Was heißt denn schon „normal“ ?
Was heißt denn schon „normal“ ?
Was heißt denn schon „normal“ ?
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18<br />
Interview<br />
<strong>Was</strong> <strong>heißt</strong> <strong>denn</strong> <strong>schon</strong><br />
<strong>„normal“</strong> ?<br />
Oft umgeben die Krankheiten der Seele<br />
nebulöse Vorurteile und Ängste. Dem<br />
versucht der Nervenarzt Dr. Manfred<br />
Lütz auf unterhaltsame Weise abzuhelfen<br />
und hält uns „Normalen“ gleich<br />
noch den Spiegel vor.<br />
Ihr jüngstes Buch <strong>heißt</strong> „Irre! Wir<br />
behandeln die Falschen – unser Problem<br />
sind die Normalen“. Welche<br />
Probleme sehen Sie <strong>denn</strong> bei den<br />
Normalen?<br />
Lütz: Der Titel des Buches ist natürlich<br />
ein bisschen ironisch gemeint. Das<br />
Buch ist eigentlich eine allgemeinverständliche,<br />
unterhaltsame Einführung<br />
in die Psychiatrie und Psychotherapie.<br />
Oft gibt es ja immer noch mittelalterliche<br />
Vorstellungen von psychischen<br />
Krankheiten. Das Buch versucht, die<br />
psychisch Kranken „ressourcenorientiert“<br />
darzustellen, d.h. von ihren Kräften,<br />
ihren Fähigkeiten her, und betrachtet<br />
uns Normale auch mal etwas kritisch.<br />
Denn die großen Verbrecher der<br />
Menschheitsgeschichte waren nicht<br />
verrückt. Wäre Hitler verrückt gewe-<br />
Dr. Manfred Lütz<br />
(56) ist Chefarzt<br />
des Alexianer-<br />
Krankenhauses<br />
Köln, einer Klinik für<br />
Psychiatrie, Psychotherapie<br />
und Neurologie,<br />
sowie katholischer<br />
Theologe und<br />
Schriftsteller.<br />
sen, hätte man mit Medikamenten<br />
und etwas Arbeitstherapie für einen<br />
arbeitslosen Kunstmaler in München<br />
den 2. Weltkrieg verhindern können.<br />
Aber Hitler war eben nicht verrückt, er<br />
war normal – schrecklich normal.<br />
Das Problem, das ich heute sehe,<br />
ist die Tyrannei der Normalität. Wir<br />
werden in Meinungsuniformen gepresst.<br />
Politikerreden werden ständig<br />
daraufhin untersucht, ob<br />
die auch sagen, was sie<br />
sagen müssen, und nicht<br />
sagen, was sie nicht sagen dürfen. Damit<br />
werden sie total langweilig. Da sind<br />
die psychisch Kranken das Salz in der<br />
Suppe, weil sie sich an solche Regeln<br />
nicht halten. Die Außergewöhnlichkeit,<br />
die ja in jedem Menschen steckt, drücken<br />
sie offener aus.<br />
„Im Zweifel ist<br />
jemand gesund!“<br />
<strong>Was</strong> ist für die Psychiatrie <strong>„normal“</strong>?<br />
Lütz: Tatsächlich ist das ein schwieriger<br />
Begriff. Das Buch soll auf keinen<br />
Fall dazu anhalten, noch mehr Menschen<br />
zu behandeln. Ich bin dagegen,<br />
alle möglichen Befindlichkeitsstörungen<br />
mit Diagnosen zu belegen. Das ist<br />
eine Unart heutzutage. Der Psychiater<br />
Klaus Dörner hat mal die Angaben in<br />
einer seriösen Zeitung zusammengezählt,<br />
wie viele Menschen behand-<br />
lungsbedürftigpsychisch krank sind. Er kam auf<br />
210% der Deutschen! Mit solch dramatischen<br />
Zahlen wird der Eindruck erzeugt,<br />
dass jeder Mensch psychische<br />
Macken hat, die einer Behandlung bedürfen.<br />
Das ist überhaupt nicht meine<br />
Meinung. Im Zweifel ist jemand gesund!<br />
Er ist vielleicht skurril, er ist außergewöhnlich,<br />
er ist merkwürdig, wie Sie<br />
und ich auch. Aber er ist gesund.<br />
Krankheit tritt erst ein,<br />
wenn Menschen leiden. Dann<br />
sind Psychiater aufgerufen, Diagnosen<br />
zu stellen, um damit eine Therapie zu<br />
lenken, die dazu führt, dass das Leiden<br />
abgemildert oder beendet wird. Denn<br />
die Diagnose ist eine spezielle Erkenntnisform,<br />
die einen Zweck hat: Sie soll<br />
der Therapie dienen. Es geht nicht<br />
darum, irgendwelche Leute wahllos in<br />
Schubladen zu stecken.<br />
Wie ist das mit dem Burnout-Syndrom?<br />
Lütz: Das Burnout-Syndrom ist zur Zeit<br />
eine Modediagnose, die eigentlich gar<br />
keine richtige psychiatrische Diagnose<br />
ist. Burnout ist ein Sammelsurium von<br />
echten, schweren Störungen bis hin zu<br />
leichten Einschränkungen. Jeder kennt<br />
natürlich Stress und Abgespanntheit<br />
und weiß, wenn Konflikte lange dauern,
© privat (Dr. Lütz); © Sergej Seemann / Fotolia.com (li. oben)<br />
kann das sehr anstrengend sein. Das<br />
gilt besonders am Arbeitsplatz, weil<br />
man von 168 Wochenstunden am<br />
meisten Zeit mit den Kolleginnen und<br />
Kollegen verbringt. Aber wir dürfen<br />
nicht jeden Konflikt, der am Arbeits-<br />
platz auftritt, gleich zum Burnout stili-<br />
sieren. Wenn der Chef sagt: „Sie<br />
könnten aber auch mal morgens pünkt-<br />
licher kommen“, löst das noch kein<br />
Burnout-Syndrom aus. Es entsteht da<br />
heute bisweilen eine Empfindlichkeit,<br />
die problema-<br />
tisch ist. Auch<br />
große Belastun-<br />
gen wie Ehe-<br />
scheidung, der Tod eines nahen Ange-<br />
hörigen oder eine schwerwiegende<br />
körperliche Diagnose lösen nicht not-<br />
wendigerweise eine psychische Stö-<br />
rung aus. Sie sind eine existenzielle<br />
Erschütterung. Da ist dann jemand<br />
traurig oder verzweifelt. Das ist ganz<br />
normal für Menschen in einer solchen<br />
Situation. Im Gegenteil: Wenn jemand<br />
nach dem Tod seines Ehepartners<br />
nicht traurig oder gar verzweifelt ist,<br />
dann stimmt irgendwas mit ihm nicht<br />
– oder mit seiner Ehe.<br />
Wie geht man am besten mit solchen<br />
Erschütterungen um?<br />
„Hüten Sie sich vor<br />
den Normalen!“<br />
Lütz: Indem man sich Hilfe holt bei<br />
Freunden, bei lebenserfahrenen Men-<br />
schen. Eine alte Frau, die <strong>schon</strong> viele<br />
Todesfälle erlebt hat und eine gewisse<br />
Lebensweisheit hat, kann einem mög-<br />
licherweise viel besser helfen, wenn<br />
der Partner gestorben ist, als ein jun-<br />
ger Psychotherapeut ohne Lebenser-<br />
fahrung, der alles über diagnostische<br />
Schubladen lösen will. Nicht jedes ver-<br />
gossene Tränchen ist gleich eine De-<br />
pression! Das ist wichtig, weil es eine<br />
Tendenz gibt, dass immer mehr Men-<br />
schen behandelt werden, die gar nicht<br />
so krank sind, dass sie behandelt wer-<br />
den müssen. Die nehmen den Men-<br />
schen, die die Behandlung dringend<br />
brauchen, die Therapieplätze weg.<br />
Viele Menschen haben Angst vor<br />
psychisch Kranken, weil sie sie für<br />
gefährlich halten.<br />
Lütz: Ja, deshalb werde ich auch oft<br />
interviewt, wenn ein psychisch Kranker<br />
straffällig geworden ist. Dazu muss<br />
man sagen: Statistisch sind psychisch<br />
Kranke weniger häufig straffällig als<br />
Normale – also hüten Sie sich vor den<br />
Normalen! Und keineswegs ist jeder<br />
Schwerverbrecher psychisch krank.<br />
Wenn man jeden Verbrecher sofort un-<br />
ter eine Diagnose fasst, dann gäbe<br />
es ja überhaupt keine Schuld mehr.<br />
Dann wäre alles die frühe Kindheit,<br />
die Gesellschaft oder die Neuro-<br />
transmitter wären schuld. Das wider-<br />
spricht dem Menschenbild unseres<br />
Grundgesetzes! Den Menschen so die<br />
Verantwortung für ihr Tun zu nehmen,<br />
ist ein Missbrauch von Diagnosen. Ich<br />
finde es auch eigentlich eine Frechheit,<br />
Verbrecher mit diagnostischen Begrif-<br />
fen zu belegen, die bei meinen Pati-<br />
enten als Orientierung zur therapeu-<br />
tischen Hilfe gedacht sind und nicht als<br />
Entschuldigung irgendwelcher Verbre-<br />
chen. Es gibt einfach das Phänomen,<br />
dass Menschen gut und böse sind,<br />
auch schrecklich böse.<br />
Wie definieren sie „gesund“?<br />
Lütz: Friedrich Nietzsche hat das so<br />
definiert: „Gesundheit ist dasjenige<br />
Maß an Krankheit, das es mir noch er-<br />
laubt, meinen wesentlichen Beschäfti-<br />
gungen nachzugehen“. Das finde ich<br />
einen realistischen Gesundheitsbegriff.<br />
Es gab vor Jahrzehnten von der Welt-<br />
gesundheitsorganisation WHO eine<br />
völlig utopische Definition von Gesund-<br />
heit als dem völligen körperlichen, see-<br />
lischen und sozialen Wohlbefinden.<br />
Unter der Definition ist praktisch nie-<br />
mand gesund. Jeder hat irgendwelche<br />
Malläsen, Haut-, Verdauungsprobleme<br />
oder ähnliches. Ein alter Hausarzt aus<br />
der Eifel sagte mir einmal: Gesund ist<br />
ein Mensch, der mit seinen Krankheiten<br />
einigermaßen glücklich leben kann.<br />
sprechstunde<br />
In dem Buch „Lebenslust. Wider die<br />
Diät-Sadisten, den Gesundheits-<br />
wahn und den Fitness-Kult“ zeich-<br />
nen Sie ein Bild von Menschen, die<br />
vor lauter Vorbeugung nicht mehr<br />
richtig leben. Ist es nicht richtig, sich<br />
gesundheitsbewusst zu verhalten?<br />
Lütz: Natürlich ist das richtig. Gesund-<br />
heit ist ein hohes Gut, damit muss man<br />
verantwortlich umgehen. Wogegen ich<br />
in dem Buch polemisiere, ist: Gesund-<br />
heit ist nicht das höchste Gut! Es gibt<br />
heute eine Gesundheitsreligion, wo die<br />
Leute sich von morgens bis abends nur<br />
noch mit Gesundheit beschäftigen und<br />
dann das Leben verpassen. Mir scheint,<br />
man glaubt zwar nicht mehr an das<br />
ewige Leben, aber sterben möchte<br />
man halt nicht. Man versucht, den Tod<br />
mit allen Mitteln hinauszuschieben. Ich<br />
finde es aber wichtig, vielleicht vor dem<br />
Tod auch mal probeweise zu leben und<br />
nicht nur dauernd vorbeugend zu le-<br />
ben, um dann gesund zu sterben. >|<br />
Das Interview führte Friederike Klein. ò<br />
Buchtipps<br />
Manfred Lütz<br />
Irre!<br />
Wir behandeln die<br />
Falschen. Unser<br />
Problem sind die<br />
Normalen.<br />
Gütersloher Verlagshaus, 2009.<br />
ISBN 978-3579068794.<br />
17,95 € (D)<br />
Manfred Lütz<br />
Lebenslust<br />
Wider die Diät-Sadisten,<br />
den Gesundheitswahn<br />
und den Fitness-Kult<br />
Droemer/Knaur 2007<br />
ISBN 978-3426780619;<br />
8,95 € (D)<br />
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