen in einer solchen<br />
Situation. Im Gegenteil: Wenn jemand<br />
nach dem Tod seines Ehepartners<br />
nicht traurig oder gar verzweifelt ist,<br />
dann stimmt irgendwas mit ihm nicht<br />
– oder mit seiner Ehe.<br />
Wie geht man am besten mit solchen<br />
Erschütterungen um?<br />
„Hüten Sie sich vor<br />
den Normalen!“<br />
Lütz: Indem man sich Hilfe holt bei<br />
Freunden, bei lebenserfahrenen Men-<br />
schen. Eine alte Frau, die <strong>schon</strong> viele<br />
Todesfälle erlebt hat und eine gewisse<br />
Lebensweisheit hat, kann einem mög-<br />
licherweise viel besser helfen, wenn<br />
der Partner gestorben ist, als ein jun-<br />
ger Psychotherapeut ohne Lebenser-<br />
fahrung, der alles über diagnostische<br />
Schubladen lösen will. Nicht jedes ver-<br />
gossene Tränchen ist gleich eine De-<br />
pression! Das ist wichtig, weil es eine<br />
Tendenz gibt, dass immer mehr Men-<br />
schen behandelt werden, die gar nicht<br />
so krank sind, dass sie behandelt wer-<br />
den müssen. Die nehmen den Men-<br />
schen, die die Behandlung dringend<br />
brauchen, die Therapieplätze weg.<br />
Viele Menschen haben Angst vor<br />
psychisch Kranken, weil sie sie für<br />
gefährlich halten.<br />
Lütz: Ja, deshalb werde ich auch oft<br />
interviewt, wenn ein psychisch Kranker<br />
straffällig geworden ist. Dazu muss<br />
man sagen: Statistisch sind psychisch<br />
Kranke weniger häufig straffällig als<br />
Normale – also hüten Sie sich vor den<br />
Normalen! Und keineswegs ist jeder<br />
Schwerverbrecher psychisch krank.<br />
Wenn man jeden Verbrecher sofort un-<br />
ter eine Diagnose fasst, dann gäbe<br />
es ja überhaupt keine Schuld mehr.<br />
Dann wäre alles die frühe Kindheit,<br />
die Gesellschaft oder die Neuro-<br />
transmitter wären schuld. Das wider-<br />
spricht dem Menschenbild unseres<br />
Grundgesetzes! Den Menschen so die<br />
Verantwortung für ihr Tun zu nehmen,<br />
ist ein Missbrauch von Diagnosen. Ich<br />
finde es auch eigentlich eine Frechheit,<br />
Verbrecher mit diagnostischen Begrif-<br />
fen zu belegen, die bei meinen Pati-<br />
enten als Orientierung zur therapeu-<br />
tischen Hilfe gedacht sind und nicht als<br />
Entschuldigung irgendwelcher Verbre-<br />
chen. Es gibt einfach das Phänomen,<br />
dass Menschen gut und böse sind,<br />
auch schrecklich böse.<br />
Wie definieren sie „gesund“?<br />
Lütz: Friedrich Nietzsche hat das so<br />
definiert: „Gesundheit ist dasjenige<br />
Maß an Krankheit, das es mir noch er-<br />
laubt, meinen wesentlichen Beschäfti-<br />
gungen nachzugehen“. Das finde ich<br />
einen realistischen Gesundheitsbegriff.<br />
Es gab vor Jahrzehnten von der Welt-<br />
gesundheitsorganisation WHO eine<br />
völlig utopische Definition von Gesund-<br />
heit als dem völligen körperlichen, see-<br />
lischen und sozialen Wohlbefinden.<br />
Unter der Definition ist praktisch nie-<br />
mand gesund. Jeder hat irgendwelche<br />
Malläsen, Haut-, Verdauungsprobleme<br />
oder ähnliches. Ein alter Hausarzt aus<br />
der Eifel sagte mir einmal: Gesund ist<br />
ein Mensch, der mit seinen Krankheiten<br />
einigermaßen glücklich leben kann.<br />
sprechstunde<br />
In dem Buch „Lebenslust. Wider die<br />
Diät-Sadisten, den Gesundheits-<br />
wahn und den Fitness-Kult“ zeich-<br />
nen Sie ein Bild von Menschen, die<br />
vor lauter Vorbeugung nicht mehr<br />
richtig leben. Ist es nicht richtig, sich<br />
gesundheitsbewusst zu verhalten?<br />
Lütz: Natürlich ist das richtig. Gesund-<br />
heit ist ein hohes Gut, damit muss man<br />
verantwortlich umgehen. Wogegen ich<br />
in dem Buch polemisiere, ist: Gesund-<br />
heit ist nicht das höchste Gut! Es gibt<br />
heute eine Gesundheitsreligion, wo die<br />
Leute sich von morgens bis abends nur<br />
noch mit Gesundheit beschäftigen und<br />
dann das Leben verpassen. Mir scheint,<br />
man glaubt zwar nicht mehr an das<br />
ewige Leben, aber sterben möchte<br />
man halt nicht. Man versucht, den Tod<br />
mit allen Mitteln hinauszuschieben. Ich<br />
finde es aber wichtig, vielleicht vor dem<br />
Tod auch mal probeweise zu leben und<br />
nicht nur dauernd vorbeugend zu le-<br />
ben, um dann gesund zu sterben. >|<br />
Das Interview führte Friederike Klein. ò<br />
Buchtipps<br />
Manfred Lütz<br />
Irre!<br />
Wir behandeln die<br />
Falschen. Unser<br />
Problem sind die<br />
Normalen.<br />
Gütersloher Verlagshaus, 2009.<br />
ISBN 978-3579068794.<br />
17,95 € (D)<br />
Manfred Lütz<br />
Lebenslust<br />
Wider die Diät-Sadisten,<br />
den Gesundheitswahn<br />
und den Fitness-Kult<br />
Droemer/Knaur 2007<br />
ISBN 978-3426780619;<br />
8,95 € (D)<br />
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