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zum gesamten Text - Nitsch Foundation

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LÓRÁND HEGYI<br />

ZEICHNUNG ZWISCHEN TOTALITÄTSANSPRUCH UND SENSUALITÄT<br />

Das zeichnerische Oeuvre von Hermann <strong>Nitsch</strong> im Kontext des Gesamtkunstwerkes<br />

Die robuste, unwiderstehliche, dramatische Wirksamkeit des gigantischen Oeuvres von Hermann <strong>Nitsch</strong> wurzelt<br />

einerseits in der ästhetischen Kohärenz seiner <strong>gesamten</strong> vielfältigen Aktivitäten, anderseits in der Authentizität<br />

seiner komplexen, vielschichtigen, tief in der mitteleuropäischen kulturellen Tradition eingebetteten Narrative,<br />

welche in den unterschiedlichen historischen Perioden der Gegenwartsgeschichte immer neue, aktuelle, konkrete<br />

Bedeutung und Aktualität gewinnen. Diese latente Geschichte der Rezeption und der spontanen, sozusagen<br />

natürlichen Aktualisierung der Botschaften der Kunst von Hermann <strong>Nitsch</strong> demonstriert die intellektuelle<br />

Komplexität seines Oeuvres, welches immer neue und auf die aktuelle Situation anspielbare Bedeutungsebenen<br />

bietet. Dies ist nur deswegen möglich, da das Oeuvre und die gesamte Ideenwelt von Hermann <strong>Nitsch</strong> von Anfang an<br />

und grundsätzlich mit einem Totalitätsanspruch gestaltet und entwickelt wurden. Bei <strong>Nitsch</strong> bekommt genau dieser<br />

Totalitätsanspruch eine zentrale und nicht reduzierbare Stelle. Genau dieser Totalitätsanspruch wirkt als<br />

omnipotente, unausschöpfbare, unaufhaltbare, alle schöpferischen Gebiete einbeziehende, gedankliche und<br />

gleichzeitig pragmatisch materielle, sensuelle Energie, welche radikal, konsequent und kräftig – durch den<br />

künstlerischen Akt, in der künstlerischen Praxis – direkt und unwiderruflich mit der Energie des Lebens, mit der<br />

Energie allen Geschehens identifiziert wird.<br />

Diese obsessive und radikale Konzentration auf das Gesamterlebnis des Seins, auf die totale Erfahrung des Lebens,<br />

auf das grundsätzliche, einheitliche, nicht aufteilbare Bewusstmachen aller Prozesse und Geschehen der Realität<br />

drängt den Künstler zu Extremen, welche sich gleichzeitig auf einer metaphorischen und auf einer physischpragmatischen<br />

Ebene abspielen. Der künstlerische Akt, das künstlerische Agieren stellt sich als ein allegorisches<br />

Spiel, als eine exemplarische Demonstration, als ein Lehrstück und gleichzeitig als eine unmittelbare, radikal<br />

sensuelle, sinnliche, materielle Erfahrung der elementaren Wirkungen und Prozesse dar. Deswegen spricht Hermann<br />

<strong>Nitsch</strong> über das Theater des realen Geschehens, wobei die reale Zeit – und nicht die mimetische Nachahmung der<br />

Zeit – die realen Materialien und physischen Prozesse – und nicht die mimetische Nachahmung der Materialität – in<br />

das Spiel einbezogen werden. Im Orgien Mysterien Theater werden keine Geschichten vorgespielt, keine<br />

Handlungen und zeitlichen Prozesse abgebildet, keine narrativen Ereignisse nachgeahmt und mimetisch dargestellt:<br />

Alles, was wir sehen und erfahren, was wir antasten und berühren, was wir hören und riechen, ist real. Der<br />

Betrachter ist mit der primären, materiellen, sinnlichen Realität konfrontiert; er erlebt in der realen Zeit die sinnliche<br />

Realität. Dieser Akt des realen Erlebens, diese Erfahrung des realen zeitlichen Geschehens und der realen<br />

materiellen Entitäten beinhaltet metaphorische Bedeutungen mit ästhetischen und ethischen Konsequenzen. Aber<br />

die erlebten, erfahrenen Erscheinungen sind keine metaphysischen, sondern physische Realitäten, welche sich in der<br />

realen Zeit strukturieren und entfalten.<br />

Deswegen ist es außerordentlich interessant zu beobachten, wie dieses Konzept des Realen, dieses Konzept des sich<br />

den elementaren und grundsätzlichen Kräften der Natur und des Lebens totalen Hingebens, dieses Konzept der<br />

Apotheose des Unmittelbaren und der Selbstidentifizierung mit den elementaren Erfahrungen des Lebens, inklusive<br />

des Todes – inhaltlich und sozusagen philosophisch, ideologisch und weltanschaulich – aus der großen<br />

abendländischen künstlerischen Tradition der Darstellung der Leidensgeschichte und Auferstehung von Christus,


eziehungsweise aus der Tradition der Darstellung des Leidens, der Ekstase, der kathartischen Momente, der Trans-<br />

Zustände und des Extremen herausgewachsen ist.<br />

Diese Genealogie des typisch <strong>Nitsch</strong>schen Narrativs, welches sich in dem reifen Oeuvre des Künstlers in seiner<br />

üppigen, hedonistischen, vielfältigen und historisch, mythologisch, philosophisch kontextualisierten Komplexität<br />

manifestiert, beinhaltet auch eine funktionelle Veränderung der Zeichnung, von der Darstellung einer Thematik zur<br />

Offenbarung und Animierung beziehungsweise Mitgestaltung und Realisierung eines Narrativs. Mit anderen Worten:<br />

eine konzeptionelle Veränderung der Methodologie der Zeichnung von der Repräsentation zur Präsentation der<br />

Realitäten.<br />

Während am Anfang der bildnerischen Arbeit des jungen Künstlers Hermann <strong>Nitsch</strong> die malerische, zeichnerische<br />

Auseinandersetzung mit der Darstellung der kathartischen Ereignisse von universeller Bedeutung, mit den poetisch<br />

wirksamsten Formen der Mimesis des Leidens für die Anderen, mit der Erfindung der dramatisch adäquatesten<br />

malerischen Vermittlung des Erlösungsmythos im Zentrum seines Interesses steht, verändert sich später dieses<br />

Engagement immer eindeutiger in Richtung der Gestaltung von theatralen Situationen, wobei – durch den Akt des<br />

tatsächlichen Mitmachens, des aktiven Mitspielens – das Erlebnis der unmittelbaren physischen Begegnung mit der<br />

ad absurdum gesteigerten, physischen und praktischen Sinnlichkeit der physischen Realitäten ins Zentrum der<br />

Katharsis gestellt wird.<br />

Von der künstlerischen Mimesis – durch die zeichnerische, malerische Form – zur psychischen und ethischen<br />

Katharsis – durch das Erlebnis des Realen, des Unmittelbaren, des physisch Fassbaren, des Hörbaren, also des<br />

Sinnlichen – führt der Weg des Hermann <strong>Nitsch</strong>, wobei der universalistische, mythologische, philosophische<br />

Totalitätsanspruch die mentale, ästhetische, weltanschauliche Gesamtstruktur von Anfang an determiniert. Diese<br />

geistige Umwandlung, diese existenzialistische Vertiefung, bestimmt auch die funktionelle Einrichtung und<br />

Zielsetzung seiner Zeichnung als Zeichensystem, als Katalog der Methoden, Logos, Embleme, Signale und als<br />

komplexer Orientierungsplan. Von der expressiven, empathischen, narrativen Darstellung der Kreuzigungen und der<br />

Auferstehungsszenen bis zu den Wegweisern der theatralen Akte und Ereignisse, beziehungsweise bis zu den<br />

musikalischen Instruktionen und Visualisierungen musikalischer Strukturen, Töne, Spielarten und Geräusch-Effekte<br />

verändert sich die immanente Funktionalität seiner Zeichnungen. Das Beeindruckende dabei ist, dass die<br />

Zeichnungen immer eine unmittelbare, fast körperliche, physische, sensuelle, emotionelle Wirksamkeit aufweisen,<br />

obwohl sie oft tatsächlich als technische Wegweiser, als Instruktionen für die Aufführung, also als methodologische<br />

Informationen fungieren.<br />

Auch hier, in diesem Moment, lässt sich der typische, archetypische, obsessive Totalitätsanspruch beziehungsweise<br />

die methodologische Kohärenz und Konsequenz erfassen. <strong>Nitsch</strong> schafft ein System aus visuellen Hinweisen, aus<br />

Instruktionen, aus Fragmenten von Darstellungen und aus Plänen, Grundrissen beziehungsweise aus präzis<br />

geplanten Bahnen und Bewegungen seiner Menschenmassen, welche die Aktionen des Orgien Mysterien Theaters<br />

durchführen. Es ist grundsätzlich egal, ob ein Bildfragment mimetische Darstellungsfunktion oder symbolische<br />

Zeichenfunktion hat, es ist ästhetisch gleichwertig, ob es um mimetische, bildliche Nachahmung des menschlichen<br />

Körpers oder ob es um intelligible, konzeptuelle Planung seiner Bewegung und Aktionen geht, die Arbeiten von<br />

Hermann <strong>Nitsch</strong> sind komplexe, dichte, vielschichtige Universen, in denen Pläne, Grundrisse, Bewegungsstrukturen,<br />

Instruktionen und emotionelle Wirkungsmechanismen miteinander in der Symbiosis koexistieren. Seine<br />

Zeichnungen beinhalten fragmentarische Darstellungen des menschlichen Körpers, geprägt von Konnotationen aus<br />

dem Bereich gewisser großer Traditionen der Körperdarstellungen im mythologischen religiösen Kontext und<br />

gleichzeitig fungieren sie als Grundrisse, Pläne für gewisse Handlungen, theatrale Ereignisse.<br />

Das Oeuvre von Hermann <strong>Nitsch</strong> hat sich in einer sehr spezifischen und widersprüchlichen kunstgeschichtlichen<br />

Situation in Österreich entwickelt. Einerseits spürten die österreichischen Künstler bis Anfang der 1960er Jahre eine


von den politischen, historischen und kulturgeschichtlichen Bedingungen determinierte Abspaltung von der<br />

westeuropäischen und später von der nordamerikanischen Kunstentwicklung, andererseits versuchten sie, ihre<br />

Position in einem Österreich zu lokalisieren, welches seine politische und weltanschauliche Selbstsicht innerhalb<br />

eines neuen, nach 1945 entstandenen Europas bis <strong>zum</strong> Staatsvertrag 1955 nicht klar und überzeugt definieren<br />

konnte. Die von den westeuropäischen Modellen sich unterscheidende österreichische kulturelle Entwicklung der<br />

1920er und 1930er Jahre, in welcher der – oft von diametralen Gegenpositionen und Debatten geprägte,<br />

verschiedene Weltanschauungen und ästhetische Strategien miteinander konfrontierende, die internationalen<br />

Impulse und »fremden Einflüsse« mit Hunger und Neugier aufnehmende – Geist der westlichen großstädtischen<br />

Kunstzentren, wie etwa Berlin oder Paris, mit ihren radikalen Avantgarde-Strömungen und mit ihren die Theorie und<br />

Methodologie kompromisslos und konsequent in die Praxis umsetzenden Kunstrichtungen nicht so prägnant spürbar<br />

und wirksam war und in der auch die osteuropäischen revolutionären Avantgarde- Bewegungen mit ihrer politischen<br />

Radikalität und ihrer experimentellen Innovationskraft wenig präsent waren, bereitete den Boden für eine gewisse<br />

kulturelle Isolation. Dazu kam auch der Verlust an Intellektuellen durch die große Zahl der durch den<br />

Nationalsozialismus eliminierten und der in die Emigration getriebenen Künstler, Schriftsteller und Wissenschafter,<br />

deren Abwesenheit auch einen gewissen Provinzialismus zur Folge hatte. Auch die politische Entwicklung nach 1934<br />

hat dazu beigetragen, dass die kritischen und subversiven geistigen Kräfte nicht mehr eine solch bedeutende<br />

politische und kulturelle Rolle spielen konnten, wie in den letzten drei Jahrzehnten der 1918 zusammengebrochenen<br />

österreichisch-ungarischen Monarchie.<br />

Die Nachkriegsgeneration der österreichischen Künstler war mit einer kulturgeschichtlichen Situation konfrontiert,<br />

welche seit mehr als einem Jahrzehnt von einer gewissen Abspaltung von den modernen westeuropäischen<br />

intellektuellen Tendenzen, philosophischen und künstlerischen Richtungen geprägt war. Auch die östlichen<br />

Nachbarländer Österreichs, also die ehemaligen Staaten der Monarchie, zeigten gewissermaßen ähnliche Momente,<br />

obwohl die Tschechoslowakei in den 1920er und 1930er Jahren ebenso wie unmittelbar nach dem Zweiten<br />

Weltkrieg enge kulturelle Beziehungen mit dem französischen Kulturleben und mit den modernen Kunstrichtungen<br />

unterhielt. Dieser spezifische kulturelle Sonderstatus der Tschechoslowakei manifestierte sich besonders stark in der<br />

rationalistischen, funktionalistischen Architektur Prags und Brünns, aber auch in der Bewegung der tschechischen<br />

Surrealisten und der imaginativen Kunst, in der avantgardistischen Fotografie und Filmkunst. Während bedeutende,<br />

wegweisende Künstler aus Österreich oder Ungarn ihr avantgardistisches Oeuvre mehr oder vollkommen in der<br />

Emigration entwickelten, wie die Österreicher Frederick Kiesler, Erika-Giovanna Klien oder der Architekt Richard<br />

Neutra, wie die Ungarn László Moholy Nagy, László Péri oder der Architekt Marcel Breuer, konnten die<br />

tschechoslowakischen Vertreter der Avantgarde und der rationalistischen Architektur in ihrer Heimat frei und<br />

uneingeschränkt, manchmal sogar mit offizieller Anerkennung und Unterstützung oder sogar als Repräsentanten der<br />

neuen, modernen, demokratischen, westlich orientierten Tschechoslowakei arbeiten.<br />

Die künstlerische Entwicklung in Mittel- und Osteuropa in der Zwischenkriegszeit weist eine gewisse Ambivalenz auf.<br />

Einerseits können wir die Entfaltung der einzelnen Oeuvres bedeutender, zu der internationalen Avantgarde<br />

zählender, zu den verschiedenen modernistischen, avantgardistischen Richtungen ganz wichtige Beiträge leistender<br />

Künstler, Musiker, Architekten, Schriftsteller, Film- und Theaterschaffender, die in den 1920er Jahren noch relativ<br />

intensive Beziehungen mit ihren westeuropäischen Kollegen hatten, die aber in den 1930er Jahren vor der<br />

quälenden Wahl zwischen Emigration und heimischer Isolation oder sogar Repression und Verfolgung standen,<br />

beobachten. Anderseits lässt sich in den mitteleuropäischen Staaten, mit Ausnahme der Tschechoslowakei, eine<br />

allgemeine und unaufhaltbare Tendenz in Richtung eines neuen, oft von nationalistischen Elementen und von »Blut<br />

und Boden«-Ideologien geprägten Provinzialismus und ein von autoritären, antiemanzipatorischen, antiliberalen und<br />

präfaschistischen Ideologien bestimmter, auch gewisse totalitäre Elemente beinhaltender Neokonservativismus<br />

feststellen. In diesem Umfeld konnten sich die verschiedenen modernistischen, avantgardistischen Richtungen der<br />

Kunst und die mit ihnen oft verbundenen philosophischen und politischen Anschauungen nicht nur nicht frei<br />

entfalten, sondern wurden von der offiziellen Ideologie mehr oder weniger misstrauisch betrachtet und quasi


stigmatisiert oder sogar disqualifiziert. Die damit oft verbundenen Illusionen einer autochthonen Kultur, bestimmte<br />

Formen des Antiliberalismus und der »Europafeindlichkeit« führten zu einer Überbewertung der eigenen nationalen<br />

Tradition, die oft – völlig ahistorisch – aus der gesamteuropäischen kulturellen Entwicklung herausgenommen und<br />

sentimental-nationalistisch, naiv-folkloristisch missinterpretiert wurde.<br />

Die Suche nach neuer Orientierung und das Bewusstsein eines künstlerischen, kunsttheoretischen, philosophischen<br />

»Nachholbedarfs «, der Wunsch nach einer Öffnung in Richtung des internationalen Kunstlebens und die kritische<br />

Aufarbeitung der eigenen Kulturgeschichte und der künstlerischen Situation der Zwischenkriegszeit beschäftigten<br />

die Künstler der österreichischen Nachkriegsgeneration. So wirkte die Annäherung an die verschiedenen<br />

künstlerischen Impulse der internationalen, vor allem von der »Ecole de Paris« geprägten, informellen Kunst, des<br />

Tachismus, der Kalligrafie, der dramatischen gestischen Malerei als ein von dem Provinzialismus und der Isolation<br />

befreiender, das souveräne Künstlerindividuum legitimierender, die ästhetische Selbstbestimmung des Künstlers<br />

autorisierender Akt. Die Verinnerlichung der radikal subjektiven Formsprache der informellen Kunst in ihrer<br />

unreduzierbaren Vielfalt hat das künstlerische Interesse auf die anthropologischen Tiefstrukturen der Kunst, aber<br />

gleichzeitig auch auf die existentiellen und moralischen Fragen der künstlerischen Tätigkeit gelenkt. Der starke<br />

Einfluss der französischen informellen Kunst prägte eindeutig die neuen malerischen Wege von Künstlern wie<br />

Markus Prachensky, Josef Mikl, Wolfgang Hollegha, Max Weiler, Oswald Oberhuber, aber vor allem Maria Lassnig<br />

und Arnulf Rainer. Die Kunst von Arnulf Rainer in den 1950er und 1960er Jahren repräsentiert auch einen zutiefst<br />

österreichischen Weg der informellen Kunst, wobei hier die österreichische Tradition der künstlerischen<br />

Auseinandersetzung mit der Psyche, mit den inszenierten Selbstdarstellungsstrategien, mit den poetischpsychologisch<br />

thematisierten Selbsterfahrungsprozessen, mit dem Unterbewusstsein und dessen Äußerungen in<br />

einem radikal neuen Kontext der internationalen informellen Kunst neu formuliert worden ist. Gestische Züge,<br />

informelle Artikulationen und quasi-theatralische Verinnerlichungsprozesse, sogar kathartisch-dramatische<br />

Selbstenthüllungen füllen in dieser Periode die Kunst Arnulf Rainers, welche, wenn auch nicht unmittelbar, das<br />

künstlerische Klima in Österreich für die Entstehung der dramatischen und kathartischen Kunst und der radikalen,<br />

kritisch-alternative Lebensformen propagierenden Philosophie des Wiener Aktionismus vorbereitete.<br />

Vor allem Hermann <strong>Nitsch</strong> wurde in der internationalen Kunstliteratur mit der spezifischen Entwicklung der<br />

österreichischen Kunst nach 1945 identifiziert. Sein Orgien Mysterien Theater und seine Spätentwicklung auf dem<br />

Gebiet der Malerei und Installationskunst, aber auch seine literarische und musikalische Tätigkeit wurden als<br />

bedeutender, eigenständiger Beitrag zu einem mitteleuropäischen, österreichischen Gesamtkunstwerk der<br />

Spätphase des Modernismus, geprägt vom Lokalkolorit des Geisteslebens in Wien und determiniert von der<br />

spezifischen politischen und gesellschaftlichen Entwicklung Österreichs nach 1945 und besonders nach 1955<br />

betrachtet.<br />

Ohne Zweifel waren die legendären »Wiener Aktionisten« die bedeutendste Gruppierung in der österreichischen<br />

Kunst nach 1945. Ihre Arbeit war, im engsten Zusammenhang mit den internationalen Ereignissen der 1960er und<br />

1970er Jahre, eine authentische und ad absurdum gesteigerte, radikale Antwort auf die schmerzhaften Fragen der<br />

ästhetischen Identitätssuche und des künstlerischen Ego-Schaffens, aber auch der Suche nach einem möglichen<br />

gesellschaftlichen Kontext für die Kunst. Das geistige Erbe des Wiener Aktionismus beeinflusste die darauffolgenden<br />

Künstlergenerationen in verschiedenen ästhetischen Zusammenhängen, unter stets neuen historischen und<br />

gesellschaftlichen Bedingungen. Im Oeuvre der ehemaligen Künstler des oft mythisierten Wiener Aktionismus, Otto<br />

Muehl, Günter Brus, Hermann <strong>Nitsch</strong> und Rudolf Schwarzkogler, lassen sich die unterschiedlichen<br />

Entwicklungswege und Entfaltungsmöglichkeiten aus der gemeinsamen – aber nie einheitlichen, nie homogenen –<br />

ästhetischen Vergangenheit beobachten.<br />

In der Gründung der »Friedrichshofer Kommune« realisierten Otto Muehl und seine Freunde das radikale<br />

Experiment, für die aktionistische Totalkunst eine adäquate gesellschaftliche Existenzform und für die einzelnen


Künstler eine geeignete Lebensform zu schaffen. Auf der Basis der gemeinsamen Arbeit und des – auch als Therapie<br />

betrachteten – Zusammenlebens versuchte Muehl, den alten Traum der Avantgarde, das Leben mit der Kunst, die<br />

Arbeit mit der Freiheit, die Funktionalität mit der Kreativität, das Private mit dem Kollektiven unmittelbar zu<br />

verbinden, sogar miteinander zu identifizieren, Wirklichkeit werden zu lassen. So bekam die ästhetische Strategie<br />

des Aktionismus gesellschaftsphilosophische Relevanz, die nicht nur die metaphorische Bedeutungsebene, sondern<br />

auch die praktische, technische, pragmatische Methodologie und den Verwirklichungsprozess betraf. Das kollektive<br />

Kunstschaffen und die gemeinsame Arbeit in der Lebensgemeinschaft wurden als ästhetische und therapeutische<br />

Gesamtstruktur untrennbar miteinander verbunden, die Kunst (das Malen, das Kunstwerk-Schaffen, das Aktion-<br />

Durchführen) wurde <strong>zum</strong> integrierten Teil des Zusammenlebens. In dieser vom Künstler gestalteten »idealen«<br />

Lebensform gewann die Kunst eine uralte, mythologische und ethische Funktion zurück und wurde als Zentrum und<br />

strukturierende Kraft neu definiert. Damit einhergehend musste die Kunst allerdings ihre ästhetische Autonomie<br />

aufgeben. Doch eben dieser Verlust ermöglichte die Rückkehr zu einer zugleich archaischen und utopistischen<br />

Kultur, in der keine verfremdeten, autonomen Sphären mit eigenen Gesetzmäßigkeiten und eigenen Formsprachen<br />

die kulturelle Kommunikation vertreten, sondern in der sich eine kulturelle, geistige und ethische Gemeinschaft in<br />

allen Tätigkeitsbereichen gleichwertig äußern kann. Die Geschichte der historischen Avantgarde hat schon gezeigt,<br />

dass die radikale Utopie von der Selbstauflösung der Kunst in den gesellschaftlichen Aktivitäten nie erfolgreich dazu<br />

führt, dass Kunst und ästhetische Wertstrukturen das Leben zu verändern vermögen. Im Gegenteil, weit entfernt<br />

von einem völligen Aufgehen der Kunst in den realen Lebensaktivitäten entwickelten sich selbst durch die radikalen<br />

ästhetischen Strategien des Verzichts auf die Autonomie eine neue künstlerische Kommunikation und sogar neue<br />

Kunstformen innerhalb des Kunstbetriebes.<br />

Im Gegensatz dazu lässt sich das malerische und zeichnerische Oeuvre von Günter Brus als totaler Gegenpol <strong>zum</strong><br />

Experiment von Otto Muehl betrachten. Brus, der vielleicht in seinen Aktionen radikalste und schockierendste<br />

Vertreter des Wiener Aktionismus, trat ab den 1970er Jahren völlig aus dem Kunstleben heraus, um eine individuelle<br />

ästhetische Eigenmythologie zu schaffen.<br />

Die Bühne, das Theater, die Vorführung spielen eine zentrale Rolle im Oeuvre von Hermann <strong>Nitsch</strong>, der die Ideen<br />

eines neuen Gesamtkunstwerkes am erfolgreichsten verwirklicht hat. Während Günter Brus das Theatralische in<br />

seinen Bildern und <strong>Text</strong>en thematisiert, schafft Hermann <strong>Nitsch</strong> ein echtes, reales »Gesamttheater«, welches<br />

Mythos und Ästhetik, religiöse Metaphern und Alltagsleben, Klassisches und Archaisches, sogar Barbarisches<br />

miteinander in einer einmaligen, beispiellos monumentalen Form verbindet. Den Künstler und Freund Rudolf<br />

Schwarzkogler nannte er einen apollinischen Schöpfer, der nach den Prinzipien der Schönheit in der perfekten Form<br />

strebt, wobei die geistige, spirituelle Schönheit in der paradoxerweise gleichzeitig entmaterialisierten und<br />

gesteigerten sinnlichen Form erscheint. Die Sinnlichkeit wird hier transponiert: Sie verlässt die irdische,<br />

materialistische Begierde des nach sinnlicher Befriedigung strebenden Körpers und kann als pure, unpersönliche,<br />

nicht mehr an den schwerfälligen Körper gebundene, spirituelle Sinnlichkeit im Sinne der reinen Erfahrungen<br />

beschrieben werden. Im Gegensatz dazu bezeichnet sich Hermann <strong>Nitsch</strong> selbst als dionysischen Künstler, der durch<br />

Kampf und Zerstörung (auch Selbstzerstörung), durch bis zur Ekstase gesteigerte Körperlichkeit, durch wildes,<br />

grenzenloses Ausleben der sinnlichen Erfahrungen der kollektiven Sünde und der kollektiven Erlösung die uralten,<br />

mythischen Geschichten wieder zu erleben versucht, um dadurch die Kunst als die intensivste, das ganze Leben<br />

verändernde, jenseits von Gut und Böse angesiedelte Erfahrungsweise zu definieren.<br />

In seinem Gesamtkunstwerkprogramm des Orgien Mysterien Theaters entdeckte Hermann <strong>Nitsch</strong> die ethischen und<br />

ästhetischen Bedeutungsreserven der aus dem Mythos stammenden, vom Künstler-Philosophen gestalteten, sich in<br />

der Aktivität der an dem Spiel teilnehmenden Massen manifestierenden Aktionskunst. Die mittelalterlichen<br />

Passionsspiele, die katholischen Prozessionen und die spontane Vitalität und Sinnlichkeit der dörflichen<br />

Kirtagstradition vermischt er mit den neu interpretierten, dämonisch gestalteten Formen der uralten mediterranen<br />

Erlösungs- und Fruchtbarkeitsrituale und mit kollektiven Opferzeremonien. Heidnisches, christliches,


nietzscheanisches und freudianisches Gedankengut wird radikal uminterpretiert, um den Sinn und die Funktion der<br />

künstlerischen Tätigkeit und der kulturellen Gestaltungsprozesse überprüfen zu können.<br />

Hermann <strong>Nitsch</strong> versucht, der Kunst eine außerordentliche Bedeutung zu verleihen, die sich nur in der Fiktion des<br />

Gesamtkunstwerkes des postmythologischen Zeitalters in physischästhetischer Vollkommenheit verkörpern kann.<br />

Seine Kunst schafft den Mythos, der die optisch-plastischen Erscheinungsformen legitimiert, und gleichzeitig –<br />

selbstverständlich nur in der Fiktivität des Ästhetischen – die gesellschaftliche, geistige Umgebung, welche die<br />

Botschaft und die Bedeutung der Rituale dechiffrieren kann. Diesen scheinbaren Widerspruch, der seit der Zeit der<br />

Romantik und seit der Geburt der Idee des Gesamtkunstwerkes als Gegenstrategie existiert, löst <strong>Nitsch</strong> durch die ad<br />

absurdum gesteigerte Sinnlichkeit der direkten, unmittelbaren existentiellen Erfahrungen als allgemeingültige<br />

Wahrnehmungsform auf. Wie in Nietzsches Interpretation der Entstehung der griechischen Tragödie die kollektive<br />

Ekstase als Wahrnehmungsform ins Zentrum gestellt wurde, versucht Hermann <strong>Nitsch</strong> in seinem Orgien Mysterien<br />

Theater die durch die Mittel des Gesamtkunstwerkes radikalisierte Sinnlichkeitund Körperlichkeit zu einer<br />

Komplexität der Gefühle, der physischen Erfahrungen und des kollektiven Wiedererlebens als Hauptelement der<br />

ästhetischen Bewusstwerdung zu steigern. Der Maler, Bühnenbildner, Schriftsteller, Musiker und Dramatiker<br />

Hermann <strong>Nitsch</strong> verkörpert eine künstlerische Haltung, die die schöpferische Tätigkeit des Künstlers in einem<br />

kulturgeschichtlichen und anthropologischen Kontext betrachtet, wobei der Künstler als Privatperson hinter der<br />

Figur des Künstlerpropheten, des Philosophen, des Erziehers zurücktritt. In diesem Zusammenhang lässt sich seine<br />

Tätigkeit mit der »Sozialen Plastik« von Joseph Beuys vergleichen, obwohl bei Beuys die Schillersche Konzeption der<br />

»ästhetischen Erziehung « und die damit verbundene moralisierende politische oder quasi-politische Aktivität die<br />

künstlerische Tätigkeit vielmehr im Kontext des romantisch-idealistisch stilisierten »Kulturkampfes« lokalisiert. Das<br />

Überzeugende und doch Rätselhafte im Oeuvre von Hermann <strong>Nitsch</strong> ist, dass die einzelnen Kunstwerke immer in<br />

einer prägnanten, geschlossenen Form der optisch-sinnlichen, formal-dramaturgischen Evidenz erscheinen und nicht<br />

bloß Illustrationen oder Demonstrationsobjekte oder sogar »Hilfsmittel« ritueller Prozesse bleiben.<br />

In Hermann <strong>Nitsch</strong>s Versuch, das Gesamtkunstwerk neu zu schaffen, erscheint eine ursprünglich romantische und<br />

später durch die Avantgarde neuinterpretierte Strategie des Totalitätsanspruchs, welche im Oeuvre von <strong>Nitsch</strong> eine<br />

österreichische künstlerische Form par excellence der radikalen Vollkommenheit der geistigen, philosophischen,<br />

ästhetischen und gesellschaftlichen Wertsysteme gewinnt. Sicher hat seine Aktivität in den letzten vierzig Jahren<br />

heftige Debatten und stark kontroverse Meinungen provoziert und sicher mussten sich die Künstler der<br />

Generationen nach ihm von dem mächtigen Gewicht seiner spielerisch-dämonischen Monumentalität befreien. Der<br />

in der stilisierten dionysischen, dämonisch grenzenlosen Sinnlichkeit tobende, alle Kunstgattungen mit unbegrenzter<br />

Souveränität und fast imperatorischer Willkür beherrschende, die Teilnehmer des Orgien Mysterien Theaters mit<br />

magischer Kraft und monumentalem Formwillen dirigierende Hermann <strong>Nitsch</strong> vertritt eine große, tragisch-schöne,<br />

in ihrer romantischen Widersprüchlichkeit nie absolut erfüllbare und im geschichtsphilosophischen Sinne nie in aller<br />

Vollkommenheit realisierbare ästhetische Utopie des avantgardistischen Gesamtkunstwerkes, der radikalen Einheit<br />

von Kunst und Leben. Das zeichnerische Oeuvre bietet uns die seltsame Möglichkeit, die internen Prozesse der<br />

Vorbereitung und der Planung beziehungsweise die intimen, persönlichen Notizen und Kommentare zur Arbeit und<br />

<strong>zum</strong> Leben, also die latente Geschichte des Kampfes um die Entstehung des Gesamtkunstwerkes zu erleben.<br />

_______________________________________________<br />

Lóránd Hegyi, Zeichnung zwischen Totalitätsanspruch und Sensualität. Das zeichnerische Oeuvre von Hermann <strong>Nitsch</strong> im Kontext<br />

des Gesamtkunstwerkes, in: Hermann <strong>Nitsch</strong>. Dessin comme architecture de l' Orgien Mysterien Theater, ed. <strong>Nitsch</strong> <strong>Foundation</strong>,<br />

Wien 2010, S. 20-27.

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