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Antwort auf Falser - Architekturmuseum der TU München

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<strong>Antwort</strong> des <strong>Architekturmuseum</strong>s <strong>auf</strong> die Äußerungen von Michael <strong>Falser</strong> gegen<br />

die Ausstellung „Geschichte <strong>der</strong> Rekonstruktion – Konstruktion <strong>der</strong> Geschichte“<br />

Erklärtes Ziel von Ausstellung und Katalog war es, die in Deutschland häufig polemisch<br />

geführte Debatte um Rekonstruktion <strong>auf</strong> eine reflektierte und differenzierte Ebene <strong>der</strong><br />

Betrachtung zu bringen. Dies ist mit überwältigendem Erfolg gelungen, wie über einhun-<br />

<strong>der</strong>t positive Rezensionen in <strong>der</strong> Fach- und Tagespresse sowie begeisterte Besucher<br />

und zahllose Zuschriften beweisen. Dass wir die kleine Fraktion von Denkmalpflegern,<br />

die Rekonstruktion als „Blasphemie“ und „Verbrechen“ (Georg Moersch) diffamieren,<br />

nicht überzeugen konnten, war zu erwarten. Als <strong>der</strong>en Sprecher tritt nun Michael <strong>Falser</strong><br />

in dem neuen Band <strong>der</strong> Bauwelt Fundamente „Denkmalpflege statt Attrappenkult“ <strong>auf</strong> –<br />

schon <strong>der</strong> Titel decouvriert die Unfähigkeit, sich wissenschaftlich vorurteilsfrei mit dem<br />

Thema Rekonstruktion zu befassen.<br />

Eine Auseinan<strong>der</strong>setzung mit <strong>der</strong> von Michael <strong>Falser</strong> vorgetragenen exzessiven Pole-<br />

mik erledigt sich von selbst, nicht nur wegen <strong>der</strong> geradezu pubertären Verunglimpfun-<br />

gen des Herausgebers des Katalogs sowie von Uta Hassler („ihres Zeichens Professo-<br />

rin für Denkmalpflege an <strong>der</strong> ETH Zürich“, das „Duo Nerdinger/Hassler“), son<strong>der</strong>n ins-<br />

beson<strong>der</strong>e wegen <strong>der</strong> fachlich völligen Substanzlosigkeit des Texts. Herr <strong>Falser</strong> be-<br />

hauptet allen Ernstes, die „ahnungslosen Besucher“ seien einer gezielten „Mythenbil-<br />

dung“ des Herausgebers <strong>auf</strong>gesessen. Im Gegensatz zu ihm haben aber die über<br />

100 000 Besucher sowie die vielen Journalisten und Historiker die Texte in Ausstellung<br />

o<strong>der</strong> Katalog offensichtlich gelesen und deshalb verstanden, dass es bei einer Ge-<br />

schichte <strong>der</strong> Rekonstruktion darum geht, das Phänomen sowohl in seiner Vielfalt als<br />

auch in seiner jeweils konkreten historischen Situation zu erfassen. Herr <strong>Falser</strong> durch-<br />

misst Ausstellung und Katalog mit einer Messlatte, <strong>auf</strong> <strong>der</strong> Rekonstruktion nach seinen<br />

Vorstellungen definiert ist. Dass er damit keine historischen Zusammenhänge erfasst, ist<br />

vorgegeben: wer mit einem Metermaß ein Volumen messen will, kann nur falsch able-<br />

sen. Das Problem liegt bei ihm, aber dies zu erkennen, verhin<strong>der</strong>t seine eigene Fixie-<br />

rung <strong>auf</strong> ahistorische Dogmen. So bleibt nur kleinkarierte Wichtigtuerei und das Wissen,<br />

dass er eine persönlich motivierte Abrechnung ebenso wortreich wie pseudowissen-<br />

schaftlich verbrämt.


Als Quintessenz seiner Äußerungen kommt Herr <strong>Falser</strong> zu dem Schluss, „zwischen den<br />

Zeilen“ die „unterschwellige Projekt-Intention“ erkannt zu haben, nämlich ein „neokon-<br />

servatives Plädoyer für Vollrekonstruktion“. Nur Herr <strong>Falser</strong> hat diese anscheinend raffi-<br />

niert versteckte Botschaft gefunden, die den, seiner Meinung nach, dummen Besuchern<br />

<strong>der</strong> Ausstellung entgangen ist. Bei seiner „Entschlüsselung“ stützt er sich beson<strong>der</strong>s <strong>auf</strong><br />

die Eröffnungsrede zur Ausstellung, die „eine einzige Tirade gegen die ihrer jeweiligen<br />

Zeitgenossenschaft verpflichteten Architekten gewesen“ sei. Wer den Text <strong>der</strong> Rede<br />

nachliest, erkennt sofort, wie Herr <strong>Falser</strong> verfälscht, lügt und sogar angebliche Zitate<br />

manipuliert. Die Eröffnungsrede wird deshalb exakt in <strong>der</strong> vorformulierten und vorgetra-<br />

genen Form im Anschluss abgedruckt. Je<strong>der</strong> <strong>der</strong> den Katalog zur Hand nimmt, kann<br />

zudem selbst problemlos nachvollziehen, dass es sich um eine wissenschaftlich objekti-<br />

ve Darstellung von 52 international renommierten Fachleuten <strong>der</strong> Geschichte <strong>der</strong> Re-<br />

konstruktion handelt, die gerade deshalb im Gegensatz zu <strong>der</strong> ahistorischen <strong>Falser</strong>-<br />

schen Begrifflichkeit steht, die er zur Richtschnur seiner Pseudo-Urteile macht (vgl. auch<br />

den angefügten Leserbrief zu <strong>der</strong> Rezension von Herrn <strong>Falser</strong> in <strong>der</strong> Zeitschrift Werk,<br />

Bauen und Wohnen).<br />

Das <strong>Architekturmuseum</strong> ist seit seinem Bestehen ein Ort <strong>der</strong> Information und Aufklä-<br />

rung, gegen einen eifernden Dogmatiker und Geschichtsdilettanten helfen allerdings<br />

keine Argumente. Die Anregungen, die von Ausstellung und Katalog ausgehen, werden<br />

allein <strong>auf</strong> Grund ihrer Faktenbasis zu einem differenzierten Verständnis von Rekonstruk-<br />

tion führen.<br />

Winfried Nerdinger<br />

2


Geschichte <strong>der</strong> Rekonstruktion – Konstruktion <strong>der</strong> Geschichte<br />

Rede zur Eröffnung am 21.7.2010<br />

Im Vorfeld <strong>der</strong> Ausstellung wurden mir immer wie<strong>der</strong> zwei Fragen gestellt: warum ma-<br />

chen Sie eigentlich die Ausstellung, und: sind Sie für o<strong>der</strong> gegen Rekonstruktion.<br />

Die beiden Fragen gehören zusammen und deshalb gibt es dar<strong>auf</strong> eine <strong>Antwort</strong>: wir<br />

machen die Ausstellung genau deshalb, weil man in Deutschland anscheinend nur ent-<br />

we<strong>der</strong> für o<strong>der</strong> gegen Rekonstruktion sein kann; weil die Auseinan<strong>der</strong>setzung über<br />

dieses Thema fast ausnahmslos nach einem Freund-Feind-Schema geschieht. Im Vor-<br />

feld <strong>der</strong> Ausstellung haben wir alle erreichbaren Veröffentlichungen <strong>der</strong> vergangenen<br />

Jahrzehnte zu Rekonstruktion gesammelt – schon die Titel sind Spiegel einer fast<br />

durchweg negativen Einstellung: Schlosslüge, Wie<strong>der</strong>gängertum, Disneyfizierung, Po-<br />

temkin, Karneval, Kulissen, Attrappen, Betrug an <strong>der</strong> Geschichte etc. etc., nur selten<br />

findet sich <strong>der</strong> Ansatz zu einer Differenzierung. Als ich vor vier Jahren den ersten Vor-<br />

trag zum Thema Rekonstruktion hielt, bei dem ich <strong>auf</strong> die festgefahrenen ideologischen,<br />

fixierten Denkmuster verwies und am Schluss Georg Dehios Aufruf von 1906 in Sachen<br />

Rekonstruktion <strong>der</strong> Michaeliskirche in Hamburg zitierte: „Seid von Zeit zu Zeit einmal<br />

auch tolerant“, wurde ich von Kollegen als Verräter an <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne bezeichnet. Schon<br />

<strong>der</strong> Versuch, unabhängig von Vorurteilen über Rekonstruktion nachzudenken, ist Verrat.<br />

Ein „mo<strong>der</strong>ner Architekt“ braucht darüber nicht nachzudenken, denn er glaubt, dass es<br />

zum Wesen <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne gehöre, Rekonstruktion abzulehnen und alle, die dies an<strong>der</strong>s<br />

sehen, sind Verräter, o<strong>der</strong> um das Deutsche Architektenblatt in Sachen Schloss-<br />

Wettbewerb zu zitieren: „An den Pranger mit ihnen. Wer am Wettbewerb teilnimmt,<br />

verrät die Zunft“ (keiner <strong>der</strong> 126.000 deutschen Architekten hat gegen diese mittelalter-<br />

lich inquisitorische Verdummung protestiert). Das ist <strong>der</strong> Jargon von Glaubenskriegen<br />

und genau deshalb, damit dieses Thema, das für die Bürgerschaft von größter Bedeu-<br />

tung ist, nicht weiter <strong>auf</strong> dieser Ebene behandelt wird, machen wir die Ausstellung. Die<br />

Problematik sieht immerhin inzwischen sogar ein Avantgardiste avant la lettre wie Rem<br />

Koolhaas, <strong>der</strong> 2004 erklärte: „Die Architekten waren in <strong>der</strong> zweiten Hälfte des 20. Jahr-<br />

hun<strong>der</strong>ts nicht fähig, über die Vergangenheit konstruktiv nachzudenken. Wir waren<br />

dagegen, weil ein mo<strong>der</strong>ner Architekt einfach nicht für die Idee <strong>der</strong> Rekonstruktion sein<br />

3


kann. In Wahrheit hatten wir aber oft nichts Besseres zu bieten, als das, was eine Re-<br />

konstruktion leistet.“<br />

Als unabhängige Hochschuleinrichtung und damit als ein forschendes, wissenschaftlich<br />

arbeitendes Museum möchten wir das Thema so präsentieren, dass darüber geredet<br />

werden kann, ohne dass sofort Gräben <strong>auf</strong>gerissen und nur noch Kampfparolen ausge-<br />

tauscht werden. In <strong>der</strong> Ausstellung gibt es we<strong>der</strong> ein dafür noch ein dagegen, son<strong>der</strong>n<br />

den Versuch, Beweggründe, warum in <strong>der</strong> Geschichte rekonstruiert wurde, zu verste-<br />

hen, und dabei jeden Fall einzeln zu betrachten und zu analysieren.<br />

Wir möchten mit <strong>der</strong> Ausstellung dazu beitragen, dass zum einen wenigstens die Begrif-<br />

fe überlegt und zum an<strong>der</strong>en das Thema in einem größeren Blickwinkel als nur im Hin-<br />

blick <strong>auf</strong> die Frauenkirche o<strong>der</strong> das Berliner Schloss gesehen wird. Die Begriffe sind<br />

Spiegel <strong>der</strong> ideologischen Fixierung, darum beginnen wir mit dem Versuch, einige im-<br />

mer wie<strong>der</strong> verwendete Termini zu erklären und soweit möglich zu definieren. Um nur<br />

ein Beispiel zu nennen: durch die gesamten Diskussionen zieht sich <strong>der</strong> Vorwurf, Re-<br />

konstruktionen seien Kopien und damit unschöpferisch. Eine Rekonstruktion ist aber<br />

niemals eine Kopie, denn kopiert werden kann nur von einem Original und deshalb steht<br />

die Kopie immer an einem an<strong>der</strong>en Ort – wie beispielsweise die Kopie von Goethes<br />

Gartenhaus. Im übrigen sind Kopien nicht per se unschöpferisch, die gesamte Ge-<br />

schichte <strong>der</strong> Kunst und Architektur basiert – nicht nur, aber auch – <strong>auf</strong> dem Kopieren<br />

von Vorbil<strong>der</strong>n, <strong>auf</strong> <strong>der</strong>en Verbreitung durch Wie<strong>der</strong>holung, Adaption o<strong>der</strong> Variation.<br />

Das zweite, <strong>auf</strong> das in diesem Zusammenhang hingewiesen werden soll, ist die Disqua-<br />

lifizierung und Diskreditierung von Rekonstruktionen mit moralischen Begriffen wie Be-<br />

trug, Lüge, Fälschung etc. Wer betrügt o<strong>der</strong> lügt, will einen an<strong>der</strong>en täuschen, meist zu<br />

seinem Vorteil. Eine Rekonstruktion betrügt aber nichts und niemanden, we<strong>der</strong> die Ge-<br />

schichte noch die Gegenwart, wie immer wie<strong>der</strong> völlig unsinnig behauptet wird, son<strong>der</strong>n<br />

es handelt sich schlichtweg um einen wie<strong>der</strong>holenden Neubau. Rekonstruktionen sind<br />

immer Konstruktionen von Geschichte vom Standort und aus dem Blickwinkel <strong>der</strong> jewei-<br />

ligen Gegenwart. Wer durch die Altstädte von Warschau, Breslau, Danzig o<strong>der</strong> Posen<br />

geht und glaubt, er befinde sich in historisch unversehrten Städten, o<strong>der</strong> wer die<br />

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Münchner Residenz und die Ludwigstraße für original hält, <strong>der</strong> wird nicht betrogen,<br />

son<strong>der</strong>n <strong>der</strong> ist einfach zu wenig informiert. Mit Rekonstruktion wird eine Kontinuität<br />

hergestellt, dies gehört zum Bauen seit frühester Zeit. Bauten werden zerstört und wie-<br />

<strong>der</strong><strong>auf</strong>gebaut, Bauschäden und Katastrophen gab es, seitdem gebaut wird, es wäre<br />

völlig naiv anzunehmen, dass immer und überall etwas ganz Neues errichtet wurde. Die<br />

Architekturgeschichte ist auch eine Geschichte <strong>der</strong> Reparaturen, Wie<strong>der</strong>holungen und<br />

Rekonstruktionen, diese Geschichte erscheint allerdings unter einem <strong>auf</strong> Novitäten,<br />

Verän<strong>der</strong>ungen und Brüche fokussierten Blick, <strong>der</strong> alles nur als Weg in die Gegenwart<br />

sieht, nicht so interessant und deshalb wird sie zumeist ausgeblendet.<br />

Die zunehmende Beschleunigung in allen Lebensbereichen ist ein Kennzeichen <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne, wie Reinhart Koselleck umfassend analysiert hat, und deshalb gerät die Kon-<br />

tinuität, das Bewahrende, immer mehr aus dem Blick. Brüche und Kontinuitäten sind<br />

jedoch die beiden Seiten <strong>der</strong> Architekturgeschichte, die zusammen gesehen werden<br />

müssen. Nach dem Brand <strong>der</strong> Kathedrale in Canterbury 1174, wurde überlegt, ob sie<br />

rekonstruiert o<strong>der</strong> in dem gerade neu aus Frankreich kommenden gotischen Stil errich-<br />

tet werden sollte. Hier setzten sich die Mo<strong>der</strong>nen durch. Als 1577 <strong>der</strong> Dogenpalast<br />

brannte, empfahlen die einen Gutachter – darunter Andrea Palladio – einen mo<strong>der</strong>nen,<br />

d.h. Renaissance-Neubau, die an<strong>der</strong>en Gutachter, die sich dann durchsetzten, waren<br />

für das Wie<strong>der</strong>herstellen des alten, stilistisch längst überholten Baus. Mitte des 18.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>ts wurde in Speyer diskutiert, wie <strong>der</strong> seit einem Jahrhun<strong>der</strong>t als Ruine da-<br />

stehende Dom wie<strong>der</strong>herzustellen sei, auch hier, mitten im Rokoko, fiel die Entschei-<br />

dung, einen romanischen Bau zu rekonstruieren. Nach dem ersten Weltkrieg waren<br />

zahlreiche Städte in Belgien und Nordfrankreich teilweise völlig zerstört, die Bürger<br />

wollten ihre Stadt in alten Formen wie<strong>der</strong>haben, deshalb wurden sie weitgehend rekon-<br />

struiert und wer heute durch Ypern, Diksmuide o<strong>der</strong> Arras geht, befindet sich in Städten<br />

aus den 1920er Jahren mit historischen Dimensionen, in denen sich die Bürger durch-<br />

aus wohl fühlen. Nur 25 Jahre später, nach dem 2. Weltkrieg, hatte sich die Architektur-<br />

entwicklung verän<strong>der</strong>t, außerdem sollte ein Bruch mit dem Nationalsozialismus gezeigt<br />

werden, nun wurde – häufig gegen den Willen <strong>der</strong> Bürger – mo<strong>der</strong>n wie<strong>der</strong><strong>auf</strong>gebaut.<br />

5


In <strong>der</strong> Ausstellung zeigen wir fast 300 Beispiele für Kontinuität durch Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

und Rekonstruktion von <strong>der</strong> Antike bis zur Gegenwart. Um <strong>der</strong> Komplexität gerecht zu<br />

werden, sind die Baugeschichten von 52 Autoren aus einem Dutzend Län<strong>der</strong>n recher-<br />

chiert und verfasst worden. Dies ist nur eine kleine Auswahl, im L<strong>auf</strong>e des Projekts<br />

haben wir viel mehr Beispiele gesammelt, aber vieles ist nicht mit Bil<strong>der</strong>n, son<strong>der</strong>n nur<br />

mit Texten aus Chroniken o<strong>der</strong> Bauinschriften belegbar, für viele Themen fand sich<br />

einfach kein Bearbeiter.<br />

Die Gründe, warum rekonstruiert wurde, sind in zehn Abteilungen geglie<strong>der</strong>t, die wie-<br />

<strong>der</strong>um die Struktur <strong>der</strong> Ausstellung bilden. In jede Abteilung wird mit einem übergeord-<br />

neten Text eingeführt, dann folgen die Fallbeispiele, die alle aus ihrer Zeit und in ihrer<br />

jeweils spezifischen Eigenart dargestellt werden. Den Anfang machen die Rekonstruk-<br />

tionen aus religiösen Gründen, da an den heiligen Orten <strong>der</strong> verschiedenen Kulturen<br />

und Religionen immer wie<strong>der</strong> im L<strong>auf</strong>e <strong>der</strong> Geschichte ein zerstörter o<strong>der</strong> verlorener<br />

Bau wie<strong>der</strong>hergestellt wurde. Der Boden spannt sich vom Zeustempel in Olympia über<br />

die Rekonstruktion <strong>der</strong> von Hugenotten zerstörten französischen Kathedralen im 17.<br />

Jahrhun<strong>der</strong>t bis zur Rekonstruktion orthodoxer Kirchen im Gebiet <strong>der</strong> ehemaligen<br />

UdSSR, zu einem Mormonentempel und <strong>der</strong> Hurva-Synagoge in Jerusalem. Es folgen<br />

Rekonstruktionen aus nationalen, politischen und dynastischen Gründen (vom Kapitol in<br />

Washington über die polnischen Altstädte bis zur Burg in Vilnius); dann zeigen wir die<br />

Rekonstruktionen von Bil<strong>der</strong>n und Symbolen einer Stadt (Hildesheim, Dresden, chinesi-<br />

scher Turm in <strong>München</strong>); Rekonstruktionen zur Erinnerung an Personen (wenn sich an<br />

<strong>der</strong> Stelle <strong>der</strong> Geburts-, Arbeits- o<strong>der</strong> Sterbestätte einer berühmten Persönlichkeit ein<br />

mo<strong>der</strong>ner Neubau befindet, kann kein Bezug zur Geschichte mehr hergestellt werden;<br />

zum Gedächtnisort gehört die historische Form, die keineswegs authentisch sein muss);<br />

archäologische, zeichnerische und virtuelle Rekonstruktion (Panorama: „Rom im Jahr<br />

312 n. Chr.“, Film: „Fall of the Roman Empire“ mit <strong>der</strong> größten historischen Kulisse aller<br />

Zeiten, das Forum Romanum rekonstruiert 1:1); Rekonstruktion zur Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

<strong>der</strong> Einheit eines Ensembles (Campanile am Markusplatz, Monte Carasso, Chiado in<br />

Lissabon, Teatro Fenice in Venedig); Rekonstruktion für Konsum und Freizeit; Rekon-<br />

struktion des authentischen Geistes und rituelle Wie<strong>der</strong>holung (Ise-Schrein: das Material<br />

vergeht; wenn aber Fähigkeit, Ritus, Tradition jeweils an die nächste Generation weiter-<br />

6


gegeben werden kann, bleibt Erinnerung ewig erhalten); Rekonstruktion und die Ehr-<br />

lichkeit <strong>der</strong> Mo<strong>der</strong>ne: das zeigen von Brüchen. Dies ist eher ein peripheres Randthema.<br />

Die Art wie mo<strong>der</strong>ne Architekten von Scarpa und Döllgast über Schattner und Grassi bis<br />

zu Chipperfield Brüche in <strong>der</strong> Geschichte an einem Bauwerk sichtbar machen – o<strong>der</strong><br />

zum Teil geradezu zwanghaft inszenieren –, ist nicht unser Thema, dies ist auch in<br />

extenso schon behandelt und bekannt. Es geht in <strong>der</strong> Ausstellung darum, <strong>auf</strong>zuzeigen,<br />

dass sich Wie<strong>der</strong>holung, Rekonstruktion und die Herstellung von Kontinuität als Bau-<br />

<strong>auf</strong>gaben durch die Jahrhun<strong>der</strong>te ziehen und dass es viele Gründe geben kann, einen<br />

verlorenen Bau durch Wie<strong>der</strong>holung wie<strong>der</strong>zugewinnen.<br />

Kontinuitäten und Brüche durchziehen die Architekturgeschichte, über beides wird in <strong>der</strong><br />

jeweiligen Gegenwart entschieden, deshalb sind Rekonstruktion und Wie<strong>der</strong>herstellung<br />

immer auch Teil <strong>der</strong> jeweils zeitgenössischen Architektur. Das Zeigen von Brüchen und<br />

Fragmenten, wie das beispielsweise Chipperfield am neuen Museum in Berlin insze-<br />

niert, ist eine Möglichkeit zeitgenössischen Umgangs mit Geschichte. Direkt daneben<br />

befindet sich die alte Nationalgalerie, die hg merz so wie<strong>der</strong>hergestellt hat, dass die<br />

historischen Räume als Einheit erlebt werden können. Hier ordnete sich ein mo<strong>der</strong>ner<br />

Architekt einer historischen Form um <strong>der</strong> Einheit willen unter, dies ist auch eine mögli-<br />

che, zeitgenössische architektonische Haltung, die allerdings vielen Architekten buch-<br />

stäblich fehlt. Luigi Snozzi und Alvaro Siza könnten da als herausragende Beispiele<br />

genannt werden, dass zur mo<strong>der</strong>nen Architektur eben auch Wie<strong>der</strong>herstellung und<br />

Rekonstruktion gehören können. So wie Snozzi mit <strong>der</strong> Wie<strong>der</strong>herstellung des Klosters<br />

in Monte Carasso einem Ort wie<strong>der</strong> seine historische Mitte und eine geschichtliche<br />

Dimension gab, so rekonstruierte Alvaro Siza die zerstörte Altstadt von Lissabon, den<br />

Chiado, gab den Bürgern ihr beliebtes Stadtviertel zurück und erklärte dazu: „Die Frage<br />

<strong>der</strong> Fassaden war mir nicht wichtig“, aber gleichzeitig verbesserte er die Wohn- und<br />

Lebensqualität in dem Quartier. Das wäre ein Weg eines entkrampften Umgangs mit<br />

dem Thema Rekonstruktion auch in <strong>der</strong> Gegenwart, ein Weg zu dem wir gerne beitra-<br />

gen möchten.<br />

7


Leserbrief zur Besprechung „Tradition Rekonstruktion?“ in werk bauen und woh-<br />

nen 10/2010<br />

In seiner Besprechung <strong>der</strong> Münchner Ausstellung „Geschichte <strong>der</strong> Rekonstruktion –<br />

Konstruktion <strong>der</strong> Geschichte“ behauptet Herr <strong>Falser</strong>, unser geschichtlicher Überblick<br />

erfinde eine „Tradition <strong>der</strong> Rekonstruktion“. Hätte Herr <strong>Falser</strong> die Texte in Katalog und<br />

Ausstellung gelesen, wäre ihm die Peinlichkeit erspart geblieben, dass er durch seine<br />

dreiseitige Polemik nur offenbart, dass er keine Ahnung von historischer und begriffsge-<br />

schichtlicher Forschung hat, und dass er vom Buch seines „Kronzeugen“ Eric Hobs-<br />

bawm nur den Titel „The Invention of Tradition“ gelesen hat, denn darin wird Traditions-<br />

erfindung in ganz an<strong>der</strong>em Zusammenhang als spezifisches Phänomen einer Verlust-<br />

kompensation im 19. Jahrhun<strong>der</strong>t analysiert.<br />

Die Münchner Ausstellung „Geschichte <strong>der</strong> Rekonstruktion“ verfolgt als einziges Ziel, die<br />

in Deutschland völlig polarisierte und polemisch geführte Diskussion zu entkrampfen<br />

und <strong>auf</strong> eine neue, historisch reflektierte Ebene zu stellen. Entscheidend für die Unfä-<br />

higkeit eines Dialogs zwischen Befürwortern und Gegnern von Rekonstruktion ist die<br />

geradezu babylonische Begriffsverwirrung und die Verwendung von moralisierenden<br />

und denunziatorischen Vokabeln. In Ausstellung und Katalog wurden deshalb nach den<br />

von <strong>der</strong> historischen Forschung („Archiv für Begriffsgeschichte“, „Geschichtliche Grund-<br />

begriffe“ hg. von Reinhart Koselleck) seit Jahrzehnten erarbeiteten Kriterien das histori-<br />

sche Begriffs- und Themenfeld „Rekonstruktion“ ausgeleuchtet. Grundlegend für jede<br />

begriffsgeschichtliche Untersuchung ist <strong>der</strong> Ansatz, ein Phänomen aus seiner Zeit her-<br />

aus zu analysieren, denn „was selbst eine Geschichte hat, kann nicht definiert werden“.<br />

Wer Begriffe und Themenfel<strong>der</strong> wie „Demokratie“, „Bürger“ o<strong>der</strong> „Öffentlichkeit“ histo-<br />

risch erfassen möchte, kann selbstverständlich nicht eine in <strong>der</strong> Gegenwart gegebene<br />

o<strong>der</strong> geläufige Definition als Maßstab für den Blick in die Geschichte zugrunde legen.<br />

Auf das Thema Rekonstruktion übertragen heißt das, dass es völlig unsinnig ist, für die<br />

historische Betrachtung eines Phänomens – für das erst gegen Ende des 19. Jahrhun-<br />

<strong>der</strong>ts <strong>der</strong> Begriff Rekonstruktion geläufig wurde –, eine erst vor wenigen Jahrzehnten im<br />

Bereich deutscher Denkmalpfleger getroffene Definition und Abgrenzung bezüglich<br />

Rekonstruktion und Wie<strong>der</strong>herstellung, die nicht einmal von allen Denkmalpflegern<br />

konsequent eingehalten wird, als Richtschnur zur Betrachtung von „Wie<strong>der</strong>holungen“ in<br />

8


<strong>der</strong> Geschichte zu nehmen. Genau nach dieser historisch ebenso unbrauchbaren wie<br />

unsinnigen Messlatte beurteilt aber Herr <strong>Falser</strong> in seiner Besprechung Ausstellung und<br />

Katalog. Da ihm das Wesen einer historischen Untersuchung offensichtlich völlig fremd<br />

ist, und er sich nicht einmal mit den mehrfach wie<strong>der</strong>holten definitorischen Grundlagen<br />

<strong>der</strong> Ausstellung auseinan<strong>der</strong>setzt, entgeht ihm, dass wir ausdrücklich dar<strong>auf</strong> hinweisen,<br />

dass mit dem Begriff Rekonstruktion die seit <strong>der</strong> Antike geläufige Form von „Wie<strong>der</strong>her-<br />

stellung“ in all ihren Spielarten als heuristischer Ansatz gemeint ist, und dass wir immer<br />

wie<strong>der</strong> betonen, je<strong>der</strong> Fall sollte einzeln in seinem historischen Kontext erfasst und<br />

eingeordnet werden. Von den 256 Beispielen sind in <strong>der</strong> Ausstellung 85 und im Katalog<br />

157 detailliert erklärt, die übrigen sind mit Kurzkommentaren erläutert. Dass dabei nicht<br />

komplette Baugeschichten geliefert werden können, dürfte jedem, <strong>der</strong> nicht mit Scheu-<br />

klappen wie Herr <strong>Falser</strong> durch die Ausstellung geht, einsichtig sein. Im übrigen verwen-<br />

det er selbst als Abbildung zu seiner Besprechung das dreiteilige Schema – vorher,<br />

zerstört, nachher –, das er bei uns kritisiert.<br />

Dass mir Herr <strong>Falser</strong> unterstellt, ich würde die Mo<strong>der</strong>ne als „Prügelknaben“ behandeln,<br />

ist billige Polemik, sein Verweis <strong>auf</strong> einen Halbsatz aus meiner Eröffnungsrede zu Chip-<br />

perfields Neuem Museum belegt die Unredlichkeit seiner Argumentation. Ich habe dar-<br />

<strong>auf</strong> hingewiesen, dass die mo<strong>der</strong>ne Architektur beim Umgang mit historischen Überre-<br />

sten seit Döllgast, Scarpa u.v.a. <strong>auf</strong> das Zeigen eines Bruchs, <strong>auf</strong> Distanzierung und<br />

damit Fragmentierung setzt. Dies habe ich ausdrücklich als eine Möglichkeit bezeichnet,<br />

bei <strong>der</strong> auch großartige Lösungen entstanden sind, dann habe ich dar<strong>auf</strong> hingewiesen,<br />

dass es aber auch die Alternative gibt, eine Einheit im Sinne des ursprünglichen Baus<br />

wie<strong>der</strong> herzustellen, wie das etwa hg merz bei <strong>der</strong> Alten Nationalgalerie in Berlin vorge-<br />

führt hat. Mein Plädoyer für eine offenere Sicht <strong>auf</strong> das Thema „Rekonstruktion und<br />

Mo<strong>der</strong>ne“ wird von Herrn <strong>Falser</strong> ins Gegenteil verbogen. Stattdessen bemängelt er,<br />

dass die „deutschen Meister <strong>der</strong> Ruinenaneignung“ wie Schwarz und Eiermann fehlen.<br />

Der Grund dafür ist doch ganz einfach: Ruinenaneignung ist keine Rekonstruktion und<br />

gehört deshalb nicht in die Ausstellung. Dass Herr <strong>Falser</strong> auch noch den Beitrag von<br />

Uta Hassler grob verzerrt, belegt vollends seine eigentliche Motivation, denn an <strong>der</strong>en<br />

Lehrstuhl an <strong>der</strong> ETH Zürich war er aus guten Gründen nur kurz beschäftigt.<br />

Es wäre einfach, sämtliche weiteren Punkte <strong>der</strong> Besprechung zu wi<strong>der</strong>legen, dies er-<br />

scheint aber angesichts <strong>der</strong> für jeden offensichtlichen Intention von Herrn <strong>Falser</strong> nicht<br />

9


notwendig, deshalb nur noch ein Letztes: wenn am Anfang und am Ende <strong>der</strong> Bespre-<br />

chung Hans Döllgasts Alte Pinakothek als leuchtendes Beispiel für den Umgang <strong>der</strong><br />

Mo<strong>der</strong>ne mit dem Thema Rekonstruktion bemüht wird, dann sollte Herr <strong>Falser</strong> wenig-<br />

stens wissen, dass Döllgast seine Arbeit immer nur als „Flickwerk“ bezeichnet hat, denn<br />

es ging ihm ausschließlich darum, mit <strong>der</strong> billigsten Lösung den Bau vor dem bereits<br />

beschlossenen Abbruch zu bewahren. Dieses „Flickwerk“ wurde zwei Jahrzehnte lang<br />

außerhalb <strong>München</strong>s nahezu nicht beachtet und es lagen bereits in den 1970er Jahren<br />

Planungen des damaligen Landbauamts vor, Döllgasts Reparaturen zu entfernen und<br />

den Klenze-Zustand komplett zu rekonstruieren. Dies erfolgte zum Teil in Absprache mit<br />

Hans Döllgast, <strong>der</strong> bis an sein Lebensende zahlreiche Entwürfe zeichnete, um den von<br />

ihm geschaffenen Nachkriegszustand selbst zu beseitigen und den Bau wie<strong>der</strong> <strong>der</strong><br />

ursprünglichen Fassung anzunähern. Genau wie alle an<strong>der</strong>en Beispiele muss auch die<br />

Alte Pinakothek als spezifischer Einzelfall einer „Wie<strong>der</strong>herstellung“ historisch korrekt<br />

analysiert werden. Wer allerdings wie Herr <strong>Falser</strong> das Thema Rekonstruktion nur unter<br />

dem Dogma einer noch im Stand <strong>der</strong> Charta von Venedig fixierten Denkmalpflege be-<br />

trachtet, wird ohnehin nie eine Ahnung von historischer Forschung bekommen. Der<br />

enorme Erfolg unserer Ausstellung wird hoffentlich bald von selbst dazu führen, dass<br />

ahistorische Dogmatiker wie Herr <strong>Falser</strong> nicht mehr beachtet werden.<br />

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