Keine Gnade für Lilith!
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Christopher A. Weidner – <strong>Lilith</strong> Seite 1 von 11<br />
<strong>Lilith</strong> – eine ideologische Kröte?<br />
Christopher A. Weidner<br />
<strong>Keine</strong> <strong>Gnade</strong> <strong>für</strong> <strong>Lilith</strong>!<br />
Eine neue Chance <strong>für</strong> den Schwarzen Mond.<br />
(1999)<br />
Meine Begeisterung <strong>für</strong> <strong>Lilith</strong> oder den Schwarzen Mond, wie man sie auch gerne nennt, hielt sich<br />
schon immer eher in Grenzen. Zum einen bin ich der Auffassung, dass es nicht viel Sinn macht, das<br />
Horoskop mit immer mehr Faktoren zu füllen. Dies erhöht zwar die Deutungsdichte, multipliziert<br />
zugleich aber die Möglichkeiten, alles und jedes in ein Horoskop hinein zu (er)finden. Aber gut: Dies<br />
ist kein echtes Argument gegen <strong>Lilith</strong>. Und schließlich sollte man sich einer wirklichen Chance zur<br />
Veränderung und Erweiterung astrologischen Wissens nicht versperren – wenn nur dem Anspruch<br />
Rechnung getragen wird, dass ein "neuer" Faktor sich astrologisch sinnvoll herleiten lässt. Deshalb<br />
kommt auch eine <strong>Lilith</strong> nicht umhin, sich der Frage zu stellen, wie viel Astro-Logik in ihr steckt.<br />
Hier begebe ich mich natürlich auf ein schwankendes Terrain, denn eine Definition <strong>für</strong> "astrologisch"<br />
wird verlangt.<br />
Rudhyar hat einmal Astrologie treffend als das Studium der Wechselbeziehungen zwischen<br />
himmlischen Phänomenen "oben" und physischen, psychologischen und sozialen Veränderungen<br />
"unten", wie sie vom Bewusstsein des Menschen interpretiert werden, bezeichnet. 1 Es wäre demnach<br />
also der Blick des Menschen auf den Himmel, welcher die Grundlage <strong>für</strong> astrologische Erkenntnisse<br />
bildet. 2 Im Gegensatz zur bloßen Beobachtung des Himmels, bei der sich Betrachter und Betrachtetes<br />
als getrennt erleben, nenne ich diesen Blick die Anschauung, bei der das Betrachtete im Inneren des<br />
Menschen Bilder erzeugt, die wiederum in Resonanz zu typisch menschlichen Erfahrungen stehen. 3<br />
Entscheidend aber ist – und hier mag ich mich von vielen gängigen Ansichten in der Astrologie<br />
unterscheiden –, dass sich in diesen Blick unweigerlich die persönliche und die sozio-kulturelle<br />
Geschichte eines Menschen hineinmischt, ja dass es "ziemlich sinnlos [ist], die Astrologie vom<br />
jeweiligen Zustand der Kultur und der Gesellschaft, in der der Astrologe lebt und in der er seine<br />
Kalkulationen und Interpretationen anstellt, trennen zu wollen." 4 An dieser Stelle melden sich jene<br />
"Mythen, nach denen wir leben" zu Worte, denn "jene Metaphern, prägenden Bilder und Paradigmen,<br />
1 Vgl. diese Definition mit Rudhyar, Dane, Das astrologische Häusersystem. Reinbek bei Hamburg 1992. S.9<br />
2 Vgl. Christopher A. Weidner „Astrologie nach dem Tode Gottes“.<br />
3 Vgl. Weidner, Christopher, Astrologie <strong>für</strong> Einsteiger. München 2001. S.27ff<br />
4 Rudhyar a.a.O. S.10<br />
© Christopher A. Weidner 2002
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die jeden Aspekt unseres Lebens nachhaltig beeinflussen und unsere Einstellung zur Wirklichkeit<br />
festlegen" 5 . Diese Mythen durchdringen mit ihren Metaphern unser Dasein, bebildern die<br />
Grundannahmen und Erwartungen einer Epoche und bestimmen so die Form unserer Wahrnehmung,<br />
organisieren den Blick des Menschen in Richtung anerkannter "Tatsachen", denn: "was 'man' will und<br />
was 'man' tut, ist in jeder Gesellschaft weitgehend das, was 'man' wollen soll und was 'man' tun darf." 6<br />
Mythen konstellieren unsere Auffassung von Wirklichkeit, sind wandelbar und erfüllen ihre Funktion<br />
auf räumliche und zeitliche Dimensionen begrenzt. Aus dieser Perspektive wird auch jeder Mythos,<br />
den wir in den Sternen zu finden glauben, zu einem Produkt der menschlichen Geschichte und ist<br />
weder archetypisch in den Tiefen unserer Seele verankert noch Sendbote irgendeiner universellen,<br />
dem Menschen übergeordneten Weisheit.<br />
Wenn wir mit den Augen des kulturellen Codes, in den wir uns eingebettet vorfinden, auf <strong>Lilith</strong> blicken,<br />
erfahren wir etwas sehr Erstaunliches: All das, was AstrologInnen gerne aus diesem Mythos heraus<br />
zu lesen glauben, ist nichts anderes als ein Spiegel ihres Umgangs mit der eigenen kulturellen<br />
Situation. Das heißt: die Wirklichkeit von <strong>Lilith</strong> ist nichts anderes als die Wirklichkeit ihrer<br />
InterpretInnen. Daran ist prinzipiell auch nichts Verwerfliches, doch schließe ich mich unumwunden<br />
einer weiteren klugen Aussage Rudhyars an: "Die Astrologie ist <strong>für</strong> Verwirrung und <strong>für</strong> die Ausbreitung<br />
dogmatisch ausgedrückter Meinungen ein besonders fruchtbares Gebiet, ob diese nun die Form von<br />
angeblich wissenschaftlichen Analysen annehmen, von gelehrten Textsammlungen, von psychischen<br />
Ahnungen oder 'Kommunikationen'." 7 Was auch immer man uns als astrologisch verbrieft vorsetzt,<br />
sollte m.E. darauf untersucht werden, welche ideologische Kröte wir im selben Zug schlucken müssen,<br />
d.h.: Was will man uns mit der Deutung des Mythos sagen? Welches Weltbild fordert hier unsere<br />
Gedanken und Empfindungen heraus?<br />
Ein Blick in die Schlangengrube<br />
Ein kurzer Abstecher in die <strong>Lilith</strong>-Literatur der Gegenwart stimmt zunächst etwas betrüblich, denn <strong>Lilith</strong><br />
kommt nicht gerade auf leichten Füßen daher – im Gegenteil: man gewinnt den Eindruck, als ob sie<br />
Pluto den Rang als Schlangengrube der Astrologie ablaufen wolle. Düster windet sie sich wie ein<br />
schwarzer Faden durch die Interpretationen der AutorInnen und schließlich um das Gemüt der<br />
Leserschaft. Kein Wunder – ist <strong>Lilith</strong> doch eine üble Dämonin, die Kinder würgt und Männern zu<br />
unzüchtigen Träumen verhilft. Epizentrum der Deutungskünste aber ist in aller Regel die Geschichte<br />
von <strong>Lilith</strong> als der ersten Frau Adams, die nicht wie Eva aus der Rippe des Mannes geboren, sondern<br />
wie jener von Gott aus dem Staub derselben Erde geformt wurde. Leider ging diese Liaison in die<br />
5<br />
Highwater, Jamake, Sexualität und Mythos. Olten/Freiburg 1990. S.22<br />
6<br />
Highwater, Jamake, Sexualität und Mythos. Olten/Freiburg 1990. S.31<br />
7 Rudhyar a.a.O. S.10<br />
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Brüche, da man sich über die Position beim Geschlechtsakt nicht einigen konnte: "Adam sagte: 'Du<br />
sollst unten liegen!", und <strong>Lilith</strong> sagte: 'Du sollst unten liegen!' Sie hörten nicht aufeinander." 8 <strong>Lilith</strong><br />
verließ daraufhin das Paradies, um <strong>für</strong>derhin als Nachtgespenst ihr Unwesen zu treiben. Wie Kocku<br />
von Stuckrad hervorhebt, wurde diese Erzählung von den rabbinischen Autoren eingeführt, um die<br />
Widersprüche der beiden Schöpfungsgeschichten in der Genesis, was die Entstehung von Mann und<br />
Frau angeht (vgl. 1.Moses 1:26f und 1.Moses 2:18 und 22ff), zu überbrücken. 9<br />
Ungeachtet dieser kulturhistorisch relevanten Merkmale des <strong>Lilith</strong>-Mythos, scheut man sich in der<br />
einschlägigen Literatur nicht, <strong>Lilith</strong> gewissermaßen <strong>für</strong> die Doktrin der rebellischen Frau zu usurpieren,<br />
die den Unterdrückungsversuchen des Mannes Widerstand leistet. <strong>Keine</strong> Ausführung über <strong>Lilith</strong> kann<br />
es sich daher leisten, nicht die allmächtige Große Göttin herbei zu zitieren, von deren einstiger<br />
matriarchaler Größe in der Gestalt von <strong>Lilith</strong> nur noch der angsteinflössende Aspekt übrig geblieben<br />
sei. Leider krankt diese Deutung des Mythos daran, dass sie völlig undifferenziert sogar diejenigen<br />
Eigenschaften <strong>Lilith</strong>s als Kennzeichen "echter weiblicher Spiritualität" annektiert, die wir wohl eher der<br />
patriarchalen Verstümmelung zu verdanken haben. Wie gerne stürzt man sich auf den Nachtaspekt<br />
der <strong>Lilith</strong>, deutet ihren Namen fleißig, aber religionsgeschichtlich unhaltbar 10 , aus lîl <strong>für</strong> "Nacht", wobei<br />
man sich daran erfreut – ganz im Sinne der Jungschen Tradition vom Weiblichen als dunkle, sumpfige<br />
Macht aus dem Unbewussten, deren Schoß ein alles verschlingender Schlund ist und immerzu darauf<br />
lauert, den Herrschaftsbereich des Logos mit ihren irrationalen Launen zu überfluten – im Nächtlichen,<br />
Dunklen die Urkraft des Weiblichen zu erfühlen.<br />
Vom Nachtgespenst zum Racheengel<br />
Dabei verkörpert, wenn es nach einigen AutorInnen ginge, gerade <strong>Lilith</strong> ein Frauenbild, welches nur<br />
auf dem Boden von patriarchaler Diskriminierung gewachsen sein kann. Wir lesen zum Beispiel von<br />
Frauen, die "auf ihrem Weg zur Karriere … jene Kräfte und Eigenschaften geopfert [haben], die<br />
eigentlich weiblich wären, wie Sanftheit, Gefühl, Einfallsreichtum, Verständnis." 11 In einer Männerwelt,<br />
so heißt es, müssen Frauen "die weiblichen Begabungen entwickeln, wie Weisheit und Intuition,<br />
Bereitschaft zur Zusammenarbeit (und nicht zur Unterdrückung), um uns von der Logik der Macht und<br />
des Herrschertums zu lösen …" 12 . Männern aber wird der Schwarze Mond zum schwarzen Peter: sie<br />
erleben <strong>Lilith</strong> "meist als eine Art Negativ-Anima", denn sie waren "das Opfer von <strong>Lilith</strong>s grausamer<br />
Rache, und deshalb <strong>für</strong>chten und verdrängen sie sie." 13 Wo <strong>Lilith</strong> auftaucht, fällt die Astrologenschaft<br />
8 Aus dem "Alphabet des Ben Sira" zitiert nach von Stuckrad, Kocku, <strong>Lilith</strong>. Braunschweig 1997. S.75<br />
9 von Stuckrad, Kocku, <strong>Lilith</strong>. Braunschweig 1997. S.71<br />
10 von Stuckrad, Kocku, <strong>Lilith</strong>. Braunschweig 1997. S.66<br />
11 Livaldi-Laun, Lianella, <strong>Lilith</strong> – die kreative Revolution. In MERIDIAN 5/95. S.16<br />
12 ebd.<br />
13 a.a.O. S.18<br />
© Christopher A. Weidner 2002
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in merkwürdige "Ahnungen und Stimmungen": "wirklich begriffen habe ich es nicht. … [Es] war eine<br />
Erfahrung des nicht stillbaren Durstes, ich wollte es intellektuell begreifen, und 'irgendetwas' löste sich<br />
auf, sobald ich einen Teil zu erhaschen glaubte." 14 Klar handelt es sich bei <strong>Lilith</strong> "um ein Symbol aus<br />
einer matriarchalen Zeit eines magischen Bewusstseins" 15 , in dem "nicht irgendwelche individuellen<br />
Auswüchse zählen, sondern die Zugehörigkeit zum mondhaften Ursubstrat der Großen Mutter." 16 Mit<br />
dem Wechsel zur "Ego-Periode" des Patriarchats musste – kurz gesagt – diese Große Göttin letztlich<br />
der maskulinen Heldenmythologie weichen und wandelte sich in jene dämonische <strong>Lilith</strong>, einem<br />
"Fleisch fressenden und Blut saugenden Parasiten und Vampir." 17 Natürlich, so beeilt man sich zu<br />
betonen, ist dies nichts anderes als ein Spiegel der "Angst des Patriarchates vor einem Zurückfallen in<br />
den Bereich der Großen Mutter" und die so unterdrückte <strong>Lilith</strong> kann darum nicht anders als sich in der<br />
"Kraft des lunaren und venusischen Pols, der all das herunterreißt, was der Mensch in seinem<br />
Versuch, sich über die Natur zu erheben, errichtet hat", zu artikulieren. So schreckt <strong>Lilith</strong> nicht davor<br />
zurück, einen Menschen, "der sich zu weit von den Entsprechungen seiner Seele und seines<br />
Unbewussten entfernt hat", zu "scharfen Korrekturen" 18 zu zwingen.<br />
Und solche Korrekturen bekommen gerade Frauen offensichtlich dann zu spüren, wenn sie folgende<br />
Botschaft von <strong>Lilith</strong> überhören: "Liebe Frauen, Gleichberechtigung ist schön und gut. Ihr habt gelernt,<br />
euch durchzusetzen und in der Welt zu behaupten. Ihr habt gelernt, die Energien der männlichen<br />
Planeten Sonne und Mars zu integrieren und zum Ausdruck zu bringen. Aber! So wertvoll diese<br />
Entwicklung auch war, sie ist nur die Hälfte der Ganzheit, denn: Ihr seid keine Männer, ihr seid Frauen<br />
und darum anders und habt vergessen, welche Macht in den weiblichen Energien steckt! Wenn ihr<br />
den männlichen Eigenschaften nacheifert, dann opfert ihr euch selbst und eure ureigene Weiblichkeit."<br />
19<br />
Zugegeben: So gesehen war noch nie ein astrologisches Prinzip so politisch wie <strong>Lilith</strong>, und das macht<br />
sie als Zeitgeistphänomen in erhöhtem Maße interessant. Wie kein anderes Prinzip wirkt sie offenbar<br />
als ideologischer Trigger auf die von der Emanzipation ermüdeten Geister und lässt Hoffnung darauf<br />
keimen, dass die letzte Kluft der Unvereinbarkeit der Geschlechter noch nicht völlig<br />
zusammengebrochen ist. Immunisierung gegen Kritik ist dabei ein Kinderspiel, wenn man sich auf die<br />
Hase-und-Igel-Taktik der Archetypen verlassen kann: "Wer nicht <strong>für</strong> <strong>Lilith</strong> ist, ist gegen sie!"<br />
14 Traugott, Hannelore, <strong>Lilith</strong> – Dämonin und Initiatorin. In Astrologie Heute Nr. 39. S.26<br />
15 Weiss, Claude, Die Rückkehr der <strong>Lilith</strong>. In Astrologie Heute Nr. 43. S.6<br />
16 ebd. S.7<br />
17 ebd. S.8<br />
18 ebd. S.9<br />
19 vgl. Bachmann, Verena, <strong>Lilith</strong> und die Energien der weiblichen Planeten. In Astrologie Heute Nr. 52. S.26, und Livaldi-Laun,<br />
Lianella a.a.O. S.17<br />
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Und so wird aus wenig Zucker viel ideologische Zuckerwatte und aus dem Nachtgespenst <strong>Lilith</strong> ein<br />
Racheengel nicht <strong>für</strong> die Unterdrückung der Frau, sondern <strong>für</strong> die Unterdrückung des vermeintlich<br />
Weiblichen in der Frau, ihrer "wahren" Bestimmung oder besser: das, was frau/man da<strong>für</strong> hält.<br />
Sexy <strong>Lilith</strong>?<br />
Da ich an anderer Stelle bereits ausführlich die Problematik der angenommenen Polarität zwischen<br />
Mann und Frau und ihrer dogmatischen Verankerung in der astrologischen Symbolik besprochen<br />
habe 20 , möchte ich nur Folgendes an dieser Stelle einflechten:<br />
Wir stehen an der Wende zu einem neuen Paradigma und allmählich verlieren die unsere Wirklichkeit<br />
organisierenden Grundannahmen, die Mythen, nach denen wir leben, den Boden unter den Füßen –<br />
unter anderem die Trennung der Menschheit in Mann und Frau bzw. in "männlich" und "weiblich". Um<br />
keine Missverständnisse aufkommen zu lassen: zweifelsohne kann man die Menschheit in zwei<br />
anatomisch unterscheidbare Gruppen teilen, in männliche Menschen und weibliche Menschen – so<br />
wie man sie in rothaarige, blonde, schwarzhaarige Menschen etc. oder nach Blutgruppen gruppieren<br />
könnte. Während es jedoch jedem einsichtig sein dürfte, dass die Blutgruppenzugehörigkeit oder die<br />
Haarfarbe (mit Ausnahme schlechter Witze) keine ernst zu nehmenden Schlüsse auf charakterliche<br />
Merkmale zulassen, hält sich hartnäckig die Annahme, der biologische Unterschied zwischen<br />
weiblichen und männlichen Menschen bedinge so etwas wie eine innere Weiblichkeit und<br />
Männlichkeit, die sich auch im Charakter zu äußern habe. In der Astrologie scheint es besonders<br />
schwer zu fallen, ein Umdenken zu provozieren – zu stark hat sich die Vorstellung eines<br />
archetypischen Geschlechtsunterschiedes in die Köpfe eingekerbt, wie sie zum Beispiel in der<br />
gängigen Gliederung der Planeten in männliche und weibliche wiederholt wird – wobei sich hier in<br />
besonders drastischer Weise zeigt, welche Eigenschaften man vom Weiblichen und welche vom<br />
Männlichen erwartet. In der <strong>Lilith</strong>-Literatur zeigt sich diese Differenz darin, dass man beispielsweise<br />
unterschiedliche Deutungen <strong>für</strong> Männer und Frauen angibt und allein dadurch schon der Vorstellung<br />
Vorschub leistet, dass es etwas wesenhaft Anderes zwischen den Geschlechtern gibt.<br />
Es wird Zeit, mit der Dekonstruktion sexueller Mythen in der Astrologie zu beginnen. <strong>Lilith</strong> kann und<br />
darf hier keine Ausnahme bieten. Wenn ich aber nun nicht auf <strong>Lilith</strong> im Horoskop verzichten möchte –<br />
wie kann ich anstatt dessen vorgehen, um eine brauchbare Interpretation zu erhalten? Wie ich<br />
eingangs ausführte, liegt der Schlüssel zu allen astrologischen Prinzipien nicht in den Mythen, die man<br />
ihnen überstülpt, sondern in der Anschauung der himmlischen Phänomene, auf die sie sich beziehen.<br />
Wenn man also herausfinden möchte, was <strong>Lilith</strong> wirklich bedeutet, muss man sich die Mühe machen<br />
zu verstehen, was <strong>Lilith</strong> eigentlich ist …<br />
20 Vgl. Christopher A. Weidner “Der Ikarus-Effekt“.<br />
© Christopher A. Weidner 2002
Christopher A. Weidner – <strong>Lilith</strong> Seite 6 von 11<br />
Ein Brennpunkt am Himmel<br />
Abbildung 1: <strong>Lilith</strong> als Blickrichtung auf den zweiten Brennpunkt der elliptischen Umlaufbahn des Mondes.<br />
Was ist denn nun eigentlich <strong>Lilith</strong>? Inzwischen hat es sich herumgesprochen, dass nicht irgendein<br />
fiktiver Planet gemeint ist, sondern "die Richtung auf den zweiten Brennpunkt der elliptischen<br />
Umlaufbahn des Mondes um die Erde" (Abbildung 1). Damit soll <strong>Lilith</strong> im Horoskop auf denjenigen<br />
Punkt zeigen, den der Erdtrabant erreicht, wenn er am weitesten entfernt von der Erde steht, das so<br />
genannte Apogäum. 21 Leider ist dieser Punkt auf Grund der Komplexität der Mondbahn nicht eindeutig<br />
zu bestimmen, eine Problematik, der sich Dieter Koch in seinem erhellenden Aufsatz "Was ist <strong>Lilith</strong>?" 22<br />
ausführlich gewidmet hat. Dies liegt u.a. daran, dass die Mondbahn keine wirkliche Ellipse ist. Leider<br />
aber verhallen solche himmelsmechanisch fundierten Argumente oft ungehört und so kürzt man die<br />
Diskussion um das astronomische Wie und Was von <strong>Lilith</strong> gerne lapidar ab, indem z.B. darauf<br />
verwiesen wird, dass "die gelegentlich geäußerte Annahme, man müsse die <strong>Lilith</strong>position in<br />
bestimmter Weise korrigieren, ... sich nicht durchsetzen [konnte]" oder gar, dass man eben "gute<br />
Ergebnisse mit einer unkorrigierten <strong>Lilith</strong> erzielt" 23 habe. Offensichtlich ist das Bedürfnis nach<br />
21<br />
Einige andere AutorInnen beziehen sich auf den zweiten Brennpunkt der "Ellipse" der Mondumlaufbahn als <strong>Lilith</strong>. Vgl. hierzu<br />
auch Livaldi-Laun/Stiehle "Der schwarze Mond – die astronomischen Grundlagen von <strong>Lilith</strong>" in MERIDIAN 5/94. S.16f<br />
22 Koch, Dieter, Was ist <strong>Lilith</strong> und welche Ephemeride ist richtig?" in: MERIDIAN 1/95. S.36ff<br />
23 von Stuckrad, Kocku, <strong>Lilith</strong>. Braunschweig 1997. S.97<br />
© Christopher A. Weidner 2002
Christopher A. Weidner – <strong>Lilith</strong> Seite 7 von 11<br />
Implementierung neuer Mythen in das Horoskop größer als der Wille zu Exaktheit. Ich möchte wagen<br />
zu behaupten, dass eine unkorrigierte <strong>Lilith</strong> dem Versuch gleichkäme, die Rückläufigkeit der Planeten<br />
aus Bequemlichkeit herauszukürzen …<br />
Schwerwiegender jedoch wirkt der Umstand, dass <strong>Lilith</strong> keinerlei astrologisches Anschauungsmaterial<br />
bietet, da sie nicht wirklich am Himmel vorhanden ist. Dies ist den <strong>Lilith</strong>ianerInnen natürlich bewusst,<br />
und so fehlt es nicht an Bekräftigungen, dass es sich bei <strong>Lilith</strong> eben wie bei den Mondknoten oder gar<br />
den Häuserspitzen um einen "sensitiven Punkt" handelt – und diese könne man ja schließlich auch<br />
nicht sehen. 24 Dabei wird jedoch übersehen, dass sowohl die Häuser als auch die Mondknoten<br />
ungleich <strong>Lilith</strong> nicht erst auf den Tierkreis projiziert werden müssen. So sind die Mondknoten<br />
Schnittpunkt der Ekliptik (Tierkreis) mit der Mondumlaufbahn und die Häuser entweder per se<br />
Ekliptikstellen (z.B. bei Placidus) oder ebenfalls Schnittpunkte bestimmter räumlicher Koordinaten mit<br />
der Ekliptik (z.B. Campanus). Allein Planeten werden auf Grund ihrer nördlichen und südlichen<br />
Abweichung von der Ekliptik auf selbige projiziert, und so nimmt <strong>Lilith</strong> eine seltsame Zwitterposition<br />
ein, möchte sensitiver Punkt sein und zugleich wie ein Planet behandelt werden. <strong>Lilith</strong> wandert abseits<br />
des Tierkreises in einer komplizierten Bahn um die Erde und täuscht dabei eine eigenständige<br />
Bewegung vor – weswegen sie dazu verleitet wie ein echtes Planetenprinzip betrachtet zu werden.<br />
Bei <strong>Lilith</strong> handelt es nicht um einen Faktor von klassischer Wichtigkeit, denn mit ihr lassen sich auch<br />
keine wirklich wichtigen himmlischen Ereignisse verknüpfen, wie z.B. die Sonnen- und<br />
Mondfinsternisse mit den Mondknoten. 25 <strong>Lilith</strong> ist ein Produkt aus der Erkenntnis der elliptoiden<br />
Umlaufbahn des Mondes um die Erde, wie sie erst seit Kepler bekannt ist. <strong>Lilith</strong> kann folglich nur dann<br />
relevant werden, wenn wir bei ihr eine Ausnahme von der rein geozentrischen Perspektive des<br />
Horoskops machen, denn die Gestalt der Mondbahn kann nur aus heliozentrischer Sicht erkannt<br />
werden und nur aus dieser besitzt ein Begriff wie Apogäum überhaupt einen Sinn. Für den im<br />
Mittelpunkt des astrologischen Universums stehenden Betrachter auf der Erde ist die Mondbahn<br />
jedoch wie jede andere Planetenbahn eine Kreisbahn, womit <strong>Lilith</strong> <strong>für</strong> ihn keinerlei Bedeutung<br />
besitzen kann. Wenn sich aber kein <strong>für</strong> die menschliche Anschauung bedeutsames himmlisches<br />
Phänomen mit <strong>Lilith</strong> verknüpfen lässt, ist m.E. ein astrologischer Anspruch im klassischen Sinne<br />
verwirkt.<br />
Auch wenn in meinen Augen die angeführten Argumente durchaus dazu angetan sind, die Rolle einer<br />
<strong>Lilith</strong> im Horoskop generell infrage zu stellen, könnte man freilich etwas kulanter sein und aus der Not<br />
eine Tugend machen und all die hier angeführten Kritikpunkte zu <strong>Lilith</strong>s Charakteristiken stilisieren.<br />
24<br />
Spitzfindige ZeitgenossInnen können mir zurecht vorhalten, dass man ja auch die Transsaturnier nicht sehen kann – dennoch<br />
sind sie fassliche Objekte unseres Sonnensystems und können sichtbar gemacht werden, wenn auch unter Zuhilfenahme von<br />
Teleskopen, ein Umstand, der sogar ein wichtiger Beitrag zu ihrer Deutungsgeschichte ist. Vgl. hierzu Weidner a.a.O. S.128ff<br />
25 Allein Claudia von Schierstedt erwähnt einen astronomisch relevanten Zusammenhang mit ringförmigen Sonnenfinsternissen.<br />
vgl. von Schierstedt, Claudia, Finsternisse astrologisch deuten. Mössingen 1999. S.15<br />
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Demnach hätten wir es dann mit dem Auftakt einer Reihe neuartiger sensitiver Punkte zu tun, von<br />
denen das Apogäum des Mondes nur ein prominenter Fall wäre – völlig gleichberechtigt müsste man<br />
nun beginnen auch das Perigäum (den erdnächsten Punkt des Mondes, der sich jedoch nicht genau<br />
dem Apogäum gegenüber befinden muss 26 ) und sogar die Erdferne und Erdnähe der Sonne (Aphel<br />
und Perihel) bzw. sämtlicher anderer Planeten. Tatsächlich gibt es einige AstrologInnen, die bereits<br />
damit begonnen haben, Namen <strong>für</strong> all diese Punkte zu verteilen: Neben dem Apogäum mit Namen<br />
<strong>Lilith</strong> steht nun Priapos <strong>für</strong> das Perigäum usw.<br />
Gesetzt den Fall also, <strong>Lilith</strong> hätte etwas zu bedeuten – was wäre dies? Herkömmlicherweise haben<br />
sich alle AutorInnen bislang darauf verständigt, den Namen des Apogäums als Grundlage ihrer<br />
Deutungen zu zitieren und ranken sich Interpretationen in aller Regel um die Geschichten jener<br />
schillernden weiblichen Gestalt des mesopotamischen und hebräischen Mythos. Leider lässt sich nicht<br />
mehr schlüssig nachvollziehen, wie das Mondapogäum zu seinem Namen kam – wie gesagt: der<br />
Astrologie des Altertums war <strong>Lilith</strong> sicherlich kein Begriff auf Grund der fehlenden Kenntnisse um die<br />
wirkliche Gestalt der Mondbahn. Wie ich an anderer Stelle 27 bereits ausgeführt habe, ist es jedoch in<br />
aller Regel zweifelhaft, sich allein auf den Namen zu stürzen, denn dies entspricht m.E. nicht wirklich<br />
astrologischem Denken, welches sich auf die Anschauung eines himmlischen Phänomens stützt. So<br />
war stets am Anfang das Augenmerk auf die Eigentümlichkeiten eines Planeten gerichtet, auf seine<br />
Farbe, seinen Bahnverlauf, sein "Verhalten" am Himmel, bevor ihm eine Gottheit und damit ein Name<br />
zugewiesen wurde. 28 Bei <strong>Lilith</strong> jedoch steht der Name am Anfang – während die astrologischen<br />
Anschauungstatsachen niemanden zu interessieren scheinen.<br />
<strong>Lilith</strong> kann im Grunde keine eigenständige Bedeutung haben, da sie nichts weiter als eine Funktion<br />
der Mondbahn ist. Sie ist als Station seines Umlaufes gewissermaßen eine Momentaufnahme seines<br />
Wesens, ein bestimmter Aspekt auf seiner Reise um die Erde. Der Schlüssel zur Interpretation von<br />
<strong>Lilith</strong> liegt also im Mond selbst begründet und alles wird davon abhängen, wie wir dieses astrologische<br />
Prinzip betrachten.<br />
Wo die totale Identifikation endet …<br />
Der Mond ist aus astrologischer Sicht unser größtes Organ der Wahrnehmung: Er sammelt die<br />
Informationen aus der äußeren Welt und gibt sie gefiltert durch die Kriterien seiner besonderen<br />
Position im individuellen Horoskop an unsere innere Welt weiter: Er ist unser "Fenster zur<br />
26<br />
vgl. Koch, Dieter a.a.O.<br />
27<br />
Weidner, Christopher „Astrologie nach dem Tode Gottes“.<br />
28 Ausnahmen stellen natürlich die sogenannten teleskopischen Planeten dar, die zwar eine Taufe erfuhren, jedoch über den<br />
Zeitpunkt ihrer Entdeckung auf bestimmte typische Eigenschaften schließen ließen.<br />
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Wirklichkeit" 29 , weil er bestimmt, wie <strong>für</strong> uns die Welt aussieht, was <strong>für</strong> ein Ort diese Welt <strong>für</strong> uns auf<br />
eine ganz fundamentale und essenzielle Weise ist. Der Mond im Horoskop beschreibt unser<br />
allgemeine Art, "zwischen den Dingen zu sein", d.h. wie wir uns als undifferenzierten Bestandteil der<br />
Welt erleben, ohne dass wir uns dessen bewusst sind. Mond: Das ist reine Subjektivität, totale<br />
Identifikation mit der Situation, in der ich mich befinde. Was mir der Mond an Eindrücken zur<br />
Verfügung stellt, kann nicht anders als mich betroffen machen: Hier spüre ich am unmittelbarsten, wie<br />
ich unentrinnbar in die Welt, die mich umhüllt, eingebettet bin, denn "niemand kann sich der<br />
fundamentalen Subjektivität der Erfahrung entziehen". 30 Auf der Subjektivität der Erfahrung wird sich<br />
durch Prozesse der Assimilation, Strukturierung und Verarbeitung von Eindrücken (Merkur) später das<br />
herauskristallisieren, was wir unser "Ich" nennen (Sonne) und dem wir eine so erstaunliche<br />
Beständigkeit zutrauen. Ohne Zweifel gehen wir durch das Leben mit einer kontinuierlichen Ich-<br />
Empfindung: "Wir haben eine Persönlichkeit, Erinnerungen, Pläne und Erwartungen, die offenbar alle<br />
in einem kohärenten Standpunkt zusammenkommen, in einem Zentrum, von dem aus wir die Welt<br />
überblicken, dem Boden, auf dem wir stehen." 31 Und dennoch offenbart sich uns täglich der<br />
Widerspruch, dass wir keine Einheit sind, dass es keine Kontinuität unserer Erfahrung gibt, dass wir<br />
"viele" sind: der Wütende, der Traurige, der Liebende, der Ängstliche, der Fröhliche etc., dass "ein<br />
Mensch zu sein, auch nur zu leben" immer bedeutet, "sich in einer Situation, in einem Kontext, in einer<br />
Welt zu befinden" und "keinerlei Erfahrung" zu haben, "die beständig oder situationsunabhängig<br />
wäre". 32<br />
Ouspensky formulierte dies in der Tradition des "Vierten Weges" Folgendermaßen: "Vor allem soll der<br />
Mensch wissen, dass er nicht eine Einheit ist – er ist eine Vielheit. Er hat kein Ich, das einheitlich,<br />
beständig und unwandelbar wäre. Er wechselt fortwährend." 33 Demnach ist die Empfindung eines<br />
bleibenden Ich nichts weiter als eine Illusion, hervorgerufen durch das Empfinden, ein<br />
zusammenhängender Körper zu sein, durch die Identifikation mit einem bestimmten Namen und vor<br />
allen durch mechanische Gewohnheiten, die wir uns durch Erziehung oder Nachahmung erworben<br />
haben. Ziel der menschlichen Entwicklung könnte es sein, diese unzusammenhängenden, sich<br />
widerstreitenden Ichs zu überwinden und zu einem kontinuierlichen Bewusstsein seiner selbst zu<br />
gelangen. Auf dem Weg dahin steht dem Menschen "die dauernde Identifizierung mit dem, was in<br />
einem bestimmten Augenblick seine Aufmerksamkeit, seine Gedanken oder seine Wünsche und seine<br />
Einbildungskraft anzieht" 34 , im Wege.<br />
29 Roscher, Michael, Das Astrologiebuch. München 1989. S.130<br />
30 von Glasersfeld, Ernst, Radikaler Konstruktivismus. Frankfurt/Main 1997. S.128<br />
31 Varela/Thompson/Rosch, Der mittlere Weg der Erkenntnis. München 1995. S.89<br />
32 Varela/Thompson/Rosch a.a.O. S.89<br />
33 Ouspensky, P.D., Psychologie der möglichen Evolution des Menschen. München/Seeshaupt 1995. S.19<br />
34 Ouspensky, P.D., Auf der Such nach dem Wunderbaren. Bern/München/Wien 1991. S.218<br />
© Christopher A. Weidner 2002
Christopher A. Weidner – <strong>Lilith</strong> Seite 10 von 11<br />
Und so bindet uns der Mond auf der einen Seite auf eine ganz persönliche Art und Weise an die Welt<br />
und versorgt uns mit den Erfahrungen und Eindrücken, die wir benötigen, um überhaupt ein Gefühl<br />
von Identität entwickeln zu können, während er uns auf der anderen Seite in die Identifikation führt,<br />
der Abhängigkeit von den Situationen, in denen wir uns finden und denen wir uns ausliefern: "Der<br />
Mensch nimmt alles so persönlich, als sei alles in der Welt eigens angeordnet worden, um ihm<br />
Vergnügen zu machen, oder im Gegenteil, um ihm Unbequemlichkeiten und Unannehmlichkeiten zu<br />
bereiten." 35<br />
Betrachten wir nun den Mond auf seiner Reise um die Erde und denken wir uns die Erde in alter<br />
geozentrischer Tradition als den Mittelpunkt des Horoskops und damit als Verkörperung des<br />
Individuums selbst, über welchem sich der Himmel mit seinen Gestirnen aufspannt. Wenn nun der<br />
Mond am Punkt seiner maximalen Distanz von der Erde angekommen ist, bedeutet dies, dass er sich<br />
am weitesten von der Subjektivität der Erfahrung entfernt hat: die Kraft der Identifikation mit der Welt,<br />
die einen umgibt, ist hier am schwächsten. <strong>Lilith</strong> steht so gesehen <strong>für</strong> die Chance im Menschen, die<br />
Abhängigkeit von der Identifikation mit der individuellen Wirklichkeit zu überwinden. Ihre Stellung in<br />
den Häusern würde uns dann Einblick in jene Lebensbereiche gewähren, die uns diese Erfahrung am<br />
besten vermitteln. Aspekte von Planeten zu <strong>Lilith</strong> zeigen Kräfte, die uns auf dem Weg zu wachsender<br />
Befreiung von Identifikation behilflich oder hinderlich sein können. Besonders bedeutsam hingegen<br />
sind Aspekte zwischen <strong>Lilith</strong> und Mond, da sie zeigen, wie stark in einem Menschen überhaupt der<br />
Drang ist, sich von seinen rein persönlichen Belangen zu trennen und eine höhere Warte<br />
einzunehmen. Generell gilt dann: Je näher der Mond an <strong>Lilith</strong>, umso leichter fällt es, sich von<br />
Identifizierung zu lösen.<br />
… beginnt die Befreiung des Besonderen.<br />
Damit befinde ich mich im Grunde gar nicht so weit entfernt von der grundsätzlichen Aussage der<br />
matriarchalisierten <strong>Lilith</strong>, die u.a. dazu angetan sein soll, "uns unbarmherzig … aufzuzeigen, wie sehr<br />
wir Menschen auf die Befriedigung der Mondbedürfnisse angewiesen sind." Solche Mondbedürfnisse<br />
wären dem traditionellen Bild dieses Prinzips nach z.B. Nahrung, Wärme, Schutz und Zugehörigkeit:<br />
"Die Macht des Mondes besteht in unserer Fähigkeit, diese Bedürfnisse genau wahrzunehmen und <strong>für</strong><br />
deren Befriedigung zu sorgen". 36 Eine <strong>Lilith</strong>, die ihre Bedeutung aus der Anschauung ihrer<br />
himmelsmechanischen Gegebenheiten ableitet, zielt jedoch nicht mehr darauf, diese<br />
Grundbedürfnisse bei Verleugnung und "Verdrängung ins Unbewusste" als Racheengel einzuklagen,<br />
sondern genau im Gegenteil diese allgegenwärtige Reduzierung des Menschen auf die Befriedigung<br />
seiner Grundbedürfnisse (Essen, Trinken, Schlafen, Sex), an die uns die Konsumgesellschaft gekettet<br />
35<br />
Ouspensky, P.D. ebd. S.220<br />
36<br />
Bachmann, Verena a.a.O. S.27<br />
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sehen möchte, zu sprengen. Wenn also eine rebellische Kraft hinter <strong>Lilith</strong> steckt, dann die Befreiung<br />
von der Identifikation, welche die Grundlage <strong>für</strong> die Strategie der Verdinglichung des Menschen<br />
darstellt. Die Identifikation mit den eigenen persönlichen Bedürfnisse, wie sie im Mond potenziell<br />
angelegt ist, führt ohne einen Ausgleich durch <strong>Lilith</strong> zu gnadenlosem Individualismus, zu Futterneid<br />
statt Nahrung, zu Bequemlichkeit statt Wärme, zu Feigheit satt Schutz und zu Diskriminierung statt<br />
Zugehörigkeit.<br />
Befreit vom Klischee der Großen Göttin bietet sich der Mythos von <strong>Lilith</strong> in einem ganz anderen Licht<br />
an, entwickelt seine Kraft an der Schnittstelle zwischen Individuum und Kollektiv: Sie zeigt uns, wo wir<br />
im Horoskop die Voraussetzung finden, uns von den sozio-kulturellen Mythen, in die wir kraft der<br />
Geburt hineingesponnen wurden, zumindest <strong>für</strong> Momente befreien zu können. Diese Momente, die<br />
uns die Identifikation und damit die embryonale Abhängigkeit von dem System, in dem wir leben, vor<br />
Augen halten, offenbaren uns, wie sehr wir gewohnt sind, uns dem Diktat der Vorgaben, Normen und<br />
Konventionen rückgratlos zu beugen – diese Momente rücken unsere Eigenständigkeit, unsere<br />
Einzigartigkeit und unsere Besonderheit als menschliches Individuum schlagartig in den Mittelpunkt<br />
und fordern uns auf, unsere antrainierte Bequemlichkeit zu hinterfragen, unsere Konsumhaltung bei<br />
der Suche nach einem Sinn in unserem Leben zu durchbrechen. Wir sind dann befähigt, uns selbst in<br />
einem ganz neuen Licht zu betrachten: auf uns selbst gestellt, niemandes Knecht und niemandes Herr<br />
– so wie <strong>Lilith</strong> einst die anheimelnde Idylle des Paradiesgartens verließ, um nicht die Rolle spielen zu<br />
müssen, die man(n) <strong>für</strong> sie bestimmt hat. Außerhalb jenes Reservates der Identifikation kann sie nun<br />
das erfahren, was eigentlich in ihr angelegt ist, sie schon immer war und was sich jedem Versuch der<br />
Kategorisierung entziehen muss, um zu überleben.<br />
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