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learning from las vegas oder die identität einer stadt

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<strong>learning</strong> <strong>from</strong> <strong>las</strong> <strong>vegas</strong><br />

<strong>oder</strong> <strong>die</strong> <strong>identität</strong> <strong>einer</strong> <strong>stadt</strong>


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<strong>oder</strong> <strong>die</strong> <strong>identität</strong> <strong>einer</strong> <strong>stadt</strong>


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<strong>oder</strong> <strong>die</strong> <strong>identität</strong> <strong>einer</strong> <strong>stadt</strong>


Kunstlicht in Architektur und Werbung Frühe Lichtarchitektur und Lichtwerbung 1880-1933<br />

Stephan Bohe (351553)<br />

Beleuchtung großer Ausstellungen des späten 19. Jahrhunderts<br />

1881 wurden auf der internationalen Elektrizitätsausstellung in Paris <strong>die</strong> ersten Glühbirnen vorgestellt, <strong>die</strong><br />

allerdings nach wie vor nur im Zusammenspiel mit anderen Beleuchtungsarten, wie z.B. den Gaslampen und den<br />

hellen Bogenlampen, zum Einsatz kamen. In den folgenden Jahrzehnten waren es primär kommerzielle<br />

Anwendungen und <strong>die</strong> Reklame, <strong>die</strong> in allen hoch industrialisierten Ländern <strong>die</strong> Entwicklung und Entfaltung<br />

des elektrischen Lichts vorantrieb.<br />

Wichtige Markierungspunkte <strong>die</strong>ser kommerziellen Übernahme waren <strong>die</strong> großen Industrieausstellungen der<br />

Zeit nach 1880. Für viele <strong>die</strong>ser Großveranstaltungen wurden überraschende neue Möglichkeiten entwickelt,<br />

künstlich erzeugte Helligkeit - durch z.B.: stark konzentriertes Licht, Streulicht, weißes und vor allem auch<br />

farbiges Licht - spektakulär zur Geltung zu bringen. Es ging nicht mehr nur darum, elektrisches Licht zu nutzen,<br />

sondern es s<strong>einer</strong>seits zu einem spektakulären Aspekt werden zu <strong>las</strong>sen und so <strong>die</strong> Besucher für den technischen<br />

Fortschritt zu sensibilisieren. Der Einsatz des elektrischen Lichts schuf neue und eigene öffentliche Räume,<br />

allerdings keineswegs immer, im Zusammenspiel mit der gebauten Architektur.<br />

Ziel der ambitionierten Beleuchtungskonzepte war es nicht zuletzt, <strong>die</strong> Öffentlichkeit zu beeindrucken, sie zu<br />

gläubigen Anhängern des technischen Fortschritts zu erziehen und damit letztendlich zu potentiellen<br />

Konsumenten. Unter <strong>die</strong>sem praktischen Aspekt der Werbung und Reklame waren <strong>die</strong> damals Verantwortlichen<br />

sehr erfolgreich, da sie <strong>die</strong> Begeisterung für <strong>die</strong> überwältigende Erscheinung des städtisch industriellen<br />

Schauspiels in unbegrenzte Höhen trieben.<br />

Gegen Ende des Jahrzehnts, auf der Weltausstellung 1889 in Paris, wurde <strong>die</strong> gesamte bis dahin entwickelte<br />

Beleuchtungstechnologie zusammengeführt und in aufwendiger Weise dem faszinierten Publikum präsentiert.<br />

Es war somit nur eine Frage der Zeit, bis <strong>die</strong> spektakuläre Nachtbeleuchtung der Ausstellungen auf <strong>die</strong> ganze<br />

Stadt ausstrahlen und übergreifen würde.<br />

Keine der späteren Ausstellungen veränderte grundlegend <strong>die</strong> Art der Präsentation von Licht und Farbe, wie man<br />

sie erstmals in Paris gesehen hatte, sie wurde lediglich intensiviert.<br />

Einerseits begann resultierend vielerorts <strong>die</strong> Anwendung in privaten Haushalten, und gleichzeitig wurden neue,<br />

starke Suchscheinwerfer in der Werbung und Flutlichtbeleuchtung für Gebäude eingesetzt.<br />

Weltausstellung Paris, 1889, Der Eiffelturm mit Suchscheinwerfer, 1889<br />

Eiffelturm mit Elmsfeuern und Suchscheinwerfern


Wenn auch keines der umfassenden Beleuchtungskonzepte als Ganzes von dem kurzlebigen Umfeld <strong>einer</strong><br />

Weltausstellung auf eine komplexe und heterogene Stadtlandschaft übertragen werden konnte, so begann das<br />

elektrische Licht dennoch, allerorts den städtischen Kontext zu verändern. In allen Industriestaaten begannen<br />

kommerzielle Illumination und Lichtreklame sehr bald mit der Lichtgestaltung bei offiziellen Feierlichkeiten<br />

<strong>oder</strong> von städtischen Monumenten zu konkurrieren.<br />

Das grundlegende Vokabular der Architekturbeleuchtung, typische Anwendungsmuster sowie ein gewisses<br />

kritisches Instrumentarium waren also bereits vorhanden, bevor <strong>die</strong>se Kunstform im 20. Jahrhundert aufblühte.<br />

Freiheitsstatue mit ihrer Originalbeleuchtung, 1909 Weltausstellung Chicago, 1893, Verwaltungsbau bei Nacht<br />

Kunstlicht und Avantgarde<br />

Bruno Taut beschrieb 1914 <strong>die</strong> nächtliche Erscheinung seines G<strong>las</strong>pavillons auf der Kölner<br />

Werkbundausstellung mit folgenden Worten:<br />

„Am Abend lenkt das beleuchtete Gebäude <strong>die</strong> Blicke auf sich. Bei einem G<strong>las</strong>haus braucht man für keine<br />

`Illumination` durch aufgesetzte Glühbirnen und dergleichen zu sorgen. Man braucht das G<strong>las</strong>haus nur in seinen<br />

Räumen zu beleuchten und es zeigt sich nach außen im schönsten Lichte illuminiert.“<br />

Hier bereits unterschied Taut sorgfältig zwischen der Beleuchtung eines Gebäudes von Außen und dem Erglühen<br />

s<strong>einer</strong> eigenen durchscheinenden Architekturform. Diese Unterscheidung spielt eine wichtige Rolle bei der<br />

Entwicklung der Architekturbeleuchtung nach dem Ersten Weltkrieg.<br />

Die Ideen des utopischen Schriftstellers Paul Scheerbart, der in seinen Novellen oft phantastische, farbige<br />

G<strong>las</strong>bauten beschrieben und seine jüngste Veröffentlichung `G<strong>las</strong>architektur` Taut gewidmet hatte, sowie der<br />

große Erfolg von Tauts kleinem G<strong>las</strong>pavillon auf der Werkbundausstellung von 1914 ermutigten Taut selbst und<br />

seine Freunde Scharoun, <strong>die</strong> Gebrüder Luckhardt und andere, unmittelbar nach dem Krieg eine Reihe von<br />

eindrucksvollen Architekturphantasien zu entwerfen. Ein häufiges Motiv ihrer Zeichnungen waren leuchtende<br />

G<strong>las</strong>bauten als Zentren <strong>einer</strong> neuen Spiritualität. Obwohl <strong>die</strong>se expressionistischen Phantasien in den Debatten<br />

zur Architekturbeleuchtung kaum zur Sprache kamen, weisen sie dennoch auf eine wichtige Quelle für das<br />

ausgeprägte Interesse an Lichtarchitektur in der Weimarer Republik hin<br />

Bruno Taut, G<strong>las</strong>pavillon 1914 Hans Scharoun, Gläserner Bau, 1919 Hans Luckhardt, Kultbau, 1919


In Berlin waren 1916 während des Ersten Weltkrieges sämtliche Lichtreklamen abgeschaltet worden und hatten<br />

erst ab 1921 langsam wieder eine Verbreitung gefunden. Ein Ortsstatut gegen Verunstaltung von 1923<br />

beschränkte <strong>die</strong> Reklamen auf das Erdgeschoss, und <strong>die</strong> Energieknappheit tat ihr übriges.<br />

Nachdem 1926 Martin Wagner Stadtbaurat geworden war, hatten <strong>die</strong> Film- und Elektroindustrie mit ihren<br />

<strong>die</strong>sbezüglichen Initiativen und ihrem nicht zu unterschätzenden Einfluss Erfolg, sodass <strong>die</strong> Bestimmungen<br />

gelockert wurden und bald eine zunehmende Lichtfülle spürbar wurde.<br />

Gleichzeitig begann eine ausführliche Debatte, <strong>die</strong> sich jenseits des Phänomens der Lichtreklame mit der Rolle<br />

des künstlichen Lichts als neuem Baustoff befasste, weiterhin mit Gestaltungsfragen der nächtlichen Stadt,<br />

städtebaulichen Wirkungen, der Abgrenzung zu Amerika und schließlich mit utopischen Visionen <strong>einer</strong><br />

immateriellen Architektur als ultimativer Erfüllung der M<strong>oder</strong>ne.<br />

Zahlreiche prominente Vertreter der Avantgarde meldeten sich zu Wort (darunter Ernst May, Ludwig<br />

Hilberseimer, Hugo Häring, Erich Mendelsohn, Marcel Breuer, Martin Wagner usw.).<br />

Sie alle planten sorgfältig <strong>die</strong> nächtliche Erscheinung ihrer Bauten und beschrieben sie teils, wie schon erwähnt<br />

als eine substanzlose Architektur aus Licht und Farbe. Man erhoffte sich von der Illumination eine Bereicherung<br />

und Weiterführung der Architektur, was <strong>einer</strong>seits sicherlich zutreffend war, andererseits auch zu massiver<br />

Kritik führte.<br />

Nachtansicht der Osram-Werke in der Rotherstraße, Hans Poelzig, Capitol-Kino, Nachtansicht, 1925<br />

Berlin, 1925<br />

Nachtansicht des Salamander- Geschäfts, Berlin Fritz Lang, Metropolis (1927), Nachtansicht des Neuen Turms von Babel


Am Beispiel des Umbaus der Wach- und Schließgesellschaft durch Arthur Korn in Berlin demonstrierte Hugo<br />

Häring, wie eine historistische Mietshausfassade von überflüssigem Ornament gereinigt, in ein Reklamekonzept<br />

integriert und nachts in ein abstraktes Kunstwerk verwandelt wurde. Zum Vergleich zeigte er eine der<br />

Lichtp<strong>las</strong>tiken des ungarisch/deutschen Künstlers Nikolaus Braun mit ihren versteckten Lichtquellen und einem<br />

komplexen Spiel von Farbe, Licht und Schatten.<br />

Arthur Korn, Umbau der Wach- und Schließgesellschaft, Berlin, 1926 Nikolaus Braun, Lichtp<strong>las</strong>tik,1926<br />

Walter Riezler und Ernst May machten klar, dass sich <strong>die</strong> Bemühungen in Deutschland von denen in Amerika<br />

unterscheiden sollten. May führte <strong>die</strong> Lichtreklame des New Yorker Broadways als k<strong>las</strong>sisches Gegenbeispiel an<br />

da das Auge keine Form mehr unterscheiden könne und durch <strong>die</strong> Überzahl von Leuchtelementen, sich deren<br />

Wirkung gegenseitig aufhebe. Auch <strong>die</strong> Flutlichtbeleuchtung solle man lieber den Amerikanern über<strong>las</strong>sen, sie<br />

wirke am besten, schrieben May und Riezler fast gleichlautend, „...bei Türmen und Hochhäusern, wo dann<br />

allerdings <strong>die</strong> Masse des Baues in geisterhafter Helle gegen den Nachthimmel steht. Stattdessen müsse das<br />

Bauwerk selbst in den Dienst des Lichts treten und <strong>die</strong> Flächen schaffen, „<strong>die</strong> das Licht braucht, um sich in<br />

voller Kraft zu entfalten.“ Die künstliche Beleuchtung wird hier als eine der wesentlichen formgebenden Kräfte<br />

anerkannt, sowie ein Baumaterial <strong>oder</strong> eine Funktion. May nannte konkrete Beispiele, wie etwa das<br />

`Lichtgesims` in den neuen Geschäftsbauten von Mendelsohn und den Gebrüdern Luckhardt, das er „diskret und<br />

künstlerisch von vorzüglicher Wirkung“ fand. Beide Entwürfe legten eine horizontale Fassadenteilung nahe, <strong>die</strong><br />

1928 in dem Wettbewerbsbeitrag um <strong>die</strong> Neugestaltung des Alexanderplatzes durch <strong>die</strong> Bebrüder Luckhardt<br />

weiter entwickelt wurde. Die Fassaden waren völlig in horizontale Bänder aufgelöst, um Reklameschriften und<br />

Leuchtgesimse aufnehmen zu können.<br />

Emil Schaudt (?), Wettbewerb Berlin, Alexanderplatz Nachtansicht, 1928 Gebrüder Luckhardt und Alfons Anker:<br />

. Geschäftsgebäude Berlin, 1927


Ausgewählte Beispiele<br />

- Hans u. Wassili Luckhardt mit Alfons Anker: Geschäftshausumbau Tauentzienstraße 3, Berlin, 1927<br />

Die 1925-1927 entstandene Fassade wurde einem Geschäftsbau des späten 19. Jahrhunderts vorgeblendet, das<br />

Gebäude selbst im Krieg zerstört. Für <strong>die</strong>se Fassade war <strong>die</strong> nächtliche Beleuchtung ein wichtiges formgebendes<br />

Element. Oberhalb jedes Stockwerks waren Glühbirnen hinter <strong>einer</strong> Metallblende angebracht und beleuchteten<br />

<strong>die</strong> hell verputzten Wandflächen darüber, <strong>die</strong> zum Teil Firmennamen aus großen Messingbuchstaben trugen. Die<br />

hellen Fassadenstreifen waren leicht nach vorne geneigt, um sicherzustellen, dass <strong>die</strong> Fensterbänder darüber im<br />

Dunkeln blieben und auf <strong>die</strong>se Weise <strong>die</strong> Fassade nachts ganz in eine Folge von hellen und dunklen Streifen<br />

aufgelöst wurde.<br />

Die häufig publizierte Fassade, <strong>die</strong> zahlreiche ähnliche Lösungen anregte, wurde von den Kritikern als positives<br />

Beispiel für den Einfluss der Lichtreklame auf „eine Vereinfachung und Reinigung der Fassaden, vor allem von<br />

anspruchsvollem Dekor“ angesehen.<br />

„Gerade <strong>die</strong> neuerliche Umwandlung der Geschäftsstraßen“ beweise, „dass auch <strong>die</strong> Reklame Ordnung und<br />

Gliederung, Einspannung in einen geklärten architektonischen Organismus verträgt: Sie verliert damit das<br />

Lärmende, nicht <strong>die</strong> Wirkungskraft (...).“ (Bier, 1929)<br />

Hans und Wassili Luckhardt mit Alfons Anker,<br />

Geschäftshausumbau Tauentzienstraße 3, Berlin, 1927<br />

- Erich Mendelsohn, Mitarbeit Felix Samuely: Pelzhaus C.A. Herpich u. Söhne, Berlin, 1928<br />

In den ausführlichen Debatten um Lichtarchitektur und Reklame im Deutschland der zwanziger Jahre war das<br />

Berliner Pelzhaus Herpich neben dem eben gezeigten Geschäftshaus der Gebrüder Luckhardt ein viel zitiertes<br />

Beispiel. Mendelsohns radikal m<strong>oder</strong>ne Fassade, <strong>die</strong> drei existierenden Bauten vorgeblendet wurde, bestand aus<br />

einem mit Travertin und Bronze verkleideten Stahlbetonskelett, das durch lange Fensterbänder horizontal<br />

gegliedert und auf beiden Seiten von gekurvten Erkern flankiert war. Der Bau erhielt zwei neue Dachgeschosse.<br />

Unterhalb der Fenstergesimse im Mittelteil der Fassade hatte Mendelsohn Glühbirnen in g<strong>las</strong>verkleideten<br />

Bronzerinnen untergebracht, von denen aus <strong>die</strong> hellen Travertinbänder darunter beleuchtet wurden. Auch hier<br />

wurde <strong>die</strong> Fassade so in <strong>die</strong>sem Bereich auf eine Folge von hellen und dunklen Streifen reduziert. Direkt<br />

oberhalb der Schaufenster wurde ein Schriftzug mit dem Namen der Firma über <strong>die</strong> ganze Gebäudebreite hin<br />

beleuchtet.<br />

Mendelsohns Lösung war ehr zurückhaltend und das Beleuchtungskonzept wurde bereits 1930 überarbeitet.<br />

Anstelle von Gesimsbeleuchtung im Mittelteil wurden nun Blaue Leuchtstoffröhren in allen Geschossen an der<br />

Oberkante der Fensterbänder installiert. Mendelsohns zurückhaltende Lichtgestaltungen standen in bewusstem


Kontrast zu den bunten Farbwechseln, <strong>die</strong> er bei seinem Besuch in New York 1928 gesehen hatte. Das Gebäude<br />

wurde im Zweiten Weltkrieg zerstört.<br />

Erich Mendelsohn, Mitarbeit Felix Samuely: Pelzhaus C.A.<br />

Herpich und Söhne Berlin, 1928 1930<br />

Der nächste Schritt waren <strong>die</strong> so genannten Leuchtfassaden, bei denen Panele von durchscheinendem G<strong>las</strong> von<br />

hinten beleuchtet wurden, entweder in horizontalen Streifen <strong>oder</strong> größeren Fassadenbereichen, so wie im<br />

Lichthaus Luz in Stuttgart von Richard Döcker.<br />

- Richard Döcker: Lichthaus Luz, Stuttgart, 1927<br />

Die streng horizontal ausgerichtete Fassade mit ihren großen Schaufenstern im Erdgeschoss<br />

und einem turmgleich hervortretenden Erker stand in deutlichem Kontrast zu den historisierenden<br />

Nachbarbauten. Nachts wurden <strong>die</strong> Opalg<strong>las</strong>streifen zwischen den Fenstern von hinten angestrahlt.<br />

Das Dach bekrönte das Markenzeichen des Geschäfts in zweifarbigem Neon: ein großer<br />

Stern, der sich um <strong>die</strong> eigene Achse drehte, während ein kl<strong>einer</strong>er Stern im weißen Licht<br />

oberhalb des zweiten Geschosses in <strong>die</strong> Straße ragte.<br />

Diese einfache Methode, Licht direkt in <strong>die</strong> m<strong>oder</strong>ne Fassade zu integrieren, fand in kurzer Zeit<br />

zahlreiche Nachahmer in ganz Europa und bald auch in den Vereinigten Staaten. Kritik an dem<br />

Bauwerk kam kurz nach dem Regierungsantritt der Nationalsozialisten aus der sofort gleich<br />

geschalteten Presse: „Das Lichtwerk ist der Architektur vor- und aufgesetzt. Es ist keine Lichtfassade<br />

geworden. Man müsste richtig auf das Licht hin bauen, mit dem Licht und seinen<br />

Erscheinungs- und Wirkungsmöglichkeiten denken.“ (Deutsche Bauzeitung, 1934)<br />

Mies van der Rohes Entwürfe für Kaufhäuser in Berlin und Stuttgart wandten 1928 <strong>die</strong> Idee eines völlig<br />

g<strong>las</strong>umschlossenen Baukörpers, das er zunächst für den Berliner Friedrichstraßenwettbewerb entwickelt hatte,<br />

wieder an. Mies schrieb an einen der Auftraggeber: „Am Abend ist dasselbe ein gewaltiger Lichtkörper, und Sie<br />

sind in der Anbringung von Reklame ungehindert.“<br />

Viele der engagierten Architekten sahen hier eine Weiterentwicklung der Ideen m<strong>oder</strong>ner Architektur zu <strong>einer</strong><br />

letztmöglichen Entmaterialisierung.


L. Mies van der Rohe: Entwurf für ein Hochhaus L. Mies van der Rohe: Entwurf für ein Geschäftshaus in<br />

in der Friedrichstraße, Berlin, 1921 Stuttgart, 1928: Modell mit Reklameschriften<br />

Die Zeitschrift `Die Form` fasste 1929 Widersprüche und Möglichkeiten des künstlichen Lichtes in der Debatte<br />

um <strong>die</strong> Zukunft der Architektur wie folgt zusammen: „Dieses neue Formelement, das uns das Licht bringt, fremd<br />

jeder materiellen Festigkeit und fremd aller Stabilität und organischen Gebundenheit, steht scheinbar in großem<br />

Gegensatz zu den Formenelementen, deren sich <strong>die</strong> heutige Zeit be<strong>die</strong>nt. Dennoch ist es fraglich, ob der<br />

bisherige Formbegriff, der sich nur an materiell und maßstäblich konstatierbare Werte hält, nicht von einem<br />

neuen Formbegriff ersetzt werden muss, der umfassender ist.“ Die `Bauwelt` ergänzte ein Jahr später: „Kaum<br />

eine neue Konstruktion <strong>oder</strong> ein n euer Baustoff dürfen zu finden sein, <strong>die</strong> künstlerisch so viele neue<br />

Möglichkeiten bieten und damit Aufgaben bieten wie das Licht.“


Franziska Lehmann<br />

Großformatige Werbung in der Stadt<br />

Zum Umgang mit <strong>einer</strong> sich ausbreitenden Form von Kommerzialisierung öffentlicher Räume<br />

Im öffentlichen Raum der Großstädte mehren sich seit einigen Jahren großformatige Werbeflächen. Ihr unverhohlener Anspruch<br />

auf Präsenz und Dominanz ist nicht nur einzuordnen in Branding-Strategien der Unternehmen, sondern auch in eine Zeit, in der<br />

<strong>die</strong> Kommerzialisierung öffentlicher Räume voranschreitet. Die Antworten der Städte reichen von einem weitgehenden Laisser-<br />

faire bis hin zu einem Totalverbot von Werbung im öffentlichen Raum (in São Paulo im Jahr 2007). Im Rahmen <strong>einer</strong> Dissertation<br />

am Stu<strong>die</strong>ngang Stadtplanung der HafenCity-Universität Hamburg wurde den Fragen nachgegangen, warum und wie <strong>die</strong>s zum<br />

Thema der Stadtplanung wird und welche möglichen Strategien und Steuerungsinstrumente verfügbar sind.<br />

m Zusammenhang mit der Diskussion um öffentliche<br />

IRäume werden immer wieder auch <strong>die</strong> Folgen durch<br />

Kommerzialisierung und Privatisierung thematisiert. 1 Ein<br />

sichtbares Zeichen <strong>die</strong>ser Kommerzialisierung sind unter<br />

anderem <strong>die</strong> in vielen – nicht nur europäischen – Städten<br />

immer stärker auftretenden großformatigen Werbeflächen.<br />

An Baugerüsten wird für nahezu alles geworben, was konsumiert<br />

werden kann, in <strong>einer</strong> Monumentalität, <strong>die</strong> <strong>die</strong><br />

räumliche Wirkung anderer Werbeme<strong>die</strong>n weit übersteigt<br />

(vgl. Abb. 1). Hierbei sind insbesondere auch <strong>die</strong> Fassaden<br />

herausragender, <strong>stadt</strong>prägender Gebäude für <strong>die</strong> Werbebranche<br />

interessant.<br />

Die öffentliche Hand steht hier in dem Konflikt, zum einen<br />

<strong>die</strong> öffentliche Nutzung der öffentlichen Räume und<br />

<strong>die</strong> Stadt<strong>identität</strong> insgesamt zu stärken und vor übermächtiger<br />

privater Nutzung schützen, zum anderen von dem<br />

Geld, das sich mit Werbung im öffentlichen Raum ver<strong>die</strong>nen<br />

lässt, einen Teil in <strong>die</strong> öffentlichen Kassen zu lenken.<br />

So werden inzwischen zahlreiche Sanierungen historischer<br />

Gebäude mit Werbung an den Baugerüsten finanziert, was<br />

insbesondere bei denkmalgeschützten Gebäuden immer<br />

wieder öffentliche Diskussionen auslöst. 2<br />

Insgesamt bestehen zahlreiche Bedenken und Befürchtungen,<br />

was <strong>die</strong> Folgen großformatiger Werbeflächen<br />

im öffentlichen Raum betrifft. Für einige <strong>die</strong>ser Befürchtungen<br />

<strong>las</strong>sen sich Indizien finden, andere bewegen<br />

sich im Bereich der Spekulationen und Geschmacksfragen.<br />

Hier muss bewusst sortiert und unterschieden werden,<br />

um inhaltliche und räumliche Bereiche definieren zu können,<br />

in denen aus <strong>stadt</strong>planerischer Sicht Steuerungsbedarf<br />

besteht; und auch, um Bereiche zu identifizieren, in<br />

denen Kooperationen mit der Werbebranche möglich und<br />

sinnvoll sind.<br />

Was ist großformatige Werbung?<br />

Bei großformatigen Werbeflächen sprechen wir von Werbeflächen<br />

in <strong>einer</strong> Größe ab zehn bis hin zu mehreren tausend<br />

Quadratmetern. Sie werden als temporäre Flächen an<br />

Baugerüsten angebracht <strong>oder</strong> dauerhaft in <strong>die</strong> Fassaden von<br />

Parkhäusern <strong>oder</strong> Kinos integriert, hängen an Brandwänden<br />

<strong>oder</strong> werden als freistehende Flächen <strong>oder</strong> auf Dächern<br />

installiert. Historische Gebäude und Denkmale werden genauso<br />

zu Werbeträgern wie jedes andere Gebäude. Aus Italien<br />

kommt <strong>die</strong> – inzwischen auch in Deutschland sich immer<br />

weiter verbreitende – Form der Fassadenreproduktion<br />

mit integrierter Werbefläche (vgl. Abb. 2). Maßstabssprünge<br />

und Werbung ohne jeden Bezug auf den Ort sind dabei an<br />

der Tagesordnung (vgl. Abb. 3).<br />

Zu Beginn der 1990er Jahre ermöglichten technische<br />

Entwicklungen das Bedrucken von entsprechend großen<br />

Vinylgitternetzen, so dass nur noch <strong>die</strong> Gebäudegröße der<br />

möglichen Werbeflächengröße Grenzen setzt. Neu sind<br />

allerdings nicht großformatige Werbeflächen an sich, sondern<br />

ihre weite Verbreitung und der nochmalige Sprung<br />

in der Flächendimension. Die immer größer werdenden<br />

Formate waren schon Anfang des 20. Jahrhunderts nicht<br />

nur Ergebnis technischer Entwicklungen, sondern passten<br />

sich auch der gestiegenen Mobilität (Wahrnehmungen von<br />

Werbereizen im öffentlichen Raum auch bei schnellerer<br />

Fortbewegung) und den Änderungen der Kommunikationsformen<br />

im öffentlichen Raum (z. B. Lichtwerbung) an.<br />

Schon zu <strong>die</strong>ser Zeit wurden erstmals Größen erreicht, wie<br />

wir sie heute von Riesenpostern kennen (z. B. 1929: Lichtwerbeanlage<br />

am Kurfürstendamm mit 6.000 Glühbirnen auf<br />

360 m2). Die seit Ende des 19. Jahrhunderts aufkommenden<br />

Markenunternehmen waren dabei <strong>die</strong> Nachfrager der neuen,<br />

spektakulären und teuren Werbeformen (vgl. Reinhardt<br />

1993).<br />

Der Zyklus bei vielen neuen Werbeformen der vergangenen<br />

gut hundert Jahre ist immer ähnlich: Es kommt<br />

eine neue, spektakuläre Form auf, es gibt öffentliche Diskussionen<br />

und Ablehnung. Dann folgen Reaktionen der öffentlichen<br />

Hand – Steuerungsversuche, unter anderem durch<br />

rechtliche Regelungen, <strong>die</strong> jedoch häufig uneindeutig sind<br />

und zu Problemen und Prozessen führen. Schließlich gibt<br />

es ein „Einpendeln“, das heißt entweder verschwindet <strong>die</strong><br />

Werbeform <strong>oder</strong> sie etabliert sich auf einem Mengenmaß,<br />

das von den rechtlichen Regelungen ebenso abhängt wie<br />

von der Akzeptanz <strong>die</strong>ser Werbeform – und dem Aufkommen<br />

wieder neuer Werbeformen.


Großformatige Werbung in der Stadt - Lehmann<br />

Abb. 1: Hochhauswerbung am Alexanderplatz, Berlin 2004 [Foto: Anne<br />

Taubert]<br />

Abb. 2: Gebäudesimulation am Potsdamer Platz, Berlin 2007 [Foto:<br />

Franziska Lehmann]<br />

Abb. 3: Maßstabssprünge, Hackescher Markt, Berlin 2004 [Foto: Franziska<br />

Lehmann]<br />

Werbung im öffentlichen<br />

Raum als Unternehmensstrategie<br />

Werbung an sich hat simulativen Charakter. Dies wird mit<br />

dem „Branding“ verstärkt und besonders deutlich: Branding<br />

meint <strong>die</strong> professionelle Entwicklung von Markennamen.<br />

Konkret führt das z. B. dazu, dass im Jahr 2000 – laut<br />

Financial Times – der Markenname Coca Cola 60 % des Unternehmenswertes<br />

ausmachte (vgl. Lehmann/Ache 2004).<br />

Was da so viel wert ist, ist letztlich nichts Reales. Branding<br />

ist sowohl Voraussetzung als auch Mittel für das Eindringen<br />

der Marken in zahlreiche Lebensbereiche (unter anderem<br />

Me<strong>die</strong>n, Sport, Schulen, Universitäten) und eben auch in<br />

<strong>die</strong> öffentlichen Räume der Stadt, wie es Naomi Klein (vgl.<br />

Klein 2002) beschreibt. Werbung ist im öffentlichen Raum<br />

dadurch Teil <strong>einer</strong> Vielzahl von fiktiven, simulierenden Elementen.<br />

Diese können in ihrer Verdichtung dazu führen,<br />

dass <strong>die</strong> Identität eines Ortes dahinter verschwindet. Sie<br />

können auch bewusst dazu genutzt werden zu verbergen,<br />

dass <strong>die</strong> Identität des Ortes verloren gegangen ist. 3<br />

Die Werbetreibenden beabsichtigen dabei nicht nur, <strong>die</strong><br />

potenziellen Konsument/inn/en durch Größe zu beeinflussen,<br />

sondern sie wollen teilweise das Image des Ortes direkt<br />

mit dem der Marke verknüpfen. Das Raumerlebnis soll<br />

zum Markenerlebnis werden. Hierfür eignen sich vor allem<br />

jene öffentlichen Räume, <strong>die</strong> in besonderem Maße bekannt<br />

und besucht sind – und von daher auch für Image und<br />

Identität <strong>einer</strong> Stadt eine große Rolle spielen. Dann kann<br />

der Ort der Werbung zum Thema der Werbung werden, wie<br />

z. B. bei der Sanierung des Brandenburger Tors (Berlin 2002)<br />

<strong>oder</strong> des Bavaria-Denkmals (München 2002). Was für <strong>die</strong>se<br />

Räume noch unbewiesen ist – ein Einfluss der Werbung –,<br />

ist für andere öffentliche Räume, nämlich für Rundfunk und<br />

Fernsehen, in der so genannten „6. Rundfunkentscheidung“<br />

vom Bundesverfassungsgericht im Jahr 1990 anerkannt<br />

worden: Die Existenz von Werbung beeinflusst das redaktionelle<br />

Umfeld. 4<br />

Der öffentliche Raum in der Stadt ist dabei – gerade weil<br />

er gemeinsam, also allgemein zugänglich ist – für <strong>die</strong> Werbung<br />

von besonderem Interesse: „Draußen kriegen Sie alle.“<br />

formulierte eine Werbeagentur auf ihren Internetseiten. Sie<br />

kriegen alle – und überall: Gerade <strong>die</strong> Produktwerbung, <strong>die</strong><br />

nicht auf den Ort eingeht, findet sich heute nicht nur in den<br />

verschiedenen Me<strong>die</strong>n, sondern auch in den verschiedenen<br />

Städten und Ländern wieder. Vodafone beispielsweise grüßt<br />

– egal ob in Rom (vgl. Abb. 4) <strong>oder</strong> Thessaloniki, ob in Tokio<br />

<strong>oder</strong> Jakarta – in der gleichen, vertrauten Art.<br />

Standorte und Kosten<br />

großformatiger Werbung<br />

Ein möglicher Bezugsrahmen für eine genauere quantitative<br />

und qualitative Auseinandersetzung mit großformatiger<br />

Werbung ergibt sich aus den Ergebnissen von vier empi-


Abb. 4: Ubiquitäre Werbung - hier an der Piazza di Trevi in Rom [Foto:<br />

Ströer Megaposter GmbH]<br />

rischen Untersuchungen 5 (vgl. Lehmann/Ache 2004). Zentrale<br />

Ergebnisse <strong>die</strong>ser Erhebungen <strong>las</strong>sen sich wie folgt<br />

zusammenfassen:<br />

Große Stadt – große Werbung: Großformatige Werbung<br />

ist ein Groß<strong>stadt</strong>phänomen: 80 % aller erfassten Standorte<br />

liegen in den zwölf deutschen Städten mit mehr als<br />

500.000 Einwohnern. Schließlich ist <strong>die</strong> Menge derjenigen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> Werbung wahrnehmen können, zentrales Bewertungskriterium<br />

der Werbebranche für ihre Standorte. 7 Die<br />

durchschnittliche Größe der erfassten Werbeflächen liegt<br />

bei 150 m2, <strong>die</strong> maximale Größe bei ca. 1.000 m2.<br />

Standorttypen: Hauptzielgruppe großformatiger Werbung<br />

sind <strong>die</strong> Teilnehmer/innen des motorisierten Verkehrs,<br />

<strong>die</strong> Innenstädte <strong>die</strong> begehrten Standorte. Besonders häufig<br />

sind zum einen Standorte, deren „Standortgunst“ insbesondere<br />

in dichtem Autoverkehr und Staus <strong>oder</strong> Wartezeiten<br />

an Ampeln und Kreuzungen liegt. Zum anderen (und teilweise<br />

in räumlicher Überlagerung) lässt sich ein Schwerpunkt<br />

für Innenstädte und Innen<strong>stadt</strong>randlagen erkennen,<br />

der auch wieder mit der Menge der potenziell erreichbaren<br />

Konsument/inn/en zusammenhängt. Dies sind nicht <strong>die</strong><br />

Bereiche, <strong>die</strong> bei der Befragung von den Städten als besonders<br />

geeignete Standorte benannt wurden.<br />

Kosten: Großformatige Werbung ist nur scheinbar teuer:<br />

Die Preise für <strong>die</strong> erfassten Standorte liegen pro Monat –<br />

abhängig von Standort und Größe – zwischen 10.000 € und<br />

195.000 € (vgl. Lehmann 2008). Vom Zentralverband der<br />

deutschen Werbewirtschaft (ZAW) werden <strong>die</strong> Nettoumsätze<br />

der Außenwerbung für Riesenposter im Jahr 2004<br />

mit 31,19 Mio. € angegeben (vgl. ZAW 2005: 338). An <strong>die</strong><br />

öffentliche Hand gehen Gebühren für Baugenehmigungen<br />

und Sondernutzungserlaubnisse. Weitere Einnahmen für<br />

<strong>die</strong> öffentliche Hand sind nur möglich, sofern es sich um<br />

Gebäude <strong>oder</strong> Denkmale im öffentlichen Eigentum handelt.<br />

Zum Vergleich: Im Jahr 2004 lagen <strong>die</strong> Nettoumsätze der<br />

Werbung insgesamt bei 19,28 Mrd. €; <strong>die</strong> Investitionen in<br />

Werbung lagen bei 29,22 Mrd. €. Vergleicht man <strong>die</strong> Kosten<br />

für großformatige Werbung z. B. mit denen von Anzeigen<br />

Lehmann - Großformatige Werbung in der Stadt<br />

in Tageszeitungen, wird deutlich, dass großformatige Werbung<br />

zwar viel Geld kostet, im Vergleich aber nur scheinbar<br />

teuer ist: In Bremen war ein Jahr lang statt der Renaissance-<br />

Fassade des Rathauses eine überdimensionale Schokoladenreklame<br />

zu sehen, <strong>die</strong> Verhüllung wurde zum Event (vgl.<br />

Abb. 5). Die Stadt erhielt dafür vom Unternehmen umgerechnet<br />

ca. 51.000 € und 1.000 Malkästen für Bremer Schulkinder<br />

– also etwa 4.250 € pro Monat (zum Vergleich: eine<br />

einmalige ganzseitige Anzeige in der örtlichen Tageszeitung<br />

– Auflage 170.000 – kostet heute ca. 20.000 €). 6<br />

Politischer und planerischer<br />

Umgang mit großformatiger Werbung<br />

„Das meiste von dem, was hängt, hängt ungenehmigt.“ Diese<br />

Äußerung eines Sachbearbeiters eines Bauordnungsamtes<br />

ist mit Sicherheit übertrieben, hat jedoch einen wahren<br />

Kern: In vielen Städten gibt es Unstimmigkeiten innerhalb<br />

der Verwaltung und zwischen Verwaltung und Politik. So<br />

wurde z. B. an einem Hochhaus am Berliner Ernst-Reuter-<br />

Platz eine großformatige Werbung vom damaligen Bausenator<br />

genehmigt, nachdem <strong>die</strong> zuständige Verwaltung <strong>die</strong><br />

Genehmigung versagt hatte. Auch werden in vielen Städten<br />

Baugerüste zuweilen nur aufgestellt, um als Werbeträger<br />

zu <strong>die</strong>nen, <strong>oder</strong> Bauzeiten werden künstlich verlängert,<br />

um höhere Werbeeinnahmen zu erzielen.<br />

Zur Steuerung stehen den Städten Instrumente aus vier<br />

rechtlichen Bereichen zur Verfügung: Im Bauordnungsrecht<br />

sind <strong>die</strong>s <strong>die</strong> Baugenehmigung und <strong>die</strong> örtliche Bauvorschrift.<br />

Im Planungsrecht sind es vor allem <strong>die</strong> Möglichkeiten,<br />

im Bebauungsplan Festsetzungen über Werbung zu<br />

treffen. Bei Gebäuden <strong>oder</strong> Ensembles, <strong>die</strong> unter Denkmalschutzrecht<br />

fallen, ist eine denkmalschutzrechtliche Genehmigung<br />

erforderlich. Bei Straßen, <strong>die</strong> dem öffentlichen Verkehr<br />

gewidmet sind, muss eine Sondernutzungserlaubnis<br />

nach Straßen- und Wegerecht eingeholt werden. Lediglich<br />

das Planungsrecht ist dabei Bundesrecht, <strong>die</strong> drei anderen<br />

Bereiche werden in den jeweiligen landesrechtlichen Bestimmungen<br />

geregelt.<br />

Abb. 5: Schokoladenreklame statt Renaissancefassade, Bremen 2002<br />

[Foto: Franziska Lehmann]


Großformatige Werbung in der Stadt - Lehmann<br />

Abb. 6: Umgang der Städte mit großformatiger Werbung [eigene Darstellung]<br />

Die Städte steuern im Allgemeinen ausgehend von<br />

<strong>einer</strong> mehr <strong>oder</strong> weniger freiwillig akzeptierenden Haltung<br />

mit Genehmigungen und Einschränkungen – etwa<br />

räumlichen und zeitlichen Einschränkungen <strong>oder</strong> auch Beschränkungen<br />

der Werbeformen. Unterschiede zwischen<br />

den Städten gibt es im Grad der Aktivität und in der Grundhaltung<br />

gegenüber Werbung (vgl. Abb. 6).<br />

Fallstu<strong>die</strong>n in München, Frankfurt am Main und Berlin<br />

(vgl. Lehmann 2008) zeigen, dass es in <strong>die</strong>sen Städten<br />

<strong>einer</strong>seits einen hohen Aktivitätsgrad im Bereich großformatiger<br />

Werbung gibt, andererseits aber unterschiedliche<br />

Grundhaltungen und Strategien des Umgangs damit. Tendenziell<br />

kann man für <strong>die</strong> drei Städte unterscheiden:<br />

Die eher restriktive Grundhaltung gegenüber großformatiger<br />

Werbung in München ist ebenso vor dem Hintergrund<br />

<strong>einer</strong> hohen Wertschätzung des „schützenswerten historischen<br />

Stadtbildes“ wie vor <strong>einer</strong> vergleichsweise günstigen<br />

Haushaltssituation der Stadt zu sehen. Werbung an<br />

Baugerüsten bei der Sanierung historischer Gebäude wird<br />

unkritisch gesehen, so spielten Werbeeinnahmen bei vielen<br />

Sanierungen in der Ludwigstraße eine entscheidende Rolle.<br />

In Frankfurt am Main bewegt man sich mit <strong>einer</strong> akzeptierenden<br />

Haltung im Mittelfeld der untersuchten Städte.<br />

Grundlage des Handelns ist hier ein erarbeitetes Konzept<br />

zu Werbung im öffentlichen Raum.<br />

Auch in Berlin prägt <strong>die</strong> Haushaltslage der Stadt den Umgang<br />

mit Werbung im öffentlichen Raum, wenn auch in anderer<br />

Art als in München: Berlin hat „kein Geld“ und große<br />

Sorge, als Wirtschaftsstandort attraktiv zu bleiben. Gleichzeitig<br />

ist der Druck auf <strong>die</strong> Berliner Innen<strong>stadt</strong>bezirke von<br />

Seiten der Werbung offenbar hoch. Berlins offensive Haltung<br />

gegenüber Werbung im öffentlichen Raum zeigt sich deutlich<br />

in der Novellierung der Landesbauordnung von 2005:<br />

Seither gilt temporäre Werbung grundsätzlich nicht mehr<br />

als verunstaltend; Werbung auf öffentlichem Straßengrund<br />

sowie Werbung, <strong>die</strong> der Finanzierung von Bauvorhaben<br />

der öffentlichen Hand <strong>die</strong>nt, wird privilegiert.<br />

Steuerungen der bezirklichen Verwaltungen,<br />

<strong>die</strong> <strong>die</strong> offensive Grundhaltung nicht immer<br />

teilen, sind demgegenüber kaum durchsetzungsfähig.<br />

Zusammenfassend <strong>las</strong>sen sich auf der Grundlage<br />

<strong>die</strong>ser Fallstu<strong>die</strong>n folgende Aussagen treffen:<br />

Die vorhandenen formellen und informellen<br />

Steuerungsinstrumente ermöglichen eine<br />

Bandbreite kommunalen Handelns, nicht zuletzt<br />

durch <strong>die</strong> unterschiedliche Ausgestaltung<br />

landesrechtlicher Regelungen. Hierbei sind<br />

Entwicklungen, <strong>die</strong>se rechtlichen Steuerungsmöglichkeiten<br />

aus der Hand zu geben (Beispiel:<br />

Landesbauordnungen von Berlin, Hamburg und<br />

Bremen), skeptisch zu beurteilen. Strategien gleich welcher<br />

Art können mit fortschreitender Deregulierung bzw. Liberalisierung<br />

nicht mehr aktiv gestaltet werden.<br />

Schädlich für jedwede Strategie ist es offensichtlich, wenn<br />

keine gemeinsame Linie verfolgt wird. Auch <strong>die</strong> Werbetreibenden<br />

kritisieren häufig <strong>die</strong> Undurchschaubarkeit und<br />

geringe Verlässlichkeit, <strong>die</strong> dadurch entsteht. Wenn in <strong>einer</strong><br />

Stadt sich „immer jemand findet, der genehmigt“, kann von<br />

Steuerung kaum <strong>die</strong> Rede sein.<br />

Die teilweise vollmundigen Konzepte zum Umgang mit<br />

öffentlichen Räumen finden sich in der alltäglichen Genehmigungspraxis<br />

großformatiger Werbeanlagen genauso wenig<br />

wieder wie grundsätzliche Überlegungen zur Kommerzialisierung<br />

öffentlicher Räume <strong>oder</strong> zur Verbreitung des<br />

Branding in verschiedenen Bereichen (vgl. Abb. 7).<br />

Die zentrale Bedeutung informeller Instrumente wird in<br />

allen drei Städten betont. Hierbei geht es zum einen um Organisation<br />

und Kommunikation innerhalb der Verwaltung<br />

und mit den Werbetreibenden, zum anderen um Konzepte<br />

des Umgangs mit großformatiger Werbung, <strong>die</strong> Einheitlichkeit<br />

und Verlässlichkeit fördern.<br />

Abb. 7: Großformatige Werbung soll nicht in Sichtachsen liegen<br />

(Grundsatzempfehlung zu Baugerüstwerbung an Berliner Denkmalen),<br />

Charlottenburger Tor, Berlin 2005 [Foto: Franziska Lehmann]


Großformatige Werbung<br />

aus Sicht der Stadtplanung<br />

An <strong>die</strong>ser Stelle soll nicht abgewogen <strong>oder</strong> gar entschieden<br />

werden, ob eine eher restriktive <strong>oder</strong> offensive Strategie gewählt<br />

werden soll, da <strong>die</strong>s von Stadt zu Stadt unterschiedlich<br />

diskutiert und entschieden werden kann. Mögliche<br />

Argumente für und wider großformatige Werbung können<br />

aus Sicht der Stadtplanung nach drei Kategorien unterschieden<br />

werden: prinzipiell, ökonomisch und rechtlich gesehen.<br />

Nicht unerwähnt bleiben darf auch <strong>die</strong> individuelle<br />

Sicht auf großformatige Werbung.<br />

Grundsätzlich gilt: Werbung ist ein akzeptierter Teil unseres<br />

Wirtschaftssystems. Großformatige Werbung kann<br />

– bei entsprechender gestalterischer Qualität – dazu beitragen,<br />

einen Raum in Wert zu setzen. Aber gleichzeitig gilt<br />

auch, dass großformatige Werbung zur Verringerung von<br />

Dauerhaftigkeit im öffentlichen Raum und zur Erschwerung<br />

von Identifikation beiträgt. Sie ist Teil der Zeichenüberflutung<br />

und private Meinungsäußerungen bekommen gegenüber<br />

Allgemeininteressen ein visuelles Übergewicht, öffentliche<br />

Räume werden als Träger von Konsum markiert.<br />

Ökonomisch gesehen gilt: Die Finanzierung von Gebäudesanierungen<br />

wird möglich. Städte können durch Sondernutzungsgebühren<br />

Einnahmen erzielen. Ein wirtschaftsfreundliches<br />

Klima soll auch im Werbebereich deutlich werden.<br />

Aber gleichzeitig gilt auch, dass durch <strong>die</strong> hohen Kosten <strong>die</strong>ser<br />

Werbeform überlokal <strong>oder</strong> global agierende Unternehmen<br />

gegenüber dem lokalen Mittelstand im Vorteil sind.<br />

Rechtlich betrachtet gilt: Auch großformatige Werbung<br />

ist im Grundsatz gedeckt von der Meinungs- und Gewerbefreiheit.<br />

Aber gleichzeitig können rechtliche Bestimmungen<br />

dazu führen, dass großformatige Werbung in bestimmten<br />

Gebieten <strong>oder</strong> in Einzelfällen nicht <strong>oder</strong> nur eingeschränkt<br />

zulässig ist.<br />

Individuelle Bewertungen beruhen auf dem persönlichen<br />

Geschmack, dem Gefallen <strong>oder</strong> Missfallen an solchen Werbeflächen.<br />

Die im persönlichen Rahmen getroffene Feststellung<br />

: „Es gefällt mir!“ <strong>oder</strong> eben: „Es gefällt mir nicht!“ mag<br />

banal sein, doch letztendlich geht es oft um genau <strong>die</strong>s.<br />

Natürlich sind <strong>die</strong> individuellen Ansichten von den vorher<br />

genannten Argumenten und Aspekten geprägt, aber es<br />

besteht <strong>die</strong> begründete Vermutung, dass Geschmacksfragen<br />

eine große Rolle spielen. Solange das so ist, ist es<br />

sehr schwer, <strong>die</strong> an sich sowohl von den Städten als auch<br />

von der Werbewirtschaft als Ziel formulierte Eindeutigkeit,<br />

Gleichbehandlung und Berechenbarkeit zu erreichen.<br />

Dem gegenüber stünde ein konzeptioneller Umgang mit<br />

(großformatiger) Werbung. Ein solcher konzeptioneller<br />

Umgang umfasst dabei nicht nur Aussagen zu Standorteignungen<br />

und Werbeformen und -trägern, wie sie auch<br />

Teil bestehender Konzepte (in Frankfurt/Main und Braun-<br />

Lehmann - Großformatige Werbung in der Stadt<br />

Abb. 8: Projektion auf <strong>die</strong> Siegessäule, Berlin 2004 [Foto: Nils Leiser]<br />

schweig) sind, sondern setzt sich darüber hinaus auseinander<br />

mit den Bereichen der Organisation (innerhalb der<br />

Verwaltung, um Eindeutigkeit und Einheitlichkeit des Handelns<br />

zu gewährleisten), mit der Kommunikation mit der<br />

Werbewirtschaft, mit den rechtlichen und finanziellen Rahmenbedingungen.<br />

Ausblick und Empfehlungen<br />

Auch das, was wir heute als großformatige Werbeflächen,<br />

Riesenposter, Blow ups kennen, ist nur eine Phase der<br />

Entwicklung. Neue Technologien führen zu neuen Werbeformen:<br />

Einen Hinweis gab eine – ungenehmigte – Aktion<br />

in Berlin, in der im Jahr 2004 in <strong>einer</strong> Nacht auf <strong>die</strong> Siegessäule,<br />

den Fernsehturm und das Brandenburger Tor entsprechende<br />

Werbemotive projiziert wurden (vgl. Abb. 8).<br />

Die Presseberichte waren umfangreich und bebildert, <strong>die</strong><br />

Stadt erließ einen Bußgeldbescheid – und ärgerte sich,<br />

dass sie hierfür noch keine Gebührenordnung hat. Zudem<br />

müssen auch <strong>die</strong> Steuerungsinstrumente reagieren: Großbildprojektionen<br />

sind in der Regel keine baulichen Anlagen,<br />

womit eine ganze Reihe der Steuerungsinstrumente<br />

entfällt: So wird im Jahr 2006 im Internet damit geworben,<br />

dass Werbung nun auch in attraktiven Bereichen möglich<br />

ist, in denen bisher nicht geworben werden konnte. 8<br />

Aus den verschiedenen theoretischen und empirischen<br />

Untersuchungen zu großformatiger Werbung <strong>las</strong>sen sich<br />

folgende Empfehlungen formulieren:


Großformatige Werbung in der Stadt - Lehmann<br />

– Notwendig ist ein bewusster, umfassend konzeptioneller<br />

Umgang: Dann ist eine offensive Strategie mehr als Deregulierung<br />

und Wahllosigkeit und eine restriktive Strategie<br />

mehr als Wirtschaftsfeindlichkeit.<br />

– Konzepte zum Umgang mit Werbung im öffentlichen<br />

Raum müssen eingeordnet werden in grundsätzliche<br />

Überlegungen zum öffentlichen Raum und zum Branding.<br />

– Vorhandene rechtliche Steuerungsinstrumente müssen erhalten<br />

und ggf. angepasst und nicht aufgegeben werden.<br />

– Die Möglichkeiten informeller Instrumente müssen genutzt<br />

und ausgebaut werden, um dadurch Eindeutigkeit<br />

und Verlässlichkeit erreichen zu können und in Kooperation<br />

mit der Werbebranche, kreative, auf Orte angepasste<br />

Lösungen zu finden.<br />

Insgesamt bleibt Werbung im öffentlichen Raum für <strong>die</strong><br />

Stadtplanung kein leichtes Thema, denn ihre Wirkung bleibt<br />

schwer greifbar, wie abschließend in einem Zitat von Walter<br />

Benjamin deutlich wird (Benjamin 1928/1972: 131 f.): „Was<br />

macht zuletzt Reklame der Kritik so überlegen? Nicht, was<br />

<strong>die</strong> rote elektrische Leuchtschrift sagt – <strong>die</strong> Feuerlache, <strong>die</strong><br />

auf dem Asphalt sie spiegelt.“<br />

Anmerkungen<br />

1 Die zahlreichen vorhandenen Ansätze zu Begriffsbestimmungen<br />

von „öffentlich“ und „öffentlichem Raum“ stecken ein<br />

weites Feld ab und sind geprägt von zahlreichen Missverständnissen.<br />

Ein Grund hierfür ist <strong>die</strong> parallele Existenz von normativen<br />

und deskriptiven Ansätzen zu Begriffsbestimmungen: Wird<br />

der Begriff normativ gesetzt, kann er als „Messlatte“ <strong>die</strong>nen,<br />

und es kann in Bezug auf bestimmte Zeiten von Zerfall <strong>oder</strong><br />

Verlust des Öffentlichen gesprochen werden. Dies geht nicht,<br />

wenn man den Begriff des „Öffentlichen“ selber als im Lauf der<br />

Zeit veränderbar begreift, ihn deskriptiv verwendet. Zwischen<br />

beiden Begriffsverständnissen kann keine Einigkeit erzielt werden,<br />

da sie von völlig anderen Grundvoraussetzungen ausgehen.<br />

Noch komplexer wird es, wenn nicht der Begriff des „Öffentlichen“,<br />

sondern der des „öffentlichen Raumes“ betrachtet<br />

wird. Es scheint sich immer wieder zu bestätigen, dass eine Begriffsbestimmung<br />

nur in Zusammenhang mit ihrem Anwendungszweck<br />

möglich und zu sehen ist (vgl. hierzu auch Selle<br />

2002: 40).<br />

2 Entsprechende Zeitungsartikel tragen Titel wie: „Ausgewitzelt<br />

– Das Brandenburger Jux-Tor“ (Die Zeit 2002), „Denkmal unter<br />

Werbung“ (Frankfurter Rundschau 2003), „Werbung ist <strong>die</strong><br />

erste Bürgerpflicht“ (<strong>die</strong> tageszeitung 2005) <strong>oder</strong> „Lukrative<br />

Sache für Hausbesitzer – öffentliche Reklame an Baugerüsten“<br />

(Süddeutsche Zeitung 2006).<br />

3 Vgl. hierzu unter anderem <strong>die</strong> Untersuchungen von Christine<br />

Boyer (2001) zum Times Square <strong>oder</strong> <strong>die</strong> Ausführungen von<br />

Dieter Hassenpflug (2000) zu <strong>einer</strong> „Orteindustrie“ .<br />

4 Für den Bereich der Presse stellt Jürgen Habermas in seinem<br />

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ dar, wie das Medium selbst<br />

sich durch <strong>die</strong> Anforderungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Werbung stellt, ändert<br />

(vgl. Habermas 1962).<br />

5 Folgende empirische Untersuchungen wurden durchgeführt: 1.<br />

Aufbau <strong>einer</strong> Standortdatenbank mit ca. 600 Standorten aufgrund<br />

von Agenturangaben; 2. Befragung aller 40 deutschen<br />

Städte über 200.000 Einwohner/innen in Zusammenarbeit mit<br />

dem Deutschen Städtetag, der Rücklauf lag bei 72 %, also 29<br />

Städten; 3. Befragung ausgewählter Unternehmen der Werbewirtschaft<br />

(Complac, DSM Megaposter, Fubac, plakativ, Poster-<br />

Network. Fachverband Außenwerbung, Gesamtverband Kommunikationsagenturen,<br />

Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft);<br />

4. Vertiefende Fallstu<strong>die</strong>n in drei deutschen Städten<br />

und ergänzend in Zürich. Zu den Ergebnissen der ersten drei<br />

Untersuchungen vgl. Lehmann/Ache 2004; zu den Fallstu<strong>die</strong>n<br />

vgl. Lehmann 2008.<br />

6 Unberücksichtigt bleiben bei <strong>die</strong>ser Betrachtung <strong>die</strong> Kostenvorteile,<br />

<strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Kommune bei solchen Projekten ggf. aus der Gestellung<br />

von Baugerüsten durch das werbende Unternehmen ergeben.<br />

7 OSCAR (Outdoor Site C<strong>las</strong>sification and Au<strong>die</strong>nce Research)<br />

– ein aus England übernommenes System zur Bewertung von<br />

Außenwerbung<br />

8 Ein weiteres Beispiel für <strong>die</strong> Rolle neuer Technologien ist ein Plakat,<br />

das man anrufen bzw. dem man eine SMS schicken konnte.<br />

Daraufhin versprühte <strong>die</strong> abgebildete Dusche fünf Sekunden<br />

lang einen lebensfrohen Wasserstrahl. Da alles per WebCam<br />

aufgezeichnet wurde, war es möglich, den durch <strong>die</strong> eigene<br />

SMS hervorgerufenen Wasserstrahl im Internet anzusehen.<br />

Literatur<br />

Benjamin, W.: Einbahnstraße. In: Rexroth, T. (Hg.): Walter Benjamin<br />

– Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt a. M. 1972, S. 83 ff.<br />

Boyer, M. C.: Twice-Told Stories: The Double Erasure of Times Square.<br />

In: Borden et. al. (Hg.): The unknown city, S. 30-52, Cambridge/<br />

MA 2001<br />

Bundesverfassungsgericht: BVerfG 83.238, Rd. 441, zitiert<br />

nach: www.oefre.unibe.ch/law/dfr/index.html [Zugriff am<br />

19.01.2006]<br />

<strong>die</strong> tageszeitung: Werbung ist <strong>die</strong> erste Bürgerpflicht, von Giuseppe<br />

Pitronaci, 23.11.2005<br />

Die Zeit: Ausgewitzelt. Das Brandenburger Jux-Tor, von Hanno Rauterberg,<br />

02.10.2002<br />

Frankfurter Rundschau: Denkmal unter Werbung. Nicht umsonst<br />

bezahlen Firmen Sanierungen, von Susanne Balthasar,<br />

26.11.2003<br />

Habermas, J.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen<br />

zu <strong>einer</strong> Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Suhrkamp<br />

Verlag Frankfurt a. M. 1962 (Reprint 1990)<br />

Hassenpflug, D.: Die Theatralisierung des öffentlichen Raumes. In:<br />

Thesis, Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität<br />

Weimar. Internationales Bauhaus-Kolloquium, Jg. 45 (2000), H.<br />

4/5, S. 70-79<br />

Klein, N.: No logo. Der Kampf der Global Players um Martmacht.<br />

Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenig Gewinnern. München<br />

2002<br />

Lehmann, F.: Public Space – Public Relations. Großformatige Werbung<br />

als ein Beispiel des Umgangs mit öffentlichen Räumen.<br />

Schriftenreihe der Stiftung Lebendige Stadt, Bd. 6. Frankfurt<br />

a. M. 2008 (im Druck)<br />

Lehmann, F./Ache, P.: Branded Spaces – Werbung im öffentlichen<br />

Raum. In: disp 159 (2004), S. 20-30<br />

Reinhardt, D.: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der<br />

Wirtschaftswerbung in Deutschland. Berlin 1993<br />

Selle, K. (Hg.): Was ist los mit den öffentlichen Räumen? Analysen,<br />

Positionen, Konzepte. Dortmund 2002<br />

Süddeutsche Zeitung: Lukrative Sache für Hausbesitzer – öffentliche<br />

Reklame an Baugerüsten,von Gudrun Pasarge, 13.01.2006<br />

ZAW (Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft): Werbung in<br />

Deutschland 2005. Bonn 2005<br />

Dr. Franziska Lehmann, Dipl.-Ing. Raumplanung, Mitinhaberin<br />

des Planungsbüros proloco – Stadt und Region, Planung<br />

und Entwicklung, Bremen (www.proloco-bremen.de).


Großformatige Werbung in der Stadt - Lehmann<br />

– Notwendig ist ein bewusster, umfassend konzeptioneller<br />

Umgang: Dann ist eine offensive Strategie mehr als Deregulierung<br />

und Wahllosigkeit und eine restriktive Strategie<br />

mehr als Wirtschaftsfeindlichkeit.<br />

– Konzepte zum Umgang mit Werbung im öffentlichen<br />

Raum müssen eingeordnet werden in grundsätzliche<br />

Überlegungen zum öffentlichen Raum und zum Branding.<br />

– Vorhandene rechtliche Steuerungsinstrumente müssen erhalten<br />

und ggf. angepasst und nicht aufgegeben werden.<br />

– Die Möglichkeiten informeller Instrumente müssen genutzt<br />

und ausgebaut werden, um dadurch Eindeutigkeit<br />

und Verlässlichkeit erreichen zu können und in Kooperation<br />

mit der Werbebranche, kreative, auf Orte angepasste<br />

Lösungen zu finden.<br />

Insgesamt bleibt Werbung im öffentlichen Raum für <strong>die</strong><br />

Stadtplanung kein leichtes Thema, denn ihre Wirkung bleibt<br />

schwer greifbar, wie abschließend in einem Zitat von Walter<br />

Benjamin deutlich wird (Benjamin 1928/1972: 131 f.): „Was<br />

macht zuletzt Reklame der Kritik so überlegen? Nicht, was<br />

<strong>die</strong> rote elektrische Leuchtschrift sagt – <strong>die</strong> Feuerlache, <strong>die</strong><br />

auf dem Asphalt sie spiegelt.“<br />

Anmerkungen<br />

1 Die zahlreichen vorhandenen Ansätze zu Begriffsbestimmungen<br />

von „öffentlich“ und „öffentlichem Raum“ stecken ein<br />

weites Feld ab und sind geprägt von zahlreichen Missverständnissen.<br />

Ein Grund hierfür ist <strong>die</strong> parallele Existenz von normativen<br />

und deskriptiven Ansätzen zu Begriffsbestimmungen: Wird<br />

der Begriff normativ gesetzt, kann er als „Messlatte“ <strong>die</strong>nen,<br />

und es kann in Bezug auf bestimmte Zeiten von Zerfall <strong>oder</strong><br />

Verlust des Öffentlichen gesprochen werden. Dies geht nicht,<br />

wenn man den Begriff des „Öffentlichen“ selber als im Lauf der<br />

Zeit veränderbar begreift, ihn deskriptiv verwendet. Zwischen<br />

beiden Begriffsverständnissen kann keine Einigkeit erzielt werden,<br />

da sie von völlig anderen Grundvoraussetzungen ausgehen.<br />

Noch komplexer wird es, wenn nicht der Begriff des „Öffentlichen“,<br />

sondern der des „öffentlichen Raumes“ betrachtet<br />

wird. Es scheint sich immer wieder zu bestätigen, dass eine Begriffsbestimmung<br />

nur in Zusammenhang mit ihrem Anwendungszweck<br />

möglich und zu sehen ist (vgl. hierzu auch Selle<br />

2002: 40).<br />

2 Entsprechende Zeitungsartikel tragen Titel wie: „Ausgewitzelt<br />

– Das Brandenburger Jux-Tor“ (Die Zeit 2002), „Denkmal unter<br />

Werbung“ (Frankfurter Rundschau 2003), „Werbung ist <strong>die</strong><br />

erste Bürgerpflicht“ (<strong>die</strong> tageszeitung 2005) <strong>oder</strong> „Lukrative<br />

Sache für Hausbesitzer – öffentliche Reklame an Baugerüsten“<br />

(Süddeutsche Zeitung 2006).<br />

3 Vgl. hierzu unter anderem <strong>die</strong> Untersuchungen von Christine<br />

Boyer (2001) zum Times Square <strong>oder</strong> <strong>die</strong> Ausführungen von<br />

Dieter Hassenpflug (2000) zu <strong>einer</strong> „Orteindustrie“ .<br />

4 Für den Bereich der Presse stellt Jürgen Habermas in seinem<br />

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ dar, wie das Medium selbst<br />

sich durch <strong>die</strong> Anforderungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Werbung stellt, ändert<br />

(vgl. Habermas 1962).<br />

5 Folgende empirische Untersuchungen wurden durchgeführt: 1.<br />

Aufbau <strong>einer</strong> Standortdatenbank mit ca. 600 Standorten aufgrund<br />

von Agenturangaben; 2. Befragung aller 40 deutschen<br />

Städte über 200.000 Einwohner/innen in Zusammenarbeit mit<br />

dem Deutschen Städtetag, der Rücklauf lag bei 72 %, also 29<br />

Städten; 3. Befragung ausgewählter Unternehmen der Werbewirtschaft<br />

(Complac, DSM Megaposter, Fubac, plakativ, Poster-<br />

Network. Fachverband Außenwerbung, Gesamtverband Kommunikationsagenturen,<br />

Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft);<br />

4. Vertiefende Fallstu<strong>die</strong>n in drei deutschen Städten<br />

und ergänzend in Zürich. Zu den Ergebnissen der ersten drei<br />

Untersuchungen vgl. Lehmann/Ache 2004; zu den Fallstu<strong>die</strong>n<br />

vgl. Lehmann 2008.<br />

6 Unberücksichtigt bleiben bei <strong>die</strong>ser Betrachtung <strong>die</strong> Kostenvorteile,<br />

<strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Kommune bei solchen Projekten ggf. aus der Gestellung<br />

von Baugerüsten durch das werbende Unternehmen ergeben.<br />

7 OSCAR (Outdoor Site C<strong>las</strong>sification and Au<strong>die</strong>nce Research)<br />

– ein aus England übernommenes System zur Bewertung von<br />

Außenwerbung<br />

8 Ein weiteres Beispiel für <strong>die</strong> Rolle neuer Technologien ist ein Plakat,<br />

das man anrufen bzw. dem man eine SMS schicken konnte.<br />

Daraufhin versprühte <strong>die</strong> abgebildete Dusche fünf Sekunden<br />

lang einen lebensfrohen Wasserstrahl. Da alles per WebCam<br />

aufgezeichnet wurde, war es möglich, den durch <strong>die</strong> eigene<br />

SMS hervorgerufenen Wasserstrahl im Internet anzusehen.<br />

Literatur<br />

Benjamin, W.: Einbahnstraße. In: Rexroth, T. (Hg.): Walter Benjamin<br />

– Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt a. M. 1972, S. 83 ff.<br />

Boyer, M. C.: Twice-Told Stories: The Double Erasure of Times Square.<br />

In: Borden et. al. (Hg.): The unknown city, S. 30-52, Cambridge/<br />

MA 2001<br />

Bundesverfassungsgericht: BVerfG 83.238, Rd. 441, zitiert<br />

nach: www.oefre.unibe.ch/law/dfr/index.html [Zugriff am<br />

19.01.2006]<br />

<strong>die</strong> tageszeitung: Werbung ist <strong>die</strong> erste Bürgerpflicht, von Giuseppe<br />

Pitronaci, 23.11.2005<br />

Die Zeit: Ausgewitzelt. Das Brandenburger Jux-Tor, von Hanno Rauterberg,<br />

02.10.2002<br />

Frankfurter Rundschau: Denkmal unter Werbung. Nicht umsonst<br />

bezahlen Firmen Sanierungen, von Susanne Balthasar,<br />

26.11.2003<br />

Habermas, J.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen<br />

zu <strong>einer</strong> Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Suhrkamp<br />

Verlag Frankfurt a. M. 1962 (Reprint 1990)<br />

Hassenpflug, D.: Die Theatralisierung des öffentlichen Raumes. In:<br />

Thesis, Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität<br />

Weimar. Internationales Bauhaus-Kolloquium, Jg. 45 (2000), H.<br />

4/5, S. 70-79<br />

Klein, N.: No logo. Der Kampf der Global Players um Martmacht.<br />

Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenig Gewinnern. München<br />

2002<br />

Lehmann, F.: Public Space – Public Relations. Großformatige Werbung<br />

als ein Beispiel des Umgangs mit öffentlichen Räumen.<br />

Schriftenreihe der Stiftung Lebendige Stadt, Bd. 6. Frankfurt<br />

a. M. 2008 (im Druck)<br />

Lehmann, F./Ache, P.: Branded Spaces – Werbung im öffentlichen<br />

Raum. In: disp 159 (2004), S. 20-30<br />

Reinhardt, D.: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der<br />

Wirtschaftswerbung in Deutschland. Berlin 1993<br />

Selle, K. (Hg.): Was ist los mit den öffentlichen Räumen? Analysen,<br />

Positionen, Konzepte. Dortmund 2002<br />

Süddeutsche Zeitung: Lukrative Sache für Hausbesitzer – öffentliche<br />

Reklame an Baugerüsten,von Gudrun Pasarge, 13.01.2006<br />

ZAW (Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft): Werbung in<br />

Deutschland 2005. Bonn 2005<br />

Dr. Franziska Lehmann, Dipl.-Ing. Raumplanung, Mitinhaberin<br />

des Planungsbüros proloco – Stadt und Region, Planung<br />

und Entwicklung, Bremen (www.proloco-bremen.de).


Großformatige Werbung in der Stadt - Lehmann<br />

– Notwendig ist ein bewusster, umfassend konzeptioneller<br />

Umgang: Dann ist eine offensive Strategie mehr als Deregulierung<br />

und Wahllosigkeit und eine restriktive Strategie<br />

mehr als Wirtschaftsfeindlichkeit.<br />

– Konzepte zum Umgang mit Werbung im öffentlichen<br />

Raum müssen eingeordnet werden in grundsätzliche<br />

Überlegungen zum öffentlichen Raum und zum Branding.<br />

– Vorhandene rechtliche Steuerungsinstrumente müssen erhalten<br />

und ggf. angepasst und nicht aufgegeben werden.<br />

– Die Möglichkeiten informeller Instrumente müssen genutzt<br />

und ausgebaut werden, um dadurch Eindeutigkeit<br />

und Verlässlichkeit erreichen zu können und in Kooperation<br />

mit der Werbebranche, kreative, auf Orte angepasste<br />

Lösungen zu finden.<br />

Insgesamt bleibt Werbung im öffentlichen Raum für <strong>die</strong><br />

Stadtplanung kein leichtes Thema, denn ihre Wirkung bleibt<br />

schwer greifbar, wie abschließend in einem Zitat von Walter<br />

Benjamin deutlich wird (Benjamin 1928/1972: 131 f.): „Was<br />

macht zuletzt Reklame der Kritik so überlegen? Nicht, was<br />

<strong>die</strong> rote elektrische Leuchtschrift sagt – <strong>die</strong> Feuerlache, <strong>die</strong><br />

auf dem Asphalt sie spiegelt.“<br />

Anmerkungen<br />

1 Die zahlreichen vorhandenen Ansätze zu Begriffsbestimmungen<br />

von „öffentlich“ und „öffentlichem Raum“ stecken ein<br />

weites Feld ab und sind geprägt von zahlreichen Missverständnissen.<br />

Ein Grund hierfür ist <strong>die</strong> parallele Existenz von normativen<br />

und deskriptiven Ansätzen zu Begriffsbestimmungen: Wird<br />

der Begriff normativ gesetzt, kann er als „Messlatte“ <strong>die</strong>nen,<br />

und es kann in Bezug auf bestimmte Zeiten von Zerfall <strong>oder</strong><br />

Verlust des Öffentlichen gesprochen werden. Dies geht nicht,<br />

wenn man den Begriff des „Öffentlichen“ selber als im Lauf der<br />

Zeit veränderbar begreift, ihn deskriptiv verwendet. Zwischen<br />

beiden Begriffsverständnissen kann keine Einigkeit erzielt werden,<br />

da sie von völlig anderen Grundvoraussetzungen ausgehen.<br />

Noch komplexer wird es, wenn nicht der Begriff des „Öffentlichen“,<br />

sondern der des „öffentlichen Raumes“ betrachtet<br />

wird. Es scheint sich immer wieder zu bestätigen, dass eine Begriffsbestimmung<br />

nur in Zusammenhang mit ihrem Anwendungszweck<br />

möglich und zu sehen ist (vgl. hierzu auch Selle<br />

2002: 40).<br />

2 Entsprechende Zeitungsartikel tragen Titel wie: „Ausgewitzelt<br />

– Das Brandenburger Jux-Tor“ (Die Zeit 2002), „Denkmal unter<br />

Werbung“ (Frankfurter Rundschau 2003), „Werbung ist <strong>die</strong><br />

erste Bürgerpflicht“ (<strong>die</strong> tageszeitung 2005) <strong>oder</strong> „Lukrative<br />

Sache für Hausbesitzer – öffentliche Reklame an Baugerüsten“<br />

(Süddeutsche Zeitung 2006).<br />

3 Vgl. hierzu unter anderem <strong>die</strong> Untersuchungen von Christine<br />

Boyer (2001) zum Times Square <strong>oder</strong> <strong>die</strong> Ausführungen von<br />

Dieter Hassenpflug (2000) zu <strong>einer</strong> „Orteindustrie“ .<br />

4 Für den Bereich der Presse stellt Jürgen Habermas in seinem<br />

„Strukturwandel der Öffentlichkeit“ dar, wie das Medium selbst<br />

sich durch <strong>die</strong> Anforderungen, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Werbung stellt, ändert<br />

(vgl. Habermas 1962).<br />

5 Folgende empirische Untersuchungen wurden durchgeführt: 1.<br />

Aufbau <strong>einer</strong> Standortdatenbank mit ca. 600 Standorten aufgrund<br />

von Agenturangaben; 2. Befragung aller 40 deutschen<br />

Städte über 200.000 Einwohner/innen in Zusammenarbeit mit<br />

dem Deutschen Städtetag, der Rücklauf lag bei 72 %, also 29<br />

Städten; 3. Befragung ausgewählter Unternehmen der Werbewirtschaft<br />

(Complac, DSM Megaposter, Fubac, plakativ, Poster-<br />

Network. Fachverband Außenwerbung, Gesamtverband Kommunikationsagenturen,<br />

Zentralverband der Deutschen Werbewirtschaft);<br />

4. Vertiefende Fallstu<strong>die</strong>n in drei deutschen Städten<br />

und ergänzend in Zürich. Zu den Ergebnissen der ersten drei<br />

Untersuchungen vgl. Lehmann/Ache 2004; zu den Fallstu<strong>die</strong>n<br />

vgl. Lehmann 2008.<br />

6 Unberücksichtigt bleiben bei <strong>die</strong>ser Betrachtung <strong>die</strong> Kostenvorteile,<br />

<strong>die</strong> sich für <strong>die</strong> Kommune bei solchen Projekten ggf. aus der Gestellung<br />

von Baugerüsten durch das werbende Unternehmen ergeben.<br />

7 OSCAR (Outdoor Site C<strong>las</strong>sification and Au<strong>die</strong>nce Research)<br />

– ein aus England übernommenes System zur Bewertung von<br />

Außenwerbung<br />

8 Ein weiteres Beispiel für <strong>die</strong> Rolle neuer Technologien ist ein Plakat,<br />

das man anrufen bzw. dem man eine SMS schicken konnte.<br />

Daraufhin versprühte <strong>die</strong> abgebildete Dusche fünf Sekunden<br />

lang einen lebensfrohen Wasserstrahl. Da alles per WebCam<br />

aufgezeichnet wurde, war es möglich, den durch <strong>die</strong> eigene<br />

SMS hervorgerufenen Wasserstrahl im Internet anzusehen.<br />

Literatur<br />

Benjamin, W.: Einbahnstraße. In: Rexroth, T. (Hg.): Walter Benjamin<br />

– Gesammelte Schriften, Bd. IV.1, Frankfurt a. M. 1972, S. 83 ff.<br />

Boyer, M. C.: Twice-Told Stories: The Double Erasure of Times Square.<br />

In: Borden et. al. (Hg.): The unknown city, S. 30-52, Cambridge/<br />

MA 2001<br />

Bundesverfassungsgericht: BVerfG 83.238, Rd. 441, zitiert<br />

nach: www.oefre.unibe.ch/law/dfr/index.html [Zugriff am<br />

19.01.2006]<br />

<strong>die</strong> tageszeitung: Werbung ist <strong>die</strong> erste Bürgerpflicht, von Giuseppe<br />

Pitronaci, 23.11.2005<br />

Die Zeit: Ausgewitzelt. Das Brandenburger Jux-Tor, von Hanno Rauterberg,<br />

02.10.2002<br />

Frankfurter Rundschau: Denkmal unter Werbung. Nicht umsonst<br />

bezahlen Firmen Sanierungen, von Susanne Balthasar,<br />

26.11.2003<br />

Habermas, J.: Strukturwandel der Öffentlichkeit. Untersuchungen<br />

zu <strong>einer</strong> Kategorie der bürgerlichen Gesellschaft. Suhrkamp<br />

Verlag Frankfurt a. M. 1962 (Reprint 1990)<br />

Hassenpflug, D.: Die Theatralisierung des öffentlichen Raumes. In:<br />

Thesis, Wissenschaftliche Zeitschrift der Bauhaus-Universität<br />

Weimar. Internationales Bauhaus-Kolloquium, Jg. 45 (2000), H.<br />

4/5, S. 70-79<br />

Klein, N.: No logo. Der Kampf der Global Players um Martmacht.<br />

Ein Spiel mit vielen Verlierern und wenig Gewinnern. München<br />

2002<br />

Lehmann, F.: Public Space – Public Relations. Großformatige Werbung<br />

als ein Beispiel des Umgangs mit öffentlichen Räumen.<br />

Schriftenreihe der Stiftung Lebendige Stadt, Bd. 6. Frankfurt<br />

a. M. 2008 (im Druck)<br />

Lehmann, F./Ache, P.: Branded Spaces – Werbung im öffentlichen<br />

Raum. In: disp 159 (2004), S. 20-30<br />

Reinhardt, D.: Von der Reklame zum Marketing. Geschichte der<br />

Wirtschaftswerbung in Deutschland. Berlin 1993<br />

Selle, K. (Hg.): Was ist los mit den öffentlichen Räumen? Analysen,<br />

Positionen, Konzepte. Dortmund 2002<br />

Süddeutsche Zeitung: Lukrative Sache für Hausbesitzer – öffentliche<br />

Reklame an Baugerüsten,von Gudrun Pasarge, 13.01.2006<br />

ZAW (Zentralverband der deutschen Werbewirtschaft): Werbung in<br />

Deutschland 2005. Bonn 2005<br />

Dr. Franziska Lehmann, Dipl.-Ing. Raumplanung, Mitinhaberin<br />

des Planungsbüros proloco – Stadt und Region, Planung<br />

und Entwicklung, Bremen (www.proloco-bremen.de).


TEL 0711 . 6 57 39 01<br />

FAX 0711 . 6 57 39 03<br />

Wildermuthweg 12<br />

70197 Stuttgart<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

info@burgstahler.biz<br />

www.burgstahler.biz<br />

Dipl. rer. com.<br />

Helga Burgstahler<br />

Faszination Stadt<br />

contra Marke<br />

Stuttgart<br />

November 2003


1 Faszination Stadt contra Marke<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Stadtmarketing kann im Drang zum Wetteifern der Kommunen keine Wunder vollbringen.<br />

Vorzugeben, das Etikett Marke verleihe einr Stadt Glanz und höheren Wert, ist absurd. Die<br />

gedankenlose Übernahme ökonomischer Absatzbegriffe führt in <strong>die</strong> kommunikative Sackgasse.<br />

2 von 10


1.1 Stadtkultur<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

1.1 Stadtkultur<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

Die Kommunikationsbranche klagt, dass <strong>die</strong> meisten neuen Marken sich als Rohrkrepierer<br />

entpuppen. Je nach Branche werden mit Flopquoten von 60 bis 95 Prozent<br />

gerechnet. Die Wahrnehmungschancen bei den Konsumenten ist angesichts<br />

Tausender Markenartikel sehr gering. Und jetzt soll <strong>die</strong> Rezeptur für personifizierte<br />

Konsumware den Bekanntheitsgrad eines vielgestaltigen Stadtsystems erhöhen.<br />

Stadt als Marke?<br />

Wetteiferndes Streben durch Inszenierung des Konsums und Inszenierung des<br />

touristischen Erlebens führte zu <strong>einer</strong> Trivialisierung der Städte als Schauplatz des<br />

Lebens. Die Angst vor sozialen Kontakten manifestiert sich in neutralisierende<br />

Räume: Straßenfronten aus Spiegelg<strong>las</strong>, Autobahnen trennen Stadtteile, Schlafstädte.<br />

Zum Vergessen.<br />

Wie lebendig blieben <strong>die</strong> Geschichten um den Troianischen Krieg, <strong>die</strong> Taten der<br />

Helden und <strong>die</strong> menschlichen Dramen. Die Erinnerung überdauerte Jahrtausende,<br />

so auch der Wunsch den Ort zu lokalisieren und aufzusuchen, wo sich das Schicksal<br />

von Achilleus und Hektor erfüllt hat. Am Ende der Antike kam auch das Ende<br />

für Troia; das Leben in der Stadt starb aus.<br />

Die Stadt gilt als <strong>die</strong> Wiege aller menschlichen Zivilisation. Jede Hochkultur war an<br />

den Namen <strong>einer</strong> Stadt gebunden: Babylon, Athen, Rom, Byzanz, Florenz. Sie stehen<br />

noch immer auf ihrem Ursprungsort und <strong>die</strong> gegenwärtige Gestalt ist <strong>die</strong> letzte<br />

in <strong>einer</strong> Reihe von größeren und kl<strong>einer</strong>en Verwandlungen.<br />

Städte zeugen von Tod und Leben, Krieg und Frieden, Katastrophen und Siegestaumel,<br />

Gott und Macht in Raum und Bau, Gewerbe und Handel, Bürger und Fremde,<br />

Wohnen und Arbeiten, private und öffentliche Räume. Die Gestalt der Stadt verkörpert<br />

Bestand und Wandel. Sie anzuschauen, ist sie immer neu zu sehen.<br />

• Gründungsrituale<br />

Umgeben von Göttersymbolik weihten Priester <strong>die</strong> Stätten in der Antike und zogen<br />

rituell mit dem Pflug <strong>die</strong> Furche für <strong>die</strong> Außengrenzen. Die Schleifung der<br />

Wallanlagen von Frankfurt durch Napoleon war ein Akt der Erniedrigung. Feierlich<br />

mit Urkunde und Stadtfest begeht heutzutage eine ländliche Siedlung <strong>die</strong> offizielle<br />

Stadt-Erhebung. Die Bürger sind gerne Städter, meint der Bürgermeister von Holzgerlingen,<br />

<strong>einer</strong> Klein<strong>stadt</strong> bei Stuttgart. Der Titel bringe einen deutlichen Imagegewinn,<br />

einen Vorteil, der schwer messbar und belegbar sei. Stadterhebung<br />

signalisiert Urbanität, d.h. Ausweitung von Dienstleistungen, Verwaltung, Straßen,<br />

Schulen und Geschäften.<br />

• Leben in der Stadt<br />

Mit Überschreiten <strong>einer</strong> Stadtgrenze akzeptieren wir bestimmte gesetzliche Einschränkungen<br />

und den örtlichen Verhaltenskodex. Die Zugehörigkeit ist ein Privileg<br />

und jedes Privileg hat seinen Preis. Wir erwarten im Gegenzug, dass uns eine<br />

breite Palette von Dienstleistungen zur Verfügung gestellt wird. Karl Kraus formulierte<br />

launig: Ich verlange von der Stadt, in der ich leben soll: Asphalt, Straßenspülung,<br />

Haustorschlüssel, Luftheizung, Warmwasserleitung. Gemütlich bin ich selbst.<br />

Im progressiven Denken von Corbusier‘s Wohnmaschinen und des funktionalen<br />

Städtebaus ist <strong>die</strong> Stadt immer auch eine Maschine,<br />

<strong>die</strong> den einzelnen davon befreit, den eigenen Kot fortzuschaffen, Wasser am Brunnen zu<br />

holen, <strong>die</strong> Kranken zu pflegen und seine Wäsche zu waschen. Sie ent<strong>las</strong>tet von Arbeit und<br />

Verantwortung, damit der einzelne frei wird für andere selbstgewählte Aktivitäten - in Beruf,<br />

in politischen Organisationen <strong>oder</strong> in Faulenzerei.<br />

• Traumwelten<br />

Schlaraffische Träume spiegeln sich in <strong>die</strong>sen Vorgaben für eine ideale Stadt. In<br />

Geschichten über ein fernes Schlaraffenland ohne Arbeit, Normen, Konflikten, mit<br />

vielen Festtagen, Jungbrunnen und zufliegender Nahrung kompensierten im Mittelalter<br />

der Bauer, <strong>die</strong> Kleinbürger und <strong>die</strong> Adeligen den täglichen Überlebenskampf.<br />

Ein schwacher Abglanz vom Traumland kennen wir als Märchen für Kinder<br />

mit haushoch gestapelten Süßigkeiten und pfannkuchengedeckten Häusern.<br />

3 von 10


1.1 Stadtkultur<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

Unsere heutigen Traumwelten liegen in den Reisebüros, raffiniert maßgeschneidert<br />

für eine Kundschaft auf der Suche nach idealem Klima, Naturwundern, Touristenattraktionen,<br />

Kultur und verbotenem Sex. Im m<strong>oder</strong>nen Para<strong>die</strong>s gibt es Einkommen<br />

ohne Arbeit, Fastfood zu jeder Zeit, Kaufhäuser und Versandkataloge,<br />

Wasser und Strom, Fahrzeuge aller Art, p<strong>las</strong>tische Chirurgie und 24-h-Telekommunikation.<br />

Bürgermeister rühmen sich des großen Besucheransturms zu Festen,<br />

Feiern, Festivals. Stadt-Touristiker locken mit blauem Himmel, weltberühmten Historienstätten<br />

und Freizeitvergnügen - alles im Überfluss.<br />

4 von 10


1.2 Buhlen um Bürger, Touristen und Gewerbe<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

1.2 Buhlen um Bürger, Touristen und Gewerbe<br />

Die Fülle an Attraktionen machen den Konsumenten ganz schwindelig bei s<strong>einer</strong><br />

Entscheidung: Wo können wir schöne Tage verbringen, wo einkaufen, wo fühlen<br />

wir uns zu Hause? Wenn sich auch <strong>die</strong> touristischen Angeboten sehr gleichen,<br />

sind sie nur Mittel zum Zweck. An erster Stelle steht das Gemeinwohl der Bürger<br />

und <strong>die</strong> Zukunftsfähigkeit der ganzen Stadt. Das kommunale Stadtsystem regelt<br />

sein Überleben fortwährend durch Wandlungen im Innern und Einflüssen von außen.<br />

Alles fließt – fortwährend.<br />

• Unverwechselbare städtische Biografien<br />

Nicht nur Troia zeigt, dass <strong>die</strong> Stadt ein originaler Lebensplatz ist - über alle Zeiten<br />

hinweg. Die geografische Lage ist einmalig, <strong>die</strong> Stadtgeschichte und -kultur ist einmalig.<br />

Das Leben in der Stadt ist unikat. Nur Staatstheoretiker sehen aufgrund der<br />

verfassungsmäßigen Daseinsfürsorge <strong>die</strong> Kommunalverwaltungen als identische<br />

Systeme. Doch jeder Bürgermeister weiß, dass seine Probleme anders betrachtet<br />

und gelöst werden müssen als in der Nachbargemeinde.<br />

Historisches Erbe ist natürlich ein Geschäft. denn es lockt Besucher an, <strong>die</strong> den<br />

Städten <strong>die</strong> dringend nötigen Einnahmen garantieren. Pittoreske Anblicke antiquierter<br />

Stadtlandschaften erfreuen <strong>die</strong> Menschen. Wichtig ist <strong>die</strong> Balance zwischen<br />

der Bewahrung der lokalen Geschichte und den musealen Gedenkstätten<br />

idealisierter Vergangenheit. Diesen Anspruch müssen insbesondere künstlich gegründete<br />

Städte ständig abwiegen - wie Glück<strong>stadt</strong> im Norden und Freuden<strong>stadt</strong><br />

im Südwesten.<br />

• Stadtvision im Namen<br />

Den schlaraffischen Geist ansprechend wirbt Glück<strong>stadt</strong> an der Elbe (www.glueck<strong>stadt</strong>.de)<br />

heute mit maritimem Flair und kulinarischen Matjeswochen. Es waren<br />

handfeste Handelsprivilegien und Stadtrechte, mit denen Christian IV, König von<br />

Dänemark und Herzogtum Schleswig und Holstein ab 1617 neue Bürger in <strong>die</strong><br />

fruchtbare Ebene der Cremper-Marsch lockte. Dat schall glücken und dat mutt glükken,<br />

und denn schall se ok Glück<strong>stadt</strong> heten!<br />

Dies war <strong>die</strong> Beschwörungsformel für <strong>die</strong><br />

Stadtgründung.<br />

Seine Vision war ein florierender Handel in s<strong>einer</strong> neuen Residenz Glücksburg.<br />

Selbst portugiesische Juden sowie Mennoniten durften sich in freier Religionsausübung<br />

nieder<strong>las</strong>sen und bürgerliches Gewerbe betreiben. Im Stadtwappen symbolisiert<br />

<strong>die</strong> nackte Göttin Fortuna <strong>die</strong> Vorstellung von Glück. Eine private Website<br />

www.happy-town.de wirbt mit dem Slogan: Die Stadt der glücklichen Menschen.<br />

• Renaissance im Schwarzwald<br />

Das im Zweiten Weltkrieg zerstörte Freuden<strong>stadt</strong> (www.freuden<strong>stadt</strong>.de) wurde in<br />

Anlehnung an <strong>die</strong> alten Pläne wieder aufgebaut. Im Renaissancestil geplant von<br />

Herzog Friedrich von Württemberg und seinem Baumeister Heinrich Schickardt<br />

begann um 1600 <strong>die</strong> Stadtgeschichte.<br />

Außergewöhnlich ist <strong>die</strong> riesige quadratische Anlage, angeblich einem Mühlespiel<br />

nachempfunden. Auf dem heute größten Marktplatz Deutschlands wollte der Herzog<br />

mittendrin ein mächtiges Residenzschloß 110 m x 110 m erbauen. Ökonomische<br />

und strategische Ziele bewegten den Herzog: Der Silberbergbau sollte forciert<br />

werden, weshalb er protestantische Glaubensflüchtlinge aus der Steiermark anwarb.<br />

Seine Vision sah er in <strong>einer</strong> Bergwerk<strong>stadt</strong> mit 3500 Einwohnern verwirklicht,<br />

strategisch angesiedelt am wichtigen Kniebispass.<br />

Das m<strong>oder</strong>ne Freuden<strong>stadt</strong> bekennt: Wir wollen uns auf <strong>die</strong> Schaffung <strong>einer</strong> neuen erlebnisorientierten<br />

Tourismusattraktion der Stadt und der Region konzentrieren.<br />

Der frühere<br />

Slogan für den Luftkurort Perle des Schwarzwaldes wurde ausgetauscht gegen ein<br />

Comic-Eichhörnchen.<br />

• Vergebene Chancen<br />

Historische Stadtführungen gehören zum Standardprogramm der Touristikwerbung.<br />

In ihrem Internetauftritt spart keine Stadt mit den visuellen Protokollen der<br />

Historizität. Leider mangelt es in beiden alten Städten an <strong>einer</strong> genauen Beschreibung<br />

des Gründungsmythos und der bewegten Stadtgeschichte im historischen<br />

5 von 10


1.2 Buhlen um Bürger, Touristen und Gewerbe<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

Kontext. Troia ist überall! Die Archivare warten nur darauf, ihre anscheinend ungeschätzten<br />

Dokumente und ihr historisches Wissen einem größeren Publikum<br />

zeigen zu dürfen.<br />

Auf der offiziellen Homepage von Glück<strong>stadt</strong> scheint <strong>die</strong> Schilderung der hochinteressanten<br />

Stadt- und Sozialgeschichte keine Priorität zu genießen. Auf der website<br />

http://topographie.shz.de findet sich zumindest ein Aufsatz über Glück<strong>stadt</strong><br />

aus dem Jahre 1855 (?).<br />

In Freuden<strong>stadt</strong> wird stichwortartig durch <strong>die</strong> Jahrhunderte geeilt ohne Hinweis<br />

auf den Stadtnamen, worin <strong>die</strong> Freude der herzoglichen Gründungsabsicht anscheinend<br />

dokumentiert wird. Der Vergleich des Stadtgrundrisses mit einem Mühlespiel<br />

manifestierte sich im Navigationstool auf der Homepage. Wünschenswert<br />

ist, dort im Austausch den historisch richtigen Stadtplanes aufzunehmen.<br />

Bei Fragen zu <strong>einer</strong> Stadt schauen wir gern ins Internet. Warum vergeben <strong>die</strong> Kommunen<br />

echte Chancen in der Stadtpräsentation? Den Bürgern hilft es bei der Identitätssuche<br />

und <strong>die</strong> Auswärtige können sich ein besseres Bild (Image) von der<br />

Stadt machen. Ist es den Stadtakteuren nicht wert, <strong>die</strong> einzigartige, spannungsvolle<br />

Historie so ausführlich wie möglich im Internet zu erzählen, unterlegt mit<br />

echten Dokumenten?<br />

6 von 10


1.3 Sozialtechnik Marketing<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

1.3 Sozialtechnik Marketing<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

Die Siedlungsgeschichte zeigt, dass Herrscher und Stadtgewaltige aus ökonomischen<br />

Gründen Handwerker und Händler mit Attraktionen und Privilegien anlockten.<br />

Sie kommunizierten <strong>die</strong> Botschaft in Wort und Schrift über Sendboten und<br />

Anschlägen, warben mit allen Kommunikatonsmitteln für ihre Stadt.<br />

• Standort- und Stadtmarketing<br />

Die Marketing-Professoren nahmen an, dass in nicht-kommerziellen Organisationen,<br />

<strong>die</strong> auf das Gemeinwohl abzielen, analog der Wirtschaft auch Austauschbeziehungen<br />

herrschen mit ähnlichen Kommunikationsstrukturen. Diese Erweiterung<br />

des Marketing-Gedankens machte in den 80er Jahren den Weg frei für das<br />

Standortmarketing.<br />

Doch wie immer bei einem Transfer von betriebswirtschaftlichen Methoden in das<br />

Kommunalsystem besteht <strong>die</strong> Gefahr, dass <strong>die</strong> Eigentümlichkeiten von Strukturen<br />

und Bedingungen nicht beachtet werden. Damit gehen <strong>die</strong> speziellen Probleme<br />

der Orte und der Bürgerschaft einfach unter bzw. sie treten in den Hintergrund.<br />

• Wirtschaftsmanager: In m<strong>oder</strong>nen Absatzstrategien orientiert sich das Marketing-Management<br />

an den Bedürfnissen der Kunden. Die Kombination von<br />

Maßnahmen (Marketing-Mix, resultierend aus der Produkt-, Preis-, Distribution-<br />

und Kommunikationspolitik, wirkt gestaltend auf den Verkauf. Das Unternehmen<br />

will Gewinne realisieren und nutzt Werbung, Verkaufsförderung und<br />

Public Relations, um <strong>die</strong> Präferenz der Kunden auf seine Produkte zu lenken.<br />

• Stadtmarketing-Manager: Im Gegensatz zum Marketing-Manager im Unternehmen,<br />

der auf <strong>die</strong> Entscheidungen bei Produkt, Preis und Distribution voll<br />

Einfluss nimmt, werden <strong>die</strong> Stadtmarketiers zu Erfüllungsgehilfen. Sie müssen<br />

das in langwierigen Konsensdiskussionen mit den heterogenen Stadtgruppen<br />

erstellte Kommunikationskonzept durchführen. Keineswegs bestimmen sie<br />

über <strong>die</strong> Leistungen der Stadtverwaltung, das Auftreten des Handels und Gewerbes,<br />

das Versorgungsangebot, Schulen, Museen, Schwimmbädern. Für sie<br />

ist der Marketing-Mix keine veränderbare Größe. Ihre Kunst ist es, <strong>die</strong> schlaraffischen<br />

Versprechen ihrer Städte mit großer Überzeugungskraft zu kommunizieren.<br />

• Emotionale Konditionierung durch Markentechnik<br />

Wie reagieren <strong>die</strong> Verbraucher? Ihr Verhalten wird als emanzipiert, kritikfreudig,<br />

anspruchsvoll und vor allem multipel beschrieben. Ein Kommunikationsmanager<br />

gewinnt, wenn er mit der subtilen Funktionsweise der menschlichen Psyche vertraut<br />

ist. Es gilt <strong>die</strong> Ich-Ideal-Ebene zu erreichen. Dort erlebt der Mensch phantasierend<br />

individuelle Zukunftsvisionen und Illusionen, <strong>die</strong> ihm <strong>die</strong> Erfüllung s<strong>einer</strong><br />

Wünsche und Ambitionen bringen sollen. Dort formen Menschen ihr ideales<br />

Selbstbild, das maßgeblichen Einfluss hat auf das gesamte Verhaltensrepertoire.<br />

Es geht darum, den Ich-Ideal-spezifischen Ambitionen und Intentionen mittels<br />

entsprechender Produktargumentation zum Durchbruch zu verhelfen. Gedächtnisleistungen<br />

sind davon abhängig, welche Art von Emotionen mit den Informationen<br />

korrespon<strong>die</strong>ren bzw. durch <strong>die</strong>se ausgelöst werden. Je angenehmer <strong>die</strong><br />

verbundene Emotion ist, desto intensiver und nachhaltiger ist der Gedächtnis-Eindruck.<br />

• Nimbus und Lovemarks<br />

Mit Emotionen und Lovemarks sollen Kunden an Marken wie Red Bull, Focus, 4711,<br />

Nivea durch ideellen Nutzen gebunden werden. Da <strong>die</strong> Differenzierung der Produkte<br />

bei Tausenden von Markenartikeln schwierig wird, braucht <strong>die</strong> Marke starke<br />

Signale, um wiedererkennbar zu sein. Suggeriert wird, dass Markenprodukte wie<br />

gute alte Freunde seien. Man kennt sie, weiß sie zu schätzen, möchte sie nicht missen.<br />

Das Extra, das einen Markenartikel von No-names unterscheidet, ist sein Nimbus.<br />

Der Nimbus ist eine Art Zauber, den eine Persönlichkeit, ein Werk, eine Idee, ein Produkt auf<br />

uns ausübt. Beiersdorf lässt sich <strong>die</strong>s etwas kosten: 44 % des Umsatzes werden in<br />

Werbung für 10 Marken gesteckt und nur 2 % in Forschung.<br />

7 von 10


1.3 Sozialtechnik Marketing<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

Durch ein Warenzeichen kann sich der Inhaber einen bestimmten Namen für ein<br />

Produkt schützen <strong>las</strong>sen. Es hat eine Kennzeichnungsfunktion für den Produzenten<br />

<strong>oder</strong> Händler, mit dem der Käufer zugleich das Unternehmen identifiziert.<br />

Nachahmung ist verboten für <strong>die</strong> Dauer der Schutzfrist von 10 Jahren.<br />

Marktwirtschaftlich definiert sich <strong>die</strong> Marke als ein Produkt <strong>oder</strong> Dienstleistung, <strong>die</strong><br />

jederzeit und überall mit einem vertretbaren Aufwand in immer gleicher Qualität und<br />

meist zu einem höheren Preis erhältlich ist. Dabei muss eine Marke von sich reden machen.<br />

Public Relations schafft durch ein permanentes Feuerwerk auf allen Kommunikationskanälen<br />

<strong>die</strong> richtigen Anlässe und Themen bei den Zielgruppen.<br />

• Stadt kann keine Marke sein<br />

Warum soll Stadtmarketing <strong>die</strong> Erkenntnisse der m<strong>oder</strong>nen Markenführung nicht<br />

nutzen? Die emotionale Kommunikationsstrategie klingt verheißungsvoll. Flugs<br />

wird aus der Stadt ein Produkt auf einem Markt, aus dem Stadt-Produkt eine Marke,<br />

<strong>die</strong> man nur vermarkten muss. Werbespezialisten der Wirtschaft suggerieren:<br />

Stadt kann auch eine Marke sein; Vorträge titeln Öffentlicher Raum als Marke und Region<br />

als Marke.<br />

Welch unsinnige K<strong>las</strong>sifizierung für ein Stadtsystem! Ein Land, eine Stadt ist keine<br />

Ware, sondern das Ergebnis von Geschichten, <strong>die</strong> wir vorfinden und <strong>die</strong> wir mit<br />

Hilfe von Phantasie, Wille und Gestaltungskraft verändern können – in Grenzen.<br />

Die Ökonomisierung der Diskussion um <strong>die</strong> Stadt-Marke reduziert <strong>die</strong> Probleme<br />

des kommunalen Systems unzulässig. Marktsprache und Methodenbegriffe aus<br />

dem Wirtschaftssystem werden dem dynamischen, kommunalen System nicht<br />

gerecht.<br />

Da Sprache, Denken und Verhalten unzertrennbar verknüpft sind, besteht <strong>die</strong> Gefahr,<br />

Kommunikationskonzepte auf falschen Annahmen zu planen. Eine Markenware,<br />

eine leblose Materie, soll den gleichen Rang haben wie ein pulsierendes, soziales<br />

Stadtsystem mit Gründungsmythos?<br />

Der Markenartikel ahmt nach, er wird zur Quasi-Persönlichkeit, <strong>die</strong> Als-Ob-Emotionen<br />

hervorruft, um <strong>die</strong> Ich-Ideal-Ebene des Menschen zu erreichen. Hohle Rhethorik,<br />

oberflächliche Dekoration mit Hilfe von Publizität und Propaganda. Millionenfach<br />

verkauft sich das immer gleiche Produkt - mit immer gleichen<br />

Ingre<strong>die</strong>nzen. Käufer greifen blind zu beim Wiederkauf. Das Ziel der Markentechnik<br />

ist <strong>die</strong> Sicherung <strong>einer</strong> Monopolstellung in der Psyche der Verbraucher. Marken sind Erfindungen,<br />

<strong>die</strong> das Bedürfnis des Käufers nach Sicherheit erfüllen.<br />

8 von 10


1.4 Ursprung der Markentechnik<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

1.4 Ursprung der Markentechnik<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

Der Urfaust der Markentechnik,<br />

Hans Domizlaff, der in den 30er Jahren für <strong>die</strong><br />

Reemtsma-Werbung verantwortlich war, schrieb in <strong>die</strong>ser Zeit ein Lehrbuch über<br />

<strong>die</strong> Gewinnung des öffentlichen Vertrauens.<br />

Er stellte 22 Grundgesetze der natürlichen<br />

Markenbildung auf, erklärte das Verbraucherverhalten und gab präzise Anleitungen<br />

für den Umgang mit Markenware. Das wurde zum Credo: Markentechnik stellt<br />

<strong>die</strong> Fähigkeit dar, Marken auch unter den härtesten Wettbewerbsbedingungen profitabel<br />

und wertsichernd zu führen.<br />

Heute noch bilden seine Thesen den Rahmen, in dem <strong>die</strong> Werbewirtschaft in zahlreichen<br />

Ausschmückungen <strong>die</strong> Faszination Marke kommuniziert. Der Markenverband<br />

formuliert den Inhalt s<strong>einer</strong> Thesen nur m<strong>oder</strong>ner. In der Genfer Markendefinition<br />

von 2002 wird <strong>die</strong> Marke als ein Wirtschaftskörper gesehen, der <strong>die</strong> Leistungen<br />

der gesamten Wertschöpfungskette integriert.<br />

Ziel der Markenführung ist der Aufbau<br />

<strong>einer</strong> Kundschaft, <strong>die</strong> der Marke zuverlässig Geldmittel zuführt. Die Marke wird<br />

nach dem Prinzip der Selbstähnlichkeit geführt. Die Kundschaft ist über viele<br />

Kommunikationskanäle vernetzt und bildet individuelle Urteile.<br />

• Wie wird eine Ware zur Marke?<br />

Domizlaff schildert <strong>die</strong> Stilgegensätze der Reklame des Jahrmarktverkäufers, der<br />

immer wieder, von Ort zu Ort, den Bedarf neu wecken muss. In hemmungsloser Aufdringlichkeit<br />

schafft er es, aus den Augenblicksgeschäften <strong>die</strong> höchstmöglichen<br />

Preise zu erzielen. Die Wichtigkeit liegt auf dem äußeren Schein und <strong>die</strong> Qualität<br />

ist Nebensache. Seine produktiven Instrumente sind Witz, Karikatur, erotische<br />

Anspielungen, religiöse und patriotische Stimmungen ausnutzend. Ob er einen<br />

schlechten Ruf hat, ist ihm egal. Der schnelle Gewinn ist sein Ziel.<br />

Der Kaufherr am Ort zeigt würdige Lebenshaltung und Zuverlässigkeit. Die suggestive<br />

Kraft s<strong>einer</strong> Selbstsicherheit in der persönlichen Be<strong>die</strong>nung schafft das besondere<br />

Vertrauen der Kundschaft im Konkurrenzkampf. Der Traditionsgebundene<br />

Kaufherr bürgt mit seinem Namen für <strong>die</strong> Güte der Ware - in gleichbleibender<br />

Qualität und Wiederholbarkeit. Auch er will seine Kundschaft zum Kauf bewegen<br />

durch Beeinflussung. Doch an <strong>die</strong> Stelle des Marktschreiertums tritt das Ansehen<br />

des Hauses, das in der Handelsmarke sein Symbol besitzt. Das Markenprodukt<br />

wird letztlich selbst zum eigentlichen Träger der Reklame gestaltet.<br />

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1.5 Städte bleiben Unikate im Wandel<br />

1 Faszination Stadt contra Marke<br />

Helga Burgstahler<br />

The Business Of Communication<br />

1.5 Städte bleiben Unikate im Wandel<br />

Seit Fabriken den Bedarf an Güter decken und weltweit verteilen, wurde <strong>die</strong> Marke<br />

zum Herkunftszeichen. Ein wichtiges Anliegen des Markenverbandes ist der<br />

rechtliche Schutz der Marke im Wettbewerb mit den anonymen Produkten und im<br />

Kampf gegen <strong>die</strong> Markenpiraterie - Probleme der Massenproduktion.<br />

Der geografische Ort der Städte ist unverrückbar, der Benennungsakt eines Ortes<br />

ist eine feierliche Handlung, deren Bedeutung weit über <strong>die</strong> Orientierungsfunktion<br />

hinausgeht. Straßennamen werden zum Gedächtnis <strong>einer</strong> Stadt. Am Schauplatz<br />

des Lebens wird Geschichte geschrieben. Jede Veränderung der Kultur- und Naturlandschaft,<br />

explosiver Siedlungsbau und neue Verkehrssysteme beeinflussen <strong>die</strong><br />

Stadtgestalt. Immer herrscht der optimistische Glaube der Generationen, dass <strong>die</strong><br />

Zukuft all das hervorbringt, was alle Menschen brauchen: Intakte Natur und erfülltes<br />

Leben.<br />

Unsere Verbindung zu den Orten, <strong>die</strong> wir kennen, <strong>die</strong> wir besuchen, wo wir jetzt<br />

gerade sind, heute schon waren und in einigen Stunden sein werden, ist keinesweg<br />

abstrakt.Wir haben eindrückliche Erfahrungen:<br />

Schöne Erinnerungen an den weißen Sandstrand, <strong>die</strong> Weihnachtszeit in den Bergen,<br />

bunte Fasnachtsumzüge, kleine Kneipen, schmerzhafte Gedanken an familiäre<br />

Schicksale, Unglücke, verb<strong>las</strong>sende Eindrücke von Lebensqualität, Flair, Ambiente,<br />

Harmonie - vergessene Historie.<br />

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Sendung vom 05.08.2003<br />

Alpha-Forum-City<br />

Wie viel Werbung verträgt <strong>die</strong> Stadt?<br />

Josef Deimer, Christian Ude, Angela Barzen, Professor Dr. Egon Greipl und<br />

Dr. Achim Sing<br />

im Gespräch mit Isabella Schmid<br />

Schmid: Herzlich willkommen zu Alpha-Forum-City. Unser Thema heute: Wie viel<br />

Werbung verträgt <strong>die</strong> Stadt? Die Kommunen leiden unter Finanznot und<br />

was läge näher, als den öffentlichen Raum zu vermieten, zur Werbefläche<br />

zu machen; Beispiele dafür gibt es genug. Oder ist das ästhetische<br />

Umweltverschmutzung? Verliert <strong>die</strong> Stadt dadurch ihre Identität? Wie gehen<br />

wir mit dem öffentlichen Raum um? Darüber diskutieren heute: Professor<br />

Egon Greipl, Chef des Bayerischen Landesamtes für Denkmalpflege; <strong>die</strong><br />

Oberbürgermeister Josef Deimer aus Landshut und Christian Ude aus<br />

München; Angelika Barzen, Gesellschafterin von Plakativ Riesenposter aus<br />

München, und Dr. Achim Sing von der Bayerischen Staatszeitung, unserem<br />

Me<strong>die</strong>npartner. In Zeiten knapper Kassen scheint es sehr verlockend zu<br />

sein, <strong>die</strong> Einnahmen durch Werbung zu verbessern und <strong>die</strong> Industrie pusht<br />

das auch enorm. Herr Ude, Sie haben das Problem in München. Jüngstes<br />

Beispiel ist der Streit um den Mercedes-Stern auf einem Hochhaus. Wie<br />

stark werden Sie hier unter Druck gesetzt?<br />

Ude: Natürlich gibt es ein starkes Interesse, wobei der Mercedes-Stern ein<br />

Sonderfall ist, denn es handelt sich hier um ein sehr elegantes und<br />

etabliertes Firmenkennzeichen. Hier geht es aus städtischer Sicht um <strong>die</strong><br />

Grundsatzfrage, ob wir Werbung auf Hochhäusern zu<strong>las</strong>sen wollen <strong>oder</strong><br />

nicht. Unsere Position - einmütig seit Jahrzehnten - ist nein, denn <strong>die</strong> Stadt<br />

soll eine Silhouette haben, ein Gesicht, wie es in Jahrhunderten entstanden<br />

ist mit Türmen, Kuppeln, Bauwerken. Sie soll nicht zum Werbeträger<br />

verkommen, wie ich es in Shanghai und Hongkong gesehen habe. Das<br />

wollen wir nicht haben. Bei <strong>die</strong>ser Grundsatzposition bleiben wir, genauso<br />

wie <strong>die</strong> Stadt New York, <strong>die</strong> deshalb niemand als rückständig <strong>oder</strong><br />

provinziell geißeln wird. Die andere Frage bezieht sich mehr auf<br />

Werbeflächen, auf Großflächenwerbung, wie sie in den letzten Jahren<br />

immer mehr eingerissen ist. Hier sind wir sehr skeptisch, ob das <strong>die</strong> Sicht<br />

der Stadt verträgt. Ich bin selber mit Schuld, denn ich habe beim Siegestor<br />

gesagt, dass ein Baugerüst immer scheußlich ist und wenn Werbung davor<br />

ist, dann ist es schöner. Das war leider der kleine Finger, den wir gegeben<br />

haben, und jetzt will man uns den ganzen Arm ausreißen und überall<br />

Großflächenwerbung anbringen, <strong>die</strong> den Maßstab der Stadt sprengt, sich<br />

marktschreierisch in der Vordergrund drängt und <strong>die</strong> Architektur verbirgt. Da<br />

müssen wir so restriktiv sein, wie es <strong>die</strong> Rechtsprechung zulässt.<br />

Schmid: Frau Barzen wird nun gleich einhaken, denn Sie möchte Riesenposter in<br />

der Stadt. Frau Barzen, wie wollen Sie Herrn Ude überzeugen?<br />

Barzen: Auf der einen Seite ist Riesenposterwerbung eine reglementierte Sache. Es<br />

ist eine temporäre Werbeform, <strong>die</strong> nicht über Jahre an derselben Baustelle<br />

bleibt, sondern einige Monate an einem Baugerüst ist und dann wieder


verschwindet. Von daher ist es keine Dauerwerbefläche. Ich kann <strong>die</strong><br />

Bedenken, wenn es um denkmalgeschützte Gebäude der Stadt geht,<br />

schon verstehen. Hier ist es wichtig, einen Kompromiss zu finden. Der<br />

Kompromiss, um den ich schon seit Jahren kämpfe, ist der: das Gebäude,<br />

wie es tatsächlich ist, und im Vordergrund dann das Werbemotiv. D. h. ich<br />

habe nicht ein einfaches Baugerüst, wo ich einen Teil <strong>die</strong>ses Gerüstes als<br />

Werbefläche nutze, sondern ich stelle auf dem Gerüst komplett das<br />

Gebäude nach und davor findet <strong>die</strong> Werbung statt. So wird es z. B. in Berlin<br />

praktiziert und kommt gut an; vom dortigen Denkmalschutz wird das sehr<br />

forciert. Ein weiterer Vorteil ist, dass man darüber Sanierungen finanzieren<br />

kann, auch bei städtischen und denkmalgeschützten Gebäuden. Wir<br />

wissen alle, dass <strong>die</strong> Kassen leer sind. Die Chance, hierüber eine<br />

Finanzierung zu ermöglichen, sollte man nicht außer Acht <strong>las</strong>sen.<br />

Schmid: Herr Dr. Sing, wenn Sie durch München gehen, fällt Ihnen da <strong>die</strong> Werbung<br />

auf <strong>oder</strong> ist das gar nicht so auffällig?<br />

Sing: Mich stören <strong>die</strong> Großplakate weniger. Wenn sie ein Gerüst verhüllen, dann<br />

ist es egal, was drauf ist. Wenn dann auch noch ein geringer Prozentsatz<br />

des Ertrages der Stadt zugute kommt <strong>oder</strong> der Institution, der das Gebäude<br />

gehört, das gerade saniert wird, dann kann ich daran nichts Schlimmes<br />

entdecken. Allerdings muss man aufpassen, dass es nicht überhand nimmt,<br />

auch im Interesse der Werbewirtschaft. Man muss auch daran denken,<br />

dass Werbung nur zur Geltung kommt, wenn sie in einem schönen <strong>oder</strong><br />

angenehmen Rahmen hängt. Daher kann ein Streitgespräch, wie wir es<br />

heute führen, sehr fruchtbar sein, damit man sich überlegt, wo <strong>die</strong> Grenzen<br />

sind. Da müssen sich natürlich beide Seiten einig sein. Auch <strong>die</strong><br />

Werbewirtschaft hat kein Interesse, dass alles zuplakatiert wird. In den 80er<br />

Jahren war es noch der Fall, dass in München an jeder Wand und an<br />

jedem Elektrokasten ein Plakat hing. Inzwischen ist das in München<br />

kanalisiert; da gibt es feste Wechselrahmen und beide Seiten profitieren<br />

davon. Wahrscheinlich ist so ein Streit einfach notwendig, um den richtigen<br />

Weg zu finden, vorausgesetzt, dass alle Beteiligten sich auch an <strong>die</strong>sen<br />

Kompromiss halten.<br />

Schmid: In Landshut gibt es viele denkmalgeschützte Häuser. Sie werden vielleicht<br />

nicht so unter Druck stehen, wie in <strong>einer</strong> Groß<strong>stadt</strong>, Herr Deimer, Sie<br />

müssen aber auch darauf achten, dass z. B. bei der Landshuter Hochzeit<br />

<strong>die</strong> Plakate der Sponsoren nicht besser zu lesen sind als das Landshuter<br />

Brautpaar zu sehen ist.<br />

Deimer: Wir sind da ständig unter Druck und ich stelle fest, wenn es ums Geschäft<br />

geht, dann spielt <strong>die</strong> Ästhetik keine große Rolle. Wir haben das Problem,<br />

dass ästhetische Fragen schwer in politischen Gremien mehrheitlich zu<br />

entscheiden sind. Deshalb muss man sehr darauf achten und hoffen, dass<br />

bei der Architektenschaft und bei jenen Leuten, <strong>die</strong> über das Baugeschehen<br />

<strong>einer</strong> Stadt wachen, ein gutes Verhältnis herrscht und letztlich auch ein<br />

Vertrauensverhältnis zustande kommt. Ganz ohne Druck geht es nicht. Wir<br />

haben eine Werbeanlagenverordnung, <strong>die</strong> grundsätzlich ab der Brüstung<br />

eines Fensters im ersten Stock nach oben keine Werbeflächen zulässt,<br />

ebenso wenig auf Giebelflächen. Unsere gesamte Stadt steht unter<br />

Denkmalschutz, d. h. es gibt einen Ensembleschutz für den historischen<br />

Teil. Wir haben <strong>die</strong> Satzung für <strong>die</strong> gesamte Stadt er<strong>las</strong>sen und in den<br />

Außenbereichen dann <strong>die</strong> Restriktion gelockert, aber da natürlich darauf<br />

geachtet, dass man Sammelflächen sucht und das diszipliniert.<br />

Schmid: Herr Professor Greipl, sind Sie generell gegen Werbung in der Stadt <strong>oder</strong><br />

kommt es darauf an, wo, wie und wie viel gemacht wird?<br />

Greipl: Es hängt sicherlich vom Maß und der ästhetischen Qualität ab. Eine<br />

progressive Entwicklung bereitet uns aber schon Sorgen. Das Thema, von<br />

dem wir sprechen, ist nur ein Teil des allgemeinen Themas „Umgang mit


dem öffentlichen Raum“ <strong>oder</strong> „Kommerzialisierung und Privatisierung des<br />

öffentlichen Raums.“ Da sind <strong>die</strong> Signale schon so, dass man es<br />

irgendwann einmal eindämmen sollte. Was Frau Barzen gesagt hat, dass<br />

es sich um temporäre Erscheinungen handle, stimmt im Einzelfall, aber<br />

nicht generell, denn wenn eine temporäre Erscheinung aufhört, fängt<br />

daneben <strong>die</strong> nächste temporäre Erscheinung an. Man hat also nie das<br />

ungestörte Erscheinungsbild der Ludwigstraße, weil temporäre<br />

Erscheinungen ewig einander ablösen. Natürlich gehört <strong>die</strong> Open-Air-<br />

Bewegung mit hinein, <strong>die</strong> man am Münchner Königsplatz beobachten kann,<br />

wo bei intensiver Nutzung im Sommer der Ort als Kunstwerk nicht mehr<br />

erlebbar ist. Man kann auch beobachten, wie das verschlampt: Zuerst hatte<br />

man elegante Partyzelte, in denen Prosecco verkauft wurde, und jetzt<br />

stehen schon <strong>die</strong> Bratwursthütten da. Die Stadt wäre gut beraten, wenn<br />

man das abschaffte. Gut 30 Jahre ist es her, dass man sich gefragt hat, ob<br />

man mit den Wäldern und der Luft so rücksichtslos umgehen kann. Jetzt<br />

sind wir in <strong>einer</strong> Situation, wo man sagen kann, dass es eine Art ästhetische<br />

Umweltverschmutzung ist, <strong>die</strong> sich hier breit macht. Ein Stadtbild <strong>oder</strong> ein<br />

Gebäude in der Landschaft ist etwas, das wir geerbt haben und was man<br />

schützen sollte vor Verwahrlosung und Verschmutzung.<br />

Barzen: Ja, da gebe ich Ihnen Recht. In Zeiten leerer Kassen gibt es <strong>die</strong> Wahl,<br />

Gebäude verfallen zu <strong>las</strong>sen <strong>oder</strong> – ich nehme das Beispiel wieder von<br />

Berlin – wir sorgen dafür, dass der größte Teil der Sanierungskosten von<br />

uns übernommen wird. Diese Vereinbarung wurde mit uns getroffen und wir<br />

sind dafür verantwortlich. Die Stadt Berlin sagt auch ganz klar, dass sie es<br />

sich sonst nicht leisten kann. Auch ein hässliches Gebäude ist eine<br />

ästhetische Umweltverschmutzung, denn es ist nicht schön. Es ist<br />

entscheidend, wenn Sie von Verschmutzung reden, wie <strong>die</strong> Flächen<br />

aussehen. Ein Drittel der Flächen sind in einem fürchterlichen Zustand; sie<br />

sind hässlich, denn sie sind verschmutzt und kaputt. Es kann aber nicht<br />

sein, dass z. B. in der Maximilianstraße 18 Einzelflächen stehen und<br />

daneben ein Megaboard. Da gebe ich Ihnen völlig Recht, denn es würde<br />

uns nichts mehr nützen und wir wären in <strong>einer</strong> völligen Werbeüberflutung.<br />

Der einzelne Werbeinteressent hätte auch nichts mehr davon und es würde<br />

das totale Chaos herrschen. Es würde nicht mehr das Ensemble der<br />

Maximilianstraße wirken, sondern nur noch <strong>die</strong> Werbung. Das ist nicht in<br />

unserem Interesse.<br />

Schmid: Sie trage damit auch zur Sanierung bei, meint Frau Barzen. Beim Siegestor<br />

war der Erlös allerdings nicht so groß und es war doch ein Dammbruch.<br />

Sollte man <strong>die</strong> Entwicklung zurückdrehen? Kann man das überhaupt, Herr<br />

Ude?<br />

Ude: Ich denke, dass Baugerüste mit Rupfenvorhang wirklich hässlich sind und<br />

deshalb bereue ich <strong>die</strong> Entscheidung, Großflächenwerbung temporär<br />

zuzu<strong>las</strong>sen, eigentlich nicht; aber <strong>die</strong> Erweiterung macht mir Sorge, <strong>die</strong> z. B.<br />

von der Rechtsprechung vorgenommen wird. Die Gerichte entscheiden,<br />

wenn das an einem Baugerüst zuge<strong>las</strong>sen wird, muss es auch an jeder<br />

Giebelwand als Gewerbetätigkeit zuge<strong>las</strong>sen werden, d.h. das Argument<br />

Stadtbildpflege ist dabei wegzurutschen und der Gesichtspunkt<br />

Gewerbefreiheit <strong>einer</strong> bestimmten Werbebranche drängt sich in den<br />

Vordergrund und erobert immer mehr Flächen, <strong>die</strong> dann eben nicht mehr<br />

temporär sind. Wir haben auch schon den Fall, dass Baustellen monatelang<br />

hingezogen werden, damit man noch länger Werbeeinnahmen bekommt.<br />

Das soll sogar schon beim Brandenburger Tor geschehen sein. Ich will<br />

mich aber hier nicht nur mit dem Finanzargument auseinandersetzen, weil<br />

ich es für falsch halte. Tatsache ist, dass <strong>die</strong> Werbeausgaben<br />

konjunkturbedingt sinken. Wir machen weniger Umsätze bei der<br />

Städtereklame, wo <strong>die</strong> Stadt mit an der Kasse sitzt, und wir haben weniger<br />

Sponsorenauftritte bei allen erdenklichen Gelegenheiten. Es ist nicht wahr,<br />

dass auch bei der Stadt mehr Geld reinkommt, sondern man möchte mit


immer weniger Geld immer mehr Anteile des öffentlichen Raumes, des<br />

Stadtbildes erobern und beherrschen. Das finde ich widersinnig. Es sind<br />

auch schon der Olympiapark, der Zoo, <strong>die</strong> städtischen Spielflächen im<br />

Gespräch, weil hier Kinderprodukte promoted werden können. Bieten wir<br />

das alles an, dann werden <strong>die</strong> Werbeetats nicht steigen. Die Stadt wird nicht<br />

mehr Einnahmen haben, aber wir werden ein völlig kommerzialisiertes<br />

Stadtbild haben und dagegen verwahre ich mich.<br />

Schmid: München gilt als restriktiv in <strong>die</strong>ser Sache. Es soll ja ein Nord-Süd- und Ost-<br />

West-Gefälle geben, d. h. jene Städte, denen es schlechter geht als<br />

München, sind viel eher dazu bereit. Herr Dr. Sing, glauben Sie, dass <strong>die</strong><br />

Bayern hier sehr puristisch sind <strong>oder</strong> ist es einfach nur das Geld?<br />

Sing: Man muss eines bedenken: So ein Plakat lohnt sich nur, wenn das Umfeld<br />

schön, attraktiv und sauber ist und finanzkräftige Kunden vorbeikommen.<br />

München ist hier ein gewisser Sonderfall, denn München ist eine<br />

wohlhabende Stadt und ist daher für <strong>die</strong> Werbewirtschaft interessant. Wenn<br />

wir einen Standort haben, an dem weniger Leute vorbeikommen, kostet es<br />

auch weniger Miete und wenn wir in Städte kommen, <strong>die</strong> weniger<br />

zahlungskräftige Bürger haben, ist derselbe Effekt zu sehen. Man kann<br />

beobachten, dass in München <strong>die</strong> Werbung schöner präsentiert wird als in<br />

Berlin <strong>oder</strong> Frankfurt, ganz zu schweigen von italienischen Städten. Man<br />

kann für München sagen, dass München ein attraktiver Werbestandort ist,<br />

dass sich München daher auch zieren kann, wenn unterschiedliche Firmen<br />

an <strong>die</strong> Türe klopfen - und man kann einen höheren Preis verlangen.<br />

Natürlich kann man auch an <strong>die</strong> Werbewirtschaft höhere Ansprüche stellen.<br />

Das begründet auch das Nord-Süd- <strong>oder</strong> das Ost-West-Gefälle innerhalb<br />

Deutschlands.<br />

Schmid: Herr Deimer, als Chef des Bayerischen Städtetages sprechen Sie nicht nur<br />

für Landshut, denn Sie kennen <strong>die</strong> Entwicklung auch in anderen Städten.<br />

Würden Sie sagen, dass angesichts der leeren Kassen doch überall in den<br />

Städten mehr Bereitschaft da ist Werbung zuzu<strong>las</strong>sen?<br />

Deimer: Nein, das glaube ich nicht. Man sieht eine andere Wertigkeit. In den Städten<br />

ist es noch wichtig, dass das Stadtbild in Ordnung ist, <strong>die</strong> Silhouette stimmt.<br />

Bei Großwerbeanlagen kommt es darauf an, wo sie stehen und in welchem<br />

Verhältnis sie stehen; es kann nützlich sein hier zusammenzufassen,<br />

anstatt 10 <strong>oder</strong> 20 Werbetafeln irgendwo kunterbunt anzubringen. Man<br />

kann mit Werbung, wenn sie diszipliniert ansetzt, durchaus auch Vorteile<br />

schöpfen. Bei aller Not, <strong>die</strong> wir haben, können Sie sich aber vorstellen, dass<br />

das im Verhältnis zu dem, wie weit es bei uns überall fehlt, kein Aufkommen<br />

sein kann, dass so gewaltig zu Buche schlägt. Ich glaube nicht, dass man<br />

<strong>die</strong> Identität <strong>einer</strong> Stadt verrät, so weit darf es nicht gehen. Ich bin auch der<br />

Meinung, dass man ab und zu ein altes Haus, selbst wenn es nicht mehr<br />

ohne Falten ist, ertragen kann. Es gibt bei uns mitten in der Stadt ein Haus,<br />

das vielen nicht gefällt, obwohl es in Ordnung ist. Es wurde ein Gerüst<br />

aufgebaut und alle haben sich gefreut, dass wahrscheinlich <strong>die</strong> Fassade<br />

heruntergeputzt wird. Dabei hat man nur einige Dinge in Ordnung gebracht<br />

und das Gerüst wieder abgebaut. Wenn ich es so anschaue, dann hat<br />

<strong>die</strong>ses Haus zwar Blessuren, aber es ist im Gesamtensemble doch schön.<br />

Schmid: Sie haben gesagt, <strong>die</strong> Städte seien eigentlich immer noch vorsichtig, was<br />

<strong>die</strong> Werbung betrifft. In München z. B. gab es den Vorschlag der CSU, auch<br />

Kanaldeckel mit Reklame zu versehen und es gab den Antrag, Dienstautos<br />

zu Werbeflächen zu machen. Herr Professor Greipl, ist das jetzt nur<br />

Ausdruck der Finanznot <strong>oder</strong> auch Ausdruck eines gesellschaftlichen<br />

Bewusstseinswandels?<br />

Greipl: Verschiedene Dinge spielen hier eine Rolle. Unser<br />

Wahrnehmungsverhalten wandelt sich von Generation zu Generation. Ich<br />

glaube, wir stellen eine Entwicklung fest, dass immer stärkere Reize


notwendig werden, um <strong>die</strong> Leute zu beeindrucken. Ein ruhiges Straßenbild<br />

mit schönen Fassaden und gemäßigten Farben regt keinen auf. Die Leute<br />

sollen aber irgendwie in Aufregung versetzt werden. Die Konkurrenz der<br />

Reize wird sich jedoch hoffentlich wieder mal drehen, wenn das alles<br />

langweilig wird. Das finanzielle Thema kann ich bestätigen. In m<strong>einer</strong> Zeit<br />

als Kulturreferent stand <strong>die</strong> Generalsanierung des Theatergebäudes an und<br />

es ging darum, ob man mit den Gerüstflächen finanzielle Ent<strong>las</strong>tung<br />

schaffen kann durch Werbung. Was hier einzuspielen gewesen wäre war<br />

im Vergleich zum Gesamtvolumen der Maßnahme so verschwindend<br />

gering, dass wir es sein ließen. Ich glaube nicht, Herr Deimer, dass <strong>die</strong><br />

Sanierung der katastrophalen Finanzlage der Kommunen auf dem Weg<br />

intensiverer Werbung möglich wäre.<br />

Schmid: Junge Menschen sind selbstverständlicher mit Werbung aufgewachsen.<br />

Frau Barzen, ist das ein Thema, das nur wir diskutieren und das jüngere<br />

Menschen gar nicht mehr so beschäftigt, weil Werbung zum Alltag gehört?<br />

Barzen: Werbung gehört sicherlich zum Alltag, ist aber auch ein Teil unserer Kultur.<br />

Man darf nicht sagen, dass Werbung nur dazu da sei, <strong>die</strong> Wirtschaft<br />

anzukurbeln, sondern sie spiegelt auch unser Lebensgefühl, unsere Kultur<br />

wider. Als solches wird sie von der Jugend auch sehr stark angenommen;<br />

man merkt es auch daran, wie viele Leute in den Berufszweig Werbung<br />

hineindrängen und da mitarbeiten möchten. Ich finde deshalb den Stand<br />

der Werbung auch wichtig. Man merkt das auch daran, wie sich <strong>die</strong> Leute<br />

selbst mit Werbeartikeln umgeben. Auch der Markentrend ist ein Ausdruck<br />

von Werbung, denn ich identifiziere mich mit etwas, mit einem Produkt, ich<br />

übernehme es von der Werbung. Natürlich hat man auch eine<br />

Verantwortung in der Werbung. Jetzt sind wir wieder bei dem Punkt: Was<br />

kann ich an Werbung zu<strong>las</strong>sen und was nicht? Das ist ein Punkt, den ich in<br />

der Außenwerbung auch sehr gut gelöst finde, dass wir nicht alles dürfen.<br />

Wir dürfen nicht alles, was wir abbilden könnten, abbilden. Wir unterliegen<br />

sehr wohl den allgemeinen Gesetzesrichtlinien und wir haben in vielen<br />

Städten noch zusätzliche Vereinbarungen, was z. B. Motive betrifft. Wir<br />

sagen z. B. bei der Automobilwerbung nicht generell, dass wir alles<br />

aufhängen dürfen, sondern wir gehen zu den Städten, legen ihnen das<br />

Motiv vor und fragen, ob wir es aufhängen dürfen, um hier ein<br />

weitgehendes Mitspracherecht der Städte zu ermöglichen.<br />

Schmid: Ein Beispiel hierfür sind <strong>die</strong> Bus- und Straßenbahnhäuschen in München,<br />

<strong>die</strong> von der Firma Citylights aufgestellt wurden. Es gab Bilder von nackten<br />

Frauen mit eindeutig sexistischen Bildunterschriften. Sie, Herr Ude, haben<br />

<strong>die</strong> Protestbriefe bekommen, aber Sie können eigentlich nichts dagegen<br />

machen, <strong>oder</strong>?<br />

Ude: Doch, wir haben Richtlinien, aber das halte ich für ein Spezialproblem,<br />

wobei das bei der Großfläche keine solche Rolle spielt; da gebe ich Frau<br />

Barzen recht. Es ist natürlich so, dass gerade Damenunterbekleidung<br />

immer wieder dazu verführt, das so ins Bild zu setzen. Hauptsache sind da<br />

immer Strümpfe und Büstenhalter, aber es scheint weniger um den BH zu<br />

gehen als um <strong>die</strong> junge Frau, <strong>die</strong> ihn trägt. Ich fand das in Ordnung, bis man<br />

auch hier maßlos weitergedreht hat und es zu <strong>einer</strong> eindeutig sexistischen –<br />

ich würde schon fast sagen: pornografischen – Reduzierung der Frau<br />

gekommen ist. Das können wir durchaus unterbinden, denn wir haben für<br />

<strong>die</strong> Münchner Verkehrsgesellschaft Richtlinien, und <strong>die</strong> untersagen nicht nur<br />

rassistische, sondern auch sexistische Entgleisungen. Ich würde aber gerne<br />

noch mal auf <strong>die</strong> Kanaldeckel und <strong>die</strong> Finanzen kommen. Man muss sich<br />

das einmal vorstellen: Es wird beantragt, dass Kanaldeckel nicht mehr<br />

Kanaldeckel der Stadt sind, sondern für Coca Cola, Nivea <strong>oder</strong> Firmen mit<br />

sonstigem runden Logo Reklame machen. Man hat auch bei unseren<br />

Dienstfahrzeugen ein Werbekonzept beantragt. In manchen Städten<br />

schauen <strong>die</strong> Straßenbahnen nicht mehr wie Fahrzeuge aus, sondern wie


überdimensionale Zahnpastatuben <strong>oder</strong> Zigarettenschachteln, weil sie<br />

komplett in einen Werbeträger verwandelt werden; man macht sogar wieder<br />

<strong>die</strong> Fenster zu, <strong>die</strong> für das Publikum geschaffen wurden, damit auch das<br />

Fenster Bestandteil der Werbefläche wird. Das sehe ich als Perversion an.<br />

Die Frage ist, ob dadurch wirklich mehr Geld in <strong>die</strong> Kasse der Stadt kommt.<br />

Aber dadurch haben wir nicht mehr Geld, denn dadurch stehen natürlich<br />

Reklameflächen z. B. in den U-Bahnhöfen leer, weil immer <strong>die</strong> neueste und<br />

lauteste Reklamemöglichkeit nachgefragt wird und <strong>die</strong> anderen<br />

entsprechende Umsatzeinbußen haben. Ich bringe ein Beispiel vom<br />

Münchner Flughafen, das ich wirklich toll finde und den man nicht genug<br />

loben kann. Bei allen Flughäfen der Welt haben Sie kilometerlange<br />

Billboards, bevor sie endlich am Flughafen sind. In München gibt es eine<br />

einzige Uhr, auf der auf einen Sponsor hingewiesen wird. Ich darf ihn leider<br />

nicht nennen, aber der Betrag, der da hereinkommt, ist größer als für<br />

Dutzend Billboards, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Landschaft verschandeln. Deshalb sollten wir<br />

uns gegen <strong>die</strong> Inflationierung der Werbeflächen wehren. Es kommt dadurch<br />

nicht mehr Geld herein, sondern es wird nur marktschreierischer.<br />

Schmid: Frau Barzen hätte sicher viel mehr Werbung am Flughafen.<br />

Barzen: Nein, denn das wäre ein abschreckendes Beispiel, wie Werbung nicht sein<br />

darf. Ich finde, der ganze Flughafen sieht aus wie ein einziges Audi-Forum.<br />

Wenn ich den Flughafen ver<strong>las</strong>se, wo das Beispiel des Transrapids<br />

aufgebaut ist <strong>oder</strong> wenn ich oben hinausgehe, springt mir ein riesengroßes<br />

Schild „Audi-Forum“ entgegen. Wenn ich Mercedes wäre und der<br />

Mercedes-Stern nicht erlaubt wäre, würde ich mich auf den Arm genommen<br />

fühlen. Ich kann <strong>die</strong> Diskussion über einen Stern auf einem Dach nicht<br />

nachvollziehen. Ich habe mit einigen Leuten gesprochen, <strong>die</strong> am Flughafen<br />

angekommen sind, und habe sie gefragt, was ihnen in Erinnerung<br />

geblieben ist. Jeder fragte mich, ob es ein von Audi gesponserter Flughafen<br />

ist. Das finde selbst ich nicht mehr in Ordnung.<br />

Ude: Ja, Sie haben Recht. Ich meinte das Vorfeld des Flughafens und nicht <strong>die</strong><br />

Peinlichkeit, <strong>die</strong> Sie jetzt hier ansprachen.<br />

Schmid: Es wurden schon Hunderte von Prozessen geführt, auch gegen <strong>die</strong><br />

Behörden. Wie ist das rechtlich geregelt? Kann das jede Stadt machen, wie<br />

sie möchte?<br />

Deimer: Ja, sie kann ihre eigene Verordnung er<strong>las</strong>sen, aber vom Landesamt gibt es<br />

Vorgaben. Schwierig wird es bei der Möblierung der Innenstädte. Da wird<br />

es schwierig, weil in der Tat eine Entartung in ästhetischen Fragen in der<br />

Bevölkerung festzustellen ist. Es ist unglaublich, dass man Straßen und<br />

Plätze, <strong>die</strong> eine hervorragende architektonische Gestalt haben, mit<br />

irgendwelchen Einrichtungsgegenständen „verschönern“ will <strong>oder</strong> dass man<br />

<strong>die</strong> Natur hereinholt und glaubt, man müsste überall Bäume hineinpflanzen<br />

<strong>oder</strong> Pflanzkübel aufstellen. Ich denke, dass auch beim Städtebau, bei der<br />

Stadtgestaltung und der Denkmalpflege eine ganz harte Linie notwendig ist.<br />

Schmid: Wie weit wird das von der Bevölkerung, von den Bürgern goutiert? Herr Dr.<br />

Sing, wie sieht es mit der Akzeptanz durch <strong>die</strong> Bürger aus?<br />

Sing: Ich kann nichts Schlimmes daran finden, wenn z. B. der Königsplatz als<br />

Open-Air-Kino benutzt wird <strong>oder</strong> als Veranstaltungssaal für Konzerte. Hier<br />

besteht <strong>die</strong> Gefahr, dass sich <strong>die</strong> Denkmalschützer in <strong>die</strong> Ecke stellen<br />

<strong>las</strong>sen als <strong>die</strong> Granitburschen, <strong>die</strong> nicht zu<strong>las</strong>sen wollen, dass der<br />

öffentliche Raum auch genutzt wird. Es ist ein öffentlicher Raum, auch<br />

wenn es ein historisches Ensemble ist. Wir leben im 21. Jahrhundert und<br />

<strong>die</strong> Bürger wollen den öffentlichen Raum mit ihrem Leben erfüllen und da<br />

wird es gefährlich, wenn man sich nur auf Granitpositionen zurückzieht und<br />

nicht daran denkt - auch wenn das Ludwig I. gebaut hat -, ob man hier nicht<br />

auch einen Kaffee draußen trinken <strong>oder</strong> ein Konzert hören kann. Hier muss<br />

man aufpassen, dass man im Zuge <strong>einer</strong> öffentlichen Debatte überlegt, was


wir wollen, ob uns <strong>die</strong> historische Kulisse wirklich mehr wert ist als das<br />

Leben in <strong>die</strong>ser Kulisse. Das muss immer aufs Neue diskutiert werden: auf<br />

der einen Seite steht <strong>die</strong> Kommerzialisierung und auf der anderen Seite <strong>die</strong><br />

Werbewirtschaft. In München geht <strong>die</strong> Debatte um <strong>die</strong> Neonlichtreklame<br />

schon seit den 20er Jahren und da amüsieren sich <strong>die</strong> Berliner, dass es in<br />

München so dunkel ist. München steht dazu, dass es nicht im Neonlicht<br />

leuchtet.<br />

Schmid: Kurt Schwitters hat 1928 gesagt: „Der Münchner kann es in anderen<br />

Städten aufgrund der Neonreklame gar nicht aushalten.“ Ein schönes<br />

Beispiel gibt es noch aus München: Die Tierpark AG, auch knapp bei<br />

Kasse, wollte groß ins Werbegeschäft einsteigen mit mindestens 40<br />

Standorten für Reklametafeln, dazu beleuchtete Litfasssäulen,<br />

Treppenstufen, Zäune und Gehege mit Werbung. Der Aufsichtsrat fand das<br />

Konzept ganz gut, aber der OB hat entschieden „Stopp“ gerufen. Herr Ude,<br />

haben Sie in <strong>die</strong>sem Fall ein wenig den Volkszorn befürchtet, dass <strong>die</strong><br />

Leute sich fragen, was das soll?<br />

Ude: Der Volkszorn wäre gekommen, aber zunächst war mir mein eigener Zorn<br />

schon ausreichend. Ich denke, dass <strong>die</strong> Stadt über ein Jahrhundert einen<br />

wunderschönen Park, ein Stück Isarlandschaft, der Bevölkerung ermöglicht<br />

hat, das <strong>die</strong> Bürgerschaft auch selber gezahlt hat. Es sollte eine Oase der<br />

Ruhe, ein Ort des ökologischen Lernens, auch der Begegnung mit dem Tier<br />

sein. Da geht es nicht an, dass <strong>die</strong> Wirtschaft ein letztes Scherflein zur<br />

Finanzierung beiträgt und dafür den ganzen Park prägen will, von den<br />

Stufen im Affenhaus bis zum Durchgang im Dschungelzelt und überall eine<br />

Litfasssäule, eine Plakatwand und dann noch an den Wiesenabgrenzungen<br />

Schilder aufstellen will, dass sie es gesponsert hat. Hier gehört für mich ein<br />

gewisses Selbstverständnis der Bürgerschaft dazu: Wenn wir es zu 99<br />

Prozent finanzieren, dann soll das eine Prozent, das <strong>die</strong> Wirtschaft<br />

beisteuert, nicht den ganzen Park umkrempeln, als ob es eine<br />

Kommerzanlage, ein Disneyland wäre. Der Streit ist glücklicherweise<br />

ausgestanden und es bleibt wieder <strong>die</strong> Frage der Finanzen. Ich bestreite,<br />

dass durch so eine Überflutung mehr Geld reinkommt, als wenn man an<br />

einigen wenigen Stellen - wie es auch zur historischen Stadt gehört - z. B.<br />

Litfasssäulen ermöglicht; das gehörte schon im 19. Jahrhundert zum<br />

Stadtbild des anspruchsvollen Paris, Berlin, Wien und München. Mir geht es<br />

hier um <strong>die</strong> Überflutung, <strong>die</strong> sich zwar gegenseitig aufhebt, aber <strong>die</strong> aus<br />

<strong>einer</strong> demokratischen Einrichtung eine kommerzielle macht. Diesen<br />

Eindruck möchte ich nicht aufkommen <strong>las</strong>sen.<br />

Schmid: Frau Barzen, würde sich <strong>die</strong> Werbewirtschaft bei <strong>die</strong>sem Beispiel Tierpark<br />

einen Gefallen tun, auch wenn sie aneckt? Würde man sagen: Egal,<br />

Hauptsache, wir werden gesehen! Oder ist das kein optimaler Standort?<br />

Barzen: Ich selbst mag den Tierpark sehr gerne und wurde auch zu <strong>die</strong>sem Thema<br />

befragt. Ich habe zugestimmt, sofern es Sinn macht. Wenn es darum geht,<br />

in einem Nashorngehege einen Jeep aufzustellen, dann wird es<br />

irgendwann irre. Da gebe ich Herrn Ude Recht, ebenso bei den<br />

Treppenstufen. Hier muss man Hand in Hand arbeiten. Nehmen wir z. B.<br />

einen Eishersteller, der sich dort präsentieren möchte, dann macht das<br />

Sinn. Das Zielpublikum im Tierpark sind <strong>die</strong> Kinder und dann sollte man <strong>die</strong><br />

Kinder nicht „erschlagen“ mit Werbung. Im Tierpark hat ein Computerspiel<br />

z. B. nichts zu suchen, das ist ein Widersinn. Im Tierpark will ich mit der<br />

Natur leben und wenn ich dort Werbung mache für genau das krasse<br />

Gegenteil - nach dem Motto: setz dich lieber vor den Computer, bevor du<br />

<strong>die</strong> Affen ansiehst -, dann bekomme ich auch Bauchschmerzen; damit<br />

möchte ich nichts zu tun haben. Um dem Tierpark zu helfen wäre eine Idee,<br />

dass man befristet auf <strong>einer</strong> freien Wiese eine Werbefläche aufstellt und<br />

kombiniert das, denn es bringt der Werbung im Tierpark nur etwas, wenn<br />

außen auch Werbung für den Tierpark gemacht wird. D. h. eigentlich will


man mehr Zuschauer hineinbekommen und nicht primär <strong>die</strong> Zuschauer<br />

ansprechen, <strong>die</strong> bereits drin sind. Und nur wenn mehr Zuschauer da sind,<br />

essen auch mehr Leute Eis. Das müsste in der Kombination laufen: wer<br />

Werbung drinnen platziert, der wirbt wiederum draußen für den Tierpark,<br />

damit man hier eine schlüssige Kette hat, <strong>die</strong> für jeden Sinn macht, um am<br />

Ende mehr Leute in den Tierpark zu bekommen. Dann macht das auch<br />

Sinn, allerdings nur für ein Produkt, bei dem es nicht absurd wird.<br />

Schmid: Sie haben schon ein Konzept dafür.<br />

Barzen: Ja, der Tierpark hat mich schon beschäftigt.<br />

Schmid: Herr Prof. Greipl, wäre so etwas noch zu akzeptieren?<br />

Greipl: Ich habe das Tierparkkonzept nicht so verfolgt, aber mich wundert, dass<br />

<strong>die</strong> Rückseiten der Paviane noch nicht als Werbeträger entdeckt wurden.<br />

Eine Geschichte noch zu dem, was Herr Ude und Herr Deimer gesagt<br />

haben. Eine Stadt ist kein Unternehmen, sondern eine politische<br />

Veranstaltung. Das drückt sich zuletzt auch darin aus, ob sie mit ihrem<br />

öffentlichen Raum politisch gestaltend umgeht <strong>oder</strong> ob sie sagt, dass es ein<br />

Wirtschaftsgut ist, dass sie verwerten muss. Mir gefallen <strong>die</strong> Kanaldeckel in<br />

Rom sehr gut, auf denen spqr steht: senatus populusque romanus, <strong>die</strong> alte<br />

Abkürzung. Das zeigt seit 2000 Jahren den Stolz auf das Gemeinwesen.<br />

Deimer: Ich sammle Fotografien von alten Kanaldeckeln und habe auch ein<br />

wunderbares Buch über <strong>die</strong> New Yorker Kanaldeckel. Das ist auch ein<br />

Stück Entwicklungsgeschichte, nicht nur technologisch, sondern auch von<br />

der ästhetischen Seite der Produkte her, <strong>die</strong> funktionell in <strong>einer</strong> Stadt<br />

gebraucht werden. Ich würde sagen, alles gehört jedem: der Platz gehört im<br />

Prinzip jedem und man darf davon nicht einfach Besitz ergreifen von<br />

bestimmter Seite. Deshalb ist <strong>die</strong> Maßstäblichkeit so wichtig. Ich würde Ihre<br />

Intentionen nicht zurückweisen, wenn sie an der richtigen Stelle platziert<br />

sind. Wenn sie von der Art der Darstellung, der Materialwahl, der<br />

Maßstäblichkeit zum jeweiligen Baukörper richtig angebracht ist, finde ich<br />

Werbung toll.<br />

Schmid: Noch einen Aspekt möchte ich ansprechen: Das Augsburger Stadttheater<br />

wollte mit Fahnen und Plakaten für eigene Inszenierungen werben und ist<br />

von den Denkmalschützern angegriffen worden. Wir kennen das auch aus<br />

München: Der Architekt Braunfels hat sich über <strong>die</strong> Pinakothek der<br />

M<strong>oder</strong>ne sehr beklagt, dass dort ein Plakat für eine Ausstellung wirbt. Wie<br />

sieht es aus mit Werbung in eigener Sache, Herr Ude?<br />

Ude: Ich habe Anfang der 90er Jahre sogar <strong>die</strong> Theater und Museen der Stadt<br />

und des Staates zusammengerufen, damit wir etwas Werbung machen<br />

dürfen, z. B. Fahnen, wie sie heute an der Oper zu finden sind, <strong>oder</strong><br />

Transparente, wie wir sie auch aus Venedig von der Rialto-Brücke <strong>oder</strong><br />

dem Dogenpa<strong>las</strong>t kennen und vielen Palazzi am Canale Grande. Das<br />

gehört meines Erachtens zur lebendigen Stadt dazu, dass man auch<br />

erfährt, wo etwas los ist. Die andere Frage ist, ob hier wieder eine<br />

maßstabslose Werbung eingeführt wird. Das ist eine ganz kitzlige Frage<br />

beim Thema Pinakothek der M<strong>oder</strong>ne. Ich habe mit Stephan Braunfels<br />

darüber diskutiert. Er sagte, natürlich sei ein Plakat, das noch dazu<br />

Architektur zeigt, nämlich Architektur von Semper, für einen Architekten<br />

etwas Attraktives und da wolle er sich eigentlich nicht quer legen. Es geht<br />

aber um <strong>die</strong> Frage des Dammbruchs: Wenn er einmal zulässt, dass an der<br />

Wand der Pinakothek der M<strong>oder</strong>ne, <strong>die</strong> als geschlossenes Bauwerk<br />

gedacht ist und in Erscheinung treten soll, eine Großflächenwerbung<br />

gemacht wird, dann ist <strong>die</strong> nächste Werbung nicht mehr schwarz-weiß,<br />

sondern farbig, und <strong>die</strong> übernächste nicht mehr für eine Eigenveranstaltung,<br />

sondern für irgendeinen Sponsor und schon sind wir dabei, dass <strong>die</strong><br />

Pinakothek als ein weltweit gefeiertes Architekturwerk eine<br />

überdimensionale Werbefläche ist. Deshalb verstehe ich, dass er den


Anfängen wehren will, um eine klare rechtliche Grenze zu ziehen, auch<br />

wenn mich das Semper-Plakat nicht stören würde. Es geht aber ums<br />

Prinzip.<br />

Schmid: Was sagt der Denkmalschützer?<br />

Greipl: Dem stimme ich zu. Das Problem ist hier auch der Einstieg in eine<br />

Entwicklung, <strong>die</strong> nicht mehr zu stoppen ist. Außerdem sind <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>se Werbung für <strong>die</strong> Semper-Ausstellung sehen, schon fast drin. Hier<br />

sehe ich den Zweck nicht.<br />

Sing: Es ist ein öffentliches Gebäude und da hängt Werbung für eine Semper-<br />

Ausstellung. Ich weiß nicht, was daran schlimm sein soll. Ich kann <strong>die</strong>sen<br />

Habitus des Architekten nicht ganz nachvollziehen, denn <strong>die</strong>ses Gebäude<br />

ist mit staatlichen Mitteln und Spenden gebaut worden, es wird genutzt und<br />

zur Nutzung des Gebäudes gehört meines Erachtens auch dazu, dass man<br />

Plakate aufhängt, wenn das ästhetisch passt, mit Hinweis, was in der<br />

Pinakothek der M<strong>oder</strong>ne zu sehen ist. Hiermit müsste auch ein Architekt<br />

einverstanden sein, denn sonst soll er sich seine Pinakothek auf <strong>die</strong> grüne<br />

Wiese stellen, wo er sein Kunstwerk pflegen kann. Es ist ein Gebäude, das<br />

genutzt wird; Nutzungen wandeln sich und da gehört meines Erachtens<br />

auch hinzu, dass man so ein Banner aufhängen kann.<br />

Schmid: Zum Schluss noch eine Frage: Es gibt nicht nur Werbeplakate für<br />

Waschmittel und Lebensmittel, sondern gerade vor dem Wahlkampf auch<br />

viele Wahlplakate, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stadt auch nicht schöner machen. Hier könnte<br />

man mit gutem Beispiel vorangehen und sagen, dass man sich hier<br />

beschränkt.<br />

Deimer: Das machen wir schon seit Jahren. Wir haben <strong>die</strong> politischen Parteien<br />

soweit gebracht, dass sie sich disziplinieren und eine bestimmte Zahl von<br />

großen Tafeln, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stadt aufstellt, benutzen und damit das wilde<br />

Plakatieren unter<strong>las</strong>sen. Es ist klar, dass es ein paar Verrückte gibt, <strong>die</strong><br />

meinen, man könnte heute noch mit Plakaten beeindrucken, das kann man<br />

nicht verhindern. Man kann aber eine gewisse Ordnung herbeiführen, wenn<br />

man sich zu <strong>die</strong>ser Erkenntnis zusammenrauft, dass alles in <strong>einer</strong> gewissen<br />

Relation gemacht wird.<br />

Schmid: Hässlich sieht es nach der Wahl aus, wenn <strong>die</strong> Plakate langsam verfallen.<br />

Ude: Wir sollten zugeben, es ist kein gutes Beispiel, das <strong>die</strong> Politik hier setzt. Wir<br />

sind alle hier Sünder, wenn es um <strong>die</strong> eigene Wahl geht. Wir haben uns<br />

aber immerhin zu zeitlichen Begrenzungen aufgerafft. Früher ging es das<br />

ganze Jahr über hindurch und das nächste Jahr war fast immer auch ein<br />

Wahljahr. Wir sind jetzt zu engeren Zeiten gekommen und ich hoffe, dass<br />

<strong>die</strong> Parteien aus finanziellen Gründen auch zu quantitativen<br />

Beschränkungen kommen. In m<strong>einer</strong> Schulzeit gab es noch eine Holzwand<br />

von der Stadt und jede Partei war mit einem Plakat vertreten. Das finde ich<br />

viel demokratischer, als wenn es auf <strong>die</strong> Finanzkraft ankommt, ob man<br />

ganze Ausfallstraßen zupf<strong>las</strong>tert <strong>oder</strong> nicht. Das wird sicherlich keine<br />

Stimmen bringen, sondern Antipathie.<br />

Schmid: Das war Alpha-Forum City zum Thema: Wie viel Werbung verträgt <strong>die</strong><br />

Stadt? Auch wenn <strong>die</strong> zusätzlichen Einnahmen manchmal verlockend sind,<br />

<strong>die</strong> Städte müssen darauf achten, ihre Identität nicht zu verkaufen.<br />

Andererseits gehört Werbung zu unserem Alltag und wir Bürger bestimmen<br />

letzten Endes, wie viel wir davon in unserer Stadt sehen wollen. Wie immer<br />

können Sie das Gespräch im Internet nachlesen. Ich danke Ihnen fürs<br />

Zuschauen und auf Wiedersehen.


Anfängen wehren will, um eine klare rechtliche Grenze zu ziehen, auch<br />

wenn mich das Semper-Plakat nicht stören würde. Es geht aber ums<br />

Prinzip.<br />

Schmid: Was sagt der Denkmalschützer?<br />

Greipl: Dem stimme ich zu. Das Problem ist hier auch der Einstieg in eine<br />

Entwicklung, <strong>die</strong> nicht mehr zu stoppen ist. Außerdem sind <strong>die</strong> Leute, <strong>die</strong><br />

<strong>die</strong>se Werbung für <strong>die</strong> Semper-Ausstellung sehen, schon fast drin. Hier<br />

sehe ich den Zweck nicht.<br />

Sing: Es ist ein öffentliches Gebäude und da hängt Werbung für eine Semper-<br />

Ausstellung. Ich weiß nicht, was daran schlimm sein soll. Ich kann <strong>die</strong>sen<br />

Habitus des Architekten nicht ganz nachvollziehen, denn <strong>die</strong>ses Gebäude<br />

ist mit staatlichen Mitteln und Spenden gebaut worden, es wird genutzt und<br />

zur Nutzung des Gebäudes gehört meines Erachtens auch dazu, dass man<br />

Plakate aufhängt, wenn das ästhetisch passt, mit Hinweis, was in der<br />

Pinakothek der M<strong>oder</strong>ne zu sehen ist. Hiermit müsste auch ein Architekt<br />

einverstanden sein, denn sonst soll er sich seine Pinakothek auf <strong>die</strong> grüne<br />

Wiese stellen, wo er sein Kunstwerk pflegen kann. Es ist ein Gebäude, das<br />

genutzt wird; Nutzungen wandeln sich und da gehört meines Erachtens<br />

auch hinzu, dass man so ein Banner aufhängen kann.<br />

Schmid: Zum Schluss noch eine Frage: Es gibt nicht nur Werbeplakate für<br />

Waschmittel und Lebensmittel, sondern gerade vor dem Wahlkampf auch<br />

viele Wahlplakate, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stadt auch nicht schöner machen. Hier könnte<br />

man mit gutem Beispiel vorangehen und sagen, dass man sich hier<br />

beschränkt.<br />

Deimer: Das machen wir schon seit Jahren. Wir haben <strong>die</strong> politischen Parteien<br />

soweit gebracht, dass sie sich disziplinieren und eine bestimmte Zahl von<br />

großen Tafeln, <strong>die</strong> <strong>die</strong> Stadt aufstellt, benutzen und damit das wilde<br />

Plakatieren unter<strong>las</strong>sen. Es ist klar, dass es ein paar Verrückte gibt, <strong>die</strong><br />

meinen, man könnte heute noch mit Plakaten beeindrucken, das kann man<br />

nicht verhindern. Man kann aber eine gewisse Ordnung herbeiführen, wenn<br />

man sich zu <strong>die</strong>ser Erkenntnis zusammenrauft, dass alles in <strong>einer</strong> gewissen<br />

Relation gemacht wird.<br />

Schmid: Hässlich sieht es nach der Wahl aus, wenn <strong>die</strong> Plakate langsam verfallen.<br />

Ude: Wir sollten zugeben, es ist kein gutes Beispiel, das <strong>die</strong> Politik hier setzt. Wir<br />

sind alle hier Sünder, wenn es um <strong>die</strong> eigene Wahl geht. Wir haben uns<br />

aber immerhin zu zeitlichen Begrenzungen aufgerafft. Früher ging es das<br />

ganze Jahr über hindurch und das nächste Jahr war fast immer auch ein<br />

Wahljahr. Wir sind jetzt zu engeren Zeiten gekommen und ich hoffe, dass<br />

<strong>die</strong> Parteien aus finanziellen Gründen auch zu quantitativen<br />

Beschränkungen kommen. In m<strong>einer</strong> Schulzeit gab es noch eine Holzwand<br />

von der Stadt und jede Partei war mit einem Plakat vertreten. Das finde ich<br />

viel demokratischer, als wenn es auf <strong>die</strong> Finanzkraft ankommt, ob man<br />

ganze Ausfallstraßen zupf<strong>las</strong>tert <strong>oder</strong> nicht. Das wird sicherlich keine<br />

Stimmen bringen, sondern Antipathie.<br />

Schmid: Das war Alpha-Forum City zum Thema: Wie viel Werbung verträgt <strong>die</strong><br />

Stadt? Auch wenn <strong>die</strong> zusätzlichen Einnahmen manchmal verlockend sind,<br />

<strong>die</strong> Städte müssen darauf achten, ihre Identität nicht zu verkaufen.<br />

Andererseits gehört Werbung zu unserem Alltag und wir Bürger bestimmen<br />

letzten Endes, wie viel wir davon in unserer Stadt sehen wollen. Wie immer<br />

können Sie das Gespräch im Internet nachlesen. Ich danke Ihnen fürs<br />

Zuschauen und auf Wiedersehen.


5. Aktueller Stand der Forschung<br />

„Werbung scheint zu weltlich für eine ernsthafte Betrachtung.“[12](Hänggi 2009)<br />

Me<strong>die</strong>nwissenschaftlerInnen und NeuropsychologInnen setzen sich mit Werbewirkung auseinander und<br />

veröffentlichen immer wieder neue Stu<strong>die</strong>n über <strong>die</strong> Wirkungskraft der unterschiedlichen Werbeme<strong>die</strong>n.<br />

Die Homepages der Plakatgesellschaften zeigen, dass solche Stu<strong>die</strong>n regelmässig von Institutionen<br />

der Werbebranche in eigener Regie durchgeführt werden, mit dem Ziel <strong>die</strong> Wirkungskraft des angebotenen<br />

Werbemediums aufzuzeigen. Als Beispiel <strong>einer</strong> – von der Werbebranche unabhängigen –<br />

Stu<strong>die</strong>, sei hier Scheiers (2006) Buch ‚Wie Werbung wirkt. Erkenntnisse des Neuromarketings‘ genannt.<br />

Es beschreibt verschiedene Zugänge zum Gehirn der BetrachterInnen von Werbebotschaften<br />

und legt dar, wie eine Brücke vom Werbeinhalt zur Handlungsmotivation geschlagen werden kann.<br />

Solche Stu<strong>die</strong>n gäbe es noch viele zu nennen, doch sind sie für <strong>die</strong>se Arbeit von geringem Interesse, da<br />

Werbeinhalte nur am Rande in <strong>die</strong> Analyse miteinbezogen werden. Die wissenschaftliche Diskussion<br />

über <strong>die</strong> Werbung und im spezifischen über <strong>die</strong> Aussenwerbung findet – im Gegensatz zur Diskussion<br />

über <strong>die</strong> Werbewirkung – an einem relativ kleinen Ort statt (Hänggi 2009).<br />

In jüngerer Zeit wurden zwei erkenntnisträchtige Bücher zum Thema Aussenwerbung publiziert: ‚Gastfreundschaft<br />

im Zeitalter der medialen Repräsentation‘ – eine philosophische Analyse von Hänggi<br />

(2009) über das ‚Wesen‘ der Werbung. Es handelt sich um eine theoretische Analyse von Werbung,<br />

welche keine empirische Datenerhebung enthält. Ihre Inhalte werden im Theoriekapitel 7 genauer beleuchtet.<br />

Das Werk von Lehmann (2008) ‚Public Space – Public Relations: Grossformatige Werbung als<br />

Beispiel des Umgangs mit öffentlichen Räumen‘ ist eine der ersten Analysen, <strong>die</strong> Werbung im öffentlichen<br />

Raum aus <strong>einer</strong> <strong>stadt</strong>planerischen Perspektive betrachtet (Lehmann 2008). Die Autorin zeigt<br />

anhand dreier Fallstu<strong>die</strong>n in deutschen Städten auf, dass im Bereich der grossformatigen Werbung<br />

Handlungs- und Steuerungsbedarf besteht und schlägt mögliche Instrumente und Handlungsoptionen<br />

der Stadtplanung vor. Sie konzentriert sich dabei auf <strong>die</strong> grossformatige Werbung und beleuchtet<br />

<strong>die</strong> vergleichsmässig kleinformatige und häufig auftretende Plakatwerbung nur in einem allgemeinen<br />

Abschnitt über Aussenwerbung. Zudem ist Aussenwerbung auch ein Thema in wissenschaftlichen<br />

Untersuchungen zur fortschreitenden Kommerzialisierung öffentlicher Räume. Aussenwerbung wird<br />

dann als <strong>die</strong> Vereinnahmung öffentlicher Räume durch Kommerz bezeichnet (Wentz (2002) in Selle<br />

(2002)) <strong>oder</strong> als Ursache für <strong>die</strong> Zerstörung lokaler Bedeutungen verstanden (Sennet (2000) zitiert in<br />

Lehmann (2008). Aussenwerbung ist in <strong>die</strong>sen Stu<strong>die</strong>n aber nicht zentraler Untersuchungsgegenstand,<br />

sondern wird als Teilelement der allgemeinen Kommerzialisierung öffentlicher Räume in <strong>die</strong> Untersuchung<br />

miteinbezogen.<br />

Das im Jahr 2005 veröffentlichte Buch ‚Delete! Die Entschriftung des öffentlichen Raums‘ dokumentiert<br />

eine Strassenaktion von Steinbrener und Dempf – zweier Künstler, <strong>die</strong> 14 Tage lang <strong>die</strong> Wiener<br />

Neubaugasse „entschrifteten“(Dempf u. Steinbrener 2006). Zwar ist das vorwiegend fotografisch gestaltete<br />

Buch keine wissenschaftliche Analyse, doch erachte ich es als einen wichtigen Beitrag zum<br />

öffentlichen Diskurs über Aussenwerbung beziehungsweise über <strong>die</strong> Konstruktion öffentlicher Räume<br />

und <strong>die</strong> „Verbildlichung der Städte im Zuge der M<strong>oder</strong>nisierung“(Dempf u. Steinbrener 2006).<br />

Die Betrachtung von Aussenwerbung führt zu Fragestellungen über öffentliche Räume, Aufmerksamkeit,<br />

Raumgestaltung <strong>oder</strong> Macht – Themenbereiche, zu denen von der Philosophie, der Soziologie und<br />

der Geographie interessante Zugänge vorgeschlagen werden. So befasst sich beispielsweise <strong>die</strong> m<strong>oder</strong>ne<br />

Stadtgeographie mit den symbolischen und materiellen Aspekten der Raumkonstitution und diskutiert<br />

unter der Bezeichnung Ökonomie der Symbole <strong>die</strong> Aufladung räumlicher (An)Ordnungen mit


5. Aktueller Stand der Forschung<br />

kulturellen Werten. Diese Ökonomie der Symbole strebt nach <strong>einer</strong> ökonomischen Wertsteigerung von<br />

Gütern und Dienstleistungen, wie auch von Orten und Städten. Dabei werden Symbole verstanden<br />

als immaterielle Güter wie beispielsweise Bedeutungen, Werte, Bilder, Ideen, Erfahrungen <strong>oder</strong> Emotionen.<br />

Eine Analyse, <strong>die</strong> sich unter anderem <strong>die</strong>sem Thema widmet, ist <strong>die</strong> ‚Einführung in <strong>die</strong> Stadtund<br />

Raumsoziologie‘ von Löw u. Stoetzer (2008, 128). Zukin (1998) (zitiert in Löw u. Stoetzer (2008,<br />

128)) beschreibt darin <strong>die</strong> Ökonomie der Symbole als „permanente Auseinandersetzung mit Repräsentationen<br />

politischer und ökonomischer Macht“.<br />

Von Seiten der Me<strong>die</strong>nwissenschaft und der Psychologie werden <strong>die</strong> Möglichkeiten der symbolischen<br />

Aufladung materieller Güter – also <strong>die</strong> von den Werbeme<strong>die</strong>n ausgehende Strukturierungskraft auf<br />

den Menschen – analysiert. Wie oben erwähnt, spielen <strong>die</strong>se Analysen in der vorliegenden Arbeit eine<br />

untergeordnete Rolle.<br />

Eine vermutlich einzigartige Auseinandersetzung mit Aufmerksamkeit, sind Francks Darlegungen zum<br />

‚mentalen Kapitalismus‘ (2005) sowie über <strong>die</strong> ‚Ökonomie der Aufmerksamkeit‘ (2007). Franck (2007)<br />

beschreibt Aufmerksamkeit als neue Währung unserer Gesellschaft und bezeichnet sie als das Wertvollste<br />

was wir erhalten beziehungsweise bieten können.<br />

Hinzu kommen Werke aus der Philosophie und der Soziologie, <strong>die</strong> sich mit dem Verständnis von Öffentlichkeit<br />

beziehungsweise von Raum befassen. Sie sind zahlreich (Lehmann 2008, 26-40), doch gehe<br />

ich an <strong>die</strong>ser Stelle nicht weiter auf <strong>die</strong>se Werke ein, sondern werde in den nachfolgenden theoretischen<br />

Betrachtungen ausgewählte philosophische und soziologische Zugänge zum Begriff ‚Öffentlichkeit‘ genauer<br />

beleuchten.<br />

Diese Arbeit erhebt den Anspruch, an <strong>die</strong> vorhandenen Ansätze der Stadtgeographie, der Raumsoziologie<br />

und den relevanten philosophischen Betrachtungen anzuknüpfen, ohne dabei den geographischen<br />

Blickwinkel zu verlieren. Meines Erachtens wird insofern wissenschaftliches Neuland betreten, als eine<br />

räumlich-soziologische Analyse des Beachtungsraumes von Aussenwerbung als materialisierter Raum<br />

im Sinne von Löw (2001) bislang noch nicht vorgenommen wurde. Zudem war – meines Wissens –<br />

Aussenwerbung als Aspekt der Raumaneignung bisher kein Thema geographischer Analysen.


6. Zur Konstitution von Raum<br />

Raumkonstitutionsprozesse sind auf allen skalierbaren Ebenen zu beobachten: Die Entwicklung territorial<br />

gebundener Nationalstaaten, <strong>die</strong> alltäglichen Aushandlungen um Raumansprüche in Stadtpärken<br />

<strong>oder</strong> <strong>die</strong> Verdoppelung der Realitätserfahrungen durch digitale Netze sind drei Beispiele von<br />

allgegenwärtigen Raumphänomenen. Heute wird heute Raum nicht mehr als materieller Hinter- <strong>oder</strong><br />

Untergrund sozialer Prozesse verstanden, sondern als sozial produziert betrachtet. Die Gesellschaft<br />

ist dabei strukturierender Akteur der Raumproduktion und wird selbst wiederum von den produzierten<br />

Raumphänomenen strukturiert. Raum und Gesellschaft werden als sich gegenseitig verändernde<br />

Phänomene aufgefasst und das einst übliche Verständnis des Behälterraumes wird heute nicht mehr<br />

als Normalfall vorausgesetzt, sondern als möglicher Spezialfall <strong>einer</strong> räumlichen Anordnung begriffen<br />

(Löw u. Stoetzer 2008, 51).<br />

Bedeutende soziologische Raumkonzepte entstammen der marxistischen und der handlungstheoretischen<br />

Tradition (Löw u. Stoetzer 2008, 51). Henri Lefèbvre als Pionier der m<strong>oder</strong>nen Raumsoziologie<br />

und wichtiger Vertreter der marxistischen Tradition, legte 1974 in seinem Werk Production de l’espace<br />

<strong>die</strong> Grundlage für einen relationalen Raumbegriff (Löw u. Stoetzer 2008, 52). David Harvey gelang es<br />

später, <strong>die</strong> Überlegungen Lefèbvres auf <strong>die</strong> Ära der 1990er Jahre zu übertragen und sie mit der Diskussion<br />

über den Bedeutungsverlust räumlicher Barrieren unter den Bedingungen der Globalisierung<br />

zu erweitern (Löw u. Stoetzer 2008, 58).<br />

Im Gegensatz zu Vertretern der marxistischen Tradition, welche <strong>die</strong> strukturelle Prägung des Handelns<br />

betonen, suchen AutorInnen des handlungstheoretischen Ansatzes nach <strong>einer</strong> vermittelnden<br />

Kategorie zwischen den materiellen Aspekten von Räumen und den sozialen Auswirkungen räumlicher<br />

Strukturen (Löw u. Stoetzer 2008, 58, 59). Der englische Soziologe Anthony Giddens ist der<br />

wohl wichtigste Vertreter handlungstheoretischer Raumkonzeptionen. Kern s<strong>einer</strong> 1984 begründeten<br />

Theorie der Strukturierung bildet <strong>die</strong> Dualität von Handeln und Struktur 1 , mit welcher Giddens deren<br />

gegenseitige Bedingtheit zum Ausdruck bringt (Giddens 2007, 77). Giddens versteht Raum als<br />

das in Orte einge<strong>las</strong>sene Setting. Sein Raumverständnis erlaubt ihm deshalb nicht, <strong>die</strong> Begriffe Raum<br />

und Ort als soziologische Begriffe mit unterschiedlicher Bedeutung einzusetzen. Die m<strong>oder</strong>ne Raumsoziologie<br />

bemängelt <strong>die</strong>se unklare Trennung von Ort und Raum und schlägt eine Erweiterung der<br />

Giddens’schen Erkenntnis von der Dualität der Struktur vor: Die Dualität von Raum (Löw u. Stoetzer<br />

2008, 63).<br />

Die vorliegende Arbeit vertritt <strong>die</strong>ses relativistische Raumverständnis und orientiert sich an dem von<br />

Löw (2001) vorgeschlagenen raumsoziologischen Konzept. Löw’s Theorie bietet geeignete Grundlagen<br />

für das Verständnis von Raumherstellung und für <strong>die</strong> Betrachtung von öffentlichem Raum (Bühler<br />

u. a. 2009) 2 . Nachfolgend werden <strong>die</strong> Grundlagen von Löws Raumsoziologie (2001) erläutert.<br />

6.1. Die Konstitution von Raum im Sinne von Löw<br />

In Löws Raumkonzeption (2001) stehen sich Raum und Materie nicht in einem dualistischen Verhältnis<br />

gegenüber. Vielmehr sind es <strong>die</strong> Beziehungen zwischen den Objekten und Lebewesen, welche<br />

Räume bilden (Bühler u. Kaspar 2006, 37). Entsprechend definiert Löw (2001, 224) Raum als „rela-<br />

1<br />

Die Dualität von Handeln und Struktur wird von Giddens auch einfach Dualität der Struktur genannt (Giddens 2007,<br />

77)<br />

2<br />

Erscheint voraussichtlich im Jahr 2010


6. Zur Konstitution von Raum<br />

tionale (An)Ordnung sozialer Güter und Menschen an Orten“. Die Konstitution von Raum ist also<br />

<strong>einer</strong>seits durch <strong>die</strong> sozialen Güter und Menschen bestimmt und andererseits durch deren Relationen<br />

untereinander. Daraus ergeben sich folgende Betrachtungsweisen von Räumen:<br />

• Auseinandersetzung mit den sozialen Gütern und Menschen<br />

• Auseinandersetzung mit deren Relationen<br />

Löw bietet einen ansprechenden theoretischen Rahmen für <strong>die</strong> Auseinandersetzung mit den sozialen<br />

Gütern und Menschen sowie deren Relationen untereinander. Nachfolgend werden <strong>die</strong> von ihr vorgeschlagenen<br />

Bausteine der gesellschaftlichen Raumproduktion erläutert, wobei <strong>die</strong> einzelnen Elemente<br />

nicht nacheinander begriffen werden sollen.<br />

6.1.1. Soziale Güter, Menschen und Wahrnehmung<br />

„Raum wird als eine relationale Ordnung von Körpern verstanden, welche ständig in Bewegung sind und<br />

wodurch sich <strong>die</strong> Anordnung selbst wiederum ständig verändert (Löw 2001, 152).“<br />

Diesen Körpern, welche <strong>einer</strong>seits anordnen und andererseits angeordnet werden, ist gemeinsam, dass<br />

sie „Produkte“ gegenwärtigen und vor allem „Produkte“ vergangenen materiellen und symbolischen<br />

Handelns, kurz, soziale Güter sind (Löw 2001, 152-153). Soziale Güter können wiederum differenziert<br />

werden in primär materielle und primär symbolische Güter. Materielle Güter werden beispielsweise<br />

verstanden als menschliche Artefakte, Naturgegebenheiten <strong>oder</strong> der physische Organismus des Handelnden.<br />

Beispiele für symbolische Güter sind bestimmte Vorschriften und Werte <strong>oder</strong> auch bestimmte<br />

Rollenerwartungen.<br />

Da <strong>die</strong> jeweiligen Güter nie ganz materiell <strong>oder</strong> nur symbolisch sind, sondern immer beide Komponenten<br />

aufweisen, wird von primär symbolisch, <strong>oder</strong> primär materiell gesprochen. Die Tätigkeit des<br />

Anordnens bringt es mit sich, dass hier primär materielle Güter gemeint sind. Angeordnet werden<br />

also Güter in ihrer materiellen Eigenschaft, verstanden werden können <strong>die</strong>se Anordnungen jedoch nur,<br />

wenn <strong>die</strong> symbolischen Eigenschaften der sozialen Güter entziffert werden. Soziale Güter sind also ein<br />

wesentlicher Baustein von Räumen.<br />

Im Unterschied zum früheren Raumverständnis, als Menschen der relationalen Anordnung von Dingen<br />

gegenübergestellt wurden, beschreibt Löws Raumsoziologie <strong>die</strong> Menschen nicht nur als Raum<br />

schaffend, sondern genauso als Elemente dessen, was zu Räumen zusammengefasst wird (Löw 2001,<br />

155). Menschen werden also gleichermassen in <strong>die</strong> Konstitution von Räumen integriert wie <strong>die</strong> sozialen<br />

Güter. Menschen können von anderen Menschen positioniert werden, wenn zum Beispiel eine<br />

Person <strong>einer</strong> anderen zu nahe tritt. Im Gegensatz zu den sozialen Gütern können sich Menschen aber<br />

auch aktiv positionieren. Folglich versteht Löws relativistisches Raumkonzept den physischen Raum<br />

nicht als unabhängig von gesellschaftlichen Prozessen, sondern betrachtet ihn als „Manifestation des<br />

gesellschaftlichen Raumes“(Bühler u. Kaspar 2006, 38).<br />

Bei der Analyse der Raumkonstitution geht es aber nicht nur um <strong>die</strong> Frage, wie der Mensch soziale<br />

Güter positioniert und verknüpft (siehe Kapitel 6.1.2), sondern genauso um <strong>die</strong>, den Menschen<br />

beeinflussende Aussenwirkung <strong>die</strong>ser Güter. Die Aussenwirkung der sozialen Güter ist nicht einfach<br />

als symbolische Wirkung zu verstehen, sondern es ist eine Beeinflussung der Menschen, <strong>die</strong> von den<br />

Gütern ausgeht, ohne unbedingt an <strong>die</strong> Sichtbarkeit der Objekte gebunden zu sein (Löw 2001, 194).<br />

Es sind beispielsweise <strong>die</strong> Düfte, <strong>die</strong> Geräusche <strong>oder</strong> <strong>die</strong> Suggestivkraft von Farben welche von den<br />

sozialen Gütern ausgehen und uns prägen. Die Notwendigkeit, Wahrnehmung als einen Aspekt des<br />

Handelns beziehungsweise der Raumkonstitution zu begreifen, zeigt sich somit deutlich (Löw 2001,<br />

194). Da <strong>die</strong> Ausstrahlung jedoch nicht nur von sozialen Gütern, sondern auch von den Menschen


6. Zur Konstitution von Raum<br />

ausgeht, definiert Löw (2001, 196) Wahrnehmung als ein „Prozess der gleichzeitigen Ausstrahlung von<br />

sozialen Gütern beziehungsweise Menschen und der Wahrnehmungsaktivität des körperlichen Spürens“.<br />

Wahrnehmung ist von der Wahrnehmungsaktivität des Handelnden abhängig und hat somit nicht den<br />

Charakter von etwas Unmittelbarem (Löw 2001, 197). Aus der unendlichen Menge des Wahrnehmbaren<br />

wird nach einem bestimmten Habitus, einem so genannten Wahrnehmungsschema ausgewählt,<br />

was wahrgenommen wird. Die Kriterien <strong>die</strong>ses Schemas werden im Prozess der Sozialisation und der<br />

Bildung geformt, womit <strong>die</strong> Wahrnehmung gemäss Löw (2001, 197) einen vorstrukturierten Charakter<br />

annimmt. Giddens (2007, 98-100) erklärt den der Wahrnehmung zu Grunde liegenden Selektionsprozess<br />

mit drei Kategorien des Erinnerungsvermögens:<br />

1. Das Bewusstsein als sensorische Aufmerksamkeit<br />

2. Das Gedächtnis als zeitliche Konstitution des Bewusstseins<br />

3. Die Erinnerung als das Mittel der Rekapitulation<br />

Die vorliegende Arbeit beruht auf Giddens’ Verständnis von Wahrnehmung als positiven Aufnahmeprozess,<br />

welche erst durch <strong>die</strong> verschiedenen Stufen des Erinnerungsvermögen <strong>einer</strong> Selektion unterliegt.<br />

6.1.2. Syntheseleistung, Spacing und <strong>die</strong> Dualität von Raum<br />

Vorhergehend wurde erwähnt, dass Raum als „relationale Anordnung von sozialen Gütern und Menschen“<br />

verstanden wird. Nachdem <strong>die</strong>se sozialen Güter und Menschen eben besprochen wurden, soll<br />

nun das Augenmerk auf <strong>die</strong> der Raumkonstitution zu Grunde liegenden Prozesse gelenkt werden.<br />

Die Erschliessung der Raumkonstitution bedarf <strong>einer</strong> systematischen Unterscheidung des Anordnenden<br />

und des Angeordneten. Entsprechend beschreibt Löw (2001, 158) zwei gleichzeitig ablaufende<br />

Prozesse:<br />

• Syntheseleistung ist das Zusammenfassen von Gütern und Menschen zu Räumen über<br />

Wahrnehmungs-, Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse.<br />

• Spacing bezeichnet das Platzieren von Gütern und Menschen, um Ensembles von Gütern und<br />

Menschen als solche erkenntlich zu machen (Löw 2001, 158). Es handelt sich <strong>einer</strong>seits um den<br />

Moment der Platzierung sowie <strong>die</strong> Bewegung zur nächsten Platzierung.<br />

Im praktischen Handlungsvollzug sind Spacing und Syntheseleistung zwei gegenseitig miteinander<br />

verbundene Prozesse (Löw 2001, 225). Da Löw (2001, 225) Raum nicht als gegeben betrachtet,<br />

sondern seine Konstitution in den Handlungsverlauf miteinbezieht, müssen Räume erst aktiv durch<br />

Syntheseleistung produziert werden. Ermöglicht wird <strong>die</strong> Syntheseleistung durch Wahrnehmungs-,<br />

Vorstellungs- und Erinnerungsprozesse. Die Verknüpfungsleistung von sozialen Gütern und Menschen<br />

zu Räumen ist durch Raumvorstellungen und den k<strong>las</strong>sen-, geschlechts- und kulturspezifischen Habitus<br />

vorstrukturiert (Löw 2001, 225). Spacing-Prozesse werden von Löw (2001, 225) als Aushandlungsprozesse<br />

verstanden. Bezogen auf den öffentlichen Werberaum bedeutet Spacing beispielsweise<br />

das Platzieren <strong>einer</strong> Reklametafel auf einem öffentlichen Platz. Gleichzeitig beschreibt Spacing aber<br />

auch <strong>die</strong> Entscheidung eines Passanten / <strong>einer</strong> Passantin sich auf jenem öffentlichem Platz aufzuhalten,<br />

sich dort zu platzieren. Entsprechend definiert Löw Raum folgendermassen:<br />

„Raum ist eine relationale (An)Ordnung von Lebewesen und sozialen Gütern. Raum wird konstituiert<br />

durch zwei analytisch zu unterscheidende Prozesse, das Spacing und <strong>die</strong> Syntheseleistung. Letztere ermöglicht<br />

es, Ensembles von Gütern und Menschen zu einem Element zusammenzufassen.“(Löw 2001,<br />

158-159)


6. Zur Konstitution von Raum<br />

Dabei ist <strong>die</strong> Konstitution von Raum – das Spacing wie auch <strong>die</strong> Syntheseleistung – immer an <strong>die</strong><br />

Wahrnehmung der sozialen Güter und Menschen gebunden. Denn <strong>die</strong> Synthesen sind nicht nur vom<br />

praktischen Bewusstsein des Menschen, 3 sondern ebenso von der Aussenwirkung der sozialen Güter<br />

und Menschen beeinflusst. Das Spacing orientiert sich wiederum an <strong>die</strong>sen durch Wahrnehmung gebildeten<br />

Synthesen. Die Wahrnehmung ist also der Aspekt des Handelns, der sowohl Syntheseleistung<br />

als auch das Spacing durchzieht (Löw 2001, 198).<br />

Diese beiden Raumkonstitutionsprozesse – Spacing und Syntheseleistung – stehen in einem Abhängigkeitsverhältnis<br />

zu den in <strong>einer</strong> Handlungssituation vorgefundenen Gütern und Lebewesen. Einerseits<br />

kann nur platziert und synthetisiert werden, was tatsächlich vorhanden ist. Andererseits müssen <strong>die</strong><br />

vorhandenen Güter und Lebewesen durch Spacing und Syntheseleistung erst zu Räumen zusammengefasst<br />

werden. In Anlehnung an <strong>die</strong> Theorie <strong>einer</strong> Strukturierung von Giddens (2007), bezeichnet<br />

Löw (2001) <strong>die</strong>se Wechselwirkung zwischen Handeln und Strukturen als Dualität von Raum.<br />

Handeln steht also in einem rekursiv beeinflussenden Verhältnis zu den <strong>die</strong> Handlungssituation gestaltenden<br />

Faktoren. Die sozialen Güter haben – wie oben bereits festgehalten – eine mehr <strong>oder</strong><br />

weniger stark ausgeprägte materielle beziehungsweise symbolische Komponente. Dabei ist <strong>die</strong> materielle<br />

Komponente in der Regel <strong>die</strong> Voraussetzung für <strong>die</strong> symbolische Komponente (Löw 2001, 192).<br />

Wenn Handlungssituationen prinzipiell eine materielle und eine symbolische Komponente aufweisen,<br />

hat auch das Handeln <strong>die</strong>se zwei Aspekte. Veränderungen räumlicher Ordnungen können also mit<br />

sozialen Prozessen wie auch mit Veränderungen der Naturgegebenheiten erklärt werden.<br />

Die Ausdehnung des Werberaumes ist also über <strong>die</strong> Aussenwirkung der Werbegüter sowie <strong>die</strong> Wahrnehmung<br />

des Publikums zu verstehen. Denn überall wo Werbegüter wahrgenommen werden könnte,<br />

besteht <strong>die</strong> Möglichkeit, dass Werberaum durch <strong>die</strong> routinierten Blicke der Menschen konstituiert<br />

wird. Dabei werden Aussenwirkung und Wahrnehmung zwar einzeln betrachtet, stehen aber stets in<br />

gegenseitiger Abhängigkeit zueinander.<br />

6.1.3. Regeln, Ressourcen und Institutionen<br />

Wie ich vorhergehend erläuterte, sind <strong>die</strong> Möglichkeiten Räume zu konstituieren, von den in <strong>einer</strong><br />

Handlungssituation vorgefundenen symbolischen und materiellen Faktoren abhängig (Löw 2001, 191).<br />

Gleichzeitig ist <strong>die</strong> Raumkonstitution bestimmt durch das Handeln von Menschen. Ebenfalls mit Bezug<br />

auf Giddens (2007) beschreibt Löw (2001, 157) <strong>die</strong> Leitlinien <strong>die</strong>ses Handelns als Strukturen und<br />

definiert Löw (2001, 226) Strukturen als „Regeln und Ressourcen, <strong>die</strong> rekursiv in Institutionen eingelagert<br />

sind und <strong>die</strong> unabhängig von Ort und Zeitpunkt Geltung haben.“ Löw (2001) bezeichnet <strong>die</strong>se<br />

Gleichsetzung von Strukturen mit Regeln und Ressourcen als Dualität von Strukturen. Gemäss Giddens<br />

(2007) sind Regeln des gesellschaftlichen Lebens, Techniken <strong>oder</strong> verallgem<strong>einer</strong>bare Verfahren,<br />

<strong>die</strong> in der Ausführung, beziehungsweise Reproduktion sozialer Praktiken angewendet werden. Sie beziehen<br />

sich auf <strong>die</strong> Konstitution von Sinn und stehen in enger Verbindung mit der Sanktionierung des<br />

Handelns. Dabei gilt, dass Regeln nicht ohne Bezug auf Ressourcen (siehe weiter unten) betrachtet<br />

werden können (Giddens 2007, 67, 72, 73).<br />

Die Merkmale von Regeln werden von Giddens (2007) durch Adjektive beschrieben wie intensiv/oberflächlich,<br />

stillschweigend/diskursiv, informell/formalisiert <strong>oder</strong> schwach sanktioniert/stark sanktioniert. Intensive<br />

Regeln sind solche, <strong>die</strong> dauernd in den Prozess der Raumkonstitution einbezogen und somit<br />

für einen bedeutenden Teil des Alltagslebens verantwortlich sind. Andere Regeln hingegen, haben<br />

keinen so prägenden Einfluss auf grosse Teile des Alltagsleben. Gewöhnlicherweise schreiben SozialwissenschaftlerInnen<br />

abstrakten Regeln wie z.B. kodifizierten Gesetzen den grössten Einfluss auf<br />

3 Vgl. Giddens (2007)


6. Zur Konstitution von Raum<br />

das Alltagsleben zu. Giddens hingegen macht geltend, dass viele scheinbar triviale Alltagsregeln eine<br />

nachhaltige Wirkung auf den grössten Teil des sozialen Verhaltens haben (Giddens 2007, 74).<br />

Die meisten Regeln werden von den Akteuren bereits stillschweigend verstanden. Das bedeutet, sie<br />

wissen, wie sie sich zurechtfinden können, ohne Bedarf, <strong>die</strong> entsprechenden Regeln zu formulieren.<br />

Die diskursive Formulierung <strong>einer</strong> Regel würde auch bereits als eine Interpretation derselben gelten.<br />

Formulierte Regeln – solche, denen ein sprachlicher Ausdruck verliehen wird – sind daher eher kodifizierte<br />

Interpretationsregeln als Regeln, wie sie im hier angewandten Terminus verstanden werden<br />

(Giddens 2007, 74).<br />

Gesetze als Teilgruppe von Regeln sind diskursiv formuliert und formal kodifiziert. Ausserdem gehören<br />

sie zu den am stärksten sanktionierten Typen sozialer Regeln und beinhalten gar eine formell<br />

vorgeschriebene Abstufung der Bestrafung. In Anbetracht der formellen Sanktionierung bei Gesetzen<br />

wird <strong>die</strong> Wucht informell in Anschlag gebrachter Sanktionen für unzählige Praktiken im Alltag leicht<br />

unterschätzt. Giddens bezeichnet <strong>die</strong>se Unterschätzung als schweren Fehler und gibt <strong>die</strong> Macht informeller<br />

Sanktionen zu bedenken (Giddens 2007, 75).<br />

Die Ressourcen sind, zusammen mit den Regeln, <strong>die</strong> wichtigsten Aspekte der gesellschaftlichen Struktur.<br />

Sie sind rekursiv in Institutionen eingelagert und sind veränderlichen Charakters. Zugleich stehen<br />

Ressourcen in engem Zusammenhang mit der Realisierung von Sanktionen beziehungsweise der Ausübung<br />

von Macht (Giddens 2007, 86). Giddens’ Definition von Ressourcen lautet:<br />

„Ressourcen sind Me<strong>die</strong>n, durch <strong>die</strong> Macht als ein Routineelement der Realisierung von Verhalten in<br />

der gesellschaftlichen Reproduktion ausgeübt wird. Macht selbst kann nicht als Ressource betrachtet<br />

werden.“(Giddens 2007, 67)<br />

Giddens (2007, 83) gliedert <strong>die</strong> Ressourcen in allokative und autoritative Ressourcen:<br />

Die allokativen Ressourcen sind an der Generierung von Macht beteiligte materielle Ressourcen. Sie<br />

leiten sich aus der Herrschaft des Menschen über <strong>die</strong> Natur her und beziehen sich gleichermassen auf<br />

<strong>die</strong> natürliche Umwelt wie auf physische Artefakte (Giddens 2007, Glossar). Allokative Ressourcen<br />

bezeichnen <strong>die</strong> Fähigkeiten, respektive das Vermögen zur Umgestaltung, welches wiederum Herrschaft<br />

über Objekte beziehungsweise Güter <strong>oder</strong> materielle Phänomene ermöglicht. Einige allokative<br />

Ressourcen wie zum Beispiel Land <strong>oder</strong> Rohstoffe scheinen eine „reale Existenz“ zu haben. Diese<br />

Phänomene werden erst dann zu Ressourcen in der Art und Weise, wie der Terminus hier verwendet<br />

wird, wenn sie in den Strukturierungsprozess mit einbezogen werden (Giddens 2007, 83).<br />

Im Gegensatz zu den allokativen Ressourcen haben autoritative Ressourcen keine materielle Komponente.<br />

Sie sind an der Generierung von Macht beteiligte nichtmaterielle Ressourcen, <strong>die</strong> sich aus dem<br />

Vermögen herleiten, <strong>die</strong> Aktivitäten menschlicher Wesen verfügbar zu machen. Autoritative Ressourcen<br />

ergeben sich somit aus der Herrschaft von Akteuren über andere Akteure (Giddens 2007, Glossar).<br />

Sie beziehen sich auf Arten des Vermögens zur Umgestaltung, welche Herrschaft über Personen <strong>oder</strong><br />

Akteure generieren (Giddens 2007, 83).<br />

Wie bereits festgehalten, werden Strukturen in Anlehnung an Giddens (2007) als „Regeln und Ressourcen,<br />

<strong>die</strong> rekursiv in Institutionen eingelagert sind“ verstanden. Strukturen – verstanden als Regeln und<br />

Ressourcen – ermöglichen und verhindern Handeln. Dabei bleiben sie stets an den Handlungsverlauf<br />

gebunden und können nicht losgelöst vom Handeln betrachtet werden (Löw 2001, 166). Institutionen<br />

werden nach Giddens (2007, 76) als <strong>die</strong> dauerhaften Merkmale gesellschaftlichen Lebens definiert,<br />

denn sie sichern <strong>die</strong> kontinuierliche Existenz sozialer Praktiken über Raum und Zeit hinweg.<br />

„Institutionen sind dauerhaft in Routinen reproduzierte Gebilde, in denen sich <strong>die</strong> Wechselwirkung von<br />

Handeln und gesellschaftlichen Strukturen manifestiert. Institutionen bleiben auch dann bestehen, wenn<br />

Teilgruppen sie nicht reproduzieren.“ (Löw 2001, 166)


6. Zur Konstitution von Raum<br />

Dementsprechend sind institutionalisierte Räume solche, bei denen <strong>die</strong> Anordnung über das eigene<br />

Handeln hinaus wirksam bleibt und genormte Syntheseleistungen und Spacings nach sich zieht (Löw<br />

2001, 164).<br />

Unter Einbezug von Giddens Darlegungen betreffend <strong>die</strong> Routinen und das praktische Bewusstsein<br />

kann der Werberaum als institutionalisierter Raum verstanden werden. Gemäss Giddens (2007, 36)<br />

handeln Menschen in der Regel repetitiv und halten sich an bestimmte Routinen, welche durch das<br />

diskursive und das praktische Bewusstsein gebildet werden. Im alltäglichen Handeln werden <strong>die</strong>se<br />

beiden Bewusstseinsformen zusätzlich durch das Unbewusste ergänzt. Die Konstitution von Raum<br />

entsteht gemäss Löw (2001) im Allgemeinen aus einem praktischen Bewusstsein heraus. Dies zeigt<br />

sich daran, dass Menschen sich selten darüber verständigen, wie sie Räume schaffen. Auf Nachfrage<br />

hin, kann jedoch ein Teil des Wissens um Räume, welches im Alltag durch das praktische Bewusstsein<br />

gesteuert wird, in ein diskursives Bewusstsein überführt werden (Löw 2001, 161,162). Angesichts<br />

dessen, schaffen Menschen Werberäume aus einem praktischen Bewusstein, indem sie repetitiv ihre<br />

Blicke auf Werbeflächen richten und somit zur Institutionalisiserung des Beachtungsraumes beitragen.<br />

Im Publikum wird selten darüber geredet, wie und weshalb Aussenwerbung betrachtet wird, was<br />

darauf hinweist, dass es sich bei <strong>die</strong>sen Blicken tatsächlich um eine Routinehandlung des praktischen<br />

Bewusstseins handelt. Ohne <strong>die</strong>se repetitiven, den Raum institutionalisierenden Blicke, würden Werberäume<br />

nicht existieren (Löw 2001, 164).<br />

Wie oben erläutert, werden gemäss Löw (2001) Räume mittels Spacing und Syntheseleistung konstituiert.<br />

Diese Prozesse werden geleitet von bestimmten Regeln und Ressourcen, also von den Strukturen.<br />

Löw (2001) unterscheidet Teilstrukturen wie beispielsweise ökonomische, soziale <strong>oder</strong> rechtliche Strukturen.<br />

Zu nennen sind <strong>die</strong> Differenzierung zwischen Privatrecht und öffentlichem Recht als juristische<br />

Struktur, <strong>die</strong> ökonomische Struktur, welche kapitalistische Privatwirtschaft vom öffentlichen Wirtschaftssektor<br />

unterscheidet <strong>oder</strong> <strong>die</strong> soziale Struktur mit ihrer Unterscheidung von öffentlichen und<br />

privaten Sphären (Bühler 2009, 2).<br />

Von räumlichen Strukturen spricht Löw (2001, 171) dann, wenn <strong>die</strong> „Konstitution von Räumen in<br />

Regeln eingeschrieben und durch Ressourcen abgesichert ist. Dabei sind <strong>die</strong> Regeln und Ressourcen<br />

unabhängig von Ort und Zeitpunkt rekursiv in Institutionen eingelagert “(Löw 2001, 171). Die Konstitution<br />

von Räumen ist nicht starr, sondern prozesshaft (Löw 2001, 230), wobei Löw (2001) <strong>die</strong><br />

konstituierten Räume ebenfalls als Struktur versteht. Alle Regeln und Ressourcen sind schliesslich<br />

<strong>die</strong> gesellschaftliche Struktur in und mit welcher Räume konstituiert werden. Es ergibt sich ein Strukturgeflecht,<br />

in welchem auch Widersprüche zwischen den einzelnen Teilstrukturen denkbar sind.<br />

6.1.4. Gegenkulturelle Räume<br />

Wie ich im vorherigen Kapitel aufzeigte, beschreibt Löw (2001, 164) institutionalisierte Räume als<br />

solche, bei denen <strong>die</strong> Anordnung über das eigene Handeln hinaus wirksam bleibt und <strong>die</strong> Synthese<br />

sowie das Spacing nach bekannten Alltagsroutinen verläuft. Nun ist der Rückgriff auf Alltagsroutinen<br />

nicht immer möglich und oft auch nicht gewünscht (Bühler u. a. 2009) 4 . Wie oben erläutert, wird<br />

das Spacing als ein Aushandlungsprozess verstanden. Da an der Raumkonstitution in den meisten<br />

Fällen unterschiedliche Personen mit unterschiedlichen Interessen beteiligt sind, können bereits <strong>die</strong>se<br />

Aushandlungsprozesse alltägliche Routinen durchkreuzen (Bühler u. a. 2009) 5 . Löw (2001, 164)<br />

bezieht sich auf Foucault (1983), welcher Raumvorstellungen und (An)Ordnungen immer in einen<br />

Zusammenhang mit den Praktiken der Macht setzt. „Wer den <strong>oder</strong> <strong>die</strong> andere(n) zu Abweichungen<br />

zwingen kann, ist abhängig von den Machtverhältnissen der Handlungssituation. So muss bei der<br />

4 Erscheint voraussichtlich im Jahr 2010<br />

5 Erscheint voraussichtlich im Jahr 2010


6. Zur Konstitution von Raum<br />

Analyse von Raum <strong>die</strong> Möglichkeit eines Handelns, welches nicht auf dem praktischen Bewusstsein<br />

beruht, erwägt werden. Löw (2001, 185) unterscheidet zudem zwischen Veränderungen von Gewohnheiten<br />

und kreativ-gestalterischem Handeln beziehungsweise Neugestaltungen. Letztere stellen eine<br />

Variation des Handlungsspektrums dar, während mit Veränderungen von Gewohnheiten das Ablegen<br />

alter Gewohnheiten zugunsten neuer Routinen einhergeht. Regelmässige Abweichungen werden somit<br />

selbst zur Routine. So können institutionalisiserte Räume geschaffen werden, <strong>die</strong> nicht (<strong>oder</strong> noch<br />

nicht) im Einklang mit gesellschaftlichen Strukturen stehen. Dieses Handeln gegen institutionalisierte<br />

(An)Ordnungen nennt Löw (2001, 185) gegenkulturell. Die in <strong>die</strong>sem Prozess konstituierten Räume<br />

werden entsprechend gegenkulturelle Räume genannt. Solche Raumkonstitutionen können einen flüchtigen<br />

Charakter haben <strong>oder</strong> auch eigene Institutionen schaffen. Dies ist abhängig von der Anzahl<br />

Menschen, <strong>die</strong> an derselben Raumkonstitution beteiligt sind und vom Zugriff auf <strong>die</strong> relevanten Regeln<br />

und Ressourcen, auf welchen <strong>die</strong> Konstitution des gegenkulturellen Raumes basiert (Löw 2001,<br />

185).<br />

Abbildung 6.1.: Modell Raumsoziologie. Quelle: Stoetzer (2005).<br />

Das von Stoetzer (2005) gefertigte Modell der Raumsoziologie (vgl. Abb.6.1) verleiht einen Überblick<br />

über Löws Raumkonzept und zeigt deutlich, dass es sich bei der relationalen Raumkonstitution nicht<br />

um ein Nacheinander der Begrifflichkeiten, sondern um ein enges Geflecht der verschiedenen Faktoren


6. Zur Konstitution von Raum<br />

handelt. So gibt es gemäss Löw kein Handeln ohne Strukturen, kein Spacing ohne <strong>die</strong> materiellen und<br />

symbolischen Güter, und keine Regeln ohne Ressourcen. Die bisherigen Darlegungen beziehen sich<br />

auf <strong>die</strong> Konstitution von Räumen im Allgemeinen. Die Übertragung <strong>die</strong>ses allgemeinen Konzeptes<br />

auf den spezifischen Ort des öffentlichen Werberaumes der Stadt Zürich erfolgt im Teil IV. Zunächst<br />

werde ich im nächsten Kapitel einen theoretischen Zugang zum Thema Aussenwerbung vorstellen.


7. Das Prinzip der Gastfreundschaft als Mittler zwischen sozialen<br />

Gütern und Menschen<br />

Werbegüter und Menschen sind <strong>die</strong> spezifischen Elemente des öffentlichen Werberaumes. Sie sind dafür<br />

verantwortlich, dass ein Raum erst zu einem Werberaum wird. Auf der einen Seite steht <strong>die</strong> Ausstrahlung<br />

der Werbegüter, auf der anderen Seite deren Wahrnehmung durch den Menschen. Werbegüter<br />

würden ohne den Menschen nicht existieren und ein Werberaum ohne Werbegüter hätte seinen Namen<br />

nicht ver<strong>die</strong>nt. Das von Hänggi auf Werbung angewandte Prinzip der Gastfreundschaft beschreibt <strong>die</strong><br />

Relation zwischen <strong>die</strong>sen beiden grundlegenden Elementen des Werberaumes: <strong>die</strong> Werbegüter und <strong>die</strong><br />

Menschen.<br />

Hänggi (2009) vereint in seinem Buch „Gastfreundschaft im Zeitalter der medialen Repräsentation<br />

– eine Ökonomie des Geistes“ philosophische Fragestellungen mit biologischen Erkenntnissen und<br />

Ansätzen der Marktlogik zu einem das Wesen der Werbung erklärenden Gesamten. In <strong>einer</strong> Gesellschaft,<br />

welche das Nachdenken über Werbung gemäss Hänggi (2009) auf morgen verschoben hat und<br />

in welcher der brancheninterne Diskurs den öffentlichen Diskurs dominiert, setzen Hänggis (2009)<br />

Darlegungen einen Gegenpunkt.<br />

Die Einstellungen und Handlungen der VermarkterInnen von Werbegütern und des Publikums sind<br />

geprägt vom gängigen brancheninternen Diskurs beziehungsweise dem kaum vorhandenen öffentlichen<br />

Diskurs über Werbung (Hänggi 2009, 12). Hänggi beschreibt in s<strong>einer</strong> Dissertation vier Denkmuster,<br />

welche den brancheninternen Diskurs dominieren und s<strong>einer</strong> Meinung nach zu <strong>einer</strong> instrumentellen<br />

Sichtweise des Begriffes Kommunikation geführt haben:<br />

1. Die Konfusion natürlicher und juristischer Personen, welche dafür verantwortlich ist, dass nie<br />

auf <strong>die</strong> fundamentalen Unterschiede zwischen natürlichen und juristischen Personen eingegangen<br />

wird. Dies führt nach Hänggi (2009, 28) schliesslich zu einem Problem der Verantwortung (vgl.<br />

Kapitel 7.1).<br />

2. Der Einweg-Informationstransfer muss gemäss Hänggi (2009, 32) von der Werbebranche als<br />

Kommunikation bezeichnet werden, da sie nicht <strong>die</strong> Ressourcen hätte, eine symmetrische Kommunikation<br />

mit dem Publikum zu führen (vgl. Kapitel 7.2).<br />

3. Der Verlust der kritischen Distanz, <strong>die</strong> uns – so Hänggi (2009, 13) – den unvoreingenommenen<br />

Blick auf das Phänomen entzieht.<br />

4. Der Preis der Kommunikation beziehungsweise <strong>die</strong> Monetarisierung der Informationsbereitstellung,<br />

welche dazu führt, dass gewisse Menschen von der Kommunikation ausgeschlossen werden<br />

(Hänggi 2009).<br />

Da ich <strong>die</strong> ersten zwei Denkmuster bei der Analyse der Werberaumes mit einbeziehen werde, folgen<br />

nun einige Erläuterungen dazu.<br />

7.1. Natürliche und juristische Personen: Die Frage der Verantwortung<br />

Gemäss Hänggi (2009, 23-31) prallen bei der Wahrnehmung <strong>einer</strong> Werbebotschaft natürliche Personen,<br />

<strong>die</strong> Individuen, mittelbar und unmittelbar auf <strong>die</strong> hinter der Werbung stehenden juristischen


7. Das Prinzip der Gastfreundschaft als Mittler zwischen sozialen Gütern und Menschen<br />

Personen, <strong>die</strong> Unternehmen.<br />

Unter Hänggis (2009) (22) Annahme, dass sich ein Körper aus anderen Körpern zweiter Ordnung<br />

zusammensetzt und dass <strong>die</strong>ser Körper ein Bewusstsein hat, gleichen sich natürliche und juristische<br />

Personen. Gemäss Hänggi (2009, 27) werden <strong>die</strong> Körper zweiter Ordnung von Menschen durch <strong>die</strong><br />

Organe des menschlichen Organismus dargestellt. Die Körper zweiter Ordnung von Unternehmen sind<br />

seine MitarbeiterInnen. Obwohl juristische und natürliche Personen den gleichen Namen ‚Person‘ tragen<br />

und vor Gesetz oftmals gleichgestellt sind, weist Hänggi (2009, 22-31) auf den grundsätzlichen<br />

Unterschied der beiden Einheiten hin: <strong>die</strong> Verantwortung und <strong>die</strong> Ansprechbarkeit. Gemäss Hänggi<br />

(2009, 28) verunmöglicht <strong>die</strong>ser Unterschied der beiden Einheiten, dass juristische Personen auf<br />

natürliche Personen (Hänggi verwendet auch den Begriff Sigularitäten) eingehen können. Es folgen<br />

einige Erläuterungen dazu.<br />

Hänggi (2009, 22) versteht eine juristische Person als unabhängig von Ort und Zeit. Sie kenne weder<br />

<strong>die</strong> der natürlichen Person inne liegende zeitliche Vergänglichkeit, noch deren Ortsgebundenheit.<br />

Dadurch dass ihre Körper zweiter Ordnung (natürliche Personen) austauschbar sind, ist eine juristische<br />

Person gemäss Hänggi (2009, 22), welcher sich auf Chief Justice Marshall stützt, nicht an<br />

deren körperliche Begrenztheit gebunden. So erlangt <strong>die</strong> juristische Person den Status der Unsterblichkeit,<br />

solange es <strong>die</strong> Marktbedingungen erlauben. In Anlehnung an (Hänggi 2009, 23), erhält auch<br />

der biologische Körper <strong>die</strong> Unabhängigkeit von Ort und Zeit <strong>einer</strong> juristischen Person, sobald er auf<br />

einem Plakat abgebildet ist und somit unendlich reproduzierbar wird. Gleichzeitig beschreibt Hänggi<br />

(2009) <strong>die</strong> Austauschbarkeit <strong>die</strong>ser abgebildeten Körper. Die Austauschbarkeit der Körper zweiter<br />

Ordnung von juristischen Personen und <strong>die</strong> Austauschbarkeit von abgebildeten Personen (= medialer<br />

Inhalt), verhindern den singulären Kontakt zwischen <strong>einer</strong> juristischen Person mit einem einzelnen<br />

Menschen (Hänggi 2009, 23-29). Als Beispiel verweist Hänggi auf Virilio (1998), welcher <strong>die</strong> Situation<br />

beschreibt, mit einem Unternehmen zu „sprechen“ und dabei das Gefühl zu haben, es sei niemand<br />

da, gerade weil immer jemand da ist. Die natürlichen Personen, welche Teil <strong>einer</strong> juristischen Person<br />

sind, müssen gemäss Virilio (zitiert in (Hänggi 2009, 28) jederzeit austauschbar sein und während<br />

der Arbeitszeit als Repräsentanten <strong>die</strong>ser juristischen Person auftreten. Sie sprechen also nie für sich<br />

selbst, sondern immer für das artifizielle Konstrukt des Unternehmens. Trotzdem beschreibt Hänggi<br />

(2009, 28) <strong>die</strong> sprechende natürliche Person als nie identisch mit der juristischen Person, für <strong>die</strong> sie<br />

spricht. Hänggi (2009, 28) sieht in <strong>die</strong>ser Gegebenheit <strong>die</strong> vielleicht grösste Herausforderung bezogen<br />

auf <strong>die</strong> Verantwortung.<br />

„Wenn zu viele durch einen einzelnen Kanal <strong>oder</strong> eine einzelne Botschaft sprechen und sowohl der einzigartige<br />

Gesichtspunkt wie der einzigartige Mensch verschwinden, dann ist niemand mehr da, um Verantwortung<br />

zu übernehmen. Verantwortung kann auch geteilt werden, aber geteilte Verantwortung ist nicht<br />

multipliziert, sondern aufgeteilt und deshalb verstümmelt und kann somit keine adäquate Antwort auf <strong>die</strong><br />

Begegnung mit Singularitäten [natürlichen Personen] sein.“(Hänggi 2009, 28)<br />

Obwohl viele Unternehmen versuchen, der „Verstümmelung von Verantwortung“ mit Leitbildern und<br />

Corporate Social Responsability Statements entgegen zu wirken, ist <strong>die</strong>se Verantwortung gemäss Hänggi<br />

(2009, 149) kaum vergleichbar mit jener von natürlichen Personen.<br />

7.2. Kommunikation als Einweg-Informationsübermittlung<br />

Hänggi (2009, 31-34) beschreibt <strong>die</strong> für den Werberaum selbstverständliche Konfrontation von juristischen<br />

und natürlichen Personen auf ein und derselben Ebene: der Kommunikationsebene. Dies<br />

verunmöglicht gemäss Hänggi (2009) dem Publikum, eine andere Antwort auf eine Werbebotschaft


7. Das Prinzip der Gastfreundschaft als Mittler zwischen sozialen Gütern und Menschen<br />

zu geben als <strong>die</strong> binäre Antwort: Kauf/Nichtkauf. Das Ziel eines Unternehmens, für welches alle seine<br />

Teilkörper (natürliche Personen) sprechen, liegt normalerweise in seinem ökonomischen Wachstum<br />

mittels Verkäufen von Produkten (Hänggi 2009, 25). Als Antwort auf eine Werbekampagne erwartet<br />

ein Unternehmen deshalb gemäss Hänggi (2009, 25) einzig <strong>die</strong> vom Individuum erbrachte Entscheidung<br />

‚Kauf/Nichtkauf‘. Nun kann in Anlehnung an Hänggi (2009) das gesamte Publikum als ein<br />

Körper verstanden werden, welcher dem <strong>einer</strong> juristischen Person gleicht. Die natürlichen Personen<br />

des Publikums gleichen gemäss Hänggi (2009) den austauschbaren Körpern zweiter Ordnung von juristischen<br />

Personen 1 . Potentielle Käufer, welche sich gegen den Kauf entscheiden, können also durch<br />

andere potentielle Käufer, welche sich für den Kauf entscheiden, ersetzt werden. In <strong>die</strong>sem Sinne löst<br />

sich <strong>die</strong> Antwortmöglichkeit des Publikums, so Hänggi (2009), in Nichts auf.<br />

Nach Hänggi (2009) hat damit <strong>die</strong> Werbebranche für sich ein Verständnis von Kommunikation als<br />

einseitige Informationsübermittlung ohne Antwortmöglichkeiten gewählt. Folgender Ausschnitt aus<br />

Astrid Lindgrens Pippi Langstrumpf bringt <strong>die</strong> ganze Geschichte auf den Punkt.<br />

„Die Kinder kamen an einem Parfümgeschäft vorbei. Im Schaufenster stand eine große Dose Sommersprossensalbe.<br />

Neben der Dose war ein Pappschild, auf dem stand: „Leiden Sie an Sommersprossen?“ . . .<br />

„Ja, tatsächlich“, sagte Pippi nachdenklich. „Na ja, eine höfliche Frage verlangt eine höfliche Antwort.<br />

Kommt, wir wollen reingehen.“<br />

Sie machte <strong>die</strong> Tür auf und ging hinein. Dicht hinter ihr kamen Thomas und Annika. Hinter dem Ladentisch<br />

stand eine ältere Dame. Pippi ging direkt auf sie zu.<br />

„Nein“, sagte sie bestimmt.<br />

„Was möchtest du haben?“ fragte <strong>die</strong> Dame.<br />

„Nein“, sagte Pippi noch einmal.<br />

„Ich verstehe nicht, was du meinst“, sagte <strong>die</strong> Dame.<br />

„Nein, ich leide nicht an Sommersprossen“, sagte Pippi. Jetzt verstand <strong>die</strong> Dame. Sie warf einen Blick auf<br />

Pippi und stieß hervor:<br />

„Ja, aber liebes Kind, du hast ja das ganze Gesicht voll Sommersprossen!“<br />

„Ja, gewiss“, sagte Pippi, „aber ich leide nicht an ihnen. Ich habe sie gern. Guten Morgen!“<br />

(Lindgren (1999) zitiert in Hänggi (2009, 31,32))<br />

Man stelle sich nun vor, jede Person würde handeln wie Pippi und antworten auf Werbebotschaften,<br />

welche ihr begegnen. Die Dame müsste vor dem Laden stehen, der Menschen Antworten entgegennehmen<br />

und könnte nicht gleichzeitig im Laden <strong>die</strong> Kunden be<strong>die</strong>nen. Die Anzahl ausgesendeter<br />

Botschaften und <strong>die</strong> noch viel höhere Anzahl antwortender Menschen könnten im Sinne <strong>einer</strong> symmetrischen<br />

Kommunikation niemals von der Werbebranche bewältigt werden (Hänggi 2009, 32). Gemäss<br />

Hänggi (2009) scheint <strong>die</strong> Ohnmacht der Werbebranche gegenüber <strong>einer</strong> symmetrischen Kommunikation<br />

und <strong>die</strong> Austauschbarkeit von Konsumenten „von der Werbeindustrie zu fordern, dass einseitige<br />

Informationsübermittlung als Kommunikation gelte.“(Hänggi 2009, 32)<br />

7.3. Die Forderung nach absoluter Gastfreundschaft<br />

Nachdem <strong>die</strong> vorhergehenden Darlegungen den Kommunikationsparadigmen der Werbeindustrie gewidmet<br />

waren, gelten <strong>die</strong> nachfolgenden Erläuterungen dem <strong>die</strong> Werbebotschaften empfangenden<br />

Personen. Hänggi (2009, 147-152) begreift das Publikum als GastgeberIn, <strong>die</strong> Werbebotschaft als<br />

Gast. Letztere wird von Hänggi als Gabe der Werbeindustrie dargestellt und auf der Basis von Derridas<br />

ethischer Gabe kritisiert. Nach Derrida (zitiert in Hänggi (2009, 147-152)) verlangt eine ethische<br />

1 Ergänzend weise ich auf den niedrigen Organisationsgrad des Publikums hin, der im Gegensatz zum hohen Organisationsgrad<br />

<strong>einer</strong> juristischen Person steht (vgl. Kapitel 14)


7. Das Prinzip der Gastfreundschaft als Mittler zwischen sozialen Gütern und Menschen<br />

Gabe absolute Nichtintentionalität und Nichterkennbarkeit des Gebenden und der Gabe. Derridas<br />

Ansprüche an <strong>die</strong> Gabe stehen gemäss Hänggi im Gegensatz zur Werbeindustrie, welche Sichtbarkeit<br />

als Bedingung der Gabe definiert. Während Menschen <strong>die</strong> Unmöglichkeit der ethischen Gabe<br />

zumindest erahnen können (Hänggi 2009, 148), schreibt Hänggi juristischen Personen keine solchen<br />

Fähigkeiten zu. Gemäss Hänggis (2009, 147 – 152) Darlegungen gibt <strong>die</strong> Werbeindustrie ihre Gaben<br />

(Werbebotschaften), ohne <strong>die</strong> Bedingungen der Gabe <strong>oder</strong> <strong>die</strong> Gabe selbst in Frage zu stellen. Gleichsam<br />

fordere sie – so Hänggi (2009, 148,149) – <strong>die</strong> gastgebende Person auf, ihre Gabe anzunehmen.<br />

An <strong>die</strong>sem Punkt weist Hänggi (2009, 148) auf <strong>die</strong> Relevanz hin, zwischen zwei Ausprägungen von<br />

Werbung zu differenzieren:<br />

1. Werbung, <strong>die</strong> Menschen ohne ihre implizite Zustimmung anspricht. Es sind beispielsweise Plakatwerbung<br />

<strong>oder</strong> Spam (Hänggi 2009, 148).<br />

2. Werbung, welche aufgrund <strong>einer</strong> Kette selbstständiger Entscheide konsumiert wird. Es handelt<br />

sich um Werbung, <strong>die</strong> kombiniert mit Inhalten auftritt, an denen der/<strong>die</strong> GastgeberIn tatsächlich<br />

interessiert ist (Hänggi 2009, 148). Als Beispiel dafür nenne ich <strong>die</strong> Informationsme<strong>die</strong>n in denen<br />

explizit gefragte Information mit Werbung zusammen auftritt.<br />

Werbung, <strong>die</strong> Menschen ungefragt anspricht, stellt aus Hänggis Perspektive der Gastfreundschaft<br />

ein Problem dar. Die ungefragte Werbung – solche, <strong>die</strong> nicht umgangen werden kann – fordert von<br />

jenen, <strong>die</strong> ihr ausgesetzt sind, <strong>die</strong> absolute Gastfreundschaft (Hänggi 2009, 148). Hänggi bezieht sich<br />

auf französische Philosophen und bezeichnet absolute Gastfreundschaft insofern als unmögliche Art<br />

von Gastfreundschaft, „da sie allem gegenüber offen ist und niemandem den Zutritt verweigert, der<br />

Obdach braucht <strong>oder</strong> wünscht.“ (Hänggi 2009, 92)<br />

„[Absolute <strong>oder</strong> bedingungslose Gastfreundschaft] ist der Verzicht des Souveräns auf <strong>die</strong> Souveränität, <strong>die</strong><br />

Auflösung des souveränen Raums.“(Hänggi 2009, 92)<br />

Die Werbeindustrie muss gemäss Hänggi (2009, 148) <strong>die</strong>sen Verzicht des Individuums auf seine Souveränität<br />

voraussetzen, da sie aufgrund der Austauschbarkeit ihrer Körper zweiter Ordnung weder<br />

im Stande ist, Singularitäten zu begegnen, noch Verantwortung für <strong>die</strong> Bedingung ihrer Gabe zu<br />

übernehmen (vgl. Kapitel 7.1 ‚Natürliche und juristische Personen: Die Frage der Verantwortung‘).<br />

So schreibt schliesslich <strong>die</strong> Werbeindustrie <strong>die</strong> Verantwortung der gastgebenden Person zu 2 . Diese<br />

gastgebende Person muss gemäss Hänggi (2009, 148) absolute Gastfreundschaft bieten, ihr Gehirn ist<br />

nach Malabou (zitiert in Hänggi (2009, 138-141)) jedoch so beschaffen, dass es auf den Gast p<strong>las</strong>tisch<br />

reagieren kann und sich nicht der Flexibilität des geformt Werdens hingeben muss. Malabou (2006)<br />

weist darauf hin, dass das Gehirn ein p<strong>las</strong>tisches Organ ist, mit der doppelten Fähigkeit, geformt zu<br />

werden und selber zu formen. Es ist damit in der Lage, sich selbst und seine Umwelt zu formen, wobei<br />

Letztere erneut das Gehirn formt Malabou (2006). Malabous Übersetzung biologischer Erkenntnisse<br />

auf <strong>die</strong> soziale Gestaltung der Umwelt, erinnert mich an Giddens’ Theorie der Strukturierung, welche<br />

gleichsam auf den formenden Einfluss des Menschen und dessen geformt Werdens beruht. Unter der<br />

Annahme eines Bewusstseins des Gehirns, ist <strong>die</strong>ses gemäss Hänggi (2009, 138), innerhalb gewisser<br />

Grenzen der biologischen Entwicklung in der Lage, <strong>die</strong> Verantwortung des Selbsts und für das Selbst<br />

zu bekräftigen. Der P<strong>las</strong>tizität stellt Hänggi (2009, 138ff) in Anlehnung an Malabou (2006) den Begriff<br />

der Flexibilität gegenüber: Flexibiliät beschreibt einzig <strong>die</strong> Eigenschaft des geformt Werdens:<br />

„Flexibilität ist <strong>die</strong> P<strong>las</strong>tizität minus deren Genie.“ (Malabou 2006, 24)<br />

2 Persönliche Folgerung auf der Basis von Hänggis Darlegungen


7. Das Prinzip der Gastfreundschaft als Mittler zwischen sozialen Gütern und Menschen<br />

Hänggi (2009, 152) fordert schliesslich vom Publikum, dass es <strong>die</strong> Verantwortung für den Gast selber<br />

übernimmt und sich nicht flexibel den Botschaften ausliefert, wo doch <strong>die</strong> P<strong>las</strong>tizität des Gehirns <strong>die</strong><br />

Möglichkeit birgt, dem flexiblen geformt Werden Widerstand zu leisten.<br />

„Die Antwort der Verantwortung ist nicht nur Ausdruck des geformt Werdens, sondern auch für das<br />

Formen, für das Formen der Form, für <strong>die</strong> Mitgestaltung der Welt – und für das Tragen der Verantwortung<br />

für unsere von uns geformte Zukunft.“(Hänggi 2009, 152)<br />

Das Prinzip der Gastfreundschaft <strong>einer</strong> verantwortungsvollen gastgebenden Person ist eine mögliche<br />

Betrachtungsweise der Relation zwischen dem sozialen Gut Werbung und den Menschen. Im Kapitel<br />

14 ‚Soziale Teilstrukturen als Regeln und Ressourcen des Werberaumes der Stadt Zürich‘ werde ich<br />

<strong>die</strong>se theoretische Betrachtungsweise von Werbung wieder aufnehmen.


8. Öffentlicher Raum als Teilstruktur von Öffentlichkeit<br />

Die Gegenüberstellung des normativen <strong>oder</strong> ideellen Verständnisses von öffentlichen und privaten<br />

Räumen und der analytisch begriffenen Grenze zwischen öffentlich und privat ist Thema <strong>die</strong>ses Kapitels.<br />

Die gewählten theoretischen Zugänge zur Begrifflichkeit des öffentlichen und privaten Raums<br />

stammen aus der Philosophie und der Soziologie. Dabei erfolgt <strong>die</strong> Diskussion über <strong>die</strong> Begriffe ‚öffentlicher<br />

und privater Raum‘ im Rahmen <strong>einer</strong> Gegenüberstellung der theoretischen Zugänge von<br />

Habermas, Ruhne und Belina. Mit einbezogen werden auch Aspekte von Rawls’ (2002) Vorschlag<br />

<strong>einer</strong> öffentlichen Vernunft, Mitchells (1995) Verständnis von Öffentlichkeit und Löws Raumsoziologie<br />

(2001).<br />

Spätestens seit Habermas’ „Strukturwandel der Öffentlichkeit“ (1962) ist der Begriff ‚Öffentlichkeit‘<br />

bedeutsamer Gegenstand theoretischer Analysen. Habermas’ Theorie basiert auf <strong>einer</strong> normativen<br />

Kategorie wobei Öffentlichkeit als etwas Gegebenes angenommen wird, das es zu beschreiben gilt<br />

(Habermas 1962). Ruhne (2003), als Vertreterin der feministischen Forschung und Belina (2005) aus<br />

der wissenschaftlichen Bewegung der Radical Geography liefern mit ihren Werken einen theoretischen<br />

Zugang zur gesellschaftlichen Konstruktion von Öffentlichkeit beziehungsweise öffentlichen Sphären.<br />

Ruhne und Belina stellen soziale Kämpfe um und mittels Raumproduktionen in den Mittelpunkt ihrer<br />

Ansätze und leisten damit einen wichtigen Beitrag zur kritischen Raumforschung. Dabei betrachten<br />

Ruhne und Belina öffentlichen Raum nicht als analytische Kategorie, da nicht klar definiert ist, welche<br />

Regeln und Ressourcen ihn zu <strong>einer</strong> bestimmten Zeit bilden (Löw 2001).<br />

Die Gemeinsamkeit der diskutierten theoretischen Zugänge zu öffentlichem Raum liegt auf <strong>einer</strong> allgemein<br />

gehaltenen, abstrakten Ebene: Es handelt sich um das normativ aufgeladene Verständnis,<br />

dass der öffentliche Raum allen Menschen offen stehen muss und weder Gruppierungen noch Einzelpersonen<br />

von dessen Nutzung ausgeschlossen werden dürfen (Bühler 2009, 5). Bühler (2009, 5)<br />

beschreibt das den anschliessend diskutierten Zugängen zu Grunde liegende, normative Verständnis<br />

von öffentlichem Raum folgendermassen:<br />

„In unserer Gesellschaft besteht der weit verbreitete Konsens, dass ein Raum dann „öffentlich“ ist, wenn<br />

er für „alle“ zugänglich ist beziehungsweise wenn grundsätzlich „niemand“ a priori vom Aufenthalt darin<br />

ausgeschlossen wird.“ (Bühler 2009, 5)<br />

8.1. Öffentlichkeit im Verständnis von Habermas<br />

Schon in Habermas’ Habilitationsschrift taucht der Begriff ‚Öffentlichkeit‘ auf. Dabei bezieht er sich<br />

auf eine politische bürgerliche Öffentlichkeit, <strong>die</strong> normativ verfasst ist (Papadopoulous 2005). Habermas’<br />

Beschreibung von Öffentlichkeit widerspiegelt ungefähr das, was Belina unter der normativen<br />

Aufladung des Begriffes versteht. Es handelt sich um <strong>die</strong> ideologische Darstellung von Öffentlichkeit,<br />

an welcher sich unsere demokratischen Gesellschaften orientieren.<br />

8.1.1. Öffentlichkeit und Diskurs<br />

Habermas sieht im öffentlichen Diskurs <strong>die</strong> Grundlage für <strong>die</strong> Öffentlichkeit. Wingert u. Günther<br />

(2001) beschreiben in Anlehnung an Habermas, Diskurs als argumentgeleitete Kommunikation <strong>oder</strong><br />

Wechselrede, deren Ziel es ist, herauszufinden, ob eine bestimmte Aussage wahr beziehungsweise ob


8. Öffentlicher Raum als Teilstruktur von Öffentlichkeit<br />

ein bestimmtes Tun richtig ist. Die informativen theoretischen und praktischen Wahrheiten offenbaren<br />

sich den Menschen gemäss Habermas (zitiert in Wingert u. Günther (2001)) nicht intuitiv<br />

sondern diskursiv. Wahrheit, im Sinne von Aussagen <strong>oder</strong> Richtigkeit des Tuns, befindet sich gemäss<br />

Habermas nicht in jemandes Privatbesitz (Wingert u. Günther 2001). Vielmehr handle es sich<br />

um einen diskursiven und somit öffentlichen Weg zu Einsichten, welcher nur durch öffentlichen Vernunftsgebrauch<br />

zu Ergebnissen führt, <strong>die</strong> für alle gleichermassen gut sind (Wingert u. Günther 2001).<br />

Um <strong>die</strong>sen öffentlichen Weg zu gehen, muss kommunikativ gehandelt werden. Habermas beschreibt<br />

vier Geltungsansprüche an das kommunikative Handeln: Verständlichkeit, Wahrheit, Richtigkeit und<br />

Wahrhaftigkeit (Papadopoulous 2005).<br />

Im Verständnis von Habermas entstehen im öffentlichen Diskurs <strong>die</strong> nötigen Kriterien für das objektive<br />

Urteilen. Mit den Regeln des öffentlichen Diskurses wird eine Brücke geschlagen zwischen dem,<br />

was wahr und richtig ist und dem, was wir für wahr und richtig halten (Wingert u. Günther 2001).<br />

Denn das öffentliche Leben – namens Zivilgesellschaft – pulsiert in vielfältigen Zusammenschlüssen<br />

und Organisationen, kommunikativen Netzwerken und Infrastrukturen, politischen Initiativen und<br />

sozialen Bewegungen, welche <strong>die</strong> politisch bedeutsamen Diskurse tragen. Habermas’ Diskurstheorie<br />

steht also in engem Zusammenhang mit der Idee <strong>einer</strong> Zivilgesellschaft, welche eine dezentrierte öffentliche<br />

Kommunikation ermöglicht (Wingert u. Günther 2001).<br />

Die Betrachtung des öffentlichen Diskurses öffnet <strong>die</strong> Frage über dessen Einbezugs- und Ausschlussprinzipien.<br />

Als Voraussetzung für eine öffentliche Debatte wird ein gewisser politischer Organisationsgrad<br />

genannt (Wingert u. Günther 2001). Gemäss Habermas sind es Kreise der Öffentlichkeit mit <strong>einer</strong><br />

Basis in Verbänden der Zivilgesellschaft, welche das, was anfänglich als private Unzufriedenheit wahrgenommen<br />

wird, in öffentliche Probleme übersetzen (Wingert u. Günther 2001). Öffentlichkeit wird<br />

somit als ein Medium der kollektiven Selbstverständigung konzipiert. Dabei fungiert <strong>die</strong> argumentierende<br />

Öffentlichkeit zugleich als normatives Leitbild und Massstab zur Kritik realer Verhältnisse<br />

(Wingert u. Günther 2001).<br />

8.1.2. „Deliberative Öffentlichkeit“ und politische Gerechtigkeit<br />

In der so genannten „deliberativen Öffentlichkeit“ von Habermas spielt der Wille der BürgerInnen<br />

eine zentrale Rolle. Mit der Äusserung ihrer Kenntnisse und Vorstellungen finden <strong>die</strong> BürgerInnen<br />

ihre Rolle als politische Wesen. Gemäss Habermas (erläutert in Papadopoulous (2005, 18)) sind <strong>die</strong><br />

BürgerInnen mit dem „besten Argument“ in der Lage, politischen Willen auszudrücken und durchzusetzen.<br />

In <strong>die</strong>sem Zusammenhang ist es interessant, vergleichend den Ansatz von Rawls öffentlichem<br />

Vernunftgebrauch herbeizuziehen: Rawls (zitiert in Papadopoulous (2005, 18)) versteht Gerechtigkeit<br />

gleichsam als öffentliches Gut wie als Grundlage für <strong>die</strong> Integration des Willens der BürgerInnen in<br />

demokratische Prozesse. Diese Gerechtigkeit findet Rawls (zitiert in Papadopoulous (2005, 34)) im<br />

so genannten „Urzustand der Gesellschaft“, in welchem sich alle Beteiligten unter dem „Schleier des<br />

Nichtwissens“ befinden. Unter <strong>die</strong>sem “Schleier des Nichtwissens„ sind gemäss Rawls <strong>die</strong> Betroffenen<br />

zwar mit den allgemeinen Tatsachen der Gesellschaft vertraut, doch können sie nichts über ihre eigene<br />

Situation und Stellung aussagen. Durch <strong>die</strong>se Voraussetzung für den Gerechtigkeit schaffenden<br />

Vernunftsgebrauch verhindert Rawls, dass jemand Prinzipien zum eigenen Nutzen aufstellen kann<br />

(Papadopoulous 2005, 34). Sowohl Habermas als auch Rawls schreiben in ihren Theorien, der Partizipation<br />

der BürgerInnen, mittels Ausdrucks ihrer Meinungen, eine entscheidende Rolle für <strong>die</strong> Bildung<br />

von Öffentlichkeit zu (Papadopoulous 2005, 39,84).<br />

8.1.3. Öffentlichkeit als Prinzip des allgemeinen Zugangs<br />

„Die Öffentlichkeit steht und fällt mit dem Prinzip des allgemeinen Zugangs.“ (Habermas 1976, 107).


8. Öffentlicher Raum als Teilstruktur von Öffentlichkeit<br />

Ausgehend von Habermas’ Partizipation der BürgerInnen im Diskurs beschreibt Benkler (2006) in<br />

seinem Werk The Wealth of Networks fünf Prinzipien <strong>einer</strong> „deliberativen Öffentlichkeit“: Allgem<strong>einer</strong><br />

Zugang, Filter für politische Relevanz, Filter für <strong>die</strong> Zu<strong>las</strong>sung von Akteuren, Synthesemechanismen<br />

für eine “öffentliche Meinung” und Unabhängigkeit von der Regierung.<br />

Auch Mitchell (1995, 116) beschäftigt sich mit dem allgemeinen Zugang als Bedingung öffentlicher<br />

Räume und Grundlage demokratischer Gesellschaften. Er führt den Begriff des öffentlichen Raumes<br />

auf Orte der griechischen Agora zurück, wo öffentlich Handel betrieben, politische Entscheide getroffen<br />

und juristische Verhandlungen abgehalten wurden. Öffentlichkeit wird entsprechend als Raum<br />

der Polis (öffentlicher Diskurs), der Ökonomie und der Durchsetzung von Gerechtigkeit (vgl. Rawls’<br />

politische Gerechtigkeit, Kapitel 8.1.2) definiert, zu dem alle Zugang haben sollten. Das Prinzip des<br />

allgemeinen Zugangs als bedeutsame normative Leitlinie für öffentliche Sphären lässt sich somit mit<br />

den vier zeitgenössischen Autoren Habermas, Rawls, Benkler und Mitchell theoretisch beschreiben.<br />

Es ist nun von Interesse, zu suchen, wie <strong>die</strong>ser allgemeine Zugang tatsächlich verstanden wird und<br />

wo seine Grenzen beschrieben werden. Die Diskussion beginnt mit folgender Aussage Habermas’, <strong>die</strong><br />

klare Zu<strong>las</strong>sungskriterien zur – „politisch fungierenden“ – Öffentlichkeit beschreibt (Habermas 1976,<br />

42,108).<br />

„Rechtsform und Öffentlichkeit entspringen dem ökonomischen Tauschverhältnis (Habermas 1976, 42). Die<br />

politisch fungierende Öffentlichkeit erhält den normativen Status eines Organs der Selbstvermittlung der<br />

bürgerlichen Gesellschaft mit <strong>einer</strong> ihren Bedürfnissen entsprechenden Staatsgewalt. Dieser Gegensatz<br />

zwischen öffentlich und privat wird als richtig ideologisiert und nimmt so mit der Zeit einen exiferen<br />

und natürlichen Charakter an. Nicht alle gehören <strong>die</strong>ser bürgerlichen Öffentlichkeit an. Die Beteiligung<br />

am öffentlichen Raisonnement der Privatleute, dem Medium der politischen Auseinandersetzung in der<br />

Öffentlichkeit ist vielmehr an Voraussetzungen gebunden. Bildung ist das eine Zu<strong>las</strong>sungskriterium, der<br />

Besitz das andere (Habermas 1976, 108).“<br />

Habermas begreift Bildung und Besitz als Zu<strong>las</strong>sungskriterien zur bürgerlichen Öffentlichkeit. Der<br />

theoretische Soll-Zustand (Prinzip des allgemeinen Zugangs) unterscheidet sich demnach vom realen<br />

Ist-Zustand (Zu<strong>las</strong>sungskriterien zur Öffentlichkeit). Es ist nicht klar, wie eng Habermas <strong>die</strong>se<br />

Zu<strong>las</strong>sungskriterien betrachtet, inwiefern sich zum Beispiel fehlender Besitz mit zusätzlicher Bildung<br />

kompensieren liesse, <strong>oder</strong> inwiefern der Umfang des Besitzes für den Zugang zur öffentlichen Sphäre<br />

eine Rolle spielt. In <strong>einer</strong> weiteren Aussage, bezieht er sich im Gegensatz zur ersten Aussage ganz<br />

deutlich auf das Eigentum und nicht auf den Besitz, welches das Private konstituiert:<br />

„Der positive Sinn von privat bildet sich überhaupt am Begriff der freien Verfügung über kapitalistisch<br />

fungierendes Eigentum.“ (Habermas 1976, 96)<br />

In der Annahme, dass erst durch das Private Öffentlichkeit überhaupt definiert werden kann, spielt <strong>die</strong><br />

Entwicklung des Eigentums eine zentrale Rolle für <strong>die</strong> Entstehung der Dichotomie öffentlich/privat.<br />

Kapitalistisch fungierendes Eigentum existiert gemäss Meil<strong>las</strong>oux (1975) erst seit dem 18. Jahrhundert,<br />

als Personen mit Grossgrundbesitz – erstmals in England – begonnen haben, Eigentumstitel für<br />

ihre riesigen Ländereien auszustellen.<br />

Diese Gleichsetzung der Entwicklung der Dichotomie öffentlich/privat mit der Entwicklung des Eigentums<br />

und der Bildung wird heute von zahlreichen zeitgenössischen AutorInnen, insbesondere aus der<br />

feministischen Forschung und der Radical Geography, kritisiert. Obwohl Habermas auf Zu<strong>las</strong>sungskriterien<br />

zur Öffentlichkeit hinweist, vernachlässigt er gemäss seinen KritikerInnen <strong>die</strong> vielfältigen<br />

gesellschaftlichen Machtstrukturen, welche <strong>die</strong> Dichotomie öffentlich/privat bedingen. Im nächsten<br />

Abschnitt möchte ich hinsichtlich der gesellschaftlichen Produktion öffentlichen Raumes mehr Klarheit<br />

schaffen.


8. Öffentlicher Raum als Teilstruktur von Öffentlichkeit<br />

8.2. Gesellschaftliche Produktion öffentlichen Raumes – Feministische und<br />

marxistische Kritik an Habermas<br />

Während Habermas (1976) <strong>die</strong> einzelnen Sphären beschreibt und ihnen Eigenschaften zuordnet, suchen<br />

seine Kritiker den Raum zwischen den Sphären – deren Grenze. Habermas (1976) geht von der<br />

Selbstverständlichkeit <strong>einer</strong> Dichotomie öffentlich/privat aus, wohingegen seine Kritiker genau <strong>die</strong>se<br />

anzweifeln:<br />

„[Die Dichotomiekritik] ist <strong>die</strong> Voraussetzung, um <strong>die</strong> praktischen Folgen der ideologischen Grenzziehungen<br />

aufzuheben.“(Belina 2005, 326)<br />

Als wichtige Vertreterin der feministischen Raumforschung, betont Ruhne (2003) <strong>die</strong> Notwendigkeit<br />

eines relationalen Raumverständnisses, welches Raum als gesellschaftlich-prozessuale Kategorie beschreibt<br />

(vgl. Kapitel 6.1 ‚Die Konstitution von Raum im Sinne von Löw‘). Gemäss Ruhne (2003, 73)<br />

bedürfen Raumanalysen in erster Linie der Betrachtungen gesellschaftlicher Prozesse. Ruhne vertritt<br />

<strong>die</strong> These, dass <strong>die</strong> heute nach wie vor fehlende gleichberechtigte Zugänglichkeit öffentlicher Räume<br />

im 19. Jahrhundert gesucht werden muss. Damals waren Arbeitsstätte (Produktion) und Wohnstätte<br />

(Reproduktion) auf den grossen Höfen räumlich eng ineinander verflochten (Ruhne 2003, 88). Erst<br />

im Zuge der Industrialisierung und der damit einhergehenden gesellschaftlichen Wandlungsprozessen<br />

(Lohnarbeit, Konzentration der Produktionsstandorte) ist eine räumliche Trennung der Stätten der<br />

Lohnarbeit von jenen des Wohnens zu beobachten (Ruhne 2003, 88). Es etablierte sich der Begriff<br />

‚Öffentlichkeit‘ für den Erwerbs- und Produktionsbereich, wozu auch <strong>die</strong> Strassen und der urbane<br />

Raum gehörten. Der Begriff ‚Privatheit‘ dagegen bezeichnete <strong>die</strong> Abschottung des Hauses und der<br />

sich herausbildenden bürgerlichen Kleinfamilie 1 (Ruhne 2003, 88).<br />

Mit der Konstruktion des öffentlichen Raumes auf der Basis von Lohnarbeit erklärt Ruhne (2003, 94)<br />

<strong>die</strong> noch immer währende Dominanz der Männer in der Öffentlichkeit beziehungsweise Vorderbühne,<br />

wie <strong>die</strong> Zuordnung der Frauen zur Privatheit beziehungsweise Hinterbühne. Damit kritisiert sie<br />

implizit das Verständnis von Öffentlichkeit als ein für alle zugängliches Konstrukt. Mit ihren Erläuterungen<br />

über <strong>die</strong> Dichotomie öffentlich/privat und deren Zusammenhang mit den Geschlechterrollen<br />

führt Ruhne uns in den Kern von Belinas Ansatz <strong>einer</strong> strategischen Grenzziehung zwischen öffentlichen<br />

und privaten Räumen.<br />

Belina bezeichnet sich als Mitbegründer der Radical Geography, <strong>einer</strong> wissenschaftlichen Bewegung<br />

von Vertretern der marxistischen Analyse in der Geographie (Belina u. Michel 2007). Die Radical<br />

Geography schreibt Raumbetrachtungen nur in Beziehung zu sozialen Prozessen Relevanz zu, weshalb<br />

das „Räumliche“ zum Beispiel nach dessen Bedeutsamkeit für <strong>die</strong> kapitalistische Akkumulation <strong>oder</strong><br />

<strong>die</strong> Staatlichkeit untersucht wird (Belina u. Michel 2007). In seinem Werk zur strategischen Grenzziehung<br />

zwischen öffentlichen und privaten Sphären bezieht sich Belina u. Michel (2007) auf Ereignisse,<br />

in denen Öffentlichkeit <strong>oder</strong> Privatheit zu Gunsten bestimmter Gruppierungen <strong>oder</strong> K<strong>las</strong>sen konstituiert<br />

wird. Die Grenze öffentlich/privat ist im Verständnis der Radical Geography von den jeweiligen<br />

Machtverhältnissen zwischen den Akteuren abhängig und wird als gesellschaftliche Konstruktion und<br />

nicht als Wiedergabe der sozialräumlichen Wirklichkeit beschrieben. Gleiches gilt für <strong>die</strong> Verräumlichung<br />

der Grenze öffentlich/privat auf Karten, welche gemäss Belina (2005, 322, 333) einzig <strong>die</strong>se<br />

Machtkonstruktion wiedergeben.<br />

Gemäss Belina (2005) wecken <strong>die</strong> an der Grenzstrukturierung Beteiligten den Eindruck als verträten<br />

sie <strong>die</strong> Interessen der Allgemeinheit. Damit begründet Belina (2005), weshalb manchmal einzelne<br />

1<br />

In der Soziologie werden hierfür auch <strong>die</strong> Begriffe Vorderbühne (öffentliche Sphäre) und Hinterbühne (private Sphäre)<br />

verwendet (Siebel u. Wehrheim 2003, 4).


8. Öffentlicher Raum als Teilstruktur von Öffentlichkeit<br />

gesellschaftliche K<strong>las</strong>sen <strong>die</strong> „öffentliche Meinung“ bilden. Diese Beobachtung Belinas (2005) steht<br />

im Gegensatz zu Rawls theoretischer Bedingung für eine öffentliche Meinung. Während Rawls <strong>die</strong><br />

Partizipation aller als Voraussetzung für <strong>die</strong> Herausbildung <strong>einer</strong> öffentlichen Meinung betont (Papadopoulous<br />

2005, 84), kann <strong>die</strong>se in Anlehnung an Belina (2005) schon von einzelnen Akteursgruppen<br />

gebildet werden.<br />

Die Aussage Belinas (2005) erinnert mich an Habermas’ Zu<strong>las</strong>sungskriterien zur Öffentlichkeit, welche<br />

auf <strong>die</strong> unterschiedlichen Ressourcen der BürgerInnen zur Teilnahme am öffentlichen Leben hinweisen<br />

(Habermas 1976, 108). Bildung und Eigentum können in Belinas (2005) Verständnis als Elemente von<br />

Macht betrachtet werden und gelten damit als Ressourcen zur Grenzkonstitution öffentlich/privat.<br />

Ein Beispiel aus Belinas (2005) Ausführungen ist <strong>die</strong> im 18. Jahrhundert formulierte Forderung des<br />

Bürgertums an <strong>die</strong> absolutistische Staatsmacht nach mehr Öffentlichkeit, im Sinne von Zugang zum<br />

Eigentum für alle und nicht – wie damals üblich – nur für <strong>die</strong> Staatsmacht. Als weiteres Beispiel erläutert<br />

Belina (2005) <strong>die</strong> nach aussen gerichtete Videoüberwachung von Shoppingcentern. Die Forderung<br />

der sich belästigt fühlenden PassantInnen nach mehr Öffentlichkeit auf den Gehsteigen beschreibt<br />

Belina (2005) als Handlung der Grenzverschiebung öffentlich/privat. Je nach dem, welchen Akteuren<br />

– in <strong>die</strong>sem Fall Vertreter von Shoppingcentern <strong>oder</strong> PassantInnen – mehr Regeln und Ressourcen zur<br />

Durchsetzung ihrer Ideen zur Verfügung stehen, wird der Gehsteig beziehungsweise <strong>die</strong> Videoüberwachung<br />

des Gehsteiges vor dem Shoppingcenter als zum öffentlichen <strong>oder</strong> privaten Raum gehörend<br />

verstanden.<br />

Belinas Frage ist folglich nicht, wo sich <strong>die</strong> Grenze zwischen öffentlich und privat befindet und welche<br />

Eigenschaften <strong>die</strong> einzelnen Sphären aufweisen, sondern wer versucht <strong>die</strong>se Grenze wie und zu welchem<br />

Zweck zu definieren. Er geht gar so weit, dass er <strong>die</strong> Diskussion über den Standort der Grenze<br />

öffentlich/privat zugunsten der Diskussion über <strong>die</strong> Inhalte der gesellschaftlichen Kämpfe auflösen<br />

will.<br />

„Die eingerichtete Grenze zwischen öffentlich und privat muss aufgehoben werden, weil sie als Mittel<br />

gesellschaftlicher Kämpfe machtvoll und ideologisch eingesetzt wird, womit notwendig von den eigentlichen<br />

Inhalten <strong>die</strong>ser Kämpfe abstrahiert wird. Die richtige Zuordnung zu gesellschaftlichen <strong>oder</strong> diskursiven<br />

Sphären ist es nie an sich. Es ist stets nur ein strategisch eingesetztes Mittel zum Zweck.“(Belina 2005,<br />

322)<br />

Im Sinne von Löws Raumsoziologie (2001) kann öffentlicher und privater Raum als Teilstruktur der<br />

gesellschaftlichen Struktur verstanden werden. Öffentlicher Raum ist somit rekursiv in Institutionen<br />

eingelagert und durch Regeln und Ressourcen abgesichert, also gesellschaftlich konstituiert.<br />

Löw (2001) liefert hierzu eine passende Aussage:<br />

“Die Konstitution von Raum bringt systematisch Orte hervor, so wie Orte <strong>die</strong> Entstehung von Raum erst<br />

möglich machen. Der Ort ist somit Ziel und Resultat der Platzierung. An einem Ort können verschiedene<br />

Räume entstehen, <strong>die</strong> nebeneinander sowie in Konkurrenz zueinander existieren beziehungsweise in<br />

k<strong>las</strong>sen- und geschlechtsspezifischen Kämpfen ausgehandelt werden.“(Löw 2001, 273)<br />

Alle drei AutorInnen Ruhne, Belina und Löw gehen von einem relationalen Raumverständnis aus und<br />

entlarven <strong>die</strong> Vorstellung eines gleichberechtigten Zugangs zu öffentlichen Räumen beziehungsweise<br />

deren Konstruktion als Mythos (Belina (2005) in (Bühler 2009, 6). In ihrem Verständnis wird <strong>die</strong><br />

Grenze öffentlich/privat nicht von der gemeinen Gesellschaft sondern von einzelnen Akteursgruppen<br />

mit besonderen Kapitalien beziehungsweise Regeln und Ressourcen festgelegt.


16. Beantwortung der Forschungsfragen<br />

Abbildung 16.1.: Regeln und Ressourcen als Zugangsmöglichkeiten der Akteursgruppen zum Werberaum. Quelle:<br />

Eigene Darstellung (2009).<br />

118<br />

Abbildung 16.2.: Strukturen mit einschränkendem Charakter für <strong>die</strong> Akteursgruppen des Werberaumes. Quelle:<br />

Eigene Darstellung (2009).


16. Beantwortung der Forschungsfragen<br />

Abbildung 16.1.: Regeln und Ressourcen als Zugangsmöglichkeiten der Akteursgruppen zum Werberaum. Quelle:<br />

Eigene Darstellung (2009).<br />

118<br />

Abbildung 16.2.: Strukturen mit einschränkendem Charakter für <strong>die</strong> Akteursgruppen des Werberaumes. Quelle:<br />

Eigene Darstellung (2009).


16. Beantwortung der Forschungsfragen<br />

Abbildung 16.1.: Regeln und Ressourcen als Zugangsmöglichkeiten der Akteursgruppen zum Werberaum. Quelle:<br />

Eigene Darstellung (2009).<br />

118<br />

Abbildung 16.2.: Strukturen mit einschränkendem Charakter für <strong>die</strong> Akteursgruppen des Werberaumes. Quelle:<br />

Eigene Darstellung (2009).

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