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Konservatorium in St. Petersburg - EVTA

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Avis officiel de l’Association des Professeurs de Chant de Suisse<br />

September 2002 Nr. 53<br />

<strong>Konservatorium</strong> <strong>in</strong> <strong>St</strong>. <strong>Petersburg</strong><br />

e<strong>in</strong> Erfahrungsbericht von Dorothea Bamert-Galli<br />

E<br />

s gibt viele Gründe für die<br />

Berührungsängste des Westens<br />

Russland gegenüber, die hier nicht<br />

erörtert werden sollen. Es gibt jedoch e<strong>in</strong>en<br />

klaren Grund und Auftrag, diese Ängste von<br />

unserer Seite her abzubauen und zwar, weil<br />

wir im Westen die Mittel besitzen, während<br />

der Durchschnittsrusse ohne Geschäfts- oder<br />

gar mafiöse Privilegien mit se<strong>in</strong>en f<strong>in</strong>anziellen<br />

Möglichkeiten kaum bis zur eigenen <strong>St</strong>adtgrenze<br />

kommt.<br />

Nach vorausgegangenen Informationen<br />

über die Ausbildungsmöglichkeiten von Sängern<br />

habe ich mich entschlossen, auf eigene<br />

Kosten dem <strong>Petersburg</strong>er <strong>Konservatorium</strong><br />

e<strong>in</strong>en Kurs für deutsches Repertoire<br />

anzubieten. Ich lerne seit vielen Jahren<br />

Russisch und kann mich fehlerhaft aber<br />

fliessend unterhalten. Als ehemalige Opernsänger<strong>in</strong><br />

und heutige Pädagog<strong>in</strong> besitze ich<br />

das Privileg e<strong>in</strong>er <strong>in</strong> westlichen Sprachen und<br />

<strong>St</strong>il geschulten musikalischen Ausbildung. Es<br />

g<strong>in</strong>g mir nicht darum, russische junge<br />

Sängerl<strong>in</strong>nen <strong>in</strong> westliche Musikhochschulen<br />

zu locken (ich habe ke<strong>in</strong>en e<strong>in</strong>zigen dazu<br />

ermuntert!) und <strong>in</strong> ihnen falsche Illusionen<br />

wach zu, rufen, wir müssen uns ja selber mit<br />

dem Problem e<strong>in</strong>es dramatischen Sängerüberschusses<br />

ause<strong>in</strong>ander setzen. Ne<strong>in</strong> vielmehr<br />

ersche<strong>in</strong>t es notwendig, Brücken zu<br />

schlagen, die e<strong>in</strong>en gegenseitigen Lernprozess<br />

ermöglichen und die Russen mit der westlichen<br />

Musikkultur, die ihnen während 70<br />

Jahren verwehrt wurde, vertraut zu machen,<br />

um ihrer Interpretationslust und Neugierde<br />

unseren Musikstilen gegenüber e<strong>in</strong>e Anregung<br />

zu geben. Selbstverständlich möchten wir dabei<br />

auch die russischen Traditionen und Ei-<br />

genarten besser kennen lernen. Musiker s<strong>in</strong>d<br />

Kosmopoliten, auch wenn sie nie e<strong>in</strong>en Zug<br />

bestiegen haben. Ich b<strong>in</strong> auf offene und<br />

dankbare Ohren gestossen.<br />

„Säuferr, Tränenn, Kumerr, Nott“<br />

Die letzten Jahre des neuen politischen Systems<br />

haben die russische Kultur <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

schwierige f<strong>in</strong>anzielle Situation gebracht. Geld<br />

fliesst, wenn überhaupt, <strong>in</strong> die Wirtschaft oder<br />

<strong>in</strong>s Ausland. In gewissem S<strong>in</strong>ne leben die<br />

Gesangsstudenten noch h<strong>in</strong>ter dem eisernen<br />

Vorhang. Sie sprechen jetzt zwar etwas<br />

Englisch mit abenteuerlichem Akzent, jedoch<br />

kaum Deutsch und <strong>in</strong> Italienisch wird ihnen<br />

lediglich die Aussprache beigebracht. So<br />

wurde mir oft die Bach- Arie "Seufzer,<br />

Tränen, Kummer, Not" vorgetragen und es<br />

war schon Schwerarbeit, ihnen beizubr<strong>in</strong>gen,<br />

dass es nicht „Säuferr Tränenn Kumerr Nott“<br />

heisst .In lediglich zehn Tagen konnte ich da<br />

leider nicht viel bewirken.<br />

Die Russen s<strong>in</strong>d zu Recht stolz auf ihre<br />

musikalischen Fähigkeiten, ihre unschlagbare<br />

Diszipl<strong>in</strong> und ihre lange Tradition <strong>in</strong> dieser<br />

H<strong>in</strong>sicht. Gesang nimmt da e<strong>in</strong>e Sonderstellung<br />

e<strong>in</strong>: die <strong>St</strong>imme als Instrument der<br />

Armen spielt <strong>in</strong> der russisch-orthodoxen<br />

Kirche e<strong>in</strong>e zentrale Rolle, wird doch da die<br />

Orgel durch Chöre ersetzt. Es wird und wurde<br />

auf dem Feld, bei der Arbeit und <strong>in</strong> der Schule<br />

sehr viel gesungen. An ihrer S<strong>in</strong>gfreude könnten<br />

wir uns e<strong>in</strong> Beispiel nehmen. Der russische<br />

Volkslied- Schatz ist überwältigend! Ebenso<br />

überwältigend s<strong>in</strong>d die unzählig vielen<br />

schönen <strong>St</strong>immen der Russen.<br />

Me<strong>in</strong>e Arbeit bestand vor allem dar<strong>in</strong> ,<br />

ihnen Wege aufzuzeigen, wie sie mit e<strong>in</strong>er


zentrierteren <strong>St</strong>imme schlanker s<strong>in</strong>gen können,<br />

und die oft zu schwere <strong>St</strong>ütze <strong>in</strong> e<strong>in</strong>e<br />

federndere umzugestalten, damit Mozart nicht<br />

wie Rachman<strong>in</strong>off kl<strong>in</strong>gt. Somit vermögen sie<br />

nicht allzu kurzatmig lange Koloraturen zu<br />

bewältigen. Ihr Hauptproblem liegt <strong>in</strong> der zu<br />

schweren <strong>St</strong>immgebung und der damit<br />

verbundenen zu grossen Vibration <strong>in</strong> hohen<br />

Lagen. Ihr Interesse, ihre Aufnahmebereitschaft,<br />

Dankbarkeit und Offenheit mir gegenüber<br />

war unglaublich bewegend. Ebenfalls<br />

zeigten die dortigen Gesangslehrer grösstes<br />

Interesse. Der Lehrer besitzt <strong>in</strong> Russland e<strong>in</strong>e<br />

uns befremdende Autorität, z.B. haben die<br />

Lehrer e<strong>in</strong>en eigenen E<strong>in</strong>gang <strong>in</strong>s <strong>Konservatorium</strong>,<br />

welcher strengstens kontrolliert wird.<br />

Die unverwöhnten Schüler/Innen ziehen ihr<br />

Bestes an, s<strong>in</strong>d unterwürfig, gehorsam und<br />

nehmen fraglos und mit sofortiger Umsetzungsfähigkeit<br />

Anweisungen an. Letzteres<br />

ist ausserordentlich befriedigend für alle<br />

Beteiligten und es ist deutlich spürbar, dass<br />

ihnen die Ausbildung ans Existentielle geht<br />

und ke<strong>in</strong>e Luxusbeschäftigung Ist. Dementsprechend<br />

hoch ist das Niveau.<br />

Ausbildung<br />

Jährlich machen etwa 300 Sänger/Innen am<br />

<strong>in</strong> ganz Russland höchst begehrten <strong>Petersburg</strong>er<br />

<strong>Konservatorium</strong> e<strong>in</strong>e Aufnahmeprüfung.<br />

Ungefähr 10 bis 30 können aufgenommen<br />

werden. Zu diesem Zeitpunkt s<strong>in</strong>d sie<br />

auf dem Niveau e<strong>in</strong>es Schweizer Gesangsstudenten<br />

zwischen Übertrittsprüfung (Vordiplom/<br />

Zwischenprüfung) und dem Lehrdiplom.<br />

Als langjährige Fachexpert<strong>in</strong> kann ich<br />

diesen Vergleich wagen. Der <strong>St</strong>udiengang<br />

dauert fünf Jahre, sie erhalten wöchentlich<br />

dreimal 45 M<strong>in</strong>uten Gesangstunde, zusätzlich<br />

60 M<strong>in</strong>uten Korrepetition. Zweimal jährlich<br />

f<strong>in</strong>det e<strong>in</strong>e Übertrittsprüfung <strong>in</strong>s nächste<br />

Semester statt, zweimal gibt es e<strong>in</strong>en<br />

Klassenabend, darüber h<strong>in</strong>aus szenische<br />

Abende, die im Opernkurs ab dem dritten<br />

Semester stattf<strong>in</strong>den. Die Altersgrenze beim<br />

E<strong>in</strong>tritt beträgt 23 Jahre, Ausnahmen werden<br />

gemacht falls es sich um den zweiten<br />

Bildungsweg handelt. Der Rektor sagte mir, es<br />

würden nachher alle e<strong>in</strong> Auskommen f<strong>in</strong>den,<br />

sei es <strong>in</strong> den vielen professionellen Chören<br />

Russlands, an Theatern oder im pädagogischen<br />

Bereich. E<strong>in</strong>e mir bekannte<br />

Sänger<strong>in</strong>, die an e<strong>in</strong>em kle<strong>in</strong>eren Theater <strong>in</strong><br />

<strong>Petersburg</strong> grosse Rollen s<strong>in</strong>gt, erhält 100<br />

Franken monatlich. Dies entspricht auch dem<br />

Durchschnittslohn e<strong>in</strong>es Arztes. Die Lebenskosten<br />

s<strong>in</strong>d im Vergleich zu den Unseren fünf<br />

bis zehnmal ger<strong>in</strong>ger bei Alltagsbedürfnissen,<br />

gleich hoch jedoch für "Luxusgüter" wie<br />

Bananen etc.! Restaurants und Kaufhäuser<br />

s<strong>in</strong>d gespenstisch leer...<br />

Armut zwischen und <strong>in</strong> den Palästen<br />

Das <strong>Konservatorium</strong> ist e<strong>in</strong> von aussen gesehen<br />

wunderschöner Prachtsbau, das Innere<br />

ist jedoch <strong>in</strong> e<strong>in</strong>em unvorstellbar jämmerlichen<br />

Zustand. Zum Beispiel haben die Flügel<br />

seit vielen Jahren ke<strong>in</strong>en Klavierstimmer<br />

gesehen, sie knarren, quietschen, bei e<strong>in</strong>em<br />

Flügel wurde das dritte Be<strong>in</strong> durch e<strong>in</strong>en <strong>St</strong>uhl<br />

ersetzt. Die Unterrichtszimmer s<strong>in</strong>d düster,<br />

grau und stark überakustisch, da jeder Meter<br />

Teppich oder <strong>St</strong>off zu teuer ist. Die <strong>St</strong>udenten-<br />

Aufführung von Eugen Oneg<strong>in</strong> im <strong>Konservatorium</strong><br />

(es beherbergt e<strong>in</strong> grosses 1200<br />

plätziges Theater im sovietischen Baustil) fand<br />

auf beneidenswert hohem sängerischen wie<br />

auch <strong>in</strong>strumentalen Niveau statt, doch tat es<br />

mir weh, die schön gespielten Soli auf armseligen<br />

Oboen und <strong>St</strong>reich<strong>in</strong>strumenten zu<br />

hören. So ist es nicht weiter verwunderlich,<br />

dass das <strong>Konservatorium</strong> jetzt gezwungen ist,<br />

betuchtere, zahlende <strong>St</strong>udenten aufzunehmen,<br />

die eigentlich nicht dem gewohnten Niveau<br />

entsprechen.<br />

Wie geht es weiter?<br />

E<strong>in</strong>e Kont<strong>in</strong>uität der Kurse ist von beiden<br />

Seiten erwünscht. Die organisatorischen<br />

Umstände werden besser se<strong>in</strong>: es werden nur<br />

die besten Sänger/Innen, die sich spezifisch<br />

für Wettbewerbe und Vors<strong>in</strong>gen vorbereiten,<br />

<strong>in</strong> den Kurs aufgenommen. Ihr anfängliches<br />

Misstrauen e<strong>in</strong>em westlichen Musikpädagogen<br />

gegenüber (sie haben da ansche<strong>in</strong>end auch<br />

schlechte Erfahrungen gemacht) War schnell<br />

verflogen. Diesmal würde ich von e<strong>in</strong>er zu<br />

grossen Anzahl von Sänger/Innen überrollt,<br />

die mich kaum mehr weggehen liessen. Der<br />

Rektor möchte mir beste Bed<strong>in</strong>gungen bieten,


was mir jedoch <strong>in</strong> ihrer F<strong>in</strong>anzlage pe<strong>in</strong>lich<br />

ist, und so werde ich auf Sponsorensuche<br />

gehen. Ich träume von e<strong>in</strong>er <strong>St</strong>iftung, die das<br />

Ziel hat, das <strong>Konservatorium</strong> zu unterstützen<br />

für Instrumente, für die verarmte Bibliothek,<br />

für begabte <strong>St</strong>udenten <strong>in</strong> f<strong>in</strong>anzieller Notlage,<br />

die Liste ist gross und Hilfe vor Ort die<br />

s<strong>in</strong>nvollste! Jede Anregung diesbezüglich<br />

nehme ich dankbar entgegen!<br />

Ich b<strong>in</strong> während me<strong>in</strong>es kurzen Aufenthaltes<br />

mit viel Dankbarkeit und Herzlichkeit beschenkt<br />

worden und ich habe selber so viel dabei<br />

gelernt, dass ich me<strong>in</strong>en Privat- Idealismus<br />

fortsetzen werde.<br />

April 2002<br />

Dorothea Bamert-Galli, Friedheimstr. 54<br />

8057 Zürich, Tel: 0l/312 70 39, Fax: 01/312 70 39

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