Bewusstseinsstörungen – Diagnose und Prognose - Coma Science ...
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<strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong><br />
<strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
S. Laureys, M.-E. Faymonville; M. Boly, C. Schnakers, A. Vanhaudenhuyse,<br />
M.-A. Bruno, P. Boveroux, O. Gosseries, S.Majerus<br />
Die zwei Dimensionen des Bewusstseins: Erweckbarkeit <strong>und</strong> Wahrnehmung <strong>–</strong> 3<br />
Nosologie der <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> 5<br />
Klinische Beurteilung, <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong> <strong>–</strong> 8<br />
Restfunktion des Gehirns <strong>–</strong> 10<br />
> Ein schwerer akuter Hirnschaden kann zu verschiedenen<br />
klinischen Daseinsformen führen, welche<br />
den Hirntod, das Koma, vegetative (VS), minimal<br />
bewusste (MCS) oder Locked-in (LIS)-Zustände<br />
umfassen. Einige dieser Zustände sind irreversibel,<br />
andere vorübergehend. Im Folgenden sollen<br />
die nosologischen Definitionen dieser klinischen<br />
Entitäten <strong>und</strong> ihre klinische Bewertung dargestellt<br />
werden. Daneben soll die Notwendigkeit zusätzlicher<br />
Untersuchungen wie Elektroenzephalographie<br />
(EEG) <strong>und</strong> funktionelles »neuroimaging« zur<br />
Objektivierung der <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> Beurteilung der<br />
<strong>Prognose</strong> aufgezeigt werden.<br />
Die zwei Dimensionen des Bewusstseins:<br />
Erweckbarkeit <strong>und</strong> Wahrnehmung<br />
Bewusstsein hat viele Facetten, <strong>und</strong> beinhaltet zwei<br />
Dimensionen: die Erweckbarkeit oder Wachheit<br />
(Niveau des Bewusstseins) <strong>und</strong> die Wahrnehmung<br />
(Inhalt des Bewusstseins). Man muss wach sein,<br />
um wahrzunehmen (REM-Schlaf <strong>und</strong> luzides Träu-<br />
1<br />
men sind Ausnahmen). ⊡ Abb. 1.1 zeigt, dass unter<br />
normalen physiologischen Umständen Wachheit<br />
<strong>und</strong> Inhalt des Bewusstseins positiv korrelieren<br />
(mit Ausnahme des Träumens während des REM-<br />
Schlafs).<br />
Patienten in pathologischem oder pharmakologischem<br />
Koma (z. B. Vollnarkose) sind bewusstlos,<br />
da sie nicht erweckbar sind. Der vegetative Status<br />
(VS; auch Wachkoma oder apallisches Syndrom<br />
genannt) ist ein dissoziativer Bewusstseinszustand<br />
<strong>und</strong> betrifft Patienten, die scheinbar wach sind,<br />
denen aber jeglicher Nachweis eines »bewussten«<br />
oder »gewollten« Verhaltens fehlt.<br />
Wahrnehmung ist eine subjektive Erfahrung<br />
einer Einzelperson, <strong>und</strong> ihre klinische Beurteilung<br />
ist begrenzt auf die Bewertung der motorischen<br />
Patientenreaktion. Die Erforschung von<br />
<strong>Bewusstseinsstörungen</strong> hat eine bislang weitgehend<br />
unterschätzte Bedeutung für die Erkenntnis<br />
des menschlichen Bewusstseins. Im Gegensatz zu<br />
anderen bewusstlosen Zuständen wie Vollnarkose<br />
<strong>und</strong> Tiefschlaf (wobei eine Beeinträchtigung der<br />
Erweckbarkeit nicht von einer Beeinträchtigung
1<br />
4 Kapitel 1 · Bewusstseinstörungen <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
der Wahrnehmung unterschieden werden kann)<br />
ist der vegetative Status charakterisiert durch eine<br />
Trennung von Erweckbarkeit <strong>und</strong> Wahrnehmung<br />
(⊡ Abb. 1.2). Diese Störung bietet auch eine einzigartige<br />
Gelegenheit, die neuronale Korrelate der<br />
bewussten Wahrnehmung zu erforschen.<br />
Wesentlich ist hier die Trennung von Patienten,<br />
die sich in der klinischen Grauzone zwi-<br />
⊡ Abb. 1.1. Vereinfachte Darstellung<br />
der zwei Hauptdimensionen des Bewusstseins:<br />
das Niveau des Bewusstseins<br />
(Erweckbarkeit oder Wachheit)<br />
<strong>und</strong> der Inhalt des Bewusstseins<br />
(Wahrnehmung). Übernommen von<br />
Laureys, S. (2005). The neural correlate<br />
of (un)awareness: lessons from the<br />
vegetative state. Trends Cogn Sci 9,<br />
556<strong>–</strong>559<br />
⊡ Abb. 1.2. Graphische Darstellung der zwei Dimensionen<br />
des Bewusstseins: Erweckbarkeit (schwarzer Pfeil) <strong>und</strong> Wahrnehmung<br />
(weißer Pfeil) <strong>und</strong> ihre Veränderungen in Koma,<br />
vegetativem Status, minimalem Bewusstseinszustand <strong>und</strong> im<br />
schen vegetativem <strong>und</strong> minimal bewusstem Status<br />
(MCS) befinden. Das Locked-in-Syndrom (LIS)<br />
ist eine seltene <strong>und</strong> schreckliche Situation, in der<br />
Patienten, die aus ihrem Koma erwacht sind, die<br />
volle Wahrnehmung besitzen, jedoch aufgr<strong>und</strong> einer<br />
Lähmung stumm <strong>und</strong> immobil bleiben. Hier<br />
sprechen wir auch von einer »Pseudostörung des<br />
Bewusstseins«.<br />
Locked-in-Syndrom. Nach Laureys, S., A.M. Owen, and N.D.<br />
Schiff (2004). Brain function in coma, vegetative state, and<br />
related disorders. Lancet Neurol 3, 537<strong>–</strong>546
Nosologie der <strong>Bewusstseinsstörungen</strong><br />
Die Erweckbarkeit wird unterstützt durch neuronale<br />
Populationen im Bereich des Hirnstamms<br />
(z. B. das retikuläre Aktivierungssystem), die direkt<br />
oder über nicht-spezifische Thalamuskerne<br />
mit kortikalen Neuronen kommunizieren. Deshalb<br />
können sowohl ein fokaler Schaden des Hirnstamms,<br />
als auch ein diffuser Schaden der Hirnhemisphären<br />
zu Erweckbarkeitsstörungen führen.<br />
Die Beurteilung des Augenöffnens <strong>und</strong> der Hirnstammreflexe<br />
sind ein Schlüssel zur klinischen<br />
Einschätzung der funktionellen Integrität der<br />
neuronalen Systeme der Erweckbarkeit. Wahrnehmung<br />
hängt von der Unversehrtheit des zerebralen<br />
Cortex <strong>und</strong> seiner subkortikalen Verbindungen ab<br />
(Schädigungen in teilweise verschiedenen Hirnregionen<br />
sind verantwortlich für die verschiedenen<br />
Wahrnehmungsstörungen, die wir hier beschrieben<br />
haben), wobei ihr präzises neuronales Korrelat<br />
noch aufzuklären bleibt. Deshalb gibt es zurzeit<br />
auch kein validiertes objektives Messinstrument<br />
für das Bewusstsein.<br />
Die Einschätzung der multiplen Dimensionen<br />
des Bewusstseins <strong>und</strong> ihrer Störungen erfordern<br />
die Interpretation von klinischen Zeichen, die<br />
hauptsächlich auf der Beurteilung der Reaktionen<br />
des Patienten (<strong>und</strong> ihrer Abwesenheit) auf<br />
den Untersucher oder die Umgebung beruhen.<br />
Hirntod, Koma, VS, MCS <strong>und</strong> LIS werden ausschließlich<br />
über klinische Kriterien definiert. Aus<br />
diesem Gr<strong>und</strong> wurden Punktesysteme für eine<br />
standardisierte Beurteilung des Bewusstseins bei<br />
hirngeschädigten Patienten entwickelt (s. u.).<br />
Nosologie der <strong>Bewusstseinsstörungen</strong><br />
Hirntod<br />
Hirntod bedeutet menschlicher Tod, festgelegt anhand<br />
neurologischer Kriterien. Die aktuelle Definition<br />
von Tod ist der dauerhafte <strong>und</strong> globale Stillstand<br />
der entscheidenden Funktionen des Organismus<br />
(z. B. neuroendokrine <strong>und</strong> homöostatische<br />
Regulation, Kreislauf, Atmung <strong>und</strong> Bewusstsein).<br />
Um den Hirntod feststellen zu können, verlangen<br />
die meisten Länder den Tod des ganzen Gehirns,<br />
einschließlich des Hirnstamms, aber einige (z. B.<br />
Großbritannien <strong>und</strong> Indien) beziehen sich nur auf<br />
5 1<br />
den Tod des Hirnstamms, da der Hirnstamm die<br />
Durchgangsstation für fast alle hemisphärischen<br />
Ein- <strong>und</strong> Ausgänge darstellt, <strong>und</strong> das Zentrum<br />
für die Atemfunktionen <strong>und</strong> die Erzeugung von<br />
Erweckbarkeit (eine essentielle Bedingung für bewusste<br />
Wahrnehmung) beinhaltet. Die klinische<br />
Beurteilung des Hirntods ist dennoch einheitlich<br />
<strong>und</strong> beruht auf dem Verlust aller Hirnstammreflexe<br />
<strong>und</strong> dem Beweis des dauerhaften Atemstillstandes<br />
(nach standardisierten Apnoetests) bei<br />
einem anhaltend komatösen Patienten (⊡ Tab. 1.1).<br />
Die Ursache des Komas sollte geklärt sein <strong>und</strong><br />
andere beeinflussende Faktoren wie Hypothermie,<br />
Drogen, Elektrolyt- <strong>und</strong> endokrine Störungen sollten<br />
ausgeschlossen worden sein.<br />
Der Hirntod ist klassischerweise durch eine<br />
massive Gehirnläsion (z. B. Trauma, intrakranielle<br />
Blutung oder Anoxie) verursacht, welche den intrakraniellen<br />
Druck auf Werte über den arteriellen<br />
Blutdruck anhebt, die intrakranielle Durchblutung<br />
damit zum Stillstand bringt <strong>und</strong> den Hirnstamm<br />
durch Einklemmung schädigt. Unter Verwendung<br />
der Hirnstammformulierung des Todes können<br />
demnach außergewöhnliche, aber existierende<br />
Fälle massiver Hirnstammläsionen (meist eine<br />
Blutung), die den Thalamus <strong>und</strong> zerebralen Kortex<br />
verschonen, als Hirntod trotz intakter intrakranieller<br />
Zirkulation deklariert werden. Folglich kann<br />
ein Patient mit einer primären Hirnstammläsion<br />
(welche keinen erhöhten intrakraniellen Druck<br />
entwickelt) theoretisch nach den in England <strong>und</strong> in<br />
Indien geltenden Kriterien als tot erklärt werden,<br />
⊡ Tab. 1.1. Hirntod kriterien (Richtlinien der American<br />
Academy of Neurology)<br />
▬ Vorliegen eines Komas<br />
▬ Nachweis der Ursache des Komas<br />
▬ Ausschluss anderer Ursachen wie Hypothermie,<br />
Drogen, Störung der Elektrolyten, endokrine Störungen<br />
u.a<br />
▬ Fehlende Hirnstammreflexe<br />
▬ Fehlende motorische Antworten<br />
▬ Apnoe<br />
▬ Eine wiederholte Beurteilung in 6 St<strong>und</strong>en wird<br />
empfohlen, wobei diese Zeitspanne willkürlich zu<br />
sehen ist<br />
▬ Bestätigende Labortests nur bei unklarer klinischer<br />
Beurteilung
1<br />
6 Kapitel 1 · <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
nicht jedoch nach den Kriterien, die in anderen<br />
Ländern angewendet werden.<br />
Koma<br />
Ein Koma ist gekennzeichnet durch Nichterweckbarkeit<br />
(Ausfall der Erweckbarkeitssysteme; dies<br />
wird klinisch beurteilt durch die fehlende Augenöffnung<br />
nach Stimulation, <strong>und</strong> Ausschluss einer<br />
bilateralen Ptosis) <strong>und</strong> den Verlust des Wahrnehmungsvermögen.<br />
Schlaf-Wach-Zyklen fehlen, bei<br />
VS-Patienten können diese jedoch wieder beobachtet<br />
werden. Um ein Koma eindeutig von Synkope,<br />
Erschütterung oder anderen Zuständen der<br />
vorübergehenden Bewusstlosigkeit zu unterscheiden,<br />
muss das Koma für mindestens eine St<strong>und</strong>e<br />
andauern. Im Allgemeinen beginnen komatöse<br />
Patienten, die überleben, innerhalb von 2 bis 4<br />
Wochen wach zu werden <strong>und</strong> nach <strong>und</strong> nach zu<br />
Bewusstsein zu kommen. Es gibt zwei Hauptursachen<br />
für ein Koma: (1) Ein bihemispherischer<br />
<strong>und</strong> diffuser Schaden des Cortex oder der weißen<br />
Substanz (2) Hirnstammläsionen, die die bilateral<br />
retikulären Erweckbarkeitssysteme beeinträchtigen<br />
(z. B. Pontomesenzephalisches Tegmentum <strong>und</strong>/<br />
oder paramediane Thalami).<br />
Vegetativer Status<br />
Der vegetative Status (auch Wachkoma oder<br />
apallisches Syndrom genannt) wurde 1972 durch<br />
Bryan Jennett <strong>und</strong> Fred Plum definiert <strong>und</strong> beschreibt<br />
Patienten, die zwar aus ihrem Koma<br />
aufwachen (d. h. sie öffnen spontan oder unter<br />
Stimulation ihre Augen), aber sich oder die<br />
Umwelt nicht wahrnehmen <strong>und</strong> nur motorische<br />
Reflexantworten zeigen (⊡ Tab. 1.2). Gemäß dem<br />
Oxford English Dictionary beschreibt »vegetativ«<br />
einen »organischen Körper, der in der Lage ist zu<br />
wachsen <strong>und</strong> sich zu entwickeln, ohne Gefühle<br />
<strong>und</strong> Gedanken«.<br />
Es ist wichtig, den persistierenden vom permanenten<br />
vegetativen Status zu unterscheiden.<br />
Die Abkürzung PVS für beide Zustände ist verwirrend.<br />
»Persistierender VS« wird als vegetativer<br />
Status definiert, der einen Monat nach dem<br />
⊡ Tab. 1.2. Kriterien des vegetativen Status (Richtlinien<br />
der US Multi-Society Task Force on Persistent Vegetative<br />
State )<br />
▬ Kein Nachweis von bewusster Selbstwahrnehmung<br />
oder Wahrnehmung der Umgebung <strong>und</strong> die Unfähigkeit<br />
mit anderen zu interagieren<br />
▬ Kein Nachweis aufrechterhaltener, reproduzierbarer,<br />
zielgerichteter oder gewollter Reaktionen auf<br />
visuelle, auditive, taktile oder schädliche Reize<br />
▬ Kein Nachweis von Sprachverständnis oder Sprachäußerung<br />
▬ Intermittierende Wachheit nachgewiesen durch<br />
Schlaf-Wach-Zyklen<br />
▬ Ausreichend erhaltene autonome Funktionen<br />
des Hypothalamus <strong>und</strong> des Hirnstamms, die das<br />
Überleben mittels medizinischer <strong>und</strong> pflegerischer<br />
Betreuung erlauben<br />
▬ Darm- <strong>und</strong> Blaseninkontinenz<br />
▬ Variabel erhaltene Hirnnerven- <strong>und</strong> spinale Reflexe<br />
akuten Hirnschaden immer noch vorhanden ist.<br />
Dies bedeutet jedoch nicht, dass der Zustand<br />
irreversibel ist.<br />
1994 legte die »US Multi-Society-Task Force<br />
on PVS« fest, dass der Zustand von VS-Patienten<br />
drei Monate nach einem nichttraumatischen Hirnschaden<br />
<strong>und</strong> 12 Monate nach einem traumatischen<br />
Hirnschaden als »permanent« angesehen werden<br />
kann. Nur in Fällen von permanentem VS kann es<br />
aufgr<strong>und</strong> ethischer <strong>und</strong> juristischen Erwägungen<br />
gerechtfertigt sein, eine Therapiebegrenzung zu<br />
erwägen. Essentiell ist es, dass erfahrene Untersucher<br />
das Fehlen jeglicher Zeichen eines bewussten<br />
Empfindens wiederholt feststellen oder standardisierte<br />
Beurteilungs-skalen verwenden, ehe sie die<br />
<strong>Diagnose</strong> des VS stellen.<br />
Minimaler Bewusstseinsstatus (MCS)<br />
2002 veröffentlichte die Aspen Neurobehavioral<br />
Conference Workgroup die diagnostischen Kriterien<br />
für MCS, um Patienten vom VS abzugrenzen.<br />
MCS-Patienten zeigen begrenzte, aber klar<br />
erkennbare Zeichen der Wahrnehmung von sich<br />
oder ihrer Umgebung auf einer mehr oder weniger<br />
reproduzierbaren Basis (⊡ Tab. 1.3). Das Auftreten<br />
eines MCS ist charakterisiert durch das
Nosologie der <strong>Bewusstseinsstörungen</strong><br />
⊡ Tab 1.3. Kriterien des minimalen Bewusstseinsstatus (Aspen Neurobehavioral Conference Workgroup)<br />
Wiedererlangen (rudimentärer) kommunikativer<br />
Fähigkeiten oder durch das gewollte Benutzen<br />
von Objekten. Eine weitere Verbesserung des Bewusstseinszustands<br />
ist wahrscheinlicher als bei<br />
VS-Patienten. Dennoch können einige Patienten<br />
dauerhaft im MCS verbleiben, wobei derzeit noch<br />
keine Einigung über die Definition eines permanenten<br />
MCS besteht.<br />
»Akinetischer Mutismus« (ein Zustand charakterisiert<br />
durch starke Bewegungs-, Sprach-,<br />
<strong>und</strong> Gedankenarmut ohne Erweckbarkeitsstörung<br />
oder Schädigung des efferenten motorischen<br />
Trakts) ist ein überholter Begriff, der nicht mehr<br />
verwendet werden sollte. Es handelt sich um eine<br />
Subkategorie des minimalen Bewusstseinszustands<br />
(MCS).<br />
Locked-in-Syndrom<br />
7 1<br />
Deutlich erkennbarer Nachweis von bewusster Selbstwahrnehmung <strong>und</strong> Wahrnehmung der Umgebung auf einer<br />
reproduzierbaren Basis anhand mindestens einer der folgenden Verhaltensweisen:<br />
Zielgerichtetes Verhalten (einschließlich<br />
Bewegungen oder affektives<br />
Benehmen), welches in Relation zu relevanten<br />
Reizen steht <strong>und</strong> nicht durch<br />
Reflexaktivität verursacht wird wie:<br />
Befolgen einfacher Befehle<br />
Gestikulierende oder verbale Ja/Nein-<br />
Antworten (ungeachtet der Richtigkeit)<br />
Verständliche verbale Geste<br />
▬ Verfolgende Augenbewegungen oder Fixation als direkte Antwort auf<br />
mobile Reize oder plötzlich auftauchende Reize<br />
▬ Lächeln oder Weinen als Antwort auf verbale oder visuelle emotional<br />
bedeutsame Stimuli, aber nicht für neutrale Reize<br />
▬ Greifen nach Objekten <strong>und</strong> Zusammenhang zwischen der Lokalisation<br />
eines Objekts <strong>und</strong> der Greifrichtung<br />
▬ Halten <strong>und</strong> Berühren von Gegenständen in einer Art <strong>und</strong> Weise, die<br />
sich der Größe <strong>und</strong> Schärfe des Objektes anpasst<br />
▬ Vokalisation oder Gesten als direkte Reaktion auf den linguistischen<br />
Inhalt von Fragen<br />
Den minimalen Bewusstseinszustand zu verlassen, erfordert den zuverlässigen <strong>und</strong> konstanten Nachweis von mindestens<br />
einer der folgenden Verhaltensweisen:<br />
Funktionelle interaktive Kommunikation:<br />
richtige Ja/Nein-Antworten auf<br />
sechs von sechs Fragen, die die Orientation<br />
<strong>und</strong> Basissituationen betreffen<br />
(zweimal hintereinander beurteilt)<br />
Sachgemäßes Benutzen zweier verschiedener<br />
Objekte, zweimal hintereinander<br />
beurteilt<br />
Beispiele: Fragen wie<br />
▬ »Sitzt Du?«<br />
oder<br />
▬ »Zeige ich an die Decke?«<br />
Beispiele:<br />
▬ das Führen eines Kamms zum Kopf<br />
oder<br />
▬ Führen eines Bleistifts zu einem Stück Papier<br />
Der Terminus Locked-in-Syndrom (Pseudokoma)<br />
wurde 1966 durch Fred Plum <strong>und</strong> Jerome Posner<br />
eingeführt. Patienten in diesem Zustand sind<br />
sowohl an allen vier Gliedmassen als auch im<br />
M<strong>und</strong>- <strong>und</strong> Gesichtsbereich gelähmt, verursacht<br />
durch die Unterbrechung der kortikospinalen <strong>und</strong><br />
kortikobulbären Bahnen des Hirnstamms. Das<br />
Syndrom beschreibt Patienten, die erweckbar <strong>und</strong><br />
wach sind, aber keine Efferenzen ausführen können<br />
(z. B. keine Möglichkeit der Sprachproduktion,<br />
Gliedmaßen- oder Gesichtsbewegungen). Lockedin<br />
Patienten besitzen jedoch normalerweise die Fähigkeit,<br />
vertikale Augenbewegungen <strong>und</strong> Blinzeln<br />
zu benutzen, um ihre Wahrnehmung innerer <strong>und</strong>
1<br />
8 Kapitel 1 · <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
⊡ Tab 1.4. Kriterien des Locked-in-Syndroms (American<br />
Congress of Rehabilitation Medicine)<br />
▬ Aufrechterhaltene Augenöffnung (bilaterale Ptosis<br />
sollte als komplizierender Faktor ausgeschlossen<br />
werden)<br />
▬ Tetraplegie oder Tetraparese<br />
▬ Aphonie oder Hypophonie<br />
▬ Kommunikation durch vertikale oder laterale Augenbewegungen<br />
oder Blinzeln des oberen Augenlids<br />
um Ja/nein-Antworten zu signalisieren<br />
▬ Erhaltene Wahrnehmung der Umgebung<br />
äußerer Reize mitzuteilen. Akute, vaskuläre, bilaterale<br />
<strong>und</strong> ventrale Ponsläsionen sind die häufigste<br />
Ursache. Diese Patienten bleiben oft für einige Tage<br />
oder Wochen komatös, bedürfen einer künstlichen<br />
Beatmung <strong>und</strong> wachen dann allmählich auf. Sie<br />
bleiben jedoch gelähmt <strong>und</strong> stimmlos, <strong>und</strong> ähneln<br />
oberflächlich beobachtet einem Koma oder vegetativen<br />
Status. ⊡ Tab. 1.4 beinhaltet die klinischen<br />
Kriterien des LIS. Das Syndrom kann auf der Basis<br />
der Ausdehnung der motorischen Schädigung unterteilt<br />
werden als<br />
▬ klassisches LIS (charakterisiert durch die totale<br />
Immobilität bis auf vertikale Augenbewegungen<br />
oder Blinzeln);<br />
▬ inkomplettes LIS (einige freiwillige Restbewegungen<br />
sind möglich); <strong>und</strong><br />
▬ totales LIS (bestehend aus kompletter Immobilität<br />
einschließlich aller Augenbewegungen, verb<strong>und</strong>en<br />
mit intaktem Bewusstseinsvermögen).<br />
Klinische Beurteilung, <strong>Diagnose</strong><br />
<strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
Bewusstseinsskalen<br />
1974 veröffentlichten Graham Teasdale <strong>und</strong> Bryan<br />
Jennett die »Glasgow <strong>Coma</strong> Scale « (GCS). Dieses<br />
standardisierte Instrument zur Diagnostik von Erweckbarkeit<br />
<strong>und</strong> Wahrnehmung gilt als Standard<br />
in der Komaforschung. Die GCS hat drei Komponenten:<br />
▬ Öffnen der Augen,<br />
▬ verbale Reaktionen <strong>und</strong><br />
▬ motorische Reaktionen.<br />
Einige Experten sind der Meinung, dass die Beurteilung<br />
der spontanen <strong>und</strong> stimulationsausgelösten<br />
Augenöffnung die Integrität des Hirnstamms <strong>und</strong><br />
der Erweckbarkeitssysteme nicht ausreichend untersucht<br />
<strong>und</strong> haben Komaskalen, welche die Untersuchung<br />
von Hirnstammreflexen beinhalten, vorgeschlagen.<br />
Diese Skalen sind in der Regel jedoch<br />
komplexer <strong>und</strong> weniger verbreitet als die GCS.<br />
Zum Beispiel vervollständigt die »Glasgow-Liège<br />
Scale « (GLS) die GCS mit fünf Hirnstammreflexen<br />
(z. B. frontoorbikulare, okkulozephalische, Pupillen-<br />
<strong>und</strong> okkulokardiale Reflexe). Die zunehmende<br />
Anwendung von Intubation <strong>und</strong> mechanischer Beatmung<br />
erlauben keine Beurteilung der verbalen<br />
Komponente der GCS bei vielen Komapatienten.<br />
Vor kurzem wurde daher die Full Outline of Un-<br />
Responsiveness scale (FOUR; ein Akronym für<br />
die Anzahl der getesteten Komponenten: Augen-,<br />
motorische Funktion, Atemfunktion <strong>und</strong> Hirnstammreflexe)<br />
vorgeschlagen; diese Skala beinhaltet<br />
einen Handpositionstest (z. B. den Patienten<br />
auffordern eine Faust, »Daumen hoch«-Zeichen<br />
oder »Sieges«-Zeichen zu machen) als Alternative<br />
für die verbale Komponente der GCS.<br />
GCS, GLS <strong>und</strong> FOUR-Skalen sind bei der<br />
Einschätzung chronischer <strong>Bewusstseinsstörungen</strong><br />
nicht verlässlich. Für diese Patienten sind die<br />
<strong>Coma</strong> Recovery Scale-Revised (CRS-R), Sensory<br />
Modality Assessment and Rehabilitation Technique<br />
(SMART) oder Wessex Head Injury Matrix<br />
(WHIM) empfindlichere Skalen. Die CRS-R ist<br />
eine kürzlich entwickelte Skala <strong>und</strong> erlaubt, speziell<br />
zwischen VS <strong>und</strong> MCS zu differenzieren. Die<br />
Struktur der CRS-R ist der der GCS ähnlich, ihre<br />
Subskalen sind jedoch detaillierter, um subtilere<br />
Zeichen der Wiedererlangung der Wahrnehmung<br />
zu erfassen.<br />
Hirntod<br />
Da viele Regionen des supratentoriellen Gehirns,<br />
einschließlich Neocortex, Thalamus <strong>und</strong> Basalganglien<br />
nicht genau hinsichtlich ihrer klinischen<br />
Funktionen bei einem komatösen Patienten getestet<br />
werden können, messen die meisten Bedsidetests<br />
zur Diagnostik des Hirntods nur die Funktionen<br />
des Hirnstamms (wie kranielle Nervenreflexe
Klinische Beurteilung, <strong>Diagnose</strong><br />
<strong>und</strong> Apnoetest). Seit der ersten Definition des<br />
Hirntodes vor nahezu 50 Jahren hat kein Patient,<br />
der mit Apnoe im Koma lag <strong>und</strong> basierend auf<br />
neurologischen Kriterien für tot erklärt wurde,<br />
jemals das Bewusstsein wiedererlangt.<br />
Zusätzliche neurophysiologische Tests wie<br />
Elektroenzephalographie (EEG), ereignisbezogene<br />
Potentiale (ERP), Angiographie, Doppler Ultraschall,<br />
oder Szintigraphie bestätigen verlässlich<br />
<strong>und</strong> objektiv die klinische <strong>Diagnose</strong>.<br />
Koma<br />
Das Management <strong>und</strong> die <strong>Prognose</strong> des Koma s<br />
hängen von vielen Faktoren, wie Ätiologie, dem<br />
allgemeinen klinischen Zustand des Patienten, Alter,<br />
klinischen Zeichen <strong>und</strong> zusätzlichen Untersuchungen<br />
ab. Nach 3 Tagen Beobachtung sprechen<br />
das Fehlen von Pupillen- oder Kornealreflexen,<br />
eine stereotypische oder fehlende motorische<br />
Antwort auf Reize, ein isoelektrisches oder abgeschwächtes<br />
EEG-Profil, das Fehlen bilateraler<br />
kortikaler Reaktionen auf sensomotorische evozierte<br />
Potentiale <strong>und</strong> (bei anoxischem Koma) biochemische<br />
Marker, wie erhöhte Werte der Enolase<br />
im zerebralen Serum, für eine schlechte <strong>Prognose</strong>.<br />
Visuelle <strong>und</strong> auditive evozierte Potentiale<br />
des Hirnstamms besitzen nur eingeschränkte prognostische<br />
Aussagekraft.<br />
Die <strong>Prognose</strong> von traumatischen Komaüberlebenden<br />
ist günstiger als die anoxischer Patienten.<br />
Eine Aussage zur <strong>Prognose</strong> von toxischen, metabolischen<br />
<strong>und</strong> infektiösen komatösen Zuständen<br />
ist nicht zuverlässig möglich. Von vielen Fällen<br />
unerwarteter Wiedererlangung des Bewusstseins<br />
wurde berichtet.<br />
Vegetativer Status<br />
Während Koma <strong>und</strong> Hirntod charakteristischerweise<br />
akute Zustände darstellen, die nicht länger<br />
als Tage oder Wochen anhalten, können vegetative<br />
<strong>und</strong> minimale Bewusstseinszustände zu chronischen<br />
Daseinsformen werden. Anders als hirntote<br />
oder komatöse Patienten können sich vegetative<br />
Patienten bewegen. Studien haben gezeigt, dass<br />
9 1<br />
es bei diesen Patienten schwierig ist, zwischen<br />
automatischen <strong>und</strong> gewollten Bewegungen zu unterscheiden.<br />
Dies kann zu einer Unterschätzung<br />
der Zeichen von Wahrnehmung <strong>und</strong> folglich zu<br />
einer Fehldiagnose führen. So ist bekannt, dass bei<br />
unzureichender Diagnostik einer von drei »vegetativen«<br />
Patienten in Wirklichkeit bei Bewusstsein<br />
ist <strong>–</strong> zumindest bei minimalem Bewusstsein.<br />
⚉ Ärzte tendieren häufig dazu, fälschlicherweise<br />
die <strong>Diagnose</strong> des vegetativen Status<br />
bei älteren dementen Heimpatienten zu<br />
stellen.<br />
Die klinische Prüfung der fehlenden Wahrnehmung<br />
ist wesentlich problematischer <strong>und</strong> unsicherer<br />
als die Überprüfung der fehlenden Erweckbarkeit,<br />
der Hirnstammreflexe <strong>und</strong> der Apnoe im<br />
irreversiblen Koma. Wenn VS-Patienten eine angemessene<br />
medizinische Behandlung erhalten, d. h.<br />
künstlich ernährt werden <strong>und</strong> ausreichend Flüssigkeit<br />
erhalten, können sie mehrere Jahre überleben.<br />
Während der letzten Jahre wurde intensiv nach<br />
einem objektiven Test, der zuverlässig die <strong>Prognose</strong><br />
vegetativer Individuen voraussagen kann, gesucht.<br />
Im Gegensatz zum Koma <strong>und</strong> Hirntod haben wir<br />
bislang keine validierten diagnostischen <strong>und</strong> prognostischen<br />
Marker für Patienten in einem VS.<br />
Die Chancen der Erholung hängen vom Patientenalter,<br />
der Ätiologie (ungünstig bei anoxischen<br />
Ursachen) <strong>und</strong> der Dauer im vegetativen Status<br />
ab. Jüngste Daten zeigen, dass eine Schädigung<br />
des Corpus callosum <strong>und</strong> des Hirnstamms eine<br />
schlechte <strong>Prognose</strong> bei traumatischem VS bedeuten.<br />
Minimaler Bewusstseinsstatus<br />
Da Kriterien für den MCS erst kürzlich eingeführt<br />
wurden, gibt es nur wenige klinische Studien<br />
zu Patienten in diesem Zustand. Es ist schwierig<br />
zwischen minimal bewussten <strong>und</strong> vegetativen<br />
Patienten zu unterscheiden, weil beide minimale<br />
Reaktionen vorzeigen, die aber nur bei minimal<br />
bewussten Patienten ein gewolltes <strong>und</strong> teilweise<br />
bewusstes Verhalten darstellen.<br />
Der VS ist das eine Ende des Spektrums der<br />
Wahrnehmungsstörungen. Die Abgrenzung des
1<br />
10 Kapitel 1 · <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
MCS erfordert die wiederholte Beurteilung durch<br />
erfahrene Untersucher. Ähnlich wie für den VS hat<br />
eine traumatische Ätiologie eine bessere <strong>Prognose</strong><br />
als ein nicht-traumatischer (anoxischer) MCS.<br />
Vorläufige Daten zeigen, dass die <strong>Prognose</strong> besser<br />
ist als bei VS.<br />
Locked-in-Syndrom<br />
Im akuten Locked-in-Syndrom kann die augengesteuerte<br />
Kommunikation aufgr<strong>und</strong> der schwankenden<br />
Erweckbarkeit <strong>und</strong> der limitierten Kontrolle<br />
der freiwilligen Augenbewegungen schwierig<br />
sein. In mehr als die Hälfte der Fälle ist es die<br />
Familie <strong>und</strong> nicht der Arzt, die zuerst merkt, dass<br />
der Patient etwas wahrnimmt. Dementsprechend<br />
wird die <strong>Diagnose</strong> im Schnitt erst nach mehr als 2,5<br />
Monaten gestellt. In manchen Fällen dauert es 4<strong>–</strong>6<br />
Jahre, bis wache <strong>und</strong> wahrnehmende Patienten,<br />
eingeschlossen in einem bewegungslosen Körper<br />
als »bei Bewusstsein« erkannt wurden.<br />
Einige Memoiren, von Locked-in-Patienten<br />
geschrieben, zeigen sehr gut die Schwierigkeit<br />
der Erkennung des Syndroms. Eindrucksvolle<br />
Beispiele sind »Look up for yes« von Julia Tavalaro<br />
<strong>und</strong> »Only the eyes say yes« von Phillippe<br />
Vigand.<br />
Während die motorische Regeneration im<br />
LIS sehr begrenzt ist, kann die Lebenserwartung<br />
(bei adäquater medizinischer Versorgung) mehrere<br />
Jahrzehnte betragen. Sensorisch evozierte Potentiale<br />
sind keine verlässlichen Prädiktoren der<br />
<strong>Prognose</strong>, motorisch evozierte Potentiale lassen<br />
die potentielle motorische Regeneration besser<br />
einschätzen. Mit Hilfe einer Augen-kontrollierten<br />
Computer-basierten Kommunikationstechnologie<br />
können die Patienten ihre Umgebung kontrollieren,<br />
einen Wortprozessor, gekoppelt an einen<br />
Sprachsynthesizer benutzen <strong>und</strong> Zugang zum Internet<br />
bekommen.<br />
Außenstehende nehmen oft an, dass die Lebensqualität<br />
bei LIS-Patienten so eingeschränkt<br />
ist, dass ihr Leben nicht lebenswert sei. Kürzlich<br />
durchgeführte Untersuchungen lehren uns jedoch,<br />
dass chronische LIS-Patienten über eine erhebliche<br />
Lebensqualität berichten, sodass eine aktive Sterbehilfe<br />
nur selten gefordert wird.<br />
Restfunktion des Gehirns<br />
Hirntod<br />
Bei Hirntod zeigt das EEG eine fehlende elektrokortikale<br />
Aktivität (d. h. es findet sich ein isoelektrisches<br />
EEG) mit einer Sensitivität <strong>und</strong> Spezifität<br />
von etwa 90%. Dadurch wird das EEG zum<br />
verlässlichsten <strong>und</strong> aufgr<strong>und</strong> seiner ubiquitären<br />
Verfügbarkeit, zum bevorzugten <strong>Diagnose</strong>test des<br />
Hirntods. Somatosensorisch evozierte Potentiale<br />
zeigen typischerweise den Stillstand auf der cervikomedullären<br />
Ebene. Hirnstamm-evozierte Potentiale<br />
zeigen normalerweise nur eine verzögerte<br />
Welle I (mit Ursprung im kochlearen Nerv). Zerebrale<br />
Angiographie <strong>und</strong> transkranielle Dopplersonographie<br />
dokumentieren mit einer sehr hohen<br />
Sensitivität <strong>und</strong> einer 100% Spezifität das Fehlen<br />
des zerebralen Blutflusses bei Hirntod. In ähnlicher<br />
Weise zeigen Gehirndarstellungen mit Radionukliden<br />
wie Single Photon Emission-CT <strong>und</strong> PET<br />
das »Schädelhohlraumzeichen«, welches das Fehlen<br />
neuronaler Funktionen im gesamten Gehirn<br />
bestätigt (⊡ Abb. 1.3).<br />
Eine maximale Intensivtherapie bei hirntoten<br />
Patienten führt immer zum Bild des sogenannten<br />
»Respiratorgehirns«: Nach etwa einer Woche<br />
kommt es zur Autolyse <strong>und</strong> Verflüssigung des<br />
Gehirns.<br />
Koma<br />
Die elektrische Aktivität des Gehirns, gemessen<br />
mit dem EEG, tendiert dazu, mit zunehmender<br />
Komatiefe nichtreaktiv <strong>und</strong> langsamer zu werden,<br />
unabhängig von der zugr<strong>und</strong>e liegenden Ursache.<br />
Wie erwähnt, weist das bilaterale Fehlen kortikaler<br />
Potentiale (z. B. N20 Wellen, die nach ca. 20<br />
ms auftreten) auf eine schlechte <strong>Prognose</strong> hin.<br />
Sind kortikale Potentiale vorhanden, können sogenannte<br />
endogene Ereignis-abhängige Potentiale<br />
aufschlussreich sein. Eine »mismatch negativity«,<br />
d. h. eine negative Komponente, ausgelöst nach<br />
100<strong>–</strong>200 ms in Folge einer plötzlichen Unregelmässigkeit<br />
in einer monotonen Sequenz auditiver<br />
Stimuli (z. B. ein »oddball paradigm«) zeigt das<br />
Vorhandensein einer automatischen Informations-
Restfunktion des Gehirns<br />
⊡ Abb. 1.3. Zerebraler Metabolismus bei bewusster Erweckbarkeit,<br />
bei Hirntod, tiefem Schlaf, REM-Schlaf, Allgemeinanästhesie,<br />
vegetativem Status <strong>und</strong> im Wachzustand ohne<br />
bewusste Wahrnehmung (bei VS)<br />
Anmerkung: Die Wiedererlangung des Bewusstseins aus dem<br />
vegetativen Status kann ohne wesentliche Zunahme des gesamten<br />
kortikalen Metabolismus stattfinden, was bedeutet,<br />
verarbeitung an, die mit der Wiedererlangung des<br />
Bewusstseins (zumindest des minimalen Bewusstseins)<br />
einhergeht.<br />
Der zerebrale Metabolismus beträgt bei Komaüberlebenden<br />
im Durchschnitt 50<strong>–</strong>70% der Normalwerte<br />
<strong>und</strong> korreliert wenig mit dem Niveau<br />
des Bewusstseins, gemessen anhand der GCS bei<br />
schwer kopfverletzten Patienten. Eine weitgehende<br />
Abnahme des zerebralen Metabolismus darf nicht<br />
unbedingt mit einem Koma gleichgestellt werden.<br />
Wenn bei einer Narkose Pharmaka bis zur Reaktionslosigkeit<br />
verabreicht werden, entspricht<br />
die resultierende Reduktion des Gehirnmetabolismus<br />
der bei pathologischem Koma. Eine vorübergehende<br />
metabolische Senkung beobachtet<br />
man auch während des Tiefschlafs, charakterisiert<br />
durch langsame EEG-Wellen. In diesem täglich<br />
11 1<br />
dass für das Entstehen von Wahrnehmung einige Gehirnregionen<br />
wichtiger sind als andere. Mit fre<strong>und</strong>licher Genehmigung<br />
von Mike Alkire et al. (1999) Functional brain imaging<br />
during anesthesia in humans: effects of halothane on global<br />
and regional cerebral glucose metabolism. Anesthesiology 90,<br />
701<strong>–</strong>709 for the images on halothane induced loss of consciousness<br />
eintretenden physiologischen Zustand kann der<br />
kortikale zerebrale Metabolismus auf etwa 40% der<br />
Norm fallen <strong>–</strong> während im REM-Schlaf der Metabolismus<br />
zu normalen Wachwerten zurückkehrt<br />
(⊡ Abb. 1.3).<br />
Vegetativer Status<br />
Im vegetativen Status zeigt das EEG meist eine diffuse<br />
Verlangsamung (das heißt einen generalisierten<br />
polymorphen delta- oder theta-Rhythmus),<br />
nur gelegentlich handelt es sich um ein sehr stark<br />
abgeschwächtes oder ein isoelektrisches Bild. Bei<br />
vegetativen Patienten können somatosensorisch<br />
evozierte Potentiale erhaltene primäre kortikale<br />
Potentiale aufzeigen <strong>und</strong> auditive Hirnstamm-
1<br />
12 Kapitel 1 · <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
evozierte Potentiale oft auf erhaltene Hirnstammpotentiale<br />
deuten. Endogen evozierte Potentiale,<br />
die zum Beispiel die Antwort des Gehirns auf<br />
komplexe auditive Reize wie den Namen des Patienten<br />
(verglichen mit anderen Namen) messen,<br />
erlauben die Aufzeichnung einer sogenannten<br />
P300-Komponente (eine positive Welle, welche<br />
nach ca. 300 ms ausgelöst wird, wenn der Patient<br />
ein Zielstimulus unter mehreren regelmässig<br />
⊡ Abb. 1.4. Endogene ereignisbezogene Potentiale auf den<br />
eigenen Namen der Versuchsperson (dicke Markierung) <strong>und</strong><br />
auf andere Vornamen (dünne Markierung) bei 5 ges<strong>und</strong>en<br />
Kontrollpersonen, 4 Locked-in-Syndrom-Patienten, 6 Patienten<br />
in minimalem Bewusstseinszustand <strong>und</strong> 5 Patienten in<br />
vegetativem Status. Anmerkung: Die unterschiedliche P300-<br />
erscheinenden Reize wiedererkennt). Die Anwendung<br />
emotional bedeutsamer Stimuli wie der eigene<br />
Name erhöht die Chance eine P300-Antwort<br />
bei hirngeschädigten Patienten zu erhalten. Allerdings<br />
ist die P300-Komponente kein verlässlicher<br />
Marker für das Vorhandensein bewusster Wahrnehmung<br />
(⊡ Abb. 1.4).<br />
Im Gegensatz zum irreversiblen Koma oder<br />
Hirntod zeigen vegetative Patienten einen zwar<br />
Komponente (graue Fläche) kann auch in einigen gut dokumentierten<br />
VS-Patienten (welche sich nie wieder erholt haben)<br />
beobachtet werden <strong>und</strong> ist folglich kein verlässlicher Indikator<br />
für Wahrnehmung. Nach Perrin, F., et al. (2006). Brain response<br />
to one‘s own name in vegetative state, minimally conscious<br />
state, and locked-in syndrome. Arch Neurol 63, 562<strong>–</strong>569
Restfunktion des Gehirns<br />
wesentlich reduzierteren (40<strong>–</strong>50% des Normwertes),<br />
aber keinen komplett fehlenden kortikalen<br />
Metabolismus. Bei einigen vegetativen Patienten,<br />
die anschließend das Bewusstsein wiedererlangt<br />
haben, zeigte der Glukose-Metabolismus keine wesentlichen<br />
Veränderungen (⊡ Abb. 1.3). Folglich ist<br />
das Verhältnis zwischen den verschiedenen Ebenen<br />
des Bewusstseins <strong>und</strong> das Vorhandensein oder<br />
Fehlen der bewussten Wahrnehmung nicht absolut.<br />
Es scheint eher so, dass einige Gehirnregionen<br />
wichtiger als andere für die bewusste Wahrnehmung<br />
sind.<br />
Anatomisch-pathologische Merkmale in anoxischem<br />
VS umfassen multifokale laminare kortikale<br />
Nekrosen, eine diffuse Leukoenzephalopathie <strong>und</strong><br />
Nekrosen der Thalami. Bei VS nach offener Schädelverletzung<br />
beobachtet man einen diffusen Schaden<br />
der weißen Substanz mit neuronalem Verlust<br />
in Thalamus <strong>und</strong> Hippocampus. Jedoch erlauben<br />
es diese Post-mortem-Studien nicht, eine detaillierte<br />
regionale Topographie für den VS-typischen<br />
zerebralen Schaden zu erhalten. Analysen des Typs<br />
»voxel-based-morphometry« von metabolischen<br />
PET-Daten haben eine metabolische Dysfunktion<br />
in einem umfassenden frontoparietalen Netzwerk<br />
identifiziert: betroffen sind bilaterale laterale frontale<br />
Regionen, parieto-temporale <strong>und</strong> posteriorparietale<br />
Areale, mesofrontale Areale <strong>und</strong> der<br />
Praecuneus (⊡ Abb. 1.5), bekannt als die Regionen<br />
die im Ruhezustand beim ges<strong>und</strong>en Gehirn am<br />
aktivsten sind.<br />
Bei einigen anderen Zuständen zeigen Patienten<br />
nur eine reflexartige oder automatische<br />
motorische Aktivität, während sie wach zu sein<br />
scheinen. Bei vorübergehenden Trübungen der<br />
bewussten Wahrnehmung (charakterisiert durch<br />
kurze Episoden der Reaktionslosigkeit <strong>und</strong> des<br />
Starrens, häufig begleitet von ziellosem Augenblinzeln<br />
<strong>und</strong> Schmatzen) haben funktionelle<br />
MRT-Studien eine Abnahme der Blutsauerstoffkonzentration<br />
in einem umfassenden frontoparietalen<br />
Netzwerk, ähnlich wie bei VS-Patienten<br />
gezeigt. Bei Epilepsien im Bereich der Temporallappen,<br />
»komplex-partielle« Anfälle, die das<br />
Bewusstsein beeinträchtigen <strong>–</strong> während automatische<br />
Aktivitäten wie Herumnesteln, Herumtasten<br />
oder Augenrollen erhalten sind <strong>–</strong> haben Single<br />
Photon Emission CTs ähnliche ausgeprägte De-<br />
13 1<br />
⊡ Abb. 1.5. Das Kennzeichen des vegetativen Status ist eine<br />
metabolische Dysfunktion eines weitgespannten kortikalen<br />
Netzwerkes, welches mediale <strong>und</strong> laterale präfrontale <strong>und</strong><br />
parietale multimodale assoziative Areale umfasst. Dies beruht<br />
entweder auf einem direkten kortikalen Schaden oder auf<br />
einer thalamo-kortikalen Unterbrechung (dargestellt anhand<br />
der Pfeile). Ebenso charakteristisch für den vegetativen Status<br />
ist der herabgesetzte Metabolismus des Hirnstamms (die<br />
pedunculopontine retikulare Formation, den Hypothalamus<br />
<strong>und</strong> das basale Vorderhirn einschließend, T in der oberen<br />
Abbildung), die erhaltene Erweckbarkeit <strong>und</strong> die erhaltenen<br />
autonomen Funktionen des Patienten. Nach Laureys, S. (2005).<br />
The neural correlate of (un)awareness: lessons from the vegetative<br />
state. Trends Cogn Sci 9, 556<strong>–</strong>559<br />
aktivierungen im frontalen <strong>und</strong> parietalen assoziativen<br />
Cortex gezeigt. Im Gegensatz dazu ist eine<br />
Temporallapenepilepsie mit mehr oder weniger<br />
erhaltenem Bewusstsein (genannt »einfach partiell«)<br />
nicht von solchen frontoparietalen Dysfunktionen<br />
begleitet.<br />
Ein anderes Beispiel einer vorübergehenden<br />
Reaktionslosigkeit mit erhaltenem automatischem<br />
Verhalten kann man bei Schlafwandlern beobachten.<br />
Wiederholt wurden Deaktivierungen in großen<br />
Arealen der frontalen <strong>und</strong> parietalen Assoziationsrinde<br />
mittels SPECT-Bildgebung während<br />
des Schlafwandelns beobachtet. Insgesamt weisen<br />
diese Untersuchungen auf die kritische Rolle des<br />
frontoparietalen assoziativen Cortex bei der Generierung<br />
der bewussten Wahrnehmung hin.<br />
Jedoch scheint eine bewusste Wahrnehmung<br />
nicht nur an die Aktivität in diesem globalen kortikalen<br />
Netzwerk, sondern auch an die funktionellen<br />
Verbindungen innerhalb dieses Systems<br />
<strong>und</strong> mit dem Thalamus gekoppelt zu sein. Lang-
1<br />
14 Kapitel 1 · <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
⊡ Abb. 1.6. Somatosensorische Stimuli hoher Intensität versagen<br />
in der Induktion jeglicher subkortikalen oder kortikalen<br />
neuronalen Aktivität in irreversiblem Koma mit klinisch fehlenden<br />
Hirnstammreflexen (z. B. Hirntod). Im vegetativen Status<br />
können subkortikale (oberer Hirnstamm <strong>und</strong> Thalamus), aber<br />
auch kortikale (primärer somatosensorischer Cortex, Kreis) Aktivität<br />
beobachtet werden. Jedoch ist diese erhaltene kortikale<br />
Aktivität begrenzt auf den primären Kortex <strong>und</strong> versagt in der<br />
Erreichung höher geordneter oder assoziativer Cortices, von<br />
kettige frontoparietale <strong>und</strong> thalamokortikale (mit<br />
nichtspezifischen intra-laminaren Thalami) funktionelle<br />
Unterbrechungen wurden im VS identifiziert.<br />
Außerdem hängt die Wiedererlangung des<br />
Bewusstseins von der funktionellen Wiederherstellung<br />
dieses frontoparietalen Netzwerks <strong>und</strong> der<br />
thalamo-kortikalen Verbindungen ab.<br />
Am relevantesten ist die Frage nach der möglichen<br />
Empfindung <strong>und</strong> Kognition bei vegetativen<br />
Patienten. Bei gut dokumentierten VS-Patienten<br />
verursachte eine elektrische Stimulation, die als<br />
schmerzhaft von Kontrollprobanden erlebt wurde,<br />
eine Aktivierung des Hirnstamms, des Thalamus<br />
<strong>und</strong> des primär sensomotorischem Cortex. Andere<br />
Regionen, die in der Hierarchie der Schmerzempfindung<br />
höhergestellt sind, einschließlich des<br />
vorderen Cortex cingularis, wurden aber nicht<br />
aktiviert (⊡ Abb. 1.6). Wichtig ist hier, dass der<br />
aktivierte Cortex isoliert <strong>und</strong> funktionell von dem<br />
frontoparietalen Netzwerk abgeschnitten war, was<br />
einer bewussten Empfindung entgegensteht.<br />
In ähnlicher Weise konnte herausgef<strong>und</strong>en<br />
werden, dass auditive Stimulation im VS primär<br />
den auditiven Cortex aktiviert, aber nicht höhergestellte<br />
multimodale Areale. Die Aktivierung des<br />
primären Cortex bei wachen, aber nicht wahrnehmenden<br />
Patienten bestätigt die frühere Hypothese<br />
denen sie funktionell getrennt ist. Bei ges<strong>und</strong>en Kontrollprobanden,<br />
die die Reize als schmerzhaft empfanden, resultierte<br />
die Stimulation in einer ausgedehnten neuronalen Netzwerk-<br />
Aktivität (die sogenannte »Schmerz Matrix«) einschließlich des<br />
vorderen Cortex cingularis (Ellipse). Daten nach Laureys, S. et<br />
al. (2002) Cortical processing of noxious somatosensory stimuli<br />
in the persistent vegetative state. Neuroimage 17, 732<strong>–</strong>741<br />
and shown on »glass brains«<br />
von Crick <strong>und</strong> Koch (basierend auf Studien der<br />
visuellen Wahrnehmung bei Affen), dass neuronale<br />
Aktivität in der primären Rinde notwendig,<br />
aber nicht ausreichend für die bewusste Wahrnehmung<br />
ist.<br />
Minimaler Bewusstseinsstatus<br />
PET-Studien, die den zerebralen Ruhemetabolismus<br />
messen, können nicht verlässlich zwischen<br />
vegetativen <strong>und</strong> minimal bewussten Individuen<br />
unterscheiden. Die funktionelle Bildgebung kann<br />
hier von großer Wichtigkeit sein, um zwischen<br />
den verschiedenen Aktivitätsmustern, die durch<br />
Reizvorgaben hervorgerufen werden, bei den verschiedenen<br />
klinischen Entitäten zu unterscheiden.<br />
Komplexe auditive Reize mit emotionaler Bedeutung,<br />
wie persönliche Erlebnisse oder der eigene<br />
Name, aktivieren kortikale Areale der Sprachverarbeitung,<br />
was man während der Präsentation bedeutungsloser<br />
Reize im MCS nicht beobachtet hat.<br />
Eine solche Hierarchie der auditiven Informationsverarbeitung<br />
bei MCS-Patienten, zeigt dass es auf<br />
den Inhalt ankommt, wenn man MCS-Patienten<br />
anspricht, wobei die Untersuchungen oft nicht am<br />
Krankenbett durchführbar sind.
Restfunktion des Gehirns<br />
Andererseits müssen Ergebnisse der funktionellen<br />
zerebralen Bildgebung mit großer Vorsicht<br />
als Beweis oder Gegenbeweis der bewussten<br />
Wahrnehmung bei ernsthaft hirngeschädigten<br />
Patienten bewertet werden, da ein umfassendes<br />
Verständnis der neuronalen Gr<strong>und</strong>lagen des Bewusstseins<br />
fehlt.<br />
Kürzlich hat Adrian Owen aus Cambridge versucht<br />
»Willen ohne Aktion« in nicht-kommunikativen<br />
hirngeschädigten Patienten zu identifizieren.<br />
Er hat Patienten während einer mentalen<br />
Bildgebungsaufgabe gescannt. Es ging darum, reproduzierbare<br />
<strong>und</strong> spezifische Aktivierungen bei<br />
Patienten zu beobachten, während sie Aufgaben<br />
durchführen. Wird diese spezifische Aktivierung<br />
beobachtet, dann bedeutet dies, dass der Patient<br />
fähig ist, die mentale Aufgabe durchzuführen,<br />
was wiederum eindeutig eine bewusste Wahrnehmungsfähigkeit<br />
zeigt. Negative Ergebnisse unter<br />
den gleichen Bedingungen können jedoch nicht<br />
als Beweis für eine fehlende bewusste Wahrnehmung<br />
dienen.<br />
In einem Ausnahmefall eines US-Patienten<br />
wurde eine aufgabenspezifische Aktivität beobachtet,<br />
was unzweifelhaft für eine bewusste Wahrnehmung<br />
spricht, trotz fehlenden verlässlichen<br />
verhaltensmotorischen Zeichen einer freiwilligen<br />
Interaktion mit der Umgebung. Interessanterweise<br />
erlangte der Patient etwas später sein Bewusstseinsvermögen<br />
wieder.<br />
Auch andere Studien konnten nachweisen,<br />
dass VS-Patienten mit untypischen Gehirnaktivitätsmustern<br />
in der funktionellen Bildgebung später<br />
klinische Zeichen der Wiedererlangung des<br />
Bewusstseins zeigten <strong>–</strong> wenn auch manchmal erst<br />
viele Monate später.<br />
Mit Hilfe der MRI-Diffusions-Tensor-Bildgebung<br />
kann die Integrität der weißen Substanz gemessen<br />
werden. Die Untersuchungen erweitern<br />
unser Verständnis von den Gehirnmechanismen,<br />
die der Wiedererlangung des Bewusstseins bei VS<br />
unterliegen. Ein Team um Nicholas Schiff von der<br />
Cornell University benutzte kürzlich die Diffusions-Tensor-Bildgebung<br />
um das erneute Wachsen<br />
von Axonen im Gehirn von Terry Wallis zu zeigen,<br />
einem Mann aus Arkansas, der in einem posttraumatischen<br />
MCS war <strong>und</strong> der 2003 nach 19 Jahren<br />
Stille wieder zu sprechen begann.<br />
Locked-in-Syndrom<br />
15 1<br />
Typischerweise ist bei LIS das EEG relativ normal<br />
(oder nur sehr wenig verlangsamt) <strong>und</strong> reagiert<br />
auf externe Reize, nur gelegentlich wurde auch<br />
ein nicht-reaktiver Alpha-Rhythmus (z. B. »Alpha-<br />
Koma«-Muster) beobachtet. Kognitive evozierte<br />
Potentiale <strong>und</strong> Gehirn-Computer-Schnittstellen<br />
können bewusste Wahrnehmung dokumentieren<br />
<strong>und</strong> erlauben Kommunikation in extremen Fällen<br />
von komplettem LIS. Die Frage nach dem Kognitionsvermögen<br />
im LIS war lange unklar. Kürzlich<br />
wurden standardisierte neuropsychologische<br />
Batterien verwendet <strong>und</strong> für ein augengesteuertes<br />
Kommunikations-verfahren validiert. Für das klassische<br />
LIS, verursacht durch eine Hirnstammläsion,<br />
haben diese Studien ein normales Vermögen<br />
im Bereich der Aufmerksamkeit, des Gedächtnis,<br />
der exekutiven Funktionen, <strong>und</strong> des Sprachverständnis<br />
gezeigt.<br />
Die PET Bildgebung hat eine signifikant höhere<br />
metabolische Aktivität in den Gehirnen von<br />
LIS-Patienten im Vergleich zu VS-Patienten nachgewiesen.<br />
Verfahren wie die »voxel-based morphometry«<br />
haben gezeigt, dass alle kortikalen Areale<br />
einen normalen Metabolismus beim klassischen<br />
LIS besitzen. Umgekehrt wurde eine Hyperaktivität<br />
in den bilateralen Amygdala bei akutem LIS<br />
beobachtet, aber nicht bei chronischem LIS. Die<br />
Amygdala Kerne sind beteiligt am Empfinden von<br />
Emotionen, vor allem an negativen Emotionen<br />
wie Furcht <strong>und</strong> Angst. Das Fehlen einer reduzierten<br />
metabolischen Funktion in allen Arealen der<br />
grauen Substanz unterstreicht die Tatsache, dass<br />
LIS-Patienten unter einer reinen zentralmotorischen<br />
Störung leiden <strong>und</strong> ihre komplette intellektuelle<br />
Kapazität wiedererlangt haben oder wiedererlangen<br />
werden.<br />
Die zunehmende Aktivität in den Amygdala<br />
kann mit der schrecklichen Situation einer intakten<br />
bewussten Wahrnehmung in einem stummen,<br />
aber fühlenden Menschen zusammenhängen. Bei<br />
der Betreuung dieser Patienten soll man sich dieses<br />
Zustandes stark bewusst sein, sein Verhalten<br />
am Patientenbett anpassen <strong>und</strong> eine pharmakologische<br />
angsthemmende Therapie in Erwägung<br />
ziehen.
1<br />
16 Kapitel 1 · <strong>Bewusstseinsstörungen</strong> <strong>–</strong> <strong>Diagnose</strong> <strong>und</strong> <strong>Prognose</strong><br />
> Fazit<br />
Hirntod, komatöse, vegetative <strong>und</strong> minimale<br />
Bewusstseinszustände stellen verschiedene pathologische<br />
Veränderungen der beiden Dimensionen<br />
des Bewusstseins, der Erweckbarkeit<br />
<strong>und</strong> der Wahrnehmung, dar.<br />
Am Krankenbett ist die Beurteilung der bewussten<br />
Wahrnehmung <strong>und</strong> Empfindung unter<br />
diesen Bedingungen schwierig <strong>und</strong> manchmal<br />
auch falsch. Elektrophysiologische <strong>und</strong> funktionelle<br />
neurologische bildgebende Verfahren<br />
können die regionale Verteilung des zerebralen<br />
Metabolismus unter verschiedenen Formen<br />
der passiven Stimulation <strong>und</strong> während aktiver<br />
mentaler Aufgaben objektivieren. Diese Untersuchungen<br />
verbessern unser Verständnis der<br />
neuronalen Gr<strong>und</strong>lagen von Erweckbarkeit <strong>und</strong><br />
bewusster Wahrnehmung <strong>und</strong> beeinflussen<br />
<strong>Diagnose</strong>stellung, <strong>Prognose</strong> <strong>und</strong> Behandlung<br />
von <strong>Bewusstseinsstörungen</strong>.<br />
Zurzeit werden weitere Daten gesammelt <strong>und</strong><br />
methodologische Validierungen durchgeführt.<br />
Erst nach ihrer Auswertung können funktionelle<br />
neurologische bildgebende Untersuchungen<br />
für den klinischen Einsatz vorgeschlagen werden,<br />
um die Grauzone zwischen bewussten<br />
<strong>und</strong> bewusstlosen Überlebenden nach akutem<br />
Hirnschaden aufzuklären.<br />
Websites<br />
www.comascience.org<br />
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