HOFFEN AM MONTAG ° 5. Juli 2004 Dr. Thomas E. Schmidt: Mit der ...
HOFFEN AM MONTAG ° 5. Juli 2004 Dr. Thomas E. Schmidt: Mit der ...
HOFFEN AM MONTAG ° 5. Juli 2004 Dr. Thomas E. Schmidt: Mit der ...
Erfolgreiche ePaper selbst erstellen
Machen Sie aus Ihren PDF Publikationen ein blätterbares Flipbook mit unserer einzigartigen Google optimierten e-Paper Software.
d i s k u r s 0 4 <strong>°</strong> k u n s t r a s e n g i e s s e n e . V .<br />
P o s t f a c h 1 1 0 6 2 5 <strong>°</strong> 3 5 3 5 1 G i e s s e n <strong>°</strong> G e r m a n y<br />
w w w . d i s k u r s f e s t i v a l . d e<br />
<strong>HOFFEN</strong> <strong>AM</strong> <strong>MONTAG</strong> <strong>°</strong> <strong>5.</strong> <strong>Juli</strong> <strong>2004</strong><br />
<strong>Dr</strong>. <strong>Thomas</strong> E. <strong>Schmidt</strong>: <strong>Mit</strong> <strong>der</strong> Rasierklinge ins Auge<br />
[ DIE ZEIT vom 12.02.<strong>2004</strong>, Nr. 08, Seite 37, Feuilleton ]<br />
Kunst ist Schock, Schmerz, Verweigerung. Die Erwartungen<br />
des Staates, <strong>der</strong> sie för<strong>der</strong>t, kann sie nur enttäuschen. Sie dient<br />
nicht <strong>der</strong> Gesellschaft, son<strong>der</strong>n nur sich selbst<br />
Wir schlittern in eine Epoche, die uns lehren wird, wie<strong>der</strong> das Knie zu beugen. Viele hungern<br />
nach Perspektiven, in denen gesellschaftliche Wirklichkeit in einem Licht höher als alle<br />
Vernunft erscheint. Von dieser Warte aus ist Rechtfertigung - o<strong>der</strong> auch Kritik - möglich, an<br />
<strong>der</strong> sämtliche Einsprüche einfach abperlen.<br />
Die Religion ist wie<strong>der</strong> ein ernst zu nehmen<strong>der</strong> Zufluchtsort, aber auch die Kunst. So groß ist<br />
das Unbehagen an <strong>der</strong> Welt, dass <strong>der</strong> Verfall <strong>der</strong> Moral, die Verhässlichung <strong>der</strong> Welt durch<br />
die globale Wirtschaft, <strong>der</strong> Irrsinn <strong>der</strong> Wissenschaft, die Verblödung <strong>der</strong> Massen, kurz:<br />
unsere umfassende Sinnlosigkeitsvermutung anscheinend nur noch durch eine Rhetorik des<br />
Hochheiligen o<strong>der</strong> des Letztgültigen im Zaum gehalten werden kann.<br />
Linksliberalismus und Inquisition reichen in Gestalt von Habermas und Ratzinger endlich<br />
einan<strong>der</strong> die Hände. Nichts hält mehr den Zug <strong>der</strong> westlichen Kultur auf in eine Zeit<br />
abstoßen<strong>der</strong> fundamentalistischer Scharmützel um geringfügige Prinzipienfragen.<br />
Inmitten dieses gleitenden Übergangs in ein Klima des Antisäkularismus markiert die Kunst<br />
eine Grenze. Sie ist weltlich, aber es umgibt sie mehr denn je ein Nimbus die Gegenwart<br />
überschreiten<strong>der</strong> Wahrheit. Immer noch bildet sie das Gravitationszentrum des geltenden<br />
Kulturbegriffs, und auch das deutsche Verständnis von "Bildung" enthält seit Schiller eine<br />
robuste ästhetische Komponente. Kunst ist gerade heute das Ziel eines - im Übrigen<br />
begreiflichen - Eskapismus <strong>der</strong> Jugend in Musik-, Schauspiel- und Kunsthochschulen, und<br />
für das Langzeitgedächtnis <strong>der</strong> Gesellschaft sind Kölner Dom und Matthäuspassion allemal<br />
wichtiger als sämtliche Archive.<br />
Milliarden fließen jährlich in den deutschen Kulturbetrieb, vermutlich wendet kein Land auf<br />
<strong>der</strong> Welt so viel Geld für die Pflege seiner ästhetischen Gärten auf wie dieses. Wir reden<br />
dabei nicht von Denkmalpflege und Museen, son<strong>der</strong>n von aktueller Kunst, von den<br />
Produktionen <strong>der</strong> Jetztzeit. Nie hatten so viele Menschen die Gelegenheit, als Künstler zu<br />
leben, nie war ihre Chance größer, über die Medien ein Publikum zu erreichen. Die Freiheit<br />
<strong>der</strong> Kunst ist durch das Grundgesetz geschützt, <strong>der</strong> Staat ist ästhetisch ehrgeizlos.<br />
Theoretisch müssten wir in einem goldenen Zeitalter leben, tatsächlich leben wir aber nicht<br />
einmal in einem eisernen Zeitalter, son<strong>der</strong>n in einem des Trompetenblechs.<br />
Im Zeitalter des Trompetenblechs<br />
Denn <strong>der</strong> überwiegende Anteil an <strong>der</strong> zeitgenössischen Kunst ist nichts an<strong>der</strong>es als<br />
Kunstgewerbe. Es wird hergestellt, um den Markt <strong>der</strong> Bücher und <strong>der</strong> Galerien zu bedienen,<br />
o<strong>der</strong> auch nur, um den Kulturbetrieb in seiner jetzigen Form am Leben zu erhalten.
Durchschnittskunst hat eine klare soziale Funktion, aber keine beson<strong>der</strong>s weiten<br />
Sinnhorizonte. Um darin ein Goldkörnchen Transzendenz aufzufinden, muss man schon<br />
eine Menge Fantasie mitbringen. 90 Prozent <strong>der</strong> Produktion sind flott erzählt, routiniert<br />
gespielt, professionell getüncht und gesampelt. Kunst soll emotionalisieren: Es bleibt<br />
dennoch beim ausgeleierten épater le bourgeois. Sie soll gesellschaftliche (Unrechts-)<br />
Verhältnisse auf den Punkt bringen: Je<strong>der</strong> denkende Mensch weiß, dass die Wirklichkeit<br />
komplexer ist als im Repertoire <strong>der</strong> Schreie und des Flüsterns vorgesehen. Das Ganze hält<br />
sich als ein Zirkus <strong>der</strong> geistigen Unterfor<strong>der</strong>ung in Schwung, egal, ob subventioniert o<strong>der</strong><br />
aus eigener Kraft.<br />
Immer höher schrauben sich währenddessen die Ansprüche, die von <strong>der</strong> Kultur an die Kunst<br />
gerichtet werden. Kunst soll den Stress <strong>der</strong> Globalität lin<strong>der</strong>n, sie soll gesellschaftlichen Sinn<br />
stiften, an rechter Stelle normative Eindeutigkeit herstellen und möglichst auch noch die<br />
Kin<strong>der</strong> zu Friedensengeln erziehen. In einem Land, in dem es um nichts an<strong>der</strong>es mehr geht<br />
als den Erhalt eines kommoden Status quo plus ein kleines bisschen Wachstum, lädt sich<br />
die Kultur notgedrungen mit solchen Erlösungserwartungen auf.<br />
Utopien, Träume, Bil<strong>der</strong> einer an<strong>der</strong>en Welt, Antworten auf die Frage "wozu?": alles Kultur.<br />
Kultur ist das exklusive Spielfeld <strong>der</strong> Experten für die "letzten Fragen", die in den<br />
gesellschaftlichen Subsystemen sinnlos geworden sind. Darüber ist Kultur selbst zu einem<br />
Subsystem geworden. Keine Überraschung, dass es ausgerechnet Gerhard Schrö<strong>der</strong> war,<br />
<strong>der</strong> Kultur einen Platz im Bundeskabinett einräumte - Schrö<strong>der</strong>, <strong>der</strong> den Pragmatismus zum<br />
verpflichtenden politischen Stil erhob, was 1998 Charme hatte, weil es die Traditions-SPD<br />
aufmischte, aber inzwischen sein hässliches, sein sozialtechnokratisches Gesicht zeigt. Nie<br />
war mehr Bedarf an Kompensation durch Kultur. Wo soll Schrö<strong>der</strong>s Innovationsgranate<br />
zünden? Natürlich im Wun<strong>der</strong>reich <strong>der</strong> immateriellen Werte.<br />
Die Kultur soll uns in unserem so durch Sachzwänge eingeengten Leben mittels<br />
grenzüberschreiten<strong>der</strong> Kommunikation vorm klaustrophobischen Überschnappen bewahren.<br />
Sozialtechnisch gesehen, ist die Begründung dieser Hoffnung simpel: Die Kunst liefert<br />
anschlussfähige diskursive Ereignisse in ausreichen<strong>der</strong> Zahl, welche das<br />
Kommunikationsmedium Kultur in Arbeit halten. Künstlerische Provokationen und<br />
ästhetische Kontroversen sind nötig, aber bloß, um gelegentlich die Leitsemantik<br />
auszuwechseln. Darin besteht die "kulturelle" Funktion des Ästhetischen. Solange Kultur<br />
funktioniert - als öffentlich sichtbare Bestätigung, dass überhaupt noch Sinn produziert wird,<br />
dass die Gesellschaft palavert und nicht Blut fließt -, sind auch Politik und Wirtschaft<br />
beruhigt: So schlimm sieht's gar nicht aus.<br />
Ist Beethovens Botschaft die Europahymne?<br />
Wäre es daneben denkbar, dass die Kunst, die ernst gemeinte, die große, richtige, nicht das<br />
Kunstgewerbe und auch nicht die Kulturbetriebskunst, von jedwe<strong>der</strong> sozialer Zuständigkeit<br />
meilenweit entfernt ist? Und dass Kunst überhaupt kein kulturelles Pharmakon ist, welches<br />
den Diskurs erregt und die Gesellschaft gleichzeitig beruhigt? Die Stimmung unter Künstlern<br />
ist nicht gut. Ratlosigkeit ist verbreitet, und das ist ausnahmsweise einmal ein günstiges<br />
Zeichen: Theaterleute setzen sich eindringlich mit <strong>der</strong> Krise des Theaters auseinan<strong>der</strong>, die<br />
Romanschreiber wollen nicht hinnehmen, dass sie nur noch Lebenshilfe für Leserinnen<br />
mittleren Alters leisten sollen, die bildenden Künstler staunen darüber, wie schäbig und<br />
korrupt das Galerien- und Ausstellungswesen geworden ist, während sich das Musiktheater<br />
offenbar ganz fürs Kulinarische und den kulinarischen Skandal entschieden hat.<br />
Die Wahrheit ist: Kunst und Kultur sind zwei vollkommen unterschiedliche Formen des<br />
Lebens. Kultur ist für sich auch wichtig, aber sie ist weiß Gott nicht die Schiene, auf <strong>der</strong> die<br />
Kunst in die Gesellschaft flutscht und mit ihr <strong>der</strong> vermisste Sinn des Ganzen. Außerdem ist
Kunst etwas, das nur selten vorkommt, viel seltener, als die meisten vermuten. Und sie<br />
macht das Leben auch nicht leichter für den, <strong>der</strong> sich auf sie einlässt, son<strong>der</strong>n eher<br />
schwieriger.<br />
Sie verkompliziert das Dasein. Auf schmerzliche Weise konfrontiert sie mit den Gebresten<br />
des eigenen Ich. Sie sorgt nicht für soziale Gleichheit und stiftet keine Gemeinschaften im<br />
Zeichen irgendeines weltanschaulichen Konsenses. War Malewitsch' Schwarzes Quadrat<br />
<strong>der</strong> Ausdruck einer innovationsfreudigen Gesellschaft? Ist die Botschaft des späten<br />
Beethoven die Europahymne? Hat einer, <strong>der</strong> gerade Philip Roths Sabbath's Theater gelesen<br />
hat, noch Lust, etwas zur Stärkung <strong>der</strong> deutschen Gebärgemeinschaft beizutragen?<br />
Bedeutende Kunst steht in einem Verhältnis misstrauischer, wenn nicht aggressiver<br />
Gleichgültigkeit zur heutigen Gesellschaft. Die Welt soll ja gar nicht mehr ästhetisiert<br />
werden, die Träume <strong>der</strong> Avantgarden sind ausgeträumt.<br />
Jede politisch geschürte Kampfeslust <strong>der</strong> Künste hat sich verbraucht, sie wich einem<br />
sublimen Distanzbedürfnis. Wo ein Künstler über einen langen Zeitraum hinweg seine<br />
private Mythologie entfaltet, wo er sich als Talkshow-Gast, als Kritiker und als Kommentator<br />
Zurückhaltung auferlegt, da gibt es ein gewisses Indiz für das Vorkommen von Kunst, vor<br />
allem dann, wenn dieser Künstler sein gesamtes Leben für das Werk in die Waagschale zu<br />
werfen bereit ist. Das muss nicht Unverständlichkeit o<strong>der</strong> näselnde Hermetik nach sich<br />
ziehen, aber es bedarf einer gewissen kalkulierten Sturheit, um an einem starken<br />
alternativen Verständnismuster <strong>der</strong> Wirklichkeit zu arbeiten. Den meisten bleibt eine solche<br />
Anstrengung unbegreiflich.<br />
Bestenfalls geht es in <strong>der</strong> Kunst ums geistige Überleben, um eine an<strong>der</strong>e Weise<br />
wahrzunehmen, zu fühlen, vielleicht auch zu denken. Man kann nicht einmal benennen,<br />
worin die "Belohnung" des Ästhetischen für denjenigen besteht, <strong>der</strong> sich ihm ausliefert - in<br />
einer Freiheit womöglich -, aber wozu genau?, in einer Leere o<strong>der</strong> in einem Ungesehenen,<br />
Ungefühlten, in einer Verstörung o<strong>der</strong> in etwas "Inkommensurablen", wie es bei Goethe<br />
hieß?<br />
Große Kunst bleibt für den gegensäkularen Zeitgeist eine schlechte Verbündete, und zwar<br />
nicht nur, weil sie vollkommen weltlich, son<strong>der</strong>n auch, weil sie radikal individualistisch ist.<br />
Man möchte in ihr einen Vorschein von Transzendenz erspähen, gemeint ist aber eine<br />
harmlose und sozial verträgliche, im besten Fall sogar: mehrheitsfähige Transzendenz. Aber<br />
we<strong>der</strong> verspricht noch beansprucht Kunst gesellschaftliches Glück. Kulturwerte, ob sie nun<br />
"kommunikative Gesellschaft" o<strong>der</strong> "sinnstiftende Religiosität" heißen, bleiben ihr fremd. Ihr<br />
Vorbehalt gegenüber <strong>der</strong> Gegenwart - genauso wie gegenüber <strong>der</strong> Zeitkritik - ist unbegrenzt.<br />
Kunst redet von Flucht, nicht von Utopie. Für die gute Gesellschaft bleibt Nietzsches Satz<br />
ein Skandal: "Lieber sterben, als hier leben."