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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Brigitta Helbig-Mischewski
Ein Mantel aus Sternenstaub
Geschlechtstransgress und Wahnsinn bei Maria Komornicka
Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Übersetzungen aus dem Polnischen: Natalie Buschhorn
mit Unterstützung von Bettina Sieber, Antje Ritter-Jasińska und der Autorin
Das Zitat auf dem Buchumschlag stammt aus dem Gedicht „Na rozdrożu”
(Auf dem Scheideweg) und wurde von der Autorin übersetzt.
Die Deutsche Bibliothek – CIP-Einheitsaufnahme
Ein Titeldatensatz dieser Publikation ist bei der Deutschen Bibliothek erhältlich
Erste Auflage 2005
© Brigitta Helbig-Mischewski
www.helbig-mischewski.de
Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrages, der Übertragung durch Rundfunk,
Fernsehen und Internet sowie der Übersetzung, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in
irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder anderer Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung
der Autorin reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder
verbreitet werden.
Herstellung und Verlag: Books on Demand GmbH, Norderstedt
www.bod.de
Satz: Veiko Boden
Umschlaggestaltung: Veiko Boden und Schaffranietz-Design
nach einer Idee der Autorin,
unter Verwendung einer Illustration aus "Allerleirauh"
illustriert von Henriette Sauvant
©1997 NordSüd Verlag AG, Gossau/Zürich/Schweiz
mit freundlicher Genehmigung des Verlages
Printed in Germany · ISBN 3-8334-2969-0
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Ich will aus dem Weltgedächtnis so restlos
schwinden, dass von meinem Namen keine Spur mehr bleibt –
Dass mich niemand am alten Mal erkennt,
Wenn ich das Land vom Deck meiner Flotte grüßen würde.
Entfliehen, verschwinden, vergehen – wie der Taucher, das Erz, der Nebel, das Korn;
Verwandlung suchen im Meer, im Feuer, in den Wolken, der Erde,
Verwandelt zurückkehren in die Grabesstille meines Hauses,
Von den bestürzten Gesichtern den Zauber mit den Lippen küssen - - -
Pragnę z pamięci świata tak doszczętnie
Wymrzeć, by z nazwy nie zostało śladu –
By mnie nie poznał nikt po dawnym piętnie,
Gdy ląd pozdrowię z floty mej pokładu.
Chcę uciec, zniknąć, zginąć – jak nurek, ruda, mgła, ziarno;
Przeistoczenia szukać w morzu, w ogniu, w chmurach, w ziemi,
Przeistoczony wrócić w głusz mojego domu cmentarną,
Z twarzy osłupionych czar ustami zdjąć budzącemi - - -
1 Aus dem Gedicht „Pragnienie“ (Verlangen), übers. von B. Helbig-Mischewski.
Maria Komornicka 1
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Inhalt
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Einleitung 1
1. Die Biographie – eine Rekonstruktion 17
2. Forschungsstand 47
2.1. Die Pathologisierung Maria Komornickas 47
2.1.1. Stanisław Pigoń – Die Entdeckung 47
2.1.2. Stanisław Oszacki – Die Diagnose 50
2.1.3. Aniela Komornicka – Die schöne Erzählung 54
2.1.4. Jan Komornicki – Das Nicht-Verstehen-Können 57
2.2. Die sukzessive Rehabilitierung 59
2.2.1. Maria Podraza-Kwiatkowska 59
2.2.2. Maria Janion 66
2.2.3. Edward Boniecki 74
2.2.4. Izabela Filipiak 78
2.3. Die Revision des Forschungsparadigmas
‚Pathologisierung – Rehabilitierung’ 81
2.3.1. German Ritz 81
2.3.2. Krystyna Kralkowska-Gątkowska 82
3. Der Ruf des Todes – „Szkice“ (Die Skizzen) 87
3.1. Zwischen Lebensdurst und Todessehnsucht –
Z fantazyi realnych“ (Aus den realen Phantasien) 88
3.1.1. Verstöße gegen Weiblichkeitsbilder 88
3.1.2. Rekurrenz auf archetypische Weiblichkeitsäquivalente 99
3.2. Wahnsinn oder Tod – „Staszka“ 108
4. Die antibürgerliche Empörung 127
4.1. „Raj młodzieży“ (Das Paradies der Jugend) 127
4.2. „Forpoczty“ (Die Vorposten) 146
5. Aporien der weiblichen Autorschaft – „Skrzywdzeni“
(Jene, denen Unrecht geschieht) 161
6. Tragisches Begehren – „Baśnie i psalmodie“ (Märchen und Gesänge) 187
6.1. Die patriarchale Oppression – „O ojcu i córce“ (Über Vater und Tochter) 188
6.2. Die Rache am Patriarchat – „Andronice“ 195
7. Der Appetit aufs Leben – „Halszka“ 209
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8. Was ist hier die Maske? – „Biesy“ (Die Dämonen) 239
9. Das Schwert des Schaffens – Lyrik vor der Metamorphose (1887 – 1907) 267
9.1. In der Materie gefangen 267
9.2. Auf das Leben warten 272
9.3. Das Schwert ziehen 274
9.4. Der rasende Engel 277
9.5. Die Liebe und die Peitsche 281
9.6. Männlichkeit ist etwas anderes als die Männer 286
9.7. Komornicka, Lemański, Mickiewicz 289
9.8. Von Gott entführt 293
9.9. ‚Komplett aussterben’ 297
9.10. Mantel aus Sternenstaub 302
9.11. Getragen werden 304
9.12. Die Umherirrenden 307
9.13. Komornicka und das Patriarchat 312
9.14. Kann Dichten Sünde sein? 315
9.15. Der sterbende Vogel 319
10. Die Sehnsucht eines ‚Narren’ – „Xięga poezji idyllicznej“
(Das Buch der idyllischen Poesie) 1917 – 1928 327
10.1. Der ‚kleine Versemacher’ und Prophet 327
10.2. Fratzen der Weiblichkeit – die kastrierende Mutter 334
10.3. Die Rückkehr des ‚Papas’ 346
10.4. Własts ‚Ahnenfeier’ (Dziady) 352
10.5. Die Lebenslegende und die Schuld 355
10.6. Jedem seinen Stern 364
10.7. Der ‚transzendentale Narr’ 366
10.8. Die stille Front 368
10.9. Natur und Eros 371
10.10. Das Mitgefühl 376
10.11. Die Särge öffnen sich 378
Fazit und Ausblick 391
Literaturverzeichnis 421
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Einleitung
Die Drogen, die sie zu sich nahm (schwarzer Kaffee und Tee) schwächten immer mehr ihr
Nervensystem, und als sich die Ärzte nicht mehr zu helfen wussten, schickten sie sie ans Meer –
nach Kołobrzeg. (...) Unsere Mutter begleitete sie. Als sie Maria in Poznań allein im Hotel
zurückließ und zurückkehrte, fand sie diese im Bett vor, während die gesamte Damengarderobe
im Ofen verbrannte. Maria forderte Männerkleidung, da die Phase ihrer Weiblichkeit nun beendet
sei. (Jan Komornicki, in: Pigoń 1964, 352) 2
(...) die Notwendigkeit einer systematischen ärztlichen Behandlung wurde alsdann offensichtlich,
als meine Schwester im Juli 1907 in Poznań auf dem Weg zu einem Seebad kategorisch nach
männlicher Bekleidung verlangte. (Aniela Komornicka, in: Komornicka, A. 1964, 332) 3
Die Familie sagt kein Wort mehr. Ein eigentümliches Schweigen umhüllt den
rätselhaftesten und faszinierendsten Punkt der Biographie des Wunderkinds und
dämonischen Stars des polnischen fin de siècle, Maria Jakubina Komornicka. Es ist ihr
Geschlechtstransgress, ihre unwiderrufliche, usurpatorische Selbsternennung zum
Mann, welche, der Überlieferung zufolge, die ahnungslose Familie wie ein Blitz aus
heiterem Himmel an einem Sommertag 1907 auf der Durchreise zur Ostsee getroffen
haben soll. Nur noch ein einziges Mal lässt sich Komornicka in weiblicher Kleidung
sehen – im Sarg.
Zum Zeitpunkt ihres transgressiven Exzesses ist Komornicka 31 Jahre alt, hat bereits
mehrere erfolgreiche literarische und literaturkritische Zeitschriften- und
Buchveröffentlichungen, die Zusammenarbeit mit Zenon Przesmyckis prominenter
Zeitschrift „Chimera“, gesellschaftliche Skandale und eine gescheiterte Ehe zu
verzeichnen. Auf das unerhörte Ereignis wissen Familie und Gesellschaft keinen
2
Polnisch: „Narkotyki, ktore używała (kawa czarna i herbata), coraz więcej podkopywały jej system
nerwowy, a gdy doktorzy nie mogli sobie z jej stanem poradzić, wysłali ją nad morze – do Kołobrzega.
(...) Matka nasza z nią pojechała i gdy w Poznaniu zostawiła ją w hotelu samą i wróciła, zastała ją w
łożku, całą zaś toaletę damską dopalającą się w piecu, żądającą stroju męskiego, gdyż okres jej
kobiecości się skończył.“
Alle Übersetzungen polnischer Zitate ins Deutsche wurden von Natalie Buschhorn mit Unterstützung
von Antje Ritter-Jasińska, Bettina Sieber und der Verfasserin angefertigt.
3
Polnisch: „(...) konieczność systematycznego leczenia stała się wtedy oczywista, gdy w lipcu 1907 roku
w Poznaniu w drodze do morskiego kąpieliska siostra zażądała kategorycznie męskiego stroju.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
anderen Rat, als die vermeintliche Transvestitin auszugrenzen: Komornicka wird
gegen ihren Willen in die Psychiatrie eingewiesen. Die Diagnose, die sie mit
zahlreichen anderen ‚Genies’ der abendländischen Kultur teilt, 4 lautet –
Geisteskrankheit. Sieben Jahre ihres Lebens verbringt die Dichterin „in Gesellschaft
von Prostituierten und Pädophilen“, „Kriminellen und irrsinnigen Verbrechern“ 5 wo
sie anscheinend schizophrene Wahnvorstellungen entwickelt. Die Hoffnung der
Familie auf die Auskurierung des Wahnsinns ist vergebens. Komornicka leugnet
weiterhin hartnäckig ihre für die Anderen evidente Weiblichkeit und steht eisern zu
ihrem existenziellen Entschluss, ein Mann zu sein. Der Name dieses Mannes, der auf
einen ihrer Ahnen zurückgeht, lautet Piotr Włast – so auch das Pseudonym, unter dem
die Dichterin bislang ihre literaturkritischen Texte veröffentlichte. Es ist ein
sprechender Name: ‚Włast’ bedeutet im Altpolnischen, aber auch im Russischen
‚Herrschaft’ und ‚Macht’.
Zeitlebens bleibt Komornicka als Frau und als Wahnsinnige eine aus der Gesellschaft
und Kultur doppelt Ausgegrenzte, die jeglicher Autorität beraubt ist. Der Zugang zum
literarischen Diskurs ist nunmehr versperrt. Es wird kein Wort mehr von ihr gedruckt.
Der Ausbruch des ersten Weltkrieges bringt jedoch die Befreiung aus dem Irrenhaus.
Für ihre zweite Lebenshälfte darf sich die Entmündigte und Enterbte bei der Familie
ihres ältesten Bruders auf dem Familiensitz Grabów bei Warschau niederlassen. Als
‚Verrückte’ führt sie hier ein Leben in beinahe vollkommener Isolation, das sich in
Schreiben, Beten und Naturbetrachtung zu erschöpfen scheint. Sie verfasst ein
umfangreiches, an mystische Traditionen anknüpfendes lyrisches Werk „Xięga poezji
idyllicznej“ (Buch idyllischer Poesie), welches bis heute nur in wenigen Fragmenten
veröffentlicht worden ist. 6 Zu ihrer letzten, ungeliebten Wohnstätte werden von
4
Exemplarisch können hier Friedrich Hölderlin, Vincent van Gogh, Friedrich Nietzsche, Camille
Claudel, Virginia Woolf, Sylvia Plath, Unica Zürn genannt werden.
5
Brief Komornickas an die Mutter aus der Irrenanstalt in Opawa (Troppau) vom 21.12.1908. In:
Literaturmuseum Warschau, Signatur 371.
6
Komornicka 1996.
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Nonnen geführte Altenheime. Es sind dann auch die Nonnen, die der Toten ein Kleid
überziehen und damit an ihrem nun wehrlosen Leib ein Zeichen setzen, das den
Betrachter ihrer Biographie erschauern lässt. Denn Maria Komornicka war Zeit ihres
Lebens bestrebt, ihren Körper vor solchen ‚Übergriffen’ zu schützen, ihn mit Hose
und Anzug so dicht und undurchdringlich wie nur möglich zu machen.
Es ist ohne Zweifel das Skandalon dieses Wahnsinns, das die heutige Karriere der
vergessenen, aus dem literaturhistorischen Kanon jahrzehntelang verdrängten
Dichterin und Literaturkritikerin als Untersuchungsobjekt zahlreicher, vor allem der
feministischen Perspektive verpflichteten Studien begründet. Der rätselhafte
Geschlechtstransgress, aber auch der Leidensweg der Dichterin und ihre kurios
anmutende Metamorphose von einer atheistisch argumentierenden Rebellin gegen
Frauenunterdrückung zur tiefgläubigen Befürworterin des Patriarchats veranlassen zu
Spekulationen und fördern eine ungehemmte hermeneutische Lust. Lange Zeit war
jedoch die Stigmatisierung durch Geisteskrankheit der Rezeption Komornickas
durchaus nicht förderlich. Seit 1907 ist sie im literaturkritischen Diskurs nicht mehr
präsent. In den nächsten 60 Jahren wird sie in literaturgeschichtlichen Darstellungen
entweder gar nicht oder nur marginal berücksichtigt. 7 Czesław Miłosz (1981, 396) 8
hält es in seiner angesehenen Literaturgeschichte sogar für nötig, sich für ihre
Erwähnung zu entschuldigen:
Maria Komornicka, mit ihrer zum Fanatismus gesteigerter Leidenschaft für die Philosophie von
Friedrich Nietzsche, war eine außergewöhnliche Erscheinung. (...) Ihre Poesie, häufig in freiem
Vers oder in Prosa geschrieben, offenbart durchweg eine unbändige Verteidigung der
uneingeschränkten Freiheit des Individuums, in diesem Fall einer gewissen Super-Frau. Frappant
ist hierbei, dass sogar ihr persönliches Leben Nietzsches Existenz nachbilden sollte, zumal sie im
Jahre 1907 an einer Geistesverwirrung erkrankte und die Literatur aufgeben musste. Sie schaffte
es nicht mehr, ihre Talente weiter zu entwickeln, und wenn wir, womöglich ungerechtfertigter
Weise, hier über sie sprechen und dabei gleichzeitig viele andere Namen übergehen, dann
deshalb, weil ihre Persönlichkeit sehr charakteristisch war, zumindest für die Sitten jener Zeit.
7
Eine Ausnahme bilden einige in den 60er Jahren entstandene Anthologien: Jakubowski 1963, Jastrun
1967, Hertz 1967.
8
Vgl. auch Krzyżanowski 1963, 36.
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Als ein biographisches Kuriosum, ein spannendes pathologisches Phänomen und ein
Beispiel weiblicher Verirrung wurde Komornicka in den 60er Jahren vom Krakauer
Literaturprofessor Stanisław Pigoń (1964) entdeckt, erhielt jedoch in der ihr
gewidmeten Publikation keine ‚eigene Stimme’ als Dichterin: Lediglich Auszüge aus
ihren kritischen Arbeiten wurden veröffentlicht. Umso mehr Gewicht bekamen die in
aller Breite publizierten Äußerungen der Familie und der vermeintlichen Experten.
Erst die antipsychiatrisch, sozial- und patriarchatskritisch ausgerichtete, heute beinahe
legendäre Studie von Maria Janion (1982) „Gdzie jest Lemańska?“ (Wo bleibt
Lemańska?) brachte die entscheidende Wende in der Komornicka-Rezeption. Die
Danziger Literaturprofessorin sprach sich ausdrücklich gegen die Pathologisierung der
Dichterin und für die Wiederherstellung ihrer literarischen Autorität, für ihre
Etablierung als repräsentierendes Subjekt und Literaturproduzentin aus. Gleichzeitig
überhöhte sie pathetisch ihren Wahnsinn als Protest gegen einengende
Weiblichkeitsmodelle und das Ergebnis einer authentischen, individuellen
Identitätsfindung. 9 In Übereinstimmung mit dem politischen Ziel des Feminismus,
Frauen die Möglichkeit der Selbstrepräsentation zu verschaffen, veröffentlichten
Janion und später Podraza-Kwiatkowska vergessene Texte Komornickas. Doch erst in
den letzten Jahren stieg die Dichterin, parallel zu der Entwicklung einer
gendertheoretischen Perspektive in der polnischen Literaturwissenschaft nach 1989,
zur Ikone feministischer Forschung auf (was nicht heißt, dass sie bereits in den
literarischen Kanon aufgenommen worden wäre). Dies ist nicht zuletzt der Rezeption
von kulturkritischen Schriften Michel Foucaults, insbesondere seiner einflussreichen
Studie „Wahnsinn und Gesellschaft“ (1973) zu verdanken, die den Wahnsinn als eine
9
Auf die Gefahren der Romantisierung des Wahnsinns im literaturkritischen Diskurs weist Anette
Schlichter (2000, 88) in ihrer Arbeit „Die Figur der verrückten Frau“ hin. Zu den performativen Effekten
einer solchen Überhöhung des Wahnsinns gehöre seine Verharmlosung, Universalisierung und
Normalisierung als Zeichen einer angemessenen Reaktion von Frauen auf ein ahistorisch aufgefasstes,
verrücktes patriarchales System und damit seine Etablierung als Symptom der Weiblichkeit. Auf diese
Art und Weise reproduziere die feministische Kulturkritik unreflektiert die patriarchale Parallelisierung
von Wahnsinn und Weiblichkeit.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
repressive, diskursive Konstruktion entessentialisiert. Einen Beitrag dazu haben auch
kulturwissenschaftliche Arbeiten zur Parallelisierung von Wahnsinn und Weiblichkeit
geleistet, die die ‚Verrückte’ als patriarchatskritische Figur einsetzen. 10
Es gibt Fragen, deren Faszination sich die Komornicka-Forschung und auch die
vorliegende Untersuchung nicht entziehen kann. Es ist zum einen die Frage nach der
Motivation des Gechlechtswechsels. Ist Maria Komornicka als eine Transsexuelle zu
betrachten, die ihren ‚weiblichen’ Körper als nicht adäquat zu ihrer ‚männlichen’
Seele empfand, aber die heutzutage übliche Möglichkeit einer operativen Korrektur
nicht in Anspruch nehmen konnte, um ihre Physis an die Psyche anzugleichen? 11 Eine
Transvestitin, die mit ihrer Praxis der Maskerade „die essentialistische Festschreibung
von ‚sex’ und ‚gender’ dekonstruiert“? 12 Oder etwa eine Lesbierin, die einen
Übergang zum anderen Geschlecht inszenierte, um ihr als deviant stigmatisiertes
Begehren zu legitimieren und an Objekte ihres ‚verbotenen’ Lustempfindens
10
Dies sind vor allem Arbeiten aus dem angloamerikanischen Bereich: Als Gründungstext der
feministischen Psychiatriekritik gilt die bahnbrechende psychosoziale Studie „Woman and Madness“ der
Psychologin Phyllis Chesler (1972), welche die abendländische Maskulinisierung der Vernunft (der
Rationalität) und die gleichzeitige Feminisierung des Wahnsinns (der Irrationalität) hinterfragte und einen
politischen Gegendiskurs zu psychiatrisch-medizinischen Theorien über den weiblichen Wahnsinn
etablierte. Dazu Schlichter (2000, 69 ff.): „Chesler wandte sich gegen die Annahme einer natürlichen
Veranlagung der Frau zur Geisteskrankheit, indem sie den Wahnsinn als Effekt einer männlich
dominierten Kultur darstellte. Anstelle medizinisch-biologischer Begründungen interessierte sich die
Wissenschaftlerin (…) für die soziokulturellen Bedingungen weiblichen Wahnsinns. Zwar war Chesler
nicht die erste, die ein rein medizinisches Modell attackierte. Insofern sie die Ursachen ins soziale Feld
verlagerte, lehnte sich die feministische Theorie an die antipsychiatrische Bewegung von Ronald D.
Laing, Thomas Szasz, David Cooper u.a. an, die auf die gesellschaftliche Produktion von Wahnsinn
aufmerksam gemacht hatten. Neue Aspekte in der Diskussion um die ‚Fabrikation des Wahnsinns’
lieferte jedoch die Privilegierung des ‚Faktors Geschlecht’, die sich mit einer umfassenden
Patriarchatskritik verband.“ Mit ihrer Studie „The Female Malady“ erweitert Showalter (1987) die
Arbeiten der Psychologin um eine kulturgeschichtliche Dimension. Anhand der Analysen der
psychiatrischen und der ästhetischen Diskurse zeigt sie, wie sich in der modernen Kultur die Tendenz
manifestiert, Weiblichkeit als Wahnsinn zu repräsentieren, ihn als symbolisch weibliche Krankheit zu
verstehen (die sowohl von Frauen als auch von Männern erfahren wird). Die Arbeit Showalters beginnt
mit der Diskussion einer der bekanntesten Darstellungen des Wahnsinns – Tony Robert-Fleurys 1876
entstandenen Gemäldes „Pinel befreit die Irren von ihren Ketten“, welches als weibliche Allegorie des
Wahnsinns symptomatisch für die moderne Repräsentation der Geisteskrankheit ist.
11
Vgl. die medizinische Definition des Transsexualismus als „feste und dauerhafte Überzeugung eines
(…) Individuums, dass seine körperliche Erscheinung nicht seinem wahren, inneren Geschlecht
entspreche“. In: Runte 1996, 16.
12
Ritz 2001, 138.
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heranzukommen? 13 Zum anderen kann aber auch gefragt werden: Handelt es sich bei
ihrem Identitätswechsel um einen Akt der Auflehnung gegen die der Frau zugedachte,
auf Komornickas Möglichkeiten und Ambitionen nicht zugeschnittene Rolle als ‚das
Andere’ des männlichen Subjekts? 14 Oder, ganz im Gegenteil, um ein dramatisches,
von der Lektüre der misogynen philosophischen Schriften eines Nietzsche,
Schopenhauer oder Weininger gefördertes Unternehmen, die privilegierte, mit Geist
und Intellekt gleichgesetzte Position des männlichen, als universal geltenden Subjekts
in der ‚phallogozentrischen’ Kultur (Derrida) für sich in Anspruch zu nehmen und sich
damit auf die Seite des Patriarchats zu schlagen? Die Antwort auf diese Fragen wäre
um ein Vielfaches einfacher gewesen, wenn Komornicka nicht so kategorisch und
bedingungslos auf ihrer substanziellen und unhinterfragbaren Männlichkeit beharrte,
sondern ihren Geschlechtswechsel in erster Linie strategisch einsetzen würde, etwa als
Demonstration emanzipatorischer Bestrebungen (George Sand) oder als Mittel zur
Tarnung (Nadežda Durova, 15 Zofia Trzeszczkowska 16 ), bzw. wenn sie sich lediglich
eines männlichen Pseudonyms zwecks Geschlechtskamouflage bediente. 17 Da sie
jedoch ihre Männlichkeit essentialisierte und absolut setzte, geriet ihre, an sich im 19.
Jahrhundert unter Künstlerinnen durchaus verbreitete, wenn auch skeptisch beäugte
Geschlechtsmystifikation 18 in den Verdacht eines Symptoms einer ernsthaften
psychischen Störung.
Damit komme ich zum zweiten Fragenkomplex, der um das Phänomen des Wahnsinns
zentriert ist. Die Komornicka-Forschung bemüht sich seit langem um die Antwort auf
13
Nach Hirschauer (1999, 91) ermöglichte der Geschlechtswechsel Frauen im 19. Jahrhundert in vielen
Fällen „sexuelle Beziehungen zu anderen Frauen, die unter der Annahme ihrer ‚Leidenschaftslosigkeit’
undenkbar erschienen.“ (Vgl. auch Chauncey 1982, Dekker/v. d. Pol 1990)
14
Ein Begriff von Simone de Beauvoir (1949).
15
Vgl. Burgin 1977 und Goller 1986.
16
Vgl. Ritz 2001, 135.
17
Beispiele männlicher Pseudonyme weiblicher Autorinnen: Marie d’Agoult (Daniel Stern), Mary Ann
Evans (George Eliot) Aurore Dupin (George Sand), Currer, Ellis und Acton Bell (Charlotte, Emily und
Anne Brontë), Adam M-ski (Zofia Trzeszczkowska), D-moll, Zawrat, Iwo Płomieńczyk (Maryla
Wolska), Jan Sawa (Maria Konopnicka).
18
Vgl. Duby/Perrot 1997, 440 ff. und Ritz 2001, 137.
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die Frage, ob die Dichterin ‚wirklich’ psychisch krank war, oder ob ihre Krankheit als
eine repressive Erfindung, ein Resultat eines familiären Komplotts anzusehen ist,
fabriziert mit dem Ziel, die Übermütige aus der Familie und Gesellschaft
auszuschließen (da ihre Mannwerdung einen gesellschaftlichen Skandal bedeutete).
Mit anderen Worten: Könnte es sein, dass Komornicka tatsächlich an Schizophrenie
gelitten hat? Indizien für einen Größen- und Abstammungswahn lassen sich im
umfangreichen Briefmaterial finden. Doch selbst wenn es sich erweisen sollte, dass
wir nach psychiatrischen Gesichtspunkten die Diagnose ‚Schizophrenie’ bestätigen
können, hat diese Etikettierung angesichts der von Foucault vollbrachten Revision des
Wahnsinnsbegriffs und der Relativierung der psychischen Krankheit, ihrer
Diffamierung als diskursiver Effekt, wenig Aussagekraft. Es gibt aber noch viel mehr
Unbegreifliches, Rätselhaftes, hermeneutisch kaum Zähmbares in Komornickas
Lebenstext und in ihren geschriebenen Texten. Es ist u.a. die radikale Verbannung des
Körpers und der Sexualität aus ihrem Leben, ihrem Selbstbild und ihren Texten und
die damit verbundene Favorisierung bzw. Absolutsetzung des Geistes: Die in ihren
jungen Jahren freizügige, gegen die Herrschaft des Vaters und des Bruders dezidiert
aufbegehrende Rebellin schreibt bereits vor ihrer Metamorphose Liebesgedichte, die
von einem abgrundtiefen Ekel der Körperlichkeit und der tierhaften Sexualität der
Männer gezeichnet sind.
Die wichtigste Frage, die ich mir jedoch in der vorliegenden Studie angesichts der
Verschränkung von Geschlechtstransgress und Wahnsinn stellen möchte, lautet: Ist
Komornickas Mannwerdung als ein Versuch der Selbstbefreiung aus patriarchaler
Herrschaft bzw. gar einer willentlichen Selbsterschaffung als ein authentisches Ich zu
verstehen, und damit der Aufstieg Komornickas in den Olymp der Vorkämpferinnen
des Feminismus gerechtfertigt? Oder eröffnet es möglicherweise neue Perspektiven, in
Komornickas Flucht vor ihrem Geschlecht einen gesellschaftlich-kulturell bedingten
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Zerstörungsakt des ‚weiblichen’ 19 Aspekts der eigenen Persönlichkeit zu sehen – einen
Zerstörungsakt, der tragische Konsequenzen für die Betroffene zeitigt und daher kaum
als Triumph gefeiert werden kann? Eine überstürzte Stilisierung der Dichterin zur
mutigen und konsequenten Heldin marginalisierter Subjekte läuft Gefahr, dem
offensichtlichen persönlichen Leidensweg der Komornicka nicht gerecht zu werden.
Es gibt nämlich einige Indizien dafür, dass sich hinter ihrem Schicksal etwas
Dramatisches, überspitzt formuliert, Kriminelles, verbirgt. In Zusammenhang mit dem
symbolischen Mord an eigener ‚Weiblichkeit’ stehen – so meine Ausgangshypothese
– sowohl bestimmte, noch nicht genau erforschte, empirische Fakten aus Komornickas
Biographie als auch real funktionierende, stark misogyn geprägte Diskurse der Zeit. In
diesem Zusammenhang ist die Frage nach dem Ursprung und den Ursachen sowie den
Manifestationsformen der ‚Tötung der Frau’ in Komornickas Texten zu stellen. 20
Doch damit habe ich die ausstehende Problematisierung des Wahnsinns noch nicht
berührt. Die Frage nach der objektiven Existenz des Wahnsinns werde ich nicht
diskutieren, da sie für meine Zielsetzung keinen Erkenntnisgewinn verspricht. Ich
betrachte das Phänomen psychischer Krankheit, darunter auch Schizophrenie, zwar als
ein Konstrukt des psychiatrischen Diskurses, weder verbinde ich damit jedoch eine
pauschale, negative Wertung einer solchen Konstruktion noch verleugne ich ihre
situationsgebundene Zweckmäßigkeit. Auch ist es für mich keineswegs
selbstverständlich, mit dem Begriff ‚Konstrukt’ die empirische Realität des
menschlichen Leidens und die Notwendigkeit der Systematisierung seiner Formen und
19
Sowohl ‚Weiblichkeit’ als auch ‚Männlichkeit’ verstehe ich als gesellschaftlich-kulturelle Konstrukte
(nicht essentialistisch).
20
Mit dem Motiv des ‚weiblichen Todes’ in der Literatur- und Kunstgeschichte der letzten 200 Jahre setzt
sich Elisabeth Bronfen (1994) in ihrem Buch „Nur über ihre Leiche“ auseinander. Anhand zahlreicher
Doppelbiographien von Künstlern und den Frauen in ihrem Umfeld zeigt sie darüber hinaus, wie
mörderische Metaphern auch in der Realität wirksam geworden sind. In diesem Zusammenhang bemerkt
Lindhoff (1995, 27), dass auch „den Biographien und Texten auffallend vieler Schriftstellerinnen eine
Tendenz zur Selbstauslöschung eingeschrieben“ sei, so z.B. Virginia Woolf, Marguerite Duras, Unica
Zürn, Sylvia Plath, Ingeborg Bachmann. Zu diesem Themenkomplex vgl. auch den Band „Weiblichkeit
und Tod in der Literatur“ von Renate Berger und Inge Stephan (1987).
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seiner Therapierung außer Kraft zu setzten. 21 Denn, wie politisch bedeutsam die
antipsychiatrische und Foucaultsche Parteinahme für die gesellschaftlich
Ausgegrenzten auch sein mag, sie kann den real psychisch Leidenden ihren Wahn
nicht nehmen. Die Bewertung jeglicher Konstruktbildung muss m.E. immer
kontextabhängig geschehen und darf, gerade wenn man aus der konstruktivistischen
Perspektive argumentiert, nicht verabsolutiert werden. So scheint es mir obsolet zu
sein, dem Konzept ‚psychische Krankheit’ eine ausschließlich repressive,
machtstrategische Funktion zuzuschreiben, die darauf beruht, unbequeme Individuen,
die mit ihren sozialen Rollen nicht konform gehen, außer Gefecht zu setzen.
In meiner Konzeptualisierung der psychischen Krankheit greife ich zum einen auf
(anti)psychiatrische Erkenntnisse zurück, u.a. die des polnischen Kultpsychologen
Antoni Kępiński (1992), der Anfang der 70er Jahre den Unterschied zwischen
psychisch Kranken und Gesunden als graduell darstellte, 22 und zum anderen auf Franz
Rupperts (2002) Interpretation der Schizophrenie. Das Besondere an seiner
Konzeption ist, Psychosen als nicht rein individuelle Phänomene anzusehen, sondern
nach dem Ursprung ihrer Entstehung im familiären Bindungssystem zu forschen, was
im Fall Komornickas besonders angebracht zu sein scheint. 23 In Anknüpfung an
‚große Themen’ der antiken Tragödien betrachtet Ruppert (2002, 34) die Psychose als
ein Symptom, und nicht als die Ursache einer Verwirrung, deren Ursprung in den
21
Ähnliches gilt für meine Betrachtung der Geschlechterdichotomie. Die Dekonstruktion der empirischen
Evidenz des biologischen Geschlechts durch Judith Butler (1991), lässt sich, auch wenn sie nicht
ontologisch gemeint ist, für meine Fragestellungen kaum operationalisieren. Ich stimme jedoch mit Butler
überein, dass auch unsere Wahrnehmung des biologischen Geschlechts von vorgegebenen kulturellen
Kategorisierungsmustern geprägt ist.
22
Diese Auffassung ist auch heute noch aktuell. Vgl. Koch 2002, 44.
23
Zitat: „Was also, wenn die Betroffenen gar nicht wirklich das Subjekt ihrer wahnhaften Empfindungen
und Ideen sind? Wenn sie nur das Medium sind, in und an dem sich ein Geschehen vollzieht, das sich aus
anderen Quellen, d.h. anderen Personen und früheren Situationen speist? Damit kein Missverständnis
entsteht: Der alten Vorstellung, verwirrte Menschen seien von bösen Geistern oder gar vom Teufel
besessen, will ich damit nicht das Wort reden. Wie meine Erklärungen zur Entstehung von wahnhafter
Verwirrung aber noch deutlich machen werden, sind psychische Zustände nicht von vornherein
individuelle Merkmale. Sie können von anderen Menschen übernommen worden sein, und es kann
deshalb etwas Vergangenes in das gegenwärtige Erleben hineinwirken, ohne dass es der Betroffene
merkt.“ (Ruppert 2000, 15)
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seelischen Bindungen innerhalb einer Familie, insbesondere in den Fragen nach
Schuld und Verantwortung, in den sorgfältig gehüteten Familiengeheimnissen zu
suchen ist (hinter denen sich mitunter Mord und Totschlag, Inzest, Betrug, Untreue,
sexuelle Gewalt oder Selbstmord verbergen): „Wie das Fieber als ein
Selbstheilungsversuch des körperlichen Immunsystems zu verstehen ist, so ist auch
eine Psychose der Versuch des seelischen Immunsystems, wieder mit sich ins Reine
zu kommen.“ Damit plädiert Ruppert für die Anerkennung und die jeweilige
Dekodierung des Wahn-Sinns sowie für die Berücksichtigung der heilenden
Funktionen von wahnhaften Vorstellungen im Seelenleben des Individuums und
seines familiären Bindungssystems. Er setzt sich dafür ein, den ‚Verrückten’, sofern
sie nicht direkt andere schädigen, ‚ihren Wahn zu lassen’, d.h. ihnen mit Respekt zu
begegnen. Diese Anerkennung und eine aufmerksame Betrachtung der Wahninhalte
und ihrer Bezüge zum Familiensystem führe in manchen Fällen dazu, dass sich der
Wahn, nachdem er seine Funktion erfüllt hatte, wie von alleine wieder zurückbilde.
Diese Auffassung lässt sich auch auf Komornickas Schicksal beziehen: Je stärker der
familiäre und institutionelle Druck war, der Dichterin ihren Wahn mit den äußerst
wirkungslosen, dafür aber entwürdigenden psychiatrischen Methoden des 19.
Jahrhunderts auszutreiben, desto massiver steigerten sich ihre Wahnideen. Als man sie
in Ruhe ließ, wurden die Symptome zunehmend schwächer, bis sie an ihrem
Lebensende völlig verblassten. Mit dieser Argumentation möchte ich das Andere,
Fremde und nicht Rationalisierbare des Wahnsinns nicht domestizieren. Es ist mir
bewusst, dass jeder Versuch einer Wahnsinn-Dekodierung mit einem Rest an
Unbegreiflichem und nicht Diskursivierbarem behaftet ist.
Abschließend stellt sich die Frage nach der Intention dieser literaturwissenschaftlich,
gender- und diskurstheoretisch ausgerichteten, psychoanalytisch inspirierten Studie.
Selbstverständlich kann die nur bedingt zu leistende Dechiffrierung des Wahnsinns
Komornickas niemanden mehr heilen. Ich gehe jedoch von der Annahme aus, dass es
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für eine Gesellschaft bzw. Kultur sinnvoll sein kann, sich mit der Frage der Schuld,
die sie sich im Hinblick auf individuelles und kollektives Leiden auflädt,
auseinanderzusetzen. (Dies bedeutet kein Plädoyer für eine Viktimisierung und
Überhöhung Komornickas. Letztendlich bleibt die an den Rand der Gesellschaft
gedrängte Dichterin nicht in der Rolle des Opfers, sondern verlässt den Ort der
Unterdrückung wenigstens imaginär, indem sie sich aus dem Wahn ‚herausschreibt’).
Davon ausgehend wird es sich im folgenden nicht zuletzt darum handeln, mittels einer
diskursiven Durchschreitung der biographischen Zeugnisse und der literarischen Texte
Komornickas einem kollektiven ‚Verbrechen’ auf die Spur zu kommen, welches aus
einer jungen, gewaltige Zukunftspläne schmiedenden, politisch engagierten und
hochbegabten ‚Powerfrau’ einen emotional verhungernden, von seinem Körper
abgespaltenen, völlig vereinsamten, verspotteten, mit skurrilen Verhaltensweisen die
Umgebung irritierenden ‚Opa Piotr’ 24 gemacht hat.
Zur Methode
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Die Zielsetzung dieser Arbeit erschöpft sich jedoch weder in der Aufklärung eines
biographischen Falls noch will sie der erneuten, für die Rezeption von Autorinnen
symptomatischen Marginalisierung der weiblichen literarischen Produktion als
ästhetisch minderwertig, weil zu stark am Leben und am Körper verhaftet, 25 das Wort
reden. Auch unabhängig von den zu Mythen- und Legendenbildung verführenden
biographischen Gegebenheiten bildet Komornickas literarisches Erbe ein ästhetisch
und existenziell faszinierendes Phänomen, dessen Qualität aufgrund eines bürgerlichpatriarchalischen
Kunstbegriffs von vielen Kritikern und Literaturwissenschaftlern
bezeichnenderweise in Zweifel gezogen wurde. Literarische und epistolographische
24
So wurde Komornicka von den Familienangehörigen und von anderen Grabów-Bewohnern genannt.
25
Vgl. dazu den von Katrin Hoffmann-Curtius und Silke Wenk (1996) herausgegebenen Band zum
Verhältnis von Geschlechterkonstruktion und Autorschaft, insbesondere die Studie von Reinhild Feldhaus
zur Rezeption von Paula Modersohn-Becker, Frida Kahlo und Eva Hesse (S. 73-89).
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Texte Komornickas betrachte ich keineswegs (im Sinne eines erkenntnistheoretischen
Repräsentations- bzw. Widerspiegelungsmodells) als Illustrierung ihrer
Lebensgeschichte und Quelle eines unmittelbaren Zugangs zu ihrer empirischen
Lebensrealität, sondern vielmehr als Bezugspunkt und Korrelat des Lebenstextes, d.h.
der semiotisch betrachteten, interpretierten Biographie. Dabei ist es mir besonders
wichtig, der ästhetischen und diskursiven Konstruiertheit dieser Texte Rechnung zu
tragen. Ich gehe von vielfältigen, nicht durch ein Abbildverhältnis regulierten,
intertextuellen Wechselbeziehungen, von metaphorischen und metonymischen
Überlagerungen bzw. Berührungen zwischen Literatur und – wohlgemerkt ebenfalls
zum großen Teil textuell vermittelter – Biographie aus.
Es ist evident, dass literarische Texte gern aus dem Material, das ‚das Leben bietet’,
schöpfen. Sie greifen auf reale, äußere wie innere Ereignisse zurück. Im Zuge der
Versprachlichung und der artifiziellen Bearbeitung, die ihren eigenen Gesetzen
gehorcht, verfremden sie diese (u.a. mit Mitteln der Verdichtung und Verschiebung)
und wirken damit auf die empirische Realität zurück, konstruieren
Sinnzusammenhänge, erschaffen virtuelle Wirklichkeit. Damit kann Literatur u.a.
Versäumtes nachholen, Misslungenes korrigieren, Ungelebtes inszenieren,
Unerwünschtes ‚töten’, erotische Energien umsetzen, Ängste verarbeiten,
Problemlösungen fingieren, Projekte und Visionen imaginieren, letztendlich, wie im
Fall Komornickas, ‚durch das Leben tragen’ und das Überleben ermöglichen. Die in
der psychoanalytischen Literaturwissenschaft bereits anvisierte Bestimmung dieser
vielfältigen Relationsmöglichkeiten zwischen Leben und Schreiben bildet den
theoretischen Schwerpunkt dieser Studie. 26 Im Mittelpunkt der Betrachtung stehen
folglich die Transformations- und Sinngebungsprozesse, denen Komornickas
26
Einen ausführlichen Überblick über die unter diesem Aspekt geführte Autobiographie-Diskussion gibt
Marszałek (2003) in ihrer Studie zum autobiographischen Projekt Zofia Nałkowskas. Hervorgehoben
wird hier „die in der postmodernen Theoriebildung radikalisierte Kritik der Vorstellung von Sprache als
einem transparenten Ausdrucksmedium und des metaphysischen Subjektbegriffs“, welche die „dem
traditionellen Autobiographieverständnis zugrunde liegende Axiomatik“ erschütterte.
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Lebenstext in den geschriebenen Texten unterzogen wird, und zwar sowohl seitens der
Betroffenen selbst, als auch ihrer Familienangehörigen und anderer Kulturteilnehmer,
u.a. der Literaturwissenschaftler. Darüber hinaus interessiert die performative
Dimension der Texte – die dort konstruierten Selbstentwürfe. Ein weiterer
Schwerpunkt sind Bezüge des Lebenstextes und der literarischen Texte Komornickas
zu den Weltbildern und Diskursen der Zeit, vor allem zum Geschlechterdiskurs.
Ich beginne mit der Rekonstruktion der Biographie Komornickas und der kritischen
Analyse des vor allem von ihrer Schwester überlieferten und gedeuteten
biographischen Archivs. Dabei werde ich auf die Leitmotive und die ungeklärten
Fragen dieser Biographie sowie der inzwischen etablierten biographischen Legende
ein besonderes Augenmerk richten und nach Anknüpfungspunkten für die
nachfolgende Textanalyse suchen, ohne mich der Perspektive der
Familienangehörigen verpflichtet zu fühlen. Im zweiten Schritt erfolgt die detaillierte
Durchsicht der Forschungsstandpunkte zu Komornicka und zwar in Form eines
diskursanalytischen Überblicks. Ein wichtiger Gesichtspunkt ist dabei die
Semiotisierung des weiblichen Wahnsinns. Nachfolgend gehe ich zur Analyse des
gesamten veröffentlichten und unveröffentlichten literarischen Textmaterials
Komornickas über. 27 Ansatzweise werden auch epistolographische Schriften, d.h.
unveröffentlichte Briefe der Dichterin an Mutter und Schwester aus der Zeit vor und
nach 1907 herangezogen. Dabei ist besonders darauf zu achten, inwiefern sich die vor
und nach dem Transgress entstandenen Texte in ihrer ästhetischen Verfasstheit, den
intendierten Bedeutungsstrukturen und dem Potential an verborgenen Botschaften, in
ihrem Bezug auf andere Diskurse und auf die Biographie der Autorin voneinander
unterscheiden. Dies schließt ein ausgeprägtes Interesse für die semantische
Tiefenstruktur, das ‚Unbewusste’ der Texte ein – eine geschärfte Sensibilität dafür,
was unter der Textoberfläche an unlösbaren Widersprüchen ‚brodelt’, wo das
27 Das literaturkritische Material konnte nur am Rande mitberücksichtigt werden.
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Schweigen und die Leerstellen ihren Platz haben, wo auf Eindeutigkeit zielende
Strukturen zersprengt werden. Eine besondere Aufmerksamkeit gilt der Inszenierung
bzw. Torpedierung der Opposition zwischen weiblich und männlich, rational und
irrational sowie Körper und Geist, aber auch der Frage nach der Funktion des
Begehrens und der Verbindung von Mystik und Eros. Methodologisch greife ich hier
zum Teil auf die in der feministischen Forschung bereits erprobten, dekonstruktiven
Vorgehensweisen zurück, die ich jedoch für meine Zwecke modifiziere und
weiterzuentwickeln versuche. 28 Die analytisch-interpretatorischen Bemühungen
werden von theoretischen Diskussionen um das Verhältnis von Wahnsinn, Geschlecht
und Kultur sowie von Leben und Schreiben begleitet. Die Analyse erfolgt in
chronologischer Reihenfolge. So kann besonders deutlich gemacht werden, an
welchen diskursiven Orten die jeweiligen Texte einander ‚berühren’ und wie sich ihre
Entwicklungsdynamik gestaltet. Die jeweiligen Gattungsbesonderheiten werden bei
der Analyse selbstverständlich berücksichtigt. An jedes Kapitel schließt sich eine
Zusammenfassung der erzielten Ergebnisse an.
Keinem der Komornicka-Forscherinnen und -Forscher bleibt das Dilemma erspart, ob
man den unbeugsamen 29 Geschlechtsflüchtling grammatisch als Frau oder als Mann
bezeichnen sollte. Da die Sprache keine dritte, alternative Möglichkeit bietet, erscheint
es mir aus pragmatischen Gründen sinnvoll, kontextabhängig entweder die eine oder
die andere grammatische Form zu benutzen, ohne damit ontologische Aussagen über
die geschlechtliche Identität treffen und die Autorin bzw. den Autor damit wieder
28
Damit meine ich u.a. die von Elaine Showalter (1977) initiierte Konzipierung des weiblichen
Schreibens als ‚zweistimmigen Diskurs’, die Sandra Gilbert und Susan Gubar (1979) für ihre
Untersuchung der englischen Frauenromane des 19. Jhs. („The Madwoman in the Attic“) fruchtbar
gemacht haben. Die zentrale These ihres Buches lautet, dass die Texte von Schriftstellerinnen des 19. Jhs.
einen Palimpsest-Charakter haben: „Unter einer Oberfläche der Bestätigung konventioneller literarischer
Themen und Formen enthalten sie einen Subtext, der die männlichen Bilder in verschlüsselte Zeichen
weiblicher Erfahrung umdeutet.“ (Lindhoff 1995, 43.) Zur Zweistimmigkeit weiblicher Diskurse vgl.
auch Brinker-Gabler 1988, Weigel 1983, Lindhoff 1995, 49.
29
Eine Formulierung der Schwester Aniela. (Komornicka, A. 1964, 341)
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‚vergewaltigen’ zu wollen. 30 Ich nehme an, dass es auch in einer wissenschaftlichen
Arbeit erlaubt ist, in der Auseinandersetzung mit Leiden und Leidenschaft – bei allen
Bemühungen um die im Fachdiskurs angestrebte Rationalität und Intersubjektivität –
ein gewisses Maß an persönlicher Betroffenheit bewusst zum Ausdruck zu bringen.
30 Auf diese Gefahr weist Ritz (2001, 135) in seiner Untersuchung zum Verhältnis von Autorschaft und
Geschlecht bei Komornicka hin.
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1. Die Biographie – eine Rekonstruktion 1
Der Vater
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Von ihren Eltern „heiß erwartet“, „im Gebet erfleht“, und der gleichnamigen „Mutter
Gottes geopfert“ (299) kommt Maria Jakubina Komornicka am 25. Juli 1876 als
zweites Kind von Anna geb. Dunin-Wąsowicz (gest. 1924) und Augustyn Komornicki
(gest. 1895) im Gutshof ihres Vaters Grabów an der Pilica, in der Nähe von Warschau,
im russischen Teilungsgebiet, zur Welt. Sie wird in eine wohlhabende und angesehene
polnische Adelsfamilie hineingeboren. Ihr Vater soll ein „begabter, energischer,
ehrgeiziger Mensch“ mit einem „heftigen Temperament und einer despotischen und
gefühlvollen Natur“ (297) gewesen sein, größere intellektuelle Ambitionen gehegt und
von einem Jura-Studium an der Jagiellonen-Universität in Krakau geträumt haben.
Aus seinen Plänen wird jedoch nichts: Der Stiefvater 2 beauftragt ihn mit der
Verwaltung des Grabower Gutes. Nach dem Januaraufstand von 1863 ziehen Mutter
und Stiefvater nach Warschau, und Augustyn kauft ihnen den Gutshof (mit ca. 3000
ha Land) ab. Er hat den Ehrgeiz, dem Adelsnest aristokratische Züge zu verleihen und
lässt Anbauten mit mehreren Salons und Gästezimmern, einem Ballsaal und
Wintergarten entstehen. Auch die Heirat mit Anna Dunin-Wąsowicz aus Smagorzewo
scheint Augustyn, so Aniela in ihren Erinnerungen, den Zugang zum „Schlaraffenland
der Aristokratie“ zu versprechen. (298)
1
Die hier zusammengetragenen und kommentierten biographischen Informationen stammen größtenteils
aus den Erinnerungen der jüngeren Schwester (Aniela Komornicka) und des älteren Bruders (Jan
Komornicki) von Komornicka, siehe Komornicka, A. 1964 und Pigoń 1964. Die Seitenzahlangaben in
diesem Kapitel beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf diese Publikation. Die Benutzung
anderer Quellen wird entsprechend gekennzeichnet.
2
Augustyns Vater stirbt 1855. Seine Mutter Józefa Komornicka geb. Dzwonkowska heiratet Ksawery
Chlebowski.
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Die Mutter
Anna Dunin-Wąsowicz soll eine klassische Schönheit gewesen sein. Ihr aufrichtig
geliebter, erster Verlobter nimmt am Januaraufstand von 1863 teil, kommt in russische
Gefangenschaft und wird nach Sibirien verbannt. Dort heiratet er nach einiger Zeit
eine andere Frau. „Um das Schicksal des alternden Fräuleins besorgt“ (299)
verheiratet Annas Mutter ihre Tochter mit Augustyn Komornicki. Die Hochzeit findet
am 26. Juli 1867 statt. Anna Dunin-Wąsowicz ist zu diesem Zeitpunkt 23 Jahre alt.
Glaubt man Anielas Bericht, so heiratet Anna nicht aus Liebe, sondern fügt sich dem
Willen ihrer Mutter. Die Ehe ihrer Eltern beschreibt Aniela als „nicht besonders
glücklich trotz der gegenseitigen Treue bis ans Grab“. Es ist bemerkenswert, dass sie
die Treue der Eltern so stark betont. Das einzige, was der leidenschaftliche und
despotische Vater in der Ehe erreicht habe, sei die „Unterwürfigkeit seiner kalten und
skeptischen Ehefrau“. (299) Die Botschaft dieser Äußerung scheint zu lauten: Anna
Dunin-Wąsowicz hat ihren Ehemann nicht bzw. nicht leidenschaftlich geliebt.
Der Vorfahre
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Das Geschlecht der Anna Dunin-Wąsowicz soll von den dänischen Wikingern
stammen, die bereits im 14. Jh. (zu Zeiten von Bolesław Krzywousty) in polnische
Gebiete eingewandert sind. In ihren Burgen und Schlössern führten diese, wie die
Familienlegende überliefert, „ein fröhliches und leidenschaftliches Leben“. (298)
Ganz besondere Berühmtheit auch über das eigene Geschlecht hinaus erlangt der
legendäre Pfalzgraf und Woiwode des polnischen Königs Bolesław Krzywousty Piotr
Włast (eigentlich: Włostowic), dessen Namen Komornicka nach ihrer
Geschlechtsumwandlung annehmen wird. 3 Als Buße für seine schweren Sünden soll er
3
Ausführliche Informationen zur Piotr-Włast-Legende und ihrer literarischen Verarbeitung in
verschiedenen Epochen vermittelt Boniecki (1998, 53-77).
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von seinem Beichtvater den Auftrag bekommen haben, sieben Kirchen zu bauen. Er
baute siebenundsiebzig und versah sie jeweils mit seinem Wappen – dem Schwan:
Dann sagte der gottgefällige Bischof: Diesen Tempel erbautest du auf dem Fundament des
Hochmuts. Nun sei demütig, bedauere aufrichtig deine Sünden und errichte dem Herrn noch
sieben weitere Tempel – auf dem Fundament der Demut. Dann aber verließ Petrek das Glück,
Bolesław starb, und sein ältester Sohn Władysław blendete den väterlichen Woiwoden und
vertrieb ihn. Erst die jüngeren Fürsten riefen, nach siegreichem Kampf mit dem Bruder,
Władysław ins Land zurück und überschütteten mit Gnaden. Dann tat der Blinde Buße.
(Twardowska 1978) 4
Die Geschwister
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Anna und Augustyn bleiben drei Jahre lang kinderlos. Ihr ältester Sohn Jan
Komornicki kommt 1870 zur Welt. Erst sechs Jahre später, nach einer „langen Zeit
des Wartens und Bangens“, wird Maria geboren. Der an das Einzelkinddasein
gewöhnte Jan zeigt sich verärgert. In seiner kindlichen Enttäuschung über die Geburt
Marias und der weiteren Geschwister, die ihr in Zwei- bzw. Einjahresabständen
unmittelbar folgen, sieht Aniela einen der unbewussten Gründe seiner lebenslangen
Antipathie Maria gegenüber. In der Tat scheint die Beziehung zwischen den zwei
ältesten Kindern ganz besonders angespannt und intensiv, aber nicht immer vom
Antagonismus geprägt gewesen zu sein.
Insgesamt bringt Anna Dunin-Wąsowicz sieben Kinder zur Welt: Jan, auch Kryś
genannt (1870-1952), Maria (1876-1949), Elżbieta, auch Lila genannt (1877-1954),
Leon (1879-1880), Franciszek (1881-1941), Aniela, auch Ela genannt (1882-1977)
und Adam (1883-1942). 5 Leon stirbt noch im Kleinkindalter. Zu der jüngsten
4
Polnisch: „Wtedy powiedział mu świątobliwy biskup: Te świątynie wzniosłeś na fundamencie pychy. A
teraz ukorz się i żałując prawdziwie za grzech, wznieś Panu jeszcze siedem świątyń – na fundamencie
pokory. Opuściło wówczas Petrka szczęście, umarł Bolesław, a najstarszy syn jego Władysław oślepił
ojcowskiego wojewodę i wygnał. Dopiero młodsi książęta, po zwycięskiej walce z bratem, wezwali
Władysława do kraju i obsypali łaskami. Wtedy ślepiec dopełnił pokuty.“
5
Izabela Filipiak misst der Tatsache, dass Maria in den ersten Jahren ihres Lebens ihre Mutter vor allem
als Schwangere bzw. Stillende erlebt haben muss, eine besondere Bedeutung bei, vgl. Filipiak 2000.
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20
Schwester Aniela, der Autorin der Erinnerungen, hat Maria wohl das innigste
Verhältnis, das jedoch keineswegs von Spannungen frei ist.
Die Angst
Das erste und bestimmendste Gefühl aller Kinder der Komornickis soll die Angst vor
dem Vater gewesen sein. Unter der gleichen Angst leiden auch die Mutter und das
gesamte Personal: „Dieses Ringen mit der Angst seit der frühesten Kindheit, dieses
Zerreißen der behindernden Fesseln wurde zu einem ganz wesentlichen Element der
Psyche und des Schaffens Marias.“ 6 (300) Von Anfang an versucht Maria dennoch,
dem autoritären Vater die Stirn zu bieten. Der erste Zusammenstoß zwischen Vater
und Tochter findet statt, so jedenfalls Aniela, als Maria zwei Jahre alt ist. Ihr
verzweifeltes Rufen nach der Kinderfrau bringt den Vater eines Nachts zur Weißglut:
„(...) er schnappte das aufgebrachte Kind und prügelte es mächtig durch“. In dieser
Episode sieht Aniela die Ankündigung eines „langandauernden Ringens“ zwischen
„dem allmächtigen Vater und der rebellierenden Tochter“ sowie Marias „unheimlicher
Angst vor jeglicher Tyrannei“. (300) Die Vater-Tochter-Beziehung ist von Anfang an
durch erbitterte Machtkämpfe gekennzeichnet. Maria und ihr Vater sind ebenbürtige,
leidenschaftliche, ehrgeizige Persönlichkeiten, die sich aneinander sehr reiben, und
deren Beziehung zueinander in der Auseinandersetzung eine äußerst enge ist.
Die Religiosität
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Bereits in der frühen Kindheit manifestieren sich Komornickas literarisches Talent
und ihre Frömmigkeit. Jan erinnert sich, dass sie „schon mit sieben Jahren
Begeisterung für literarische Arbeit zeigte“ (351), indem sie u.a. eine Familienchronik
führte. Aniela unterstreicht Marias Drang zur Heiligkeit, der durch die ausgedehnten
6
Polnisch: „Ta walka ze strachem od najwcześniejszego dzieciństwa, to rozrywanie krępujących więzów
stało się bardzo istotnym elementem psychiki i twórczości Maryni.“
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gemeinsamen Gebete der Familie angeregt worden sei. Die elfjährige Maria liest
Heiligenbiographien und betreibt Selbstkasteiung (sie schnürt sich bis zur
Selbstverletzung ein). Dies wird zwar bald von der Mutter unterbunden, doch die tief
empfundene religiöse Sehnsucht wird Maria ihr Leben lang begleiten. 7 Zunächst
einmal wendet sie sich aber dem anderen Extrem zu – dem „fröhlichen, freien,
lustigen Leben eines erwachsenen Fräuleins im heiratsfähigen Alter“. Maria amüsiert
sich auf Bällen und familiären Zusammenkünften verschiedenster Art. Sie verliebt
sich „vorzeitig“ in „fast jeden angetroffenen erwachsenen Mann“ (301), sehnt sich
danach, ein fischbeinernes Korsett zu tragen, die Haare hochstecken zu dürfen und
auch andere Freiheiten einer Erwachsenen in Anspruch zu nehmen.
Die Stadt
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Vater Augustyn legt ganz großen Wert auf die Bildung seiner Kinder. Dies schreibt
Aniela seiner Enttäuschung über den vorzeitigen Abbruch seiner eigenen Bildung zu.
Der älteste Sohn Jan, dem Aniela keine Begabung, jedoch ein gutes Gedächtnis
bescheinigt, besucht ein Warschauer Gymnasium. Die anderen Kinder werden von
Gouvernanten und von der Mutter mit großer Sorgfalt in Grabów unterrichtet und
sprechen bald fließend Französisch. Im Jahre 1889 zieht die Mutter mit ihren sechs
Kindern zu Bildungszwecken nach Warschau. Augustyn Komornicki bleibt auf dem
Landgut zurück. In Warschau bezieht die Familie eine Sechs-Zimmer-Wohnung in der
Marszałkowskastraße. Maria bekommt eine etwas abgetrennte, ruhige Ecke für sich.
Hier „(…) kämpft die dreizehn- bis sechzehnjährige Schriftstellerin mit der Inspiration
und sucht verzweifelt nach einem Ausdruck für die sie verzehrenden Gedanken und
7
Der Bruder Jan Komornicki stellt die frühe Religiosität Komornickas in einem negativen Licht dar: „Od
dzieciństwa Maria podlegała różnym maniom: nadzwyczajnej pobożności – bigoterii (...)“. Pigoń 1964,
351-2.
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22
Gefühle.“ (304) 8 Aus der Sicht Anielas wird die Intensität der literarischen Produktion
durch die Einnahme von „Drogen“, d.h. von großen Mengen von starkem Tee und
Kaffee künstlich verstärkt. Insgesamt spricht sie von der „Phase eines freieren
Kontaktes mit der Welt, des Erwachens von Talent und des sich verstärkenden
Kampfes zwischen der rebellierenden, ungezügelten Tochter und dem liebenden, aber
unnachgiebigen Vater, der diesen stürmischen Bach in die Schranken einer
traditionellen Dressur zu weisen versuchte.“ 9 (304) Der Konflikt zwischen der
pubertierenden Maria und ihrem Vater spitzt sich zu. Allerdings ist der Vater relativ
weit weg: Warschau ist ca. 70 km von Grabów entfernt, und man braucht einen
ganzen Tag, um diese Entfernung mit der Kutsche zurückzulegen. Diese günstigen
Bedingungen verstärken Marias Befreiungsdrang. Etwas bitter nennt Aniela zwei
weitere Faktoren, die der älteren Schwester den Weg der Emanzipation erleichtern:
Erstens erliegt die Mutter „dem Zauber der aufblühenden, herausragenden
Persönlichkeit der Tochter“. (304) Zweitens sind auch die Schwestern von der
„verrückten“ Maria fasziniert. Immer massiver verstößt die älteste Tochter gegen die
väterlichen Vorschriften. Dazu gehört das Verbot, bestimmte, u.a. sozialistisches
Gedankengut verbreitende Bücher zu lesen. Als sich Maria erdreistet, von einem der
Privatlehrer heimlich „Lalka“ (Die Puppe) von Prus auszuleihen, bricht ein
„schrecklicher Skandal“ in der Familie aus. Die Kontrolle über die Unbotmäßige wird
verschärft.
Das Tagebuch
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Eines Tages fällt Marias Tagebuch dem Vater in die Hände und sorgt für dramatische
Auseinandersetzungen. Wie sich Aniela erinnert, wird der Vater in diesem Tagebuch
8
Polnisch: „W tym (…) narożniku trzynasto-szesnastoletnia pisarka szamotała się z natchnieniem,
szukając rozpaczliwie wyrazu dla trawiących ją myśli i uczuć.“
9
Polnisch: „Był to okres swobodniejszego stykania się z szerszym światem, czas budzenia się talentu i
wzmagania się walki między zbuntowaną, nieokiełznaną córką a kochającym lecz bezwzględnym ojcem,
który chciał ten wzburzony potok ująć obmurowaniem tradycyjnej tresury.“
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als ein Tyrann, die Mutter als eine weiche, leicht zu beeinflussende Person geschildert.
Den Geschwistern widmet Maria, wie Aniela nicht ohne einen vorwurfsvollen
Unterton vermerkt, gar keine Aufmerksamkeit: „Die Geschwister zählten überhaupt
nicht, denn sie verblieben anscheinend in der Sphäre von Gefühlen und Gedanken, die
allzu fern von ihren Höhenflügen waren.“ 10 (306) Der Bereich des Privatlebens der
jungen Maria ist jedenfalls vor den Eingriffen des Vaters nicht geschützt – ihre
Grenzen können jederzeit gewaltsam überschritten werden.
Der Literaturunterricht
Die Bildung der drei Töchter in Warschau erfolgt zu Hause. Sie werden von
hervorragenden Lehrern ausgebildet. In der Literatur unterrichtet sie zunächst ihre
Lehrerin Kamocka, doch Maria merkt bald, wie ihr Bruder bissig formuliert, „dass die
Vorlesungen Frau Kamockas ihren Ansprüchen nicht genügen“. (351) Daraufhin
beschließt der vom Talent der ältesten Tochter zutiefst überzeugte Vater, an ihrer
Bildung nicht zu sparen. Aus der Sicht Jans macht er „vielleicht einen zu großen
Sprung“ und stellt den Universitätsprofessor und angesehenen Literaturhistoriker Piotr
Chmielowski privat ein, der Maria zwei Jahre lang in Literatur unterrichtet. Allerdings
soll sich die Schülerin über die „furchtbare Langeweile“ dieses exklusiven Unterrichts
beklagt haben.
Das Debüt
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Den ersehnten Eintritt in die verbotene, vom elterlichen Gesichtspunkt aus gefährliche
Welt der Literaten ermöglicht Komornicka der Kontakt mit ihrem Cousin Bolesław
Lutomski, einem Literaten und Publizisten. Er gehört zu den beliebtesten Gästen der
Warschauer Wohnung der Komornickis und verzaubert die Frauen der Familie mit
10
Polnisch: „Rodzeństwo nie wchodziło w ogóle w rachubę, gdyż jakoby pozostawało w strefie uczuć i
myśli zbyt dalekich od jej wyżyn.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
seinem Charme und seiner Melancholie im Stil des fin de siècle. Maria verliebt sich in
ihn: Dies wird zum Auslöser eines stürmischen Schaffensausbruchs. Komornicka
schreibt ihre ersten Erzählungen. Zwei von ihnen, „Z życia nędzarza“ (Aus dem
Leben eines Bettlers) und „Staszka“, werden bereits 1892 (Maria ist sechzehn Jahre
alt!) dank der Bemühungen Lutomskis in der „Gazeta Warszawska“ publiziert und
erscheinen zwei Jahre später im Band „Szkice“ (Skizzen). Maria gilt als Wunderkind.
In ihren Erzählungen sieht Aniela eine Manifestation verzweifelter seelischer Kämpfe,
die sie zur damaligen Zeit durchmachte. 11 Der älteste Bruder bewertet den Eingang
Komornickas in das literarische Leben sehr negativ (vgl. Kapitel 2).
Zufällig erfährt der Vater vom literarischen Debüt Marias, und zwar aus einer äußerst
positiven Kurzrezension in der von ihm abonnierten Zeitschrift „Tygodnik
Ilustrowany“. Daraufhin stimmt er der Veröffentlichung des Erzählbandes „Szkice“
(1894) zu und unterstützt das Projekt finanziell. Den väterlichen Stolz auf die
talentierte Tochter unterstreichen in ihren Erinnerungen, nicht ohne eine Spur von
Neid, sowohl Aniela als auch Jan.
Die ‚Hurenuntersuchung’
In die Phase der jugendlichen Rebellion, der ersten Liebe und des literarischen Debüts
fällt noch ein anderes, folgenträchtiges Ereignis, von dem Aniela allerdings nur knapp
und kommentarlos berichtet. Eines Nachts läuft Maria, in das Tuch eines
Dienstmädchens eingehüllt, mit Selbstmordabsichten aus dem Haus. Sie hat vor, sich
in der Weichsel zu ertränken. Unterwegs wird sie von der Polizei aufgehalten und zur
Dienststelle gebracht. Dort muss sich die Siebzehnjährige einer ärztlichen
Untersuchung (der so genannten ‚Hurenuntersuchung’) unterziehen. Sie kehrt erst am
nächsten Tag unter polizeilicher Bewachung nach Hause zurück. Die erschütterte
11
Zehn Jahre später habe Maria aus einer zeitlichen Distanz heraus noch einmal in „Biesy“ diesen
inneren Kämpfen der Jugendzeit Ausdruck verliehen Die Art dieser Kämpfe präzisiert Aniela allerdings
nicht.
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Familie verheimlicht den Zwischenfall vor dem abwesenden Vater. Die Gedanken an
den Selbstmord „verschwinden irgendwie“. (306) Was Aniela offenbar nicht
wahrhaben will: Es scheint sich hier um eine der traumatischen Schlüsselerfahrungen
im Leben Komornickas zu handeln, die sie später in ihre poetische Prosa „Intermezzo“
chiffriert einarbeitet. Möglicherweise wird Maria auf der Polizeistation für eine
Prostituierte gehalten und entsprechend behandelt. Es liegt die Vermutung nahe, dass
es zumindest zu Beschimpfungen als ‚Hure’, vielleicht sogar zum sexuellen
Missbrauch kommt. Dafür würde sowohl die damals übliche Praxis solcher
Untersuchungen 12 als auch die spätere seelische Entwicklung Komornickas sprechen.
Die Freunde
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Die erste Buchpublikation (1894) ermöglicht Maria, Bekanntschaften mit angesehenen
politisch aktiven, links orientierten Autoren und Wissenschaftlern zu schließen, so
z.B. mit Wacław Nałkowski 13 und seiner Familie, mit Cezary Jellenta, Stanisław
Pieńkowski, Edward Abramowski. Bald jedoch lösen die Eltern die Warschauer
Wohnung auf: Angesichts der wachsenden revolutionären Stimmung bangt Augustyn
Komornicki um die Sicherheit seiner Familie. Auch seine finanzielle Lage und seine
fortschreitende Herzkrankheit spielen bei dieser Entscheidung eine Rolle. Zwei Söhne
sollen sich dennoch in Warschau weiterbilden und werden in einer Pension
untergebracht. Dem Erstgeborenen Jan wird die Verwaltung des Gutes Grabowa Wola
anvertraut. Ehefrau und Töchter will der Vater jedoch unbedingt nach Grabów
zurückholen. (Eine Gouvernante aus Großbritannien kommt angereist, um die jungen
Damen in Englisch zu unterrichten.) Dieser Verfügung des Vaters will sich Maria
absolut nicht beugen. Augustyn Komornicki kann es sich jedoch nicht vorstellen,
seine Tochter ohne mütterliche Obhut in Warschau im zweifelhaften Milieu ihrer
12
Vgl. Duby/Perrot 1997.
13
Vater der als Schriftstellerin berühmt gewordenen Zofia Nałkowska.
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neuen Freunde leben zu lassen. Er stellt sie vor eine Alternative: Entweder Grabów
oder Universitätsstudium in Cambridge. Das Landleben reizt Maria wenig. Von den
‚kleinkarierten’ Menschen aus der Verwandtschaft und dem Bekanntenkreis ihrer
Eltern distanziert sie sich inzwischen mit dem Gefühl intellektueller Überlegenheit:
Ihre große Verachtung für diese Welt der „Pygmäen“ verheimlichte Marynia (...) nicht und
bedachte sie mit verschiedenen eindeutigen Epitheta – die Bezeichnung „Vieh“ war am
häufigsten. Sie mied Gespräche und nahm nicht an Tanzabenden teil. Nur manchmal, hingerissen
vom Elan des gut aussehenden, aber wenig intelligenten Cousins Paweł Boski, der sich
vermutlich des Kontrastes wegen um ihre Gunst bemühte, erlag sie dem Reiz des Freiers und gab
sich für einen Augenblick dem Vergnügen hin. (308) 14
Die Universität
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Nur äußerst unwillig entscheidet sich Komornicka für Cambridge – es ist die Wahl des
kleineren Übels. Im September 1884 reist die Achtzehnjährige in Begleitung der
Mutter und der Schwestern über Berlin, Paris und London dorthin. Unterwegs
demonstriert sie ihren Protest, indem sie tagelang im Hotel bleibt und sich nicht dazu
bewegen lässt, die Hauptstädte Europas zu besichtigen. Kaum in Cambridge allein
gelassen, trennt sie sich von ihrer Begleiterin Miss Gladson, deren „protestantische
Scheinheiligkeit“ sie nicht ertragen kann. (309) Bald findet sie eine neue Unterkunft in
einer liberaleren Familie deutscher Abstammung. 15 Sie besucht Kurse, die auf ein
14
Polnisch: „Marynia (...) nie ukrywała swej wysokiej pogardy dla tego świata ‚pigmejów’, darzyła go
różnymi jednoznacznymi epitetami, a określenie ‚bydło’ powracało najczęściej. Stroniła od rozmów i
nie brała udziału w tańcach. Tylko czasami porwana żywiołowym rozmachen przystojnego, lecz mało
inteligentnego kuzyna Pawła Boskiego, który chyba tytułem kontrastu ubiegał się o jej względy,
chwilowo ulegała wirowi zabawy i urokowi ‚konkurenta’.“
Zu drei jungen Frauen entwickelt Maria jedoch ein sehr herzliches Verhältnis. Es sind Kazia
Bogdanowicz, Zofia Villaume-Zahrtowa und Maria Pieńkowska. Charakteristisch für diese
Freundschaften sei die eindeutige Dominanz der herrischen Maria gewesen. Sie hätte ihre Freundinnen,
„sensible, aber schwache weibliche Individuen“, „ihren Phantasien unterworfen“ (308), und diese hätten
ihrem Zauber nicht widerstehen können. Zu diesen Individuen zählt Aniela auch ihre Mutter, sich selbst
und die Schwester Lila. Dabei soll Maria mitunter ihre „unbewussten, magnetischen Kräfte“ eingesetzt
haben, indem sie z.B. Zofia Villaume unwillkürlich hypnotisierte.
15
Der Hausherr bezeichnet sie scherzhaft-kritisch als ‚Nichtsnutzka’.
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Universitätsstudium vorbereiten, 16 und schreibt eine Reportage, die sie 1886 unter
dem ironischen Titel „Raj młodzieży“ (Das Paradies der Jugend) in „Przegląd
Pedagogiczny“ veröffentlicht. Nach einem halben Jahr ist Komornicka jedoch wieder
in Warschau. Als Gründe für ihre voreilige Rückkehr nennt Aniela ihre „Abneigung
gegen systematische Arbeit und streng geregelten Tagesablauf“ sowie die „sittliche
und geistige Fremdheit“ der Umgebung. (309) Marias Reportage kann entnommen
werden, dass es auch die Sehnsucht nach dem Warschauer Freundeskreis und die
Empörung über die diskriminierende Behandlung der studierenden Frauen in
Cambridge sind, die ihre Rückkehr beschleunigen. In erster Linie ist es jedoch, wie
noch zu zeigen sein wird, ihr Trotz.
Der Tod des Vaters
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Mit erzwungener Erlaubnis des Vaters kehrt Maria Ende Februar 1895 nach Warschau
zurück. Die Umstände ihrer Rückkehr beschreibt Aniela als ziemlich dramatisch, vor
allem aus der Sicht des Vaters. Sie kommt etwas früher als vereinbart, hält es aber
geheim. Während der Vater in einem Warschauer Hotel verzweifelt einer Nachricht
von ihr harrt, quartiert sie sich heimlich im Hause Nałkowski ein. Dies kostet
Augustyn Komornicki, so das Urteil der Familie, beinahe sein Leben. „Die Tage des
Vaters“ sind, wie Aniela bitter kommentiert, „ohnehin schon gezählt“. (309) Nach der
Rückkehr Marias bleibt er nur noch drei Monate am Leben. In dieser Zeit kommt die
älteste Tochter noch einmal nach Grabów und unterhält sich das letzte Mal mit ihm.
Im Rückblick hat Aniela den Eindruck, als ob beide „zu einer tieferen Verständigung“
gefunden hätten: „Sie machten damals lange Spaziergänge zu zweit, die eine
friedlichere Stimmung zu Folge hatten.“ 17 (309) Der Vater stirbt plötzlich am
16
Die Recherchen Izabela Filipiaks (2001) ergeben, dass Komornicka über die Vorbereitungskurse nicht
hinausgekommen ist, d.h. nie, wie vielfach behauptet, wirklich Cambridge-Studentin war.
17
Polnisch: „Odbywali wówczas we dwoje długie spacery, po których zapanowała pogodniejsza
atmosfera.“
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05.05.1895 an einem Herzinfarkt. Mit seinem Tod und dem mächtigen Einfluss seiner
Persönlichkeit wird sich Komornicka ein Leben lang auseinandersetzen.
Die ‚Philister’
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Der Tod von Augustyn Komornicki erschüttert die Familie, bringt aber gleichzeitig
auch das Gefühl der Befreiung mit sich. Nichts mehr steht Marias Aufenthalt in
Warschau, „im Kreise der ihr am nächsten stehenden Menschen“ (310), wie Aniela
vorwurfsvoll formuliert, im Wege. Hin und wieder besucht sie Grabów und nimmt
manchmal ihre neuen Bekannten aus dem sozialistisch geprägten Kreis um Nałkowski
und Jellenta mit, die aus der Sicht ihrer Familie überhaupt nicht zum Adelssitz passen.
Es kommt zu einem schleichenden Prozess der Entfremdung zwischen den
Familienangehörigen. „Kritiksucht“ und „Egoismus“ (310) sprengen sukzessiv die
Familienbande. Einen großen Teil der Verantwortung dafür schreibt Aniela Maria zu,
die ihre äußerst negative Haltung der Familie gegenüber offen demonstriert haben soll.
Für Maria beginnt die Zeit eines intensiven künstlerischen und gesellschaftlichen
Engagements gegen die verhasste Welt der ‚Philister’, zu der sie konsequenterweise
auch ihre Familie gezählt haben muss. Gemeinsam mit Nałkowski und Jellenta
verfasst sie eines der schärfsten antibürgerlichen Manifeste des Jungen Polen – den
kämpferischen, publizistisch-literarischen, 1895 veröffentlichten Band „Forpoczty“
(Die Vorposten). Mit Cezary Jellenta unternimmt die Neunzehnjährige eine
mehrwöchige Reise nach Berlin und in die Sächsische Schweiz, über die Aniela nichts
Näheres berichtet. 18
18 Kralkowska-Gątkowska (2003) schließt eine Liaison zwischen Komornicka und Jellenta nicht aus.
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Der Ehemann
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
In den nächsten Jahren heiraten zwei der Geschwister Komornickas. 19 Maria lebt jetzt
wieder mit ihrer Mutter und Schwester Aniela in einer geräumigen Warschauer
Wohnung, Złotastraße 23, zusammen. In dieser Zeit wächst, so Aniela, ihre
Abneigung gegen den Adel und ihre Verachtung der Geschwister und der
angeheirateten Familienangehörigen. Viel Zeit verbringt sie in literarischen Salons,
wo sie im Herbst 1897 ihren zukünftigen Mann, den zehn Jahre älteren Dichter,
Fabelautor und Satiriker Jan Lemański (1866-1933) kennen lernt. Nach der Ansicht
des Lemański-Biographen Jan Lorentowicz (1957) macht Maria dem Dichter als erste
eine Liebeserklärung. Lemański soll sie, so Aniela, mit „der Kraft seiner Liebe“, „dem
Terror der Eifersucht“ und mit romantischen Liebesbeweisen erobert haben:
Nach dem Verlassen unserer Wohnung am späten Abend verbrachte er wiederholt den Rest der
Nacht vor der Tür und horchte, ob sie nicht hustet. Manchmal erklomm er den Balkon (erstes
Stockwerk), um nochmals einen Blick in den Salon zu werfen, wo er vor wenigen Augenblicken
mit ihr zusammen war. Eines sonnigen Morgens kam er mit einem Armvoll Blumen, bestach das
Dienstmädchen, trat durch die Küchentür und schmückte mit ihnen die Veranda vor ihrem
Fenster. Jeder Mann, sogar unser Bruder, weckte in ihm die Eifersucht. Einmal (...), als er
Marynia bei einer Unterhaltung mit Abramowski am Tisch im Restaurant sah, begann er zwei
Messer zu wetzen. Mit einem finsteren Blick flüsterte er: „Schon ist es um das Kehlchen
geschehen.“ (312) 20
Aniela porträtiert Lemański als einen in der Gesellschaft eher düster schweigenden
Menschen, der aber hin und wieder mit treffenden, stichelnden Bemerkungen
verblüffte. Gerne soll er sich mit Anna Komornicka über den „gemeinsamen
Liebling“, Maria, unterhalten haben (Anielas Geschwisterneid!). In dieser Zeit hat
19
1896 findet die Hochzeit des ältesten Bruders Jan mit Wanda Trembicka, und 1897 die Hochzeit der
Schwester Elżbieta mit Ignacy Mrozowski statt.
20
Polnisch: „Po wyjściu późnym wieczorem z naszego mieszkania niejednokrotnie przesiedział resztę
nocy pod drzwiami, nasłuchując, czy nie kaszle; czasami wspinał się na balkon (pierwsze piętro), aby raz
jeszcze spojrzeć na salon, gdzie przed chwilą z nią przebywał. W jakiś słoneczny ranek przyszedł z
naręczami kwiatów i przekupiwszy służącą wszedł drzwiami kuchennymi i umaił ganek od podwórza, na
który wychodziło jej okno. Zazdrość wzbudzał w nim każdy mężczyzna, nawet brat. Kiedyś (...) widząc
ją rozmawiającą z Abramowskim przy stole w restauracji, zaczął ostrzyć o siebie dwa noże, a patrząc
złowrogo szeptał cicho: ‚po gardziołku’.“
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29

30
Maria die führende Position in der Familie inne, sie ist „die Sonne, nach der sich alle
Familienangehörigen wie die Sonnenblumen wenden“. (312)
Die Hochzeit
Am 23.06.1898 lässt sich das Paar in Warschau trauen. Zur Feier in einem der
Warschauer Restaurants werden hauptsächlich die Literaten-Freunde eingeladen –
zwei von ihnen als Trauzeugen. Von den Familienangehörigen sind lediglich Marias
Mutter und die Schwester Aniela sowie der Bruder des Bräutigams Wincenty
Lemański zugegen. Entsprechend unkonventionell leben die frisch Vermählten dann
zusammen. „Von dem normalen Eheleben eines turtelnden Paares in einem
gemütlichen Nest konnte keine Rede sein“, kommentiert Aniela. 21 (313) Als studierter
Jurist hatte Lemański vor der Hochzeit eine Bürostelle bei der Bahn inne. Doch ein
‚spießbürgerliches’ Beamtenleben kommt für das Künstlerpaar auf Dauer nicht in
Frage, und so reicht er bald die Kündigung ein. Komornickas Bruder Jan macht
ausschließlich Maria dafür verantwortlich: „(...) als Bedingung der Heirat verlangt
Maria von Lemański, dass er seine Stellung aufgibt, da es sich nicht gehöre, dass ein
Literat nebenbei arbeitet und verdient.“ 22 (352) Das Ehepaar lebt in Grabów und in
Warschau, im Appartement des Bruders von Lemański. Schon damals schickt Maria
ihren Mann zeitweise nach Grabów, um in Warschau unbeschwert ihre Freiheit zu
genießen.
Der Skandal
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Drei Monate nach der Hochzeit, Ende August 1898, unternimmt das Paar eine längere
Reise. Ihre ersten Stationen sind beliebte Orte der künstlerischen Bohème – Krakau
21
Polnisch: „Nie było mowy o normalnym życiu gruchającej pary w zacisznym gniazdku.“
22
Polnisch: „(...) jako warunek ślubu stawia Maria Lemańskiemu, aby opuścił posadę, gdyż nie godzi się,
aby literat ubocznie pracował i zarabiał.“
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und Zakopane. 23 Hier kommt es zum ersten legendären gesellschaftlichen Skandal um
Komornicka. Bei seinen Ausflügen in die Umgebung wird das Paar von Marias
charmantem Cousin Julek Oszacki begleitet. Nach einem der gemeinsamen
Restaurantbesuche verdächtigt der krankhaft eifersüchtige Lemański die beiden eines
Flirts. Plötzlich richtet er seine Pistole auf Maria und anschließend auf ihren Cousin,
der diese mit dem eigenen Leib zu schützen versucht. Beide werden verletzt, Maria
mit zwei Schüssen an den Armen. 24 Wie Aniela besonders bissig pointiert, legt sich
Lemański die entladene Pistole zum Schluss selbst an die Stirn. Eine der Kugeln trägt
Maria, nach Auskunft Lorentowiczs (1957), später als Anhänger an ihrer Armbanduhr.
Den spektakulären Zwischenfall soll sie ihrem Ehemann nicht übel genommen haben
– ganz im Gegenteil, ihre Liebe bekommt sogar neuen Auftrieb, so meint jedenfalls
Aniela. Als die Polizei eintrifft, sind alle drei Beteiligten wieder versöhnt. Dennoch
muss Lemański einige Wochen im Gefängnis verbringen. Maria geht jeden Abend an
seinem Fenster spazieren und wirft, wie die Legende besagt, Kastanien in seine Zelle.
Nicht zuletzt dank der „feurigen Aussagen“ 25 und des engagierten Einsatzes seiner
„liebenden Ehefrau“ (315) wird Lemański, wie Aniela ironisch formuliert, bald
entlassen.
Das Eheleben
Das junge Paar zieht in die Warschauer Drei-Zimmer-Wohnung der Mutter,
Wspólnastr. 60, und verbringt dort den Winter. Die Atmosphäre in der überfüllten
Wohnung (auch Aniela wohnt dort) ist nicht besonders gut. Auch die Gefühle Marias
ihrem Mann gegenüber haben sich abgekühlt: „Die beengten Wohnverhältnisse, die
Langeweile eines untätigen Vegetierens, familiäre Streitigkeiten, die aus der
23
Maria besucht u.a. die Redaktion der führenden literarischen Zeitschrift „Życie“ und reicht dort ihre
Texte ein.
24
Twardowska 1978, 1.
25 Ebd.
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Arbeitslosigkeit des Schwiegersohnes und seiner düsteren Eifersucht resultierten – all
dies ließ die Gefühle meiner Schwester schnell wieder erkalten.“ 26 (315) Um die
Spannung etwas zu entschärfen und Maria der ermüdenden Kontrolle des Ehemanns
zu entziehen, wird Lemański räumlich auf Abstand gehalten. Jan kommentiert:
„Bereits ein paar Wochen nach der Hochzeit mied Maria ihren Mann, schickte ihn
nach Grabów und blieb selbst in Warschau oder umgekehrt (…).“ 27 Maria und ihre
Schwestern besuchen indessen Ausstellungen, Parties, Konzerte. In dieser Zeit
schreibt Komornicka an ihrem Prosa- und Lyrikband „Baśnie i psalmodie“ (Märchen
und Gesänge), dem Aniela autobiographischen Charakter bescheinigt (1900). Die neu
geschriebenen Texte, von „Angst, Pein, Lust und Sehnsucht“ durchdrungen, lässt
Maria von der Mutter, zu der sie ein äußerst inniges Verhältnis entwickelt,
begutachten: „Die mütterliche Freude und Enthusiasmus verlängerten die
schriftstellerische Euphorie, und die Kritik allzu drastischer Passagen wurde
manchmal berücksichtigt.“ 28 (315)
Die Reisen
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Anfang August 1899 tritt das Paar eine längere Auslandsreise an. Nach einem kurzen
Aufenthalt in Wien verbringt es vier Monate in Salzburg. Hier erkrankt Lemański
schwer und muss operiert werden. Maria mobilisiert alle Kräfte, um ihm beizustehen.
Sie setzt es u.a. durch, mit ihm im Krankenhaus zu wohnen. Marias Liebe scheint
wieder aufzulodern. Ihre Briefe an die Mutter sind voller verzweifelter Sorge um die
Gesundheit des Ehemanns. Die Operation verläuft gut, nach einer längeren
Rekonvaleszenz des Kranken verlässt das Paar Ende 1899 Salzburg und setzt die
26
Polnisch: „Zagęszczenie mieszkaniowe i nuda bezczynnej wegetacji, niesnaski rodzinne wynikające z
bezrobocia zięcia i z jego ponurej zazdrości – wszystko to znów szybko ochładzało uczucia mojej
siostry.“
27
Polnisch: „W kilka tygodni po ślubie Maria unikała męża, wysyłała go do Grabowa, a sama zostawała
w Warszawie lub odwrotnie (...).“
28
Polnisch: „Matczyna radość i entuzjazm przedłużały autorską euforię, a krytyka zbyt drastycznych
wypowiedzi bywała czasami uwzględniana.“
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kostspielige Reise gegen den Willen der Familie fort. Als Begründung der
Notwendigkeit weiteren Reisens fungiert die Sorge um die Gesundheit Lemańskis.
Die Familie schenkt jedoch dieser Argumentation keinen Glauben. Das Misstrauen der
Familienangehörigen dieser ‚Reiselust’ gegenüber manifestiert sich deutlich in den
Erinnerungen Anielas und ist auch aus den Briefen Marias an die Mutter
rekonstruierbar. Maria und Lemański begeben sich nach Italien und sehen sich
gezwungen, die Familie immer wieder um Geldsendungen zu bitten: Dies ist der
Anfang eines erbitterten Machtkampfes zwischen Maria, ihrer Mutter und ihren
Geschwistern, vor allem dem ältesten Bruder Jan. Die zum Teil sehr aggressive
Korrespondenz zwischen Mutter und Tochter aus dieser Zeit besteht einerseits aus
Vorwürfen und Schuldzuweisungen, andererseits aus überschwänglichen, übertrieben
wirkenden Liebesbeteuerungen. Es wird immer deutlicher, dass Maria eine exklusive
Position im Leben der Mutter beansprucht und um die Vormachtstellung in ihrem
Herzen ringt.
Die Trennung
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Auf die Beziehung zwischen Maria und Lemański hat sich die Auslandsreise negativ
ausgewirkt:
(...) die Flut von Eindrücken, die Glücksspiele, das gesellschaftliche Leben und die
wiederkehrende Welle von Eifersuchtskonflikten strapazierten erneut das Zusammenleben des
Paares und senkten dessen Qualität. Die unausweichliche Übersättigung, die Sehnsucht nach der
Heimat und der schöpferischen Arbeit, aber auch der Geldmangel – all das beschleunigte die
Rückkehr Marynias nach Polen. (...) Dennoch deutete keine Veränderung auf den unbeirrbaren
Entschluss Marynias hin, sich von ihrem Mann zu trennen. (321) 29
Anfang April 1900 kehrt das Paar nach Grabów zurück. Die ganze Familie ist
verblüfft, als sich Lemański nach dem Osterfrühstück verabschiedet, und Maria das
29
Polnisch: „(...) wir wrażeń, hazard, życie towarzyskie z powrotną falą konfliktów zazdrości znów
nadwerężyły współżycie, obniżając jego poziom. Nieunikniony przesyt, tęsknota za krajem i za pracą
twórczą, a również i brak pieniędzy, wszystko to przyspieszyło powrót do Polski. (...) Żadna jednak
zmiana nie zapowiadała niezłomnego postanowienia Maryni rozejścia się z mężem.“
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Ende der Beziehung verkündet. Kurz darauf wird die Trennung mit beiderseitigem
Einverständnis notariell vollzogen. Den Zusammenbruch der Künstlerehe
kommentiert der Bruder Jan Komornicki ganz knapp: „Das Zusammenleben der
Lemańskis dauerte nicht lange, denn Maria war der Meinung, dass die Ehe nichts für
sie sei.“ 30 (352) Zu einem radikalen Abbruch der Kontakte zwischen Maria und ihrem
Mann kommt es nicht. Von seiner nächsten Reise nach Nizza schickt er ihr noch einen
Korb voller Mimosen. Viel schwerwiegender jedoch ist, dass er versucht, weiterhin
Kontrolle über Komornicka auszuüben, und ihr damit Angst macht:
Über ihr Leben breitete sich allerdings der Schatten des eifersüchtigen und gefährlichen
Ehemannes aus. Der Terror und die Möglichkeit irgendwelcher rachsüchtiger Exzesse seitens
Lemańskis strapazierten derart Marynias Nerven, dass sie es mied, während der Sommerferien
auf dem Lande allein auf die Strasse oder sogar in den Grabower Garten zu gehen. Folglich (...)
leistete ich meiner Schwester in dieser Phase bei all ihren Unternehmungen nahezu ständig
Gesellschaft (...). (324) 31
Noch nach der Trennung soll Lemański wiederholt vermeintliche Rivalen mit einer
Pistole in der Tasche durch Warschau verfolgt haben.
Die Romanze
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Die darauf folgende Phase im Leben Komornickas nennt Aniela „das Aufblühen des
Schaffens“. 1900 entstehen in Grabów „in einem Zug geschriebene“ Teile des nicht
beendeten, ebenfalls autobiographisch inspirierten Romans „Halszka“. Die
Romanfragmente werden 1901 in der Zeitung „Głos“ publiziert. 32 Zwischen 1900 und
1903 verbringt Maria die meiste Zeit in der Warschauer Wohnung mit den Schwestern
und der Mutter und knüpft viele neue Kontakte. Es entwickelt sich eine intensive,
30
Polnisch: „Pożycie Lemańskich trwało krótko, gdyż Maria uważała, że małżeństwo nie dla niej“. Das
Zusammenleben mit Maria hätte Lemański, so Jan Komornicki weiter, in seiner Fabel „Słońce i księżyc“
(Sonne und Mond) dargestellt.
31
Polnisch: „(...) wir wrażeń, hazard, życie towarzyskie z powrotną falą konfliktów zazdrości znów
nadwerężyły współżycie, obniżając jego poziom. Nieunikniony przesyt, tęsknota za krajem i za pracą
twórczą, a również i brak pieniędzy, wszystko to przyspieszyło powrót do Polski. (...) Żadna jednak
zmiana nie zapowiadała niezłomnego postanowienia Maryni rozejścia się z mężem.“
32
Nr. 1-2, 4-15.
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wenn auch, wie Aniela betont, platonische Liebesbeziehung zu Gucio Walewski,
einem Freund des jüngeren Bruders Franio. Wie lange die Beziehung dauert, ist nicht
bekannt. Aniela berichtet lediglich, dass sie bereits 1902 „mit freiwilliger Trennung
und dem etwas späteren plötzlichen Tod des jungen Mannes durch
Lungenentzündung“ endet. (322) Zwanzig Jahre später findet diese heftige, von großer
Faszination begleitete Liebe zu einem anscheinend noch unerfahrenen Jungen Eingang
in das opus magnum der ‚Verrückten’ – „Xięga poezji idyllicznej“ (in die
Verserzählung „Czartołania i Seni“). In der Erschütterung durch den Tod des geliebten
Gucio sieht Aniela einen der Gründe für die beginnende innere Vereinsamung Marias,
die von einem wachsenden Gefühl der Andersartigkeit und Überlegenheit den anderen
Frauen gegenüber begleitet gewesen sein soll. Flirts, Bälle und literarische Treffen
erscheinen Maria zunehmend leer. Auch ihre neuartige, „wundersame“ Kleidung
(324), die Aniela jedoch nicht detaillierter beschreibt, signalisiert Distanz zu den
Mitmenschen.
Der ‚Guru’
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Einen großen Schub erfährt die Schaffenskraft Komornickas durch die Aufnahme der
Zusammenarbeit mit der elitären Zeitschrift „Chimera“ und die Freundschaft mit
ihrem Chefredakteur und Herausgeber Zenon Przesmycki (Pseudonym: Miriam) 33 , der
bald zum literarischen und geistigen Mentor der jungen Dichterin aufsteigen wird:
Kein anderer erhob sich in ihrer Phantasie zu solchen Höhen des Allwissens und der Allmacht
wie Zenon Przemycki. Seine sehr seltenen Besuche wurden in geistiger Anspannung erwartet und
von einem schwer zu beschreibenden Glücksgefühl begleitet. Es ist gut möglich, dass das
weibliche Bedürfnis grenzenloser Verehrung ihren Ausdruck in diesen Höhenflügen fand. Sogar
die Nachricht von Miriams Hochzeit mit Aniela Hoehne-Wrońska, der Vorgesetzten einer
Warschauer Mädchenpension, im Sommer 1903, die nach Ansicht meiner Schwester überhaupt
33
Przesmycki hatte ein weibliches Pseudonym. Dies könnte Komornicka bei ihrem Geschlechtstransgress
mitbeeinflusst haben.
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35

36
nicht zum verehrten „Magier“ passte, konnte ihn von den Höhen ihres idealisierten Olymps nicht
herunterziehen. (326) 34
Es gibt einige Indizien dafür, dass die enorme, auch in den Briefen aus den
verschiedensten Lebensphasen vielfach dokumentierte Begeisterung Marias für ihren
geistigen Führer von sich selbst kaum eingestandener, unerwiderter Liebe begleitet
war – belegen lässt sich das jedoch nicht. Fest steht, dass die Zusammenarbeit mit
„Chimera“ gleichzeitig die Zeit der fruchtbarsten literarischen Arbeit Komornickas ist.
Sie veröffentlicht Lyrik von, gemessen an den Maßstäben der Epoche,
beeindruckender ästhetischer Qualität, anspruchsvolle literarische Übersetzungen und
scharfsinnige Rezensionen, u.a. zur Prosa von Conrad, Żeromski, Berent, Irzykowski.
Darin äußert sie lebhaftes Interesse für Strindberg, Ibsen, Nietzsche. Das Jahr der
Schließung der Zeitschrift (1907) ist gleichzeitig auch das Jahr „des Ausbruchs Marias
aus den festgelegten Formen einer normalen Existenz“ (326) – ihrer
Geschlechtsumwandlung.
Der Zusammenbruch
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
1903 macht sich Maria wiederum auf die Reise, diesmal ganz bewusst ohne männliche
Begleitung. Nach einem kurzen Aufenthalt in Berlin, Köln, Brüssel und Mariakerke
bei Oostende reist sie weiter nach Paris. „Es war die Zeit fieberhafter schöpferischer
Arbeit, der restlosen Hingabe an die Inspiration und fast absoluter Einsamkeit“ 35
(326), schreibt Aniela. Maria wohnt in einem bescheidenen Maleratelier, meidet die
34
Polnisch: „Nikt inny nie wyrósł w jej wyobraźni do tych szczytów wszechwiedzy i wszechmocy, co
Zenon Przesmycki. Jego bardzo rzadkie wizyty były wyczekiwane w duchowym naprężeniu i przeżywane
w jakimś nie dającym się opisać rozradowaniu. Być może, że kobieca potrzeba bezgranicznego
uwielbienia znalazła swój wyraz w tych duchowych wzlotach. Nawet wieść o ślubie Miriama, który się
odbył latem 1903 z przełożoną warszawskiej pensji p. Anielą Hoehne-Wrońską, tak w mniemaniu mej
siostry niedopasowaną do czczonego ‚maga’ nie zdołała go ściągnąć z wyżyn wyidealizowanego
Olimpu.“
35
Polnisch: „Był to czas gorączkowej pracy twórczej, oddania się bez reszty natchnieniu i prawie
bezwzględnej samotności (...).“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Gesellschaft, verbringt viel Zeit in Bibliotheken, lernt Władysław Mickiewicz, den
Sohn des ‚Dichter-Fürsten’ Adam Mickiewicz kennen.
In dieser Zeit nehmen ihre Briefe an die Mutter einen neuen, mystisch überhöhten Ton
an. Es wächst ihr Interesse für Spiritualität, aber auch für ihre Vorfahren, insbesondere
an Piotr Włast. Mit seinem Namen signiert Maria auf Anraten der Mutter ihre sehr
gefragten Rezensionen für „Chimera“. Maria beginnt, sich als eine ganz besondere
Erbin ihres Geschlechts zu empfinden, die mit einzigartiger Verantwortung für die
Familie betraut worden ist. Sie überhöht und idealisiert nun die früher so scharf
kritisierte Familie im Allgemeinen und die Mutter im Besonderen. Ihre biblisch
inspirierte, pathetische Sprache, die religiös motivierten, an die Mutter gerichteten
Belehrungen, die wiederholte Erwähnung von Engeln – all diese Punkte geben der
Familie immer mehr zu denken:
Die letzten Briefe, voller Trugbilder und Halluzinationen, haben uns sehr beunruhigt. Schlechte
Nachrichten ließen nicht lange auf sich warten. Durch Miriam über Marynias Schwächeanfall
benachrichtigt, begaben wir uns unverzüglich nach Paris. Bis zum Zeitpunkt unserer Anreise
kümmerten sich Wacław Berent und Dr. Władysław Kania rührend um Marynia. Sie wurde von
ihnen im Sanatorium in Arcueil, in der Nähe von Paris, untergebracht und blieb unter der Obhut
von Dr. Meunier. Dieser diagnostizierte einen vorübergehenden Zustand der Depression,
hervorgerufen durch Überarbeitung (...). 36 (329)
Marias ‚Depression’ drückt sich u. a. darin aus, dass sie, wie der Bibliothekar der
Polnischen Bibliothek in seinem Brief vom 21.11.1903 Zenon Przesmycki (Miriam)
berichtet, öffentlich betet:
Sehr geehrter Herr!
Frau Maria Komornicka, die sich seit einigen Monaten in Paris aufhält (…), befindet sich im
Augenblick in einem Zustand derart starker Gereiztheit oder auch nervlicher Erschöpfung, dass
ernsthafte Befürchtungen um ihre Gesundheit und ihren geistigen Zustand bestehen. Ich schreibe
unter dem frischen Eindruck von Frau K.-s heutigem Benehmen in der Bibliothek (unter anderem
kniete sie sich im öffentlichen Saal zweimal zum Beten nieder). Ich persönlich habe allerdings
36
Polnisch: „Ostatnie listy pełne zwidzeń i halucynacji bardzo nas zaniepokoiły. Złe wieści nie kazały na
siebie długo czekać. Zawiadomione przez Miriama o zasłabnięciu Maryni, udałyśmy się niezwłocznie do
Paryża. Do czasu naszego przyjazdu zajęli się nią bardzo serdecznie Wacław Berent i dr Władysław
Kania. Marynia została umieszczona przez nich w sanatorium Arcueil, w pobliżu Paryża, pod opieką dra
Meunier, który zaopiniował, że jest to stan przejściowy depresji psychicznej wywołany przepracowaniem
(...).“
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37

38
weder die Möglichkeit noch das Recht, mich um die Kranke zu kümmern. Ich kenne auch
niemanden in Paris, mit dem Frau K. Kontakte pflegen würde, und niemanden aus ihrer Familie.
Ich weiß nur, dass Frau K. feste Mitarbeiterin von „Chimera“ ist, und erlaube mir deshalb, mich
an Sie mit der höflichen Bitte zu wenden, interessierte Personen (soweit sie Ihnen bekannt sind)
über den Gesundheitszustand von Frau Komornicka zu informieren. (Boniecki 1998, 62) 37
Schenkt man der Legende Glauben, so beginnt Komornicka eines Tages in der
Bibliothek laut zu schreien, weil sie das Gefühl hat, vom eisigen Wasser
überschwemmt zu werden. Ein anderes Mal schüttet sie dem Bibliothekar Wasser auf
den Kopf, als dieser sich weigert, den Nachfahren des berühmten Mickiewicz als
‚Adams Sohn’ zu titulieren. In dieser Zeit soll sie sich auch bei einem Zahnarzt alle
Zähne haben ziehen lassen, um ein neues, nicht mehr weiblich aussehendes Gesicht zu
bekommen. 38
Anfang 1904 verbringt Maria einige Wochen im Sanatorium für Nervenkranke in
Arcueil, 39 um dann wieder nach Paris zurückzukehren, am kulturellen Leben der Stadt
teilzunehmen, und von hier aus eigene literarische Produktionen an Miriam zu
schicken. Zu dieser Zeit sieht sie sich selbst als ‚erkrankt’ an und äußert in den Briefen
an die Mutter den festen Willen, wieder gesund zu werden.
Der Wahnsinn
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Anfang des Sommers 1905 kehrt Maria aus dem Ausland zurück und nimmt – wie
Aniela ohne ins Detail zu gehen berichtet – „mit großem Eifer“ an der revolutionären
37
Polnisch: „Szanowny Panie! Pani Maria Komornicka, bawiąca od paru miesięcy w Paryżu (...),
znajduje się obecnie w stanie tak silnego rozdrażnienia, czy też wyczerpania nerwowego, że zachodzą
poważne obawy o jej zdrowie i stan umysłu. Piszę pod świeżym wrażeniem zachowania się pani K.
dzisiaj w Bibliotece (między innymi dwa razy klękała do odmawiania modlitw w sali publicznej),
osobiście jednak nie mam ani możności, ani żadnego tytułu do zajmowania się chorą. Nie znam również
nikogo w Paryżu z kim by p. K. była w stosunkach, jak również nikogo z jej rodziny. Wiem tylko, że p.
K. jest stałą współpracowniczką ‚Chimery’, i dlatego też pozwalam sobie zwrócić się do Szanownego
Pana z prośbą o łaskawe powiadomienie osób zainteresowanych (o ile Mu są znane) o stanie zdrowia pani
Komornickiej.“
38
Diese Informationen sind allerdings ungesichert, ihre ‚Ursprungsquelle’ ist nicht rekonstruierbar
(Legende).
39
Dort wurde sie von Bolesław Leśmian besucht, der darüber in einem Brief an Miriam berichtete. Vgl.
Boniecki 1998, 62.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Bewegung teil. (331) Zwischen 1905 und 1907 wohnt sie weiterhin mit Mutter und
Schwester in Warschau. Das Zusammenleben mit ihr fällt der Familie zunehmend
schwerer. In den Erinnerungen beklagt Aniela die Kritiksucht und das dominierende
Verhalten der älteren Schwester. Der „ehemalige Zauber verflüchtigte sich“, Maria
habe den Eindruck einer „erloschenen“ Person gemacht und sich immer mehr in die
Einsamkeit zurückgezogen. (332) Eine entscheidende Bedeutung für den Ausbruch
ihrer psychischen Krankheit schreibt ihr Bruder Jan Komornicki Marias Erschütterung
über eine sie nicht unmittelbar betreffende Katastrophe zu. Am 15.03.1907 erfährt
Maria aus der Zeitung, dass die Decke des Sitzungssaals der Duma im Petersburger
Parlamentspalast plötzlich eingestürzt sei. „Kurier Warszawski“ berichtet:
Heute um 6 Uhr morgens, im Sitzungssaal der Duma, riss plötzlich die Decke ein, worauf mit
einem fürchterlichen Krach und Getöse das Deckengewölbe einstürzte und die
Abgeordnetenplätze verschüttete. Wären in dieser Zeit Sitzungen abgehalten worden, hätte
mindestens die Hälfte der Abgeordneten in den Trümmern den Tod gefunden oder wäre verletzt
worden. Ein solcher Unfall hätte unvorhersehbare Folgen haben können. 40 (Boniecki 1998, S. 66)
Jan erinnert sich an Marias Reaktion:
Maria sagte, dass das Einstürzen der Decke im Sitzungssaal des Duma-Palastes in Petersburg den
Ausbruch ihrer Krankheit entscheidend beeinflusst habe. Als sie davon hörte, habe sie gefühlt,
dass irgendetwas in ihrem Kopf geschehen war und dass ihr Verstand nicht mehr zur Norm
zurückfinden würde. (352) 41
Auch Boniecki (1998) spricht in diesem Zusammenhang vom Wendepunkt im Leben
Komornickas. Als ein apokalyptisches Zeichen interpretiert habe der Zwischenfall in
Petersburg die Funktion des unmittelbaren Auslösers der Psychose erfüllt.
40
Polnisch: „Dziś o godzinie 6-tej rano, w sali posiedzeń Dumy państwowej, nagle zarysował się sufit, a
następnie ze straszliwym trzaskiem i hukiem zapadło się sklepienie sufitowe, zasypując gruzami miejsca
poselskie. Gdyby w tym okresie odybwało się posiedzenie, przynajmniej połowa posłów znalazłaby
śmierć lub kalectwo pod gruzami, a wypadek taki spowodować by mógł nieobliczalne skutki.“
41
Polnisch: „Maria mówiła, że ostatecznie na rozwój jej choroby wpłynął fakt zawalenia się sufitu w sali
obrad w pałacu Taurydzkim, na potrzeby Dumy w Petersburgu przeznaczonym; usłyszawszy o tym
uczuła, że jej coś się w głowie stało i że do normy jej umysł już nie wróci.“
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39

40
Der Geschlechtswechsel
Im Juli 1907 ist es dann so weit – Maria verkündet der Familie ihre Männlichkeit. Die
Geschwister äußern sich in ihren Erinnerungen äußerst knapp dazu (siehe Einleitung).
Komornickas plötzliches, kompromissloses Bekenntnis zum männlichen Geschlecht
ist auch Gegenstand einer biographischen Erzählung ihrer Großnichte Maria
Dernałowicz (1977). 42 Dieser literarischen Schilderung zufolge verbrennt die
Einunddreißigjährige, mit Mutter und Schwester zum Kurort Kołobrzeg (Kolberg) an
der Ostsee unterwegs, eines Nachts im Posener Hotel „Bazar“ ihre weibliche Kleidung
im Kamin und erklärt der Familie, sie hieße nun Piotr Włast und wünsche nicht mehr
mit ihrem alten weiblichen Namen angesprochen zu werden. 43 Der Familie ist es
spätestens zu diesem Zeitpunkt klar, dass Maria psychisch krank ist und stationär
behandelt werden muss. Aus einer großen zeitlichen Distanz ist Aniela allerdings in
der Lage, diese unwiderrufliche Entscheidung der Familie einer vorsichtigen Kritik zu
unterziehen (vgl. Kapitel 2, Zitat 8).
Die Irrenhäuser
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Trotz ihres heftigen Widerstandes verbleibt Komornicka auf ausdrückliche Anordnung
der Familie für die nächsten sieben Jahre ihres Lebens (1907-1914) in den
psychiatrischen Anstalten in Obornik (Obernigk in Schlesien), Krakau (Österreich-
Ungarn), Opawa (tschech. Opava, dtsch. Troppau, Österreich-Ungarn) und Micin (bei
Warschau, Russland). 44 Sie ist dort nicht nur verbaler, sondern auch körperlicher
Gewalt und anscheinend sogar Versuchen sexueller Belästigung ausgesetzt. 45 Der
Kontakt mit der Außenwelt sowie Zugang zu Büchern und Zeitschriften ist äußerst
42
Maria Dernałowicz ist die Enkelin von Komornickas Bruder Jan.
43
Auch in Anielas Bericht erscheint die Posener Nacht als der radikale Bruch mit dem weiblichen
Geschlecht. Dies wird von Filipiak (2000) in Frage gestellt.
44
Genaueres bei Boniecki (1998, 140 ff.).
45
Dies kann zumindest ihren Briefen entnommen werden.
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eingeschränkt und vom guten Willen der Familie abhängig. Besonders hart trifft
Komornicka die Tatsache, dass sich auch ihr literarischer Förderer und Freund Miriam
von ihr abwendet und, jedenfalls aus ihrer Sicht, sich auf die Seite ihrer Familie
schlägt. Anscheinend tut er nichts, um zu ihrer Entlassung beizutragen. Dazu schweigt
jedenfalls Aniela.
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Welche Diagnose Komornicka gestellt wurde, ist nicht bekannt. Aus heutiger
Perspektive betrachtet, entwickelt sie in der Anstalt einen Größen- und
Abstammungswahn. So sieht sie sich selbst u.a. als Königssohn. Ihre
Wahnvorstellungen, die sie mitunter öffentlich kundtut, sind, ähnlich wie ihre
vermeintliche Männlichkeit, dem erbarmungslosen Spott des Personals und der
Mitpatientinnen ausgesetzt. 46 In den regelmäßig geschriebenen Briefen an die Mutter,
die sie ganz konsequent mit ‚dein liebender Sohn Piotr’ unterschreibt, schildert Maria
dramatisch die unerträglichen Umstände, unter denen sie leben muss, und fleht die
Mutter an, sie zu befreien. Gleichzeitig verleiht sie jedoch ihren Visionen Ausdruck,
die ihre Krankheit zu bestätigen scheinen. Die Mutter bleibt hart.
Die Rückkehr nach Hause
Der Erste Weltkrieg bringt Komornicka unerwartet die ‚Freiheit’. Ende 1914 werden
die Patienten der Klinik von Micin, und somit auch Maria, nach Warschau in das
Gefängnis-Gebäude in Mokotów evakuiert. Von dort wird sie von ihrem ältesten
Bruder Jan nach Grabów geholt:
Dank dieser Tatsache erfüllte sich die so sehr ersehnte Heimkehr ins familiäre Nest, nach
Grabów. Von da an führte Marynia, in einem geräumigen Haus, das von einem wunderschönen
Garten umgeben war, ein völlig freies, aber einsames Dasein. Ihre eigenen skurrilen
46
Aniela selbst bezeichnet die ‚Erkrankung’ ihrer Schwester als „wahnsinnige Weltsicht, die zwar auf
falschen Voraussetzungen und überraschenden Assoziationen beruhte, jedoch einer gewissen Erhabenheit
und zutreffenden Überlegungen nicht entbehrte“. Maria habe „mit dem Glauben an eine falsch
verstandene innere und äußere Entwicklung gerungen, welcher sie eigenmächtig die Richtung, die
Etappen und die Zeiten der Erfüllung bestimmte, in Übereinstimmung mit ihren geheimsten Träumen von
Schönheit, Macht und Glück.“ (332)
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41

42
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Angewohnheiten isolierten sie von der Familie und von den anderen Menschen. Sie wollte weiter
hartnäckig an dem Glauben festhalten, dass sie zumindest auf dem Weg zur Männlichkeit und
Beflügelung sei und trainierte ausdauernd und systematisch ihre Gliedmaßen. Mit ihrer Kleidung
und der Art, sich zu geben, setzte sie sich verschiedenen Unannehmlichkeiten aus. (337) 47
Bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges lebt die Enterbte und Entmündigte bei der
Familie ihres Bruders. Sie bekommt ein eigenes Zimmer im oberen, leeren Stockwerk
des Hauses, wird als ‚Opa Piotr’ belächelt, hin und wieder ausgeschimpft, ansonsten
aber geduldet. Die Mahlzeiten werden ihr aufs Zimmer gebracht. 48 Nur selten sucht sie
den Kontakt mit der Familie, um den Bruder um Geld für ein Zeitschriften-
Abonnement zu bitten oder sich zu wärmen. Aniela ist der Ansicht, dass die Befreiung
aus der Irrenanstalt und das Leben im Haus der Eltern Maria gut getan und sie zu
literarischer Arbeit und meditativer Vertiefung inspiriert hätten. So entsteht in der
Zwischenkriegszeit in Grabów der 500-Seiten umfassende Lyrikband „Xięga poezji
idyllicznej“ (Buch der idyllischen Poesie), von dem bis auf den heutigen Tag nur
wenige Fragmente veröffentlicht worden sind (Komornicka 1996, 369-438.) Von
Anfang an wurde dem sorgfältig gestalteten Manuskript mit äußerster Skepsis
begegnet. Exemplarisch dafür ist die Äußerung von Jan Komornicki: „In dieser Phase
war ihr Schaffen eingeschränkt, geblieben ist ein dicker Band verschiedener Artikel
und Gedichte, die sie Miriam zu übergeben befahl, welcher jedoch urteilte, dass die
Werke nicht zum Druck geeignet waren; was mit diesem Band passiert ist, weiß ich
nicht.“ 49 (353)
47
Polnisch: „Dzięki temu faktowi ziścił się tak bardzo upragniony powrót do rodzinnego gniazda, do
Grabowa, gdzie mieszkając odtąd w obszernym domu, otoczonym pięknym ogrodem, Marynia wiodła już
zupełnie swobodny, lecz samotny żywot, odgraniczona od rodziny i ludzi własną konwencją zbyt dla
otoczenia dziwacznych obyczajów. Chciała nadal uparcie utrzymywać się w wierze, że jest bodaj na
drodze do męskości i uskrzydlenia, stosując wytrwałą i systematyczną gimnastykę kończyn. Swoim
ubiorem i sposobem bycia narażała się na różne przykrości.“
48
Twardowska 1978, S. 1 u.4.
49
Polnisch: „W tym okresie twórczość jej była ograniczona, został gruby tom rożnych artykułów i
poezyj, który poleciła oddać Miriamowi, który uznał, że utwory nie nadają się do druku; co się z owym
tomem stało – nie wiem.“ Aniela korrigiert den Bruder: Miriam habe zwar den Band gesehen, jedoch kein
Urteil darüber abgegeben. (353)
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Der ‚Opa’
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In Grabów beschäftigt sich Piotr mit Gartenarbeit, insbesondere mit Blumenzucht, und
malt, vor allem Blumen und Landschaften. Er pflegt einen sehr geregelten
Tagesablauf und praktiziert eine spezielle Gymnastik, die ihn zum Fliegen befähigen
soll.
Die Gymnastik beruhte auf dem Herumlaufen im Park, dem Dehnen der Rippen, um das Volumen
der Lunge zu vergrößern und den Sprüngen, die im Zimmer praktiziert wurden. Auf diese Weise
sollte ihr Körper Eigenschaften der Vögel, also der den Engeln am nächsten stehenden Wesen,
annehmen. (Boniecki 1998, 145) 50
1978 berichten die Nachfahren des Eigentümers eines Grabower Ladens, dass der über
50-jährige ‚pan Piotr’ dort zwei, dreimal in der Woche Tee gekauft hat:
Ich weiß nicht, ob man ihm zu Hause nicht gestattete so viel und so starken [Tee] zu trinken.
Tatsache ist, dass ihm ein 300g-Päckchen für drei Tage reichte. Es war ein guter Tee von
„Wysocki“, in Blechbüchsen. Es gehörten auch Löffelchen und Kuchengabeln dazu. Er [Pan
Piotr] brachte häufig diese Gabeln zurück, um irgendwie das nächste Päckchen bezahlen zu
können. Er hatte kein Geld. (Twardowska 1978, 4) 51
In der Grabower Pfarrei soll Piotr darum gebeten haben, seine Geburtsurkunde der
‚wahren’ Identität entsprechend zu berichtigen. Man erinnert sich auch daran, dass er
häufig in seinem Zimmer auf und ab ging, zu sich selbst sprach bzw. betete und die
Hände immer wieder zum Himmel emporstreckte. Besonders gern sei er im Grabower
Park auf dem Damm spazierengegangen:
Sie trug immer einen Männeranzug, Hemd, Krawatte und Gamaschen in verschiedenen
Schattierungen von braun. Im Sommer trug sie einen weißen Leinenanzug und auf dem Kopf eine
50
Polnisch: „Gimnastyka ta polegała na bieganiu po parku, rozciąganiu żeber dla zwiększenia pojemności
płuc i skokach uprawianych w pokoju. W ten sposób ciało jej miało nabrać cech ptaków, a więc istot
najbliższych aniołom.“
51
Polnisch: „Nie wiem, czy mu w domu nie pozwalali pić tak dużo i tak mocną? Fakt, że paczka 20 dkg
starczała na trzy dni. To była dobra herbata, Wysockiego, w blaszanych pudełkach. W środku znajdowały
się też łyżeczki i widelczyki do ciasta. On często przynosił te widelczyki z powrotem, by jakoś spłacić
następne pudełko. Nie miał pieniędzy.“
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43

44
Mütze. Rein gar nichts an ihr ähnelte einem Mann. Im Gegenteil, sie war trotz dieser Kleidung
zart und weiblich. (Ebd.) 52
Die ihn verfolgenden und verspottenden Kinder habe Piotr mit einem Stock
gescheucht. Während sie ihn als „blöder Pietrek“ beschimpften, soll er wehrlos und
wütend wiederholt haben: „Nehmt diese Schurken von mir weg.“ 53 Das Motiv der
Verspottung durch die Kinder taucht auch in der Erinnerung des Bruders auf: „Weil
sie ganz ruhig war, hatte sie völlige Freiheit, die sie jedoch nicht nutzte, weil sie von
Kindern verfolgt wurde.“ 54 (353)
Die Hoffnung
Włast liest sehr viel Lyrik, Belletristik, historische Abhandlungen, Gegenwartsliteratur
und schreibt kritische Aufzeichnungen. Doch selbst publiziert er nicht mehr und wird
in der literarischen Welt völlig vergessen. Interesse an seinem literarischen Schaffen
zeigt 1937 überraschend der Krakauer Literaturprofessor Stanisław Pigoń. Auf seine
Anfrage informiert ihn der 61-jährige Dichter ausführlich und gern über seine
neuesten Werke und ermöglicht ihm Zugang zu diesen. Auf seinen Brief bekommt er
jedoch niemals eine Antwort.
Die Altenheime
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
1944 muss die gesamte Familie aus Grabów fliehen. Nach beinahe einjähriger Flucht
bleibt Włast zunächst privat in Zbójna Góra, „unter Betreuung von Frau Rawiakowa“.
(339) Bald darauf wird er von Aniela in ein kirchliches Altenheim in Izabelin bei
Warschau gebracht. Ihre Entscheidung begründet Aniela mit Piotrs immer stärkerer
52
Polnisch: „Chodziła zawsze w męskim garniturze, koszuli, krawacie, kamaszach... Różne odcienie
brązu. Latem kładła biały, lniany garnitur, a na głowę furażerkę. Nic a nic nie była do chłopa podobna.
Przeciwnie. Delikatna, kobieca, chociaż w tym stroju.“
53
Polnisch: „Zabierzcie tych łotrów“. In: Górska 1995.
54
Polnisch: „Ponieważ była zupełnie spokojna, wolność miała kompletną, z ktorej jednak nie korzystała,
gdyż dzieci ją prześladowały.“
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„Behinderung durch das Rheuma“. Von der polnischen Regierung wird Włast eine
monatliche finanzielle Unterstützung zuerkannt, die jedoch seine Bedürfnisse „immer
weniger stillen konnte.“ (339) In seinen Briefen aus dem Altenheim bittet er die
Schwester wiederum um Bücher, Zeitschriften, Lebensmittel, Geld und vor allem um
Befreiung. Auch in diesem Fall – vergeblich. Dabei scheint Włast den Wunsch zu
haben, an seinem Lebensende noch einmal mit der Welt ‚draußen’ in Kontakt zu
treten. Er knüpft briefliche Kontakte mit den Jugendfreundinnen aus dem literarischen
Milieu – Zofia Villaume-Zahrtowa und Zofia Nałkowska, verfasst kritische Texte zur
Gegenwartsliteratur (u.a. zu Jarosław Iwaszkiewicz, Julian Przyboś und Tadeusz
Różewicz) und hofft im Stillen auf eine Veröffentlichung. 55 Die Bemühungen der
Schwester und der Freundinnen um eine Publikation bleiben erfolglos: Niemand zeigt
Interesse an der literarischen Produktion und der Person des/der Wahnsinnigen.
Der doppelte Tod
Diesmal ist es der Tod, der die ersehnte Befreiung bringt. Maria Komornicka stirbt mit
73 Jahren am 08.03.1949 – dem späteren ‚Frauentag’ und dem fünfundzwanzigsten
Todestag ihrer geliebten Mutter. Für die Beerdigungszeremonie ziehen ihr die Nonnen
ein schwarzes Kleid an. 56 Aniela erinnert sich:
An einem frostigen Märztag 1949 ging ich gemeinsam mit zwei Nonnen hinter dem Trauerzug
zum nahe gelegenen Friedhof in Laski, um diesem einsamen, vergessenen, aber unbeugsamen
Wesen einen so sehr bescheidenen letzten Dienst zu erweisen. (341) 57
Für die Öffentlichkeit stirbt Maria Komornicka jedoch schon viel früher. Nach
Lemańskis Tod (11.11.1933) erinnert die Zeitung „Ilustrowany Kurier Codzienny“ an
die legendäre Schießerei im Krakauer Park „Planty“. In diesem Zusammenhang wird
55 Twardowska 1978, 4.
56 Ebd.
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57
Polnisch: „W mroźny marcowy dzień 1949 roku szłam wraz z dwoma siostrami zakonnymi za
żałobnym konduktem do pobliskiego cmentarza w Laskach, oddając tak bardzo skromną ostatnią posługę
samotnej, zapomnianej, lecz jakże nieugiętej istocie.“
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45

46
erwähnt, dass Lemańskis damalige Ehefrau Maria Komornicka im
„unzurechnungsfähigen Zustand“ starb. 58 Diese Notiz wird von der Familie niemals
korrigiert.
58 Vgl. Augustyniak 1997, 86.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
2. Forschungsstand
You should have wept her yesterday
Wasting upon her bed:
But wherefore should you weep today
That she is dead?
(Christina Rossetti, „The Prince’s Progress“) 1
2.1. Die Pathologisierung Maria Komornickas
2.1.1. Stanisław Pigoń – Die Entdeckung
Der Krakauer Literaturhistoriker Stanisław Pigoń ist der erste, der Maria Komornicka
nach ihrem Tod und ihrer langen Abwesenheit in der Literaturgeschichte 1964
innerhalb der literaturhistorischen Reihe „Archiwum Literackie“ als eine „unheimliche
Persönlichkeit“, eine „literarische Individualität, heute vergessen, aber seinerzeit
herausragend und berühmt“ dem Fachpublikum präsentiert (Pigoń 1964, 341). 2 In der
Metaphorik der Aufklärung beklagt er die Tatsache, dass Komornicka, die
„tiefsinnige, treffende, scharfe Rezensionen“ schrieb, irgendwann von der
„Dämmerung“ umschlossen wurde. In seiner Pionierpublikation „Materialien zum
Leben und Werk von Maria Komornicka“ 3 trägt er mehrere Berichte von Komornickas
Zeitzeugen zusammen – ihrer Schwester Aniela, ihrem Cousin Aleksander Oszacki,
ihrem Bruder Jan Komornicki, die er selbst nur knapp kommentiert. Diese
Erinnerungen habe ich bei der Rekonstruktion der Biographie Komornickas mit der
gebotenen Vorsicht genutzt. Den ersten Platz räumt er Marias Schwester Aniela ein.
1
Zit. nach Stuby 1992,195 u. 205. Deutsch von Stuby: „Du hättest um sie weinen müssen, / Als sie krank
darniederlag: / Warum weinst du heute um sie, / Wo sie tot ist?“
2
Alle Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich auf diese Publikation.
3
Polnisch: „Materiały dotyczące życia i twórczości Marii Komornickiej“.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Ihre literarisch stilisierten Erinnerungen an die Schwester sind die mit Abstand
umfangreichsten (ca. 40 Seiten). Dem Cousin Aleksander Oszacki, einem Arzt, wird
die Rolle der ebenfalls ausführlichen, ‚medizinischen’ Begutachtung der Verrückten
zugeschrieben. Der Bruder kommt nur in einem kurzen Brief an Pigoń zu Wort. Zum
Schluss lässt der Herausgeber Komornicka selbst in doppelter Rolle sprechen, einmal
privat als Piotr Włast in einem Brief an Pigoń und als eine junge Literatin in einem
Brief an Cezary Jellenta, einmal als Literaturkritikerin aus der Zeit vor und nach ihrer
Mannwerdung. Dabei lobt Pigoń überschwänglich ihr literaturkritisches Talent. 4
Literarische Texte Komornickas und Własts werden hingegen vollkommen ignoriert.
Komornicka fasziniert ihn in erster Linie als ein kurioser biographischer ‚Fall’ (in
doppelter Bedeutung):
(…) mich interessierte die Individualität dieser Schriftstellerin. (...) In Krakau waren unschwer
Details über die ungewöhnlichen Ereignisse in ihrem Leben zu erfahren; spielte sich doch hier ein
berühmtes Abenteuer ab, das zum Anfang vom Ende ihrer Ehe mit Lemański wurde. (349) 5
Brieflichen Kontakt mit dem einundsechzig Jahre altem Piotr Włast knüpft Pigoń
bereits 1937. Aus rein strategischen Gründen respektiert er in seiner Briefanrede
Własts Männlichkeit und fragt vorsichtig nach seinem „Schaffen der letzten Jahre“.
(349) In einem etwas antiquierten Stil gibt sich Włast in seinem Antwortschreiben am
weltlichen Ruhm grundsätzlich nicht interessiert, signalisiert aber Bereitschaft zur
Konfrontation mit der Gesellschaft, „wenn die Zeit gekommen ist“, d.h. wenn seine
Schutzgeister (‚patres’) es wollen. (350) Er gibt dem Literaturprofessor Auskunft über
seine künstlerische Laufbahn (er schreibe „unregelmäßig und unprofessionell“) und
vermittelt ihm über Familienangehörige Zugang zu seinen Werken: „Mit dem Ende
von ‚Chimera’ begann auch meine Geheimhaltung. Man hörte auf (soweit mir bekannt
4
Komornickas Literaturkritik fand von Anfang an mehr Zuspruch als ihre literarischen Texte. Ihre
vermeintliche, immer wieder zum Vorwurf erhobene ‚Unweiblichkeit’ wurde ihr in Bezug auf dieses
Genre meist zugute gehalten.
5
Polnisch: „(...) interesowała mię była indywidualność tej pisarki. (...) Nietrudno było w Krakowie o
szczegóły niesamowitych jej przejść życiowych; tu przecież rozegrała się głośna przygoda, która stała się
początkiem końca jej małżeństwa z Lemańskim.“
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ist), meine Werke zu drucken. In den Jahren 1907–1917 war ich literarisch nahezu
untätig.“ 6 (349) Auch spielt er auf die Möglichkeit einer Zusammenstellung eines
Poesiebandes aus den in den letzten zwanzig Jahren geschriebenen Texten an. 7
Anscheinend wartet er auf das bereits in den Irrenhäusern ersehnte Angebot seiner
Rehabilitierung und der Rückkehr zum öffentlichen Leben und äußert indirekt die
Hoffnung, dass Pigońs Interesse eine Fortsetzung haben wird: „Dies ist das wichtigste
– vorerst.“ Er sei „aus vielerlei Gründen“ isoliert gewesen, bittet den Professor, sich
an den möglichen „Skurrilitäten seiner Rede, die daraus resultieren“ nicht zu stören
und sich im Fall irgendwelcher „Unklarheiten“ einfach zu melden. Włast hat Angst
vor einer weiteren Demütigung. Er stellt sich den Literaturprofessor als einen
ehrwürdigen Humanisten vor, einen „tugendhaften und klugen“ Menschen, über
dessen „Hilfe in seiner Weiterentwicklung“ er sich mehr als über den Ruhm freuen
würde. (349) Auch in dieser Formulierung manifestiert sich einmal mehr sein Wunsch
nach nicht nur literarischer, sondern auch menschlicher Anerkennung.
Pigoń jedoch hat kein Interesse an Włast als Mensch und scheint nicht die Absicht zu
haben, ihm in irgendeiner Hinsicht behilflich zu sein. Aus seiner Vorgehensweise und
seinen lakonischen Zwischenbemerkungen geht hervor, dass die Frage nach der
literarischen Produktion von Włast nicht wirklich auf eine Antwort diesbezüglich
hinzielte, sondern eher als Köder dienen sollte. Włast hat auch tatsächlich
‚angebissen’ und einen Brief geschrieben, der nun, mit dem männlichen Namen
signiert und gleichzeitig an die weibliche Identität anknüpfend, als Beweis des
Wahnsinns einer Prominenten dienen konnte. Pigoń hat nun etwas in der Hand, hat
sich, gestützt auf seine Autorität als Professor, einer sensationellen Geschichte
bemächtigt und kann nun, da es die Geschichte einer Entmündigten ist, über diese
verfügen, sie als seine Entdeckung verkaufen. Er triumphiert:
6
Polnisch: „Z zamknięciem ‚Chimery’ zaczęła się i moja okultacja. Przestano mnie (o ile wiem)
drukować. Lata 1907-1917 prawie literacko bezczynne.“
7
Eine solche Zusammenstellung entsteht tatsächlich - „Xięga poezji idyllicznej“.
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Man warnte mich jedoch, dass ich mit einer Antwort auf meinen Brief nur dann rechnen könnte,
wenn ich die Adressatin mit ihrem männlichen Pseudonym Piotr Włast wie einen Mann anreden
würde. So mussten alle aus ihrem Umfeld mit ihr umgehen. Ich richtete mich danach und erhielt
eine Antwort. musieli traktować wszyscy z jej otoczenia. Zastosowałem się i otrzymałem
odpowiedź. (349) 8
Die Werke der Wahnsinnigen interessieren ihn erst einmal nicht – ihre Autorschaft ist
nicht wirklich ernst zu nehmen, der Autorität beraubt. 9 Erst nach dem Tod der
Dichterin (1949) verschafft sich Pigoń Zugang zum Band „Xięga poezji idyllicznej“,
den er mit dem berühmt gewordenen Kommentar quittiert: „Nur selten leuchtete dort
der Funke des früheren Talents. Ansonsten – traurige Zeugnisse des Ruins.“ 10 (350)
Damit wird Komornickas Leben und Werk für gescheitert erklärt und als
Denkwürdigkeit und Exponat ins Kulturmuseum verwiesen („Archiwum Literackie“!).
So Pigońs Kommentar:
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Maria Komornicka lebt seit 15 Jahren nicht mehr. Es verstarben auch ihre beiden Verwandten,
Zeugen ihrer Zeit. Ihr Schicksal gehört nun der Geschichte an. Daher erachte ich es für wichtig,
diese drei Zeugnisse – als historische Dokumente – in die Schatzkammer dieser Geschichte
hineinzulegen: bereits verblichene Aufzeichnungen über eine Persönlichkeit, die wie ein greller,
aber flüchtiger Meteor aufgeleuchtet und wieder erloschen war. (353) 11
2.1.2. Stanisław Oszacki – Die Diagnose
Den Cousin von Komornicka, Stanisław Oszacki, Professor der Krakauer Universität,
einen „hervorragenden Internisten und prominenten Arzt und Gelehrten“, einen
„Menschen mit herrlichem Intellekt“ (341) lernte Pigoń, so seine Information, im
Konzentrationslager Sachsenhausen kennen. Pigoń animiert ihn dazu, Erinnerungen
über die Cousine zu verfassen, die jedoch erst nach seinem Tod den Eingang ins
8
Polnisch: „Uprzedzono mnie wszelako, że na odpowiedź mogę liczyć tylko wtenczas, jeżeli do adresatki
zwrócę się pod jej męskim pseudonimem: Piotr Włast, a w liście odezwę się do niej jako do mężczyzny.
Tak ją musieli traktować wszyscy z jej otoczenia. Zastosowałem się i otrzymałem odpowiedź.“
9
Vgl. Schlichter 2000.
10
Vgl. auch Pigońs Kommentar zu den unveröffentlichten literaturkritischen Notizen Własts, die nach
1918 entstanden sind: „der Schutt eines sich einst großartig ankündigenden Bauwerks“ (360).
11
Polnisch: „Maria Komornicka nie żyje od lat piętnastu. Zmarli też obaj krewni, jej świadkowie.
Wszystko przeszło do historii. Sądzę zatem, że warto złożyć do jej skarbca jako dokumenty historyczne
wszystkie te trzy świadectwa: zblakłe już zapisy o indywidualności, która zabłysła i zgasła jako jaskrawy,
lecz krótkotrwały meteor.“
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„Archiwum Literackie“ finden. Den Ausführungen Oszackis, die nicht mehr
autorisiert werden können, schickt Pigoń einen den verstorbenen Mediziner zu einer
unhinterfragbaren, intellektuell herausragenden Autorität stilisierenden Kommentar
voraus. Der Literaturprofessor kündigt an, dass ein Arzt (ein Internist, kein
Psychiater!) über eine Literatin aussagen wird. Durch die Hervorhebung dieser
Relation wird der Literatin der Objektstatus zugewiesen:
Nach dem baldigen Tod des Professors fanden sich in seinen Papieren einige schriftliche
Entwürfe, die unklar und unvollendet, sogar unbetitelt waren. Sie fielen in meine Hände. Ich
glaube, dass diese Ausführungen des Arztes über die Literatin sogar in einem derart
fragmentarischen Zustand den heutigen Leser interessieren könnten. (342) 12
In seinen Aufzeichnungen, die Pigoń mit dem Titel „Beichte einer Ungeborenen.
Einige Bemerkungen eines Arztes über die Psyche von Maria Komornicka“ 13 versieht,
interpretiert Oszacki ein frühes expressionistisches Prosastück von Komornicka
„Biesy“ (Die Dämonen, 1903) mit Methoden des psychologischen Realismus, d.h.
indem er die komplizierte Bedeutungsstruktur und die Spezifik der literarischen
Repräsentation völlig ignoriert. 14 Sie sind in der feministisch orientierten Komornicka-
Forschung als Beispiel eines repressiven, psychiatrisierenden medizinischen Diskurses
berühmt geworden. Diese Einschätzung, der ich mich, ohne Oszacki persönlich zu
verurteilen, anschließe, leugnet nicht den guten Willen und die Richtigkeit einzelner
Behauptungen des Arztes.
Ich konzentriere mich auf die, jedenfalls aus der Sicht der Patriarchatskritik,
problematischen Aspekte seiner Diagnose. Oszackis Ausgangsthese ist, dass
Komornicka „Die Dämonen“ bereits „am Tor des unverrückbaren Wahnsinns“
geschrieben habe. (342) Der Interpretierende überträgt das gesellschaftliche Urteil
12
Polnisch: „Po rychłej śmierci profesora znalazło się w papierach jego kilka kartek brulionu,
niewyraźnego i niewykończonego, nawet nie zatytułowanego. Dostały się do moich rąk. Sądzę, że nawet
w takim ułamkowym stanie mogą zainteresować dzisiejszego czytelnika te wywody lekarza o literatce.“
13
Polnisch: „Spowiedź niedorodzonej. Kilka uwag lekarza o psychice Marii Komornickiej.“ Pigoń war es
auch, der den unfertigen Aufzeichnungen den letzten Schliff gegeben, ja sie möglicherweise ergänzt und
korrigiert hat. In diesem Sinne ist es ein Text doppelter Autorschaft.
14
Der Text gilt Oszacki als wirklichkeitsgetreue Abbildung der Psyche der Autorin.
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über Komornickas Geisteszustand rückwirkend auf den Text. Dieser dient nun als
Lieferant der Belege für Komornickas Wahnsinn und als Grundlage seiner Analyse.
Als die Hauptursache der Geisteskrankheit der Dichterin erweist sich das
frauenuntypische und ungesunde Übermaß an Intellekt bei gleichzeitiger
Unterentwicklung von Emotionalität, mit anderen Worten ihre ‚Unweiblichkeit’:
Der Leidensweg der Komornicka (...) führte durch (...) die stumme und kalte Wüste des Mangels
an allem, was menschlich, was nicht Intellekt, Erkenntnis, Reflexion und vor allem nicht
Bewusstsein ist. (342) 15
Einerseits diagnostiziert Oszacki bei Komornicka einen Mangel an Menschlichkeit
und Weiblichkeit. Beides wird mit dem Bereich des Emotionalen und Irrationalen
verknüpft. Andererseits erfolgt die Legitimierung Oszackis eigener Autorität in Pigońs
Inszenierung ebenfalls durch die Distanzierung von Irrationalität. Führen wir uns die
Paradoxie der Präsentation Oszackis durch Pigoń noch einmal vor Augen: Die
Ausführungen werden durch den Verweis auf die Gelehrsamkeit zweier männlicher
Instanzen als wissenschaftlich glaubwürdig in Szene gesetzt. Gleichzeitig wird
Komornicka für ihre Rationalität und Intellektualität gerügt. Mehr noch: Gerade die
Überentwicklung des Intellektes soll sie zum Wahnsinn, dem Gegenpol der
Rationalität und Vernunft, getrieben haben. Die verborgene Botschaft der
Einschätzung von Oszacki lautet: Frauen werden für ihre Unweiblichkeit, die in ihrem
Fall auch Unmenschlichkeit bedeutet, mit Geisteskrankheit bestraft. 16 Mit anderen
Worten: Sie müssen für das Eindringen in die dem männlichen Subjekt vorenthaltene
Domäne der Vernunft und die Missachtung der ihnen gebührenden Sphäre der
Intuition, des Altruismus, der Natur, des Schönen büßen. 17 (347) Menschlichkeit und
15
Polnisch: „Męczeńska droga Komornickiej (...) wiodła przez (...) niemą i zimną pustynię niedostatku
wszystkiego, co ludzkie, co nie jest intelektem, poznaniem, refleksją, a przede wszystkim świadomością.“
16
An einer anderen Stelle spricht Oszacki auch explizit von ‚Buße’ (pokuta). (347)
17
Die Radikalität und die Unbekümmertheit, mit welcher dieses Konzept hier vertreten wird, kann daraus
resultieren, dass es sich um unzusammenhängende, noch nicht zum Druck bestimmte Aufzeichnungen
handelt, aus denen Pigoń einen Text zusammensetzt, welchen der Autor selbst u.U. nicht in dieser Schärfe
und Unausgegorenheit hätte publizieren wollen.
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Autorität von Männern und Frauen werden auch hier mit unterschiedlichen Maßstäben
gemessen.
In Oszackis Konzept der Unweiblichkeit Komornickas gehören neben der
übertriebenen Intellektualität und der Neigung zur schonungslosen Selbstkritik auch
Egoismus, Individualismus, soziale Inkompetenz, Lebens- und Liebesunfähigkeit
sowie Infantilismus. Bezeichnend für die Wahrnehmung weiblicher Künstlerinnen im
Patriarchat ist der Rückgriff auf ihre Körperlichkeit, vor dem Oszacki ebenfalls nicht
halt macht. Den zierlichen Körperbau und das heftige Temperament seiner Cousine
interpretiert er rückwirkend als kindlich. Mehrmals wird Komornicka zum Leben, zu
seiner Fülle, Harmonie, „spritzigen Frische“ (soczystość) in Opposition gesetzt und
damit mit der dunklen Seite der Existenz, dem Tod, identifiziert:
Das Übermaß an Egoismus und Intellekt rächte sich hier in Form einer Unterentwicklung
jeglicher zentrifugaler Fähigkeiten, jeglicher Intuition, all dessen, was nicht Verstand, Analyse,
Reflexion war. Es fehlte das Grün, der Duft der Blumen, aber vor allem das Lächeln und die
Lyrik. (346) 18
Es fehlen jegliche geschlechtsspezifische Kennzeichen bei dieser überaus sonderbaren
Persönlichkeit. Wäre da nicht die grammatische weibliche Form der Verben und Adjektive,
würde niemand imstande sein, den Autor von „Biesy“ einer weiblichen Seele zu verdächtigen.
Derart geschlechtslos oder vielmehr derart „männlich“ ist sie in ihrer Empfindungslosigkeit und
Rationalität (...). Das Fehlen des weiblichen Elements erhöht noch ihre Unfähigkeit, einen
emotionalen Zugang zu den Menschen zu finden. Sie sagt selbst, 19 dass sie niemanden lieb
gewinnen konnte, nicht fähig war, sich in Leidenschaften auszuleben. (346) 20
Parallel zu Männlichkeit bzw. Geschlechtslosigkeit und Gefühlskälte der ‚Marynia’
(in dieser Verkleinerungsform spricht Oszacki von seiner Cousine) bescheinigt ihr der
Mediziner auch Wärme, Güte und einen Sinn für Spiritualität, was sein Konzept
18
Polnisch: „Przerost egotyzmu i intelektu mścił się tutaj niedorozwinięciem wszelkich odśrodkowych
zdolności, wszelkiej intuicji, wszystkiego, co nie było rozumem, analizą, refleksją. Brak zieleni, woni
kwiatów, a przede wszystkim brak uśmiechu i liryki!“
19
„Sie sagt es selbst“ (sama mówi) bezieht sich auf das „Biesy“-Ich, das hier in einer Eins-zu-Eins-
Relation mit der empirischen Autorin gleichgesetzt wird.
20
Polnisch: „Brak jakiegokolwiek współczynnika płciowego w tej przedziwnej osobowości. Gdyby nie
gramatyczna forma żeńska czasowników i przymiotników nikt nie byłby w stanie posądzać autora
‚Biesów’ o kobiecość duszy. Tak jest bezpłciowa, czy raczej tak jest ‚męska’ w swej oschłości i
racjonalności (...). Brak elementu kobiecego potęguje tym silniej jej niezdolność do uczuciowego
podejścia do ludzi. Sama mówi, że nie umiała pokochać nikogo, nie była zdolną wyżyć się w żadnej
namiętności.“
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bereits schwanken lässt. Risse und Brüche in seiner Argumentation kommen zum
Vorschein, und so fühlt er sich in seiner Hilflosigkeit gezwungen, mit der Formel
‚naprawdę’ (tatsächlich) die Widersprüche miteinander zu versöhnen: „Sie verbreitete
eine für den durchschnittlichen Infantilismus untypische, unheimliche Unruhe, aber
auch Anmut und – tatsächlich – Sanftmut oder auch Güte.“ 21
2.1.3. Aniela Komornicka – Die schöne Erzählung
Die Erinnerungen Aniela Komornickas „Maria Komornicka in ihren Briefen und in
meinem Gedächtnis“ leiten Pigońs Publikation ein. Bereits aus der Kapitel-
Einteilung 22 geht hervor, dass Marias Biographie nach dem Schema eines
gescheiterten Lebens und im Rahmen eines metaphysischen Wahnsinnskonzepts
interpretiert wird. Die ersten Kapitel erinnern in ihrer Rhetorik an eine Familiensaga.
Breit und in allen Einzelheiten wird der Familiensitz Grabów in einem naturgeprägten
Szenario ins Bild gesetzt und eine Charakteristik von Schicksalen und
Persönlichkeiten der Vorfahren gegeben. Gleich zu Anfang wird auf Marias
problematische Entwicklung angespielt: Aniela zieht eine Parallele zwischen der
prominenten Schwester und ihrem Patenonkel, der sich durch Unruhe und Fernweh
ausgezeichnet haben soll. Dieser habe bei ihrer Taufe keine „glückliche Hand gehabt“.
(296) Im Laufe der Narration wird die Zeit immer stärker gerafft, die Fabulierlust der
Erzählerin schwindet: Zum Schluss beschränkt sich Aniela auf spärliche Kommentare
der zitierten Brieffragmente ihrer Schwester, auf deren Anführen Pigoń großen Wert
legte. 23
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21
Polnisch: „Wiał od niej nietypowy wcale dla przeciętnego infantylizmu jakiś niesamowity niepokój, ale
i wdzięk i – naprawdę – miękkość czy dobroć.“
22
(1) Familie, (2) Kindheit, (3) Verfrühte Jugend, (4) Jahre der Reifung, (5) Ehe, (6) Aufblühen des
Schaffens, (7) Krankheit, (8) Ringen mit den Gespenstern. Dämmerung, (9) Das Ende.
23
Vgl. Korrespondenz zwischen Stanisław Pigoń und Aniela Komornicka (Literaturmuseum Warschau,
Signatur 371).
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In ihrer poetisch stilisierten Darstellung präsentiert sich Aniela als liebende und
bescheidene Schwester mit literarischem Talent, die, trotz der Verrücktheiten Marias,
ihr immer zu Diensten war und bis zum letzten Tag treu geblieben ist. Anders als
Oszacki ist sie sich dessen bewusst, dass ihre Erinnerung ins Kulturarchiv
aufgenommen wird. Daher konstruiert sie ihre biographische Erzählung mit äußerster
Vorsicht – als Balanceakt zwischen Bewunderung, Mitleid und leicht moralisierender,
persönlich gefärbter Kritik.
Nicht angefochten, sondern, im Gegenteil, eher hervorgehoben wird das Talent Marias
und der ästhetische Wert ihrer literarischen Produktionen – auch aus der Zeit nach
1907. Als die Schattenseite des Talents fungiert die Überheblichkeit der berühmten
Schwester, ihr Egoismus, ihre Arroganz den Geschwistern und der Familie insgesamt
gegenüber (die sich jedoch im Alter in Demut verkehrt haben soll). 24 Kritisch erwähnt
werden der herrische und rebellische Charakter der jungen Komornicka, ihr
ungestümer Freiheitsdrang und ihre herabsetzende Haltung jeglichen Autoritäten und
Frauen gegenüber. Darüber hinaus lässt sich ein durchaus nachvollziehbarer Neid
Anielas auf die von den Eltern bevorzugte und geförderte Schwester ablesen. Marias
Geburt wird als „heiß erwartet und mit Gebeten heraufbeschworen“ beschrieben.
(299) Die unkritische Bewunderung Marias durch den weiblichen Teil der Familie,
das intime Vertrauensverhältnis zwischen Maria und der Mutter, das „ungeheure
Ausmaß väterlicher Liebe“ (303) der ältesten Tochter gegenüber, und Marias ganz
besondere Rechte in der Familie werden mehrmals mit einem bitteren Unterton ins
Spiel gebracht.
Mit keinem Wort erwähnt Aniela die Rolle der Familie bei der Einweisung Marias in
die Irrenanstalten und ihrer Gefangenhaltung. Die Familie und insbesondere die
Mutter sollen, auch das ist verständlich, auf jeden Fall moralisch unangetastet bleiben.
24
Für die herabsetzende Haltung der Familie gegenüber soll Maria allerdings, in Anielas Sichtweise,
dadurch bestraft worden sein, dass sie auf die Hilfe der Geschwister während ihrer Krankheit angewiesen
war.
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Marias Geschlechtstransformation wird nur marginal erwähnt. 25 Die Ereignisse um
ihren Wahnsinn und ihre Einlieferung in die Psychiatrie werden in einer Reihe von
Euphemismen angesprochen: „psychischer Zusammenbruch“, „verkehrte Psyche“,
„Zurückziehen von den vorbestimmten Formen einer normalen Existenz“, „die
Notwendigkeit systematischer Behandlung“. 26 Einerseits spricht Aniela die Mutter von
der Schuld Maria gegenüber frei, andererseits räumt sie ein, dass die Entscheidung für
die Psychiatrie keinen Erfolg brachte, dafür aber eine sehr leidvolle Erfahrung für die
Schwester war. Marias Leiden soll, auch in der Gesamtkonzeption von Pigoń, nicht
verleugnet, sondern im Gegenteil, herausgestellt und zum Mythos stilisiert werden.
Und so werden auch Briefe Marias aus den psychiatrischen Kliniken zitiert, in denen
sie dieses Leid ergreifend artikuliert und die Mutter vergeblich um Hilfe anfleht. Diese
Briefzitate sollen auch die Funktion erfüllen, Zeugnis von Marias Verirrung
abzulegen.
Die psychische Krankheit der Schwester ist für Aniela eine Tatsache und wird nicht
weiter problematisiert. Innerhalb der pathologischen Struktur, im
„Wahnsinnsweltbild“ Marias diagnostiziert Aniela jedoch „eine gewisse Erhabenheit
und zutreffende Überlegungen“ (332):
Es scheint mir, dass (...) es die Sehnsucht nach dem absoluten Guten und Schönen, das Gefühl der
eigenen Überlegenheit und die verborgene, stets bekämpfte Angst vor der Rätselhaftigkeit des
Daseins waren, die in den Vordergrund ihrer Persönlichkeit rückten. (340) 27
25
Zitat: „Die Notwendigkeit einer systematischen ärztlichen Behandlung wurde alsdann offensichtlich,
als meine Schwester im Juli 1907 in Poznań auf dem Weg zum Seebad kategorisch nach männlicher
Bekleidung verlangte. Der Glaube an die Wirksamkeit der Psychotherapie, die zu jener Zeit erst
rudimentär entwickelt war, bewegte unsere Mutter, diesen Weg zu wählen, der jedoch nicht die
beabsichtigte und so heiß ersehnte Genesung brachte, sondern überaus schwere Erfahrungen verursachte.“
(332) Vgl. auch Einleitung.
26
Polnisch: „załamanie psychiczne“ (301), „zbakierowana psychika“ (305), „wycofanie się z ustalonych
form normalnego bytowania“ (326), „konieczność systematycznego leczenia“ (332).
27
Polnisch: „Wydaje mi się, że (...) to tęsknota za absolutnym Dobrem i Pięknem, poczucie własnej
wyższości i utajony, a wciąż przezwyciężany strach wobec tajemniczości bytu wysuwały się na czoło jej
osobowości.“
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Wer in Anielas Retrospektive am schlechtesten wegkommt, ist der erstgeborene Jan.
Aniela spricht ihm jegliche intellektuelle Qualitäten ab und bezichtigt ihn einer
besonderen Abneigung Maria gegenüber.
2.1.4. Jan Komornicki – Das Nicht-Verstehen-Können
Der einundachtzigjährige Jan Komornicki spricht den Literaturprofessor in seinem
Antwortschreiben mit großer Ehrfurcht an, legt jedoch in der Tat eine eher
herabsetzende Haltung Maria gegenüber an den Tag:
Sie mögen verzeihen, sehr geehrter Herr Professor, dass ich Sie mit unnötigen Details aus dem
Leben und der [literarischen] Tätigkeit meiner Schwester Maria belästige, aber ich gehöre bereits
zu den Letzten (ich bin 81 Jahre alt), die sich dieser weit zurückliegenden Zeiten entsinnen und
fühle mich verpflichtet, diese Erinnerungen vorzubringen. (351) 28
Hervorgehoben wird Marias Privilegierung durch den Vater (privater
Literaturunterricht bei Prof. Chmielowski) und ihre Überheblichkeit, die sich nach den
ersten literarischen Erfolgen gesteigert haben soll. Wenig Billigung erfährt Marias
Weigerung, sich der Autorität des Vaters zu beugen, die Jan u.a. dem verderblichen
Einfluss der Literaten zuschreibt:
Dieser Umstand wirkte sich nachteilig auf Marias Wesen aus: Sie wurde stolz und akzeptierte
keinerlei Überlegenheit und Macht anderer. Einmal, in einer scharfen Auseinandersetzung mit
dem Vater (...), sagte sie: „Ich erkenne weder die Autorität noch den Willen des Vaters an.“
(351) 29
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Marias Eigenwilligkeit und Unüberlegtheit im Handeln sowie ihre Anfälligkeit für
verschiedene ‚Manien’ sind weitere Elemente des vom ältesten Bruder entworfenen
Porträts. Auch hier, wie in der Erinnerung von Oszacki, wird Marias Persönlichkeit
bereits aus der Zeit vor der Transformation pathologisiert. Zu den Eigentümlichkeiten
28
Polnisch: „Wybaczy W. Szanowny Pan Profesor, że go obarczam niepotrzebnymi detalami z życia i
działalności mej siostry Marii, jestem jednak już jednym z ostatnich (mam 81 lat), którzy te odległe czasy
pamiętają i czuję się w obowiązku je przytoczyć.“
29
Polnisch: „Okoliczność ta ujemnie wpłynęła na usposobienie Marii, stała się dumną,, nie uznającą
niczyjej wyższości i władzy nad sobą; pewnego razu w ostrzejszej rozmowie z ojcem (...), powiedziała:
‚nie uznaję ani powagi ani woli ojca.’“
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der Schwester, die sich bereits in frühester Kindheit manifestiert haben sollen, zählt
Jan Phasen übertriebener Frömmigkeit einerseits und absoluten Atheismus
andererseits, übermäßiges Interesse für Kleidung und „das Überzeugen der Anderen,
dass sie ein Mann ist, denn dies sei mit Willenskraft zu erreichen.“ (352) Ähnlich wie
Aniela, aber mit größerem Nachdruck beschreibt Komornicki Marias negatives
Verhältnis zu Frauen: „(...) Frauen sah sie als niedere Wesen an und mit dieser
Überzeugung ging sie von dieser Welt.“ 30 Kritisch quittiert er Marias Zusammenleben
mit Lemański, vor allem ihre grundsätzliche Abneigung der Institution der Ehe sowie
ihre Angewohnheit, den Ehemann so oft wie möglich von sich fernzuhalten. Wie in
den Erinnerungen der Schwester wird auch hier die herausragende Rolle Zenon
Przesmyckis als geistiger Führer Komornickas hervorgehoben.
Anders als Aniela versucht Jan, den Gründen von Marias Wahnsinn ansatzweise
nachzuspüren. Zur Schwächung des Nervensystems der Schwester hätten Kaffee und
Tee, vor allem aber der Einsturz der Decke im russischen Parlamentsgebäude
beigetragen. Der Geschlechtswechsel und seine Folgen werden, wie bereits in der
Einleitung erwähnt, auch hier nur vorsichtig angesprochen. 31 Allerdings kommt eine
zusätzliche Komponente hinzu – das Verbrennen der weiblichen Kleidung im Kamin.
Ob es tatsächlich zu diesem symbolischen Akt gekommen ist, oder ob ihn die Familie
als Zentrum des Mythos von Komornickas Wahnsinn erfunden hat, kann nicht mehr
nachvollzogen werden.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jan Komornicki viel direkter und nüchterner
als Aniela seine kritische Einstellung der Schwester gegenüber äußert. Sein Brief an
Pigoń ist nicht literarisch stilisiert. Er wurde mit Fußnoten Anielas versehen, die seine
30
Polnisch: „(...) kobiety uważała za istoty niższe i z tym przekonaniem zeszła z tego świata.“
31
Zitat: „Unsere Mutter begleitete sie. Als sie Maria in Poznań allein im Hotel zurückließ und
zurückkehrte, fand sie diese im Bett vor, während die gesamte Damengarderobe im Ofen verbrannte.
Maria forderte Männerkleidung, da die Phase ihrer Weiblichkeit nun beendet sei. Aufgrund dieser
Symptome brachte Mutter sie zu Dr. Żuławski, und danach nach Obernigk (...).“ (352) Vgl. auch
Einleitung.
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Behauptungen richtig stellen sollen. 32 Der Status der Erinnerungen von Aniela, die mit
Pigoń zusammen die Publikation vorbereitet und mit ihm quasi auch das ‚Monopol’
über die Geschichte beansprucht, ist unvergleichlich höher. Anielas langatmige
Narration darf die Publikation einleiten, der Brief des Bruders ist das letzte Zeugnis.
Sie gibt sich als die Kompetentere und diejenige, die die Schwester differenzierter
sieht. Jan Komornicki erscheint in diesem Kontext als ein simpler, ‚ungehobelter’ und
Maria gegenüber voreingenommener Mensch. Er gibt sich wohlgemerkt auch keine
Mühe, sich selbst positiv in Szene zu setzen. 33 Dafür scheint sein Brief relativ frei von
Widersprüchen und unterschwelligen Botschaften zu sein.
2.2. Die sukzessive Rehabilitierung
2.2.1. Maria Podraza-Kwiatkowska
Der tragische Vitalismus
Auch Maria Podraza-Kwiatkowska, aus deren Feder die erste literaturhistorische
Auseinandersetzung mit Komornicka stammt (1969), hat das Bewusstsein der
Entdeckung einer „völlig vergessenen Dichterin und Essayistin“, bringt dies jedoch
nicht so pathetisch zum Ausdruck wie Pigoń. Die Geschlechtstransformation hält
Podraza-Kwiatkowska nüchtern und sachlich für ein Symptom einer essenziell
32
So wendet sich Aniela sowohl gegen die Behauptung von der Bigotterie als auch vom Atheismus
Marias. Sie bescheinigt ihr einen unerschütterlichen Glauben an Gott, welcher jedoch „mit der Lehre der
katholischen Kirche nicht ganz übereinstimmte“. Darüber hinaus kritisiert sie Jans simples
Erklärungsmodell für den Ausbruch des Wahnsinns und widerlegt seine Behauptung, dass Zenon
Przesmycki (Miriam) ein negatives Urteil über die „Xięga“ gefällt haben soll. Vielmehr habe er „keine
Meinung dazu zum Ausdruck gebracht“. (352 ff.)
33
Tatsache ist, dass er derjenige war, der Maria in der Zwischenkriegszeit bei sich aufgenommen und für
sie Sorge getragen hat. Dazu sagt er selbst ohne eine Spur von Selbstlob: „(...) ich nahm sie nach Grabów
und hier verbrachte sie 30 Jahre ihres Lebens von 1914 bis 1944. Weil sie ganz ruhig war, hatte sie
völlige Bewegungsfreiheit, die sie allerdings nicht nutzte, weil sie vom Spott der Kinder verfolgt wurde.“
(353)
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verstandenen psychischen Krankheit. Mit traditionellen philologischen Mitteln
analysiert sie die Schriften Komornickas bis 1907, d.h. bis zu ihrer ‚Mannwerdung’.
Ihr späteres Schaffen bleibt unberücksichtigt und wird als „formloses Durcheinander“
(bezforemne rozwichrzenie) disqualifiziert.
Podraza-Kwiatkowska bemüht sich vor allem um eine Einordnung Komornickas in die
philosophischen und ästhetischen Strömungen ihrer Zeit. Sie diagnostiziert typisch
modernistische Parallelen zum Existentialismus (Sartre, Heidegger, Stirner, Jaspers,
Kierkegaard). 34 Als Konsequenz der Annahme des existentialistischen
Freiheitsbegriffs betrachtet Podraza-Kwiatkowska Komornickas „Ethik des
Heroismus“ und des „tragischen Vitalismus“. Mit einer moralisierenden Haltung
enthülle Komornicka die „doppelte Natur des Menschen“ – sein Streben nach
Vollkommenheit und seine Anfälligkeit für Sünde. So erwachse die Spannung in ihrer
frühen Lyrik aus den Oppositionen zwischen dem Willen und der Versuchung, dem
Sieg und der (heroischen) Niederlage. 35 Komornickas explosive, maximalistische
Ästhetik mit ihrer emotionalen Intensität, ihrer Hyperbolisierung, kosmisch-religiösen
Metaphorik und komplizierten Syntax sei, ähnlich wie die Przybyszewskis,
Kasprowiczs und Micińskis, vom frühen deutschen Expressionismus inspiriert
gewesen. Sowohl im Leben als auch im Schreiben Komornickas würde sich die
expressionistische Konzeption des Künstlers manifestieren, vor allem seine tragische
Entfremdung von der Gesellschaft, sein Schwanken zwischen Führungsanspruch und
Verachtung der ‚Menge’. 36 Dies versucht sie am Beispiel einer bruchstückhaften
„Biesy“-Analyse zu belegen. Die dort inszenierte soziale Isolation des Textsubjekts
sowie seine Autodiagnose der „emotionalen Indolenz“ (Liebesunfähigkeit) überträgt
34
Hierzu zählt sie Motive wie: der leere Himmel, das Fehlen einer richtenden moralischen Instanz, die
Selbstdeifizierung des Subjekts.
35
Diese dualistischen Konzepte würden u.a. mittels der Motive des Fluges und Falls, aber auch des
Ringens mit Widerständen dynamisch in Szene gesetzt. Nicht Hedonismus, sondern Vertiefung des
Lebens durch Schmerz und Leiden sei das ethische Anliegen der frühen Texte Komornickas. Darin sieht
Podraza-Kwiatkowska eine Nähe zu Nietzsche und Bergson.
36
In diesem Punkt weist Podraza-Kwiatkowska auf die Parallelen zu Heym, Benn, Trakl, Kafka hin.
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Podraza-Kwiatkowska auf die empirische Autorin und setzt sich damit dem Vorwurf
eines simplifizierenden Biographismus aus.
Konstant bleibt in diesem frühen Beitrag Podraza-Kwiatkowskas das Interpretieren
der Biographie Komornickas innerhalb des Paradigmas eines privat wie künstlerisch
gescheiterten Lebens. Zu den Gründen des Scheiterns zählt die Forscherin, ähnlich
wie Oszacki, das „Übermaß an reflektierendem Bewusstsein“ (und damit die
emotionale Unterentwicklung) sowie die maximalistischen Tendenzen Komornickas.
Von der persönlichen Niederlage der Dichterin zeuge die Entwicklung ihrer
Metaphorik von kraftvollen Inszenierungen des Ringens, Rennens, Fliegens bis hin zu
melancholischen, leidvollen Bildern des Herumirrens, der Vertreibung und
Vereinsamung, der Sehnsucht nach Heimkehr, Ruhe und Harmonie:
Das Gefühl der Vereinsamung wird in Komornickas literarischem Schaffen immer
durchdringender. (...) Ihre Freiheit ist allerdings tragisch. Die Autorin vermochte es nicht, mit ihr
umzugehen – es fehlte der Heroismus, den ihr einstiger Meister Nietzsche lehrte. (...) Letztlich
versagte der Glaube an die – Niederlagen überwindende – Kraft des Willens. Wasserschilf,
Eichen, schlanke Pappeln, jene vertikalen, den Willen und das Streben nach Vervollkommnung
darstellenden Elemente, wurden durch ein weiteres (...) Element vervollständigt – das der
zersplitterten Säule. (Podraza-K. 1969, 165 ff.) 37
Die kompromisslosen Heldinnen
Vier Jahre später publiziert Podraza-Kwiatkowska (1973) in einem Sammelband zum
Jungen Polen ihren zweiten Beitrag zu Komornicka. Hier gibt sie mehr biographische
Informationen und erweitert ihr Untersuchungsspektrum um „Szkice“ und
„Forpoczty“. Das literarische Schaffen nach 1907 wird auch hier ignoriert und mit
Pigoń als ‚Ruin’ bezeichnet, die psychische Krankheit nicht in Frage gestellt:
„Komornicka erlag ja tatsächlich dem Wahnsinn.“ (395) Als einen der Gründe ihres
37
Polnisch: „Poczucie osamotnienia staje się w twórczości Komornickiej coraz bardziej przejmujące (...)
Wolność to wszakże tragiczna: nie stało sił autorce, aby tej wolności sprostać, nie stało heroizmu, o
którego potrzebie pouczał dawny jej mistrz, Nietzsche. (...) Zawiodła wreszcie wiara w –
przezwyciężającą klęski – siłę woli. Trzciny wodne, dęby, smukłe topole, owe elementy wertykalne
obrazujące wolę, dążność do doskonalenia – zostały dopełnione jeszcze jednym (...) elementem:
pękniętym filarem.“
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Ausbruchs sieht die Forscherin die zeittypische ‚Mode’ für seelische Leiden an. 38 An
Komornickas frühen Prosastücken interessiert Podraza-Kwiatkowska vor allem der
Konflikt zwischen Künstler und Philister. Komornicka sei die erste ernst zu nehmende
‚Dekadentin’ in der polnischen Belletristik gewesen. 39 Ihre Originalität sieht Podraza-
Kwiatkowska darin, dass sie nicht nur die neurotischen Zustände ihrer lebensmüden
Figuren dargestellt, sondern auch nach ihren Gründen gesucht habe (kulturelle
Übersättigung, philosophische Skepsis, gesellschaftliche Umwälzungen). Neu und
erfrischend in diesem Beitrag erscheint mir die Beschäftigung mit den
Geschlechterkonstrukten in den frühen Prosatexten Komornickas. Zum einen betont
Podraza-Kwiatkowska nicht ganz zutreffend, dass Komornicka keineswegs
emanzipatorisch tätig war:
Jedoch gehörte Komornicka – dies muss ausdrücklich betont werden – nicht zu den
Emanzipierten, die für das Frauenwahlrecht oder für die eine oder andere Art der Bildung junger
Mädchen kämpften. (Podraza-K. 1973, 397) 40
Zum anderen räumt sie ein, dass sich die weiblichen Figuren Komornickas, analog zu
denen Ibsens, durch innere Stärke, tragische Vitalität, Unbotmäßigkeit und
dominierendes Verhalten auszeichnen. Resignation und Erschöpfung liege auf der
Seite der Männer. All diese Tendenzen in Komornickas Texten registriert Podraza-
Kwiatkowska zwar interessiert, bescheinigt ihnen aber gleichzeitig einen krankhaften
Zug: „Das pathologische Bedürfnis nach Männlichkeit ist bei Komornicka mit
matriarchalen Tendenzen verbunden.“ 41 (Ebd.) Unter ästhetischen Gesichtspunkten
seien die frühen Prosastücke Komornickas nicht allzu wertvoll. Ihr künstlerisches
38
Damit meint sie u.a. Glorifizierung des Wahnsinns, Gleichsetzung des Genialen mit dem
Pathologischen, Verachtung der spießbürgerlichen Normalität, die sich in Publikationen wie Lombrosos
(1887) „Geniusz i obłąkanie“ (Genie und Wahnsinn) manifestiert haben sollen.
39
Die ‚Dekadenz’ drücke sich in der destruktiven Lebenseinstellung der Protagonisten, ihrer krankhaften
Übersensibilität, psychischen Labilität, ihrer Neigung zur Selbstanalyse und Flucht vor der Gesellschaft
aus.
40
Polnisch: „Jednakże – trzeba ten fakt wyraźnie podkreślić – Komornicka nie należała do emancypantek
walczących o prawo wyborcze dla kobiet czy o taki lub inny sposób edukowania młodych panien.“
41
Polnisch: „Patologiczne pragnienie identyfikacji z mężczyzną łączy się u Komornickiej z tendencjami
matriarchalnymi.“
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Niveau habe sich jedoch in der Zeit der Zusammenarbeit mit „Chimera“ (1903-1907)
radikal erhöht. In der anspruchsvollen Lyrik aus dieser Zeit sei insbesondere das
Schwanken zwischen den Extremzuständen der Euphorie und der Verzweiflung
hervorzuheben. Anerkennend weist Podraza-Kwiatkowska auf die Abweichung der
Kunstkonzeption Komornickas von den Auffassungen ihrer ‚Meister’ hin. Sie habe
sich sowohl gegen Przybyszewskis Konzept l’art pour l’art als auch gegen den
Elitarismus Przesmyckis gewandt und für eine enge Verbindung zwischen Kunst und
Leben plädiert. Ein besonderes Lob zollt die Krakauer Literaturwissenschaftlerin den
scharfsinnigen Rezensionen Komornickas.
„Wirklich sehr gute Texte“
1996 gibt Podraza-Kwiatkowska einen Sammelband der Lyrik und Prosa Maria
Komornickas heraus (Komornicka 1996). Hier erscheinen erstmals in der polnischen
Literaturgeschichte Texte aus der „Xięga poezji idyllicznej“. Podraza-Kwiatkowska
(1996) schickt ihnen ein umfangreiches Vorwort voraus, in dem sie sich viel
ausführlicher als in ihren ersten Beiträgen, die noch aus der Ära des realen
Sozialismus stammen, mit Komornickas Biographie, „einer der interessantesten und
der tragischsten“ in Młoda Polska, vor allem mit ihrem Wahnsinn und der
„Übersetzung des Wahns in Literatur“ auseinandersetzt. (Podraza-K. 1996, 5 ff.) Sie
berichtet von den Umständen des Krankheitsausbruchs in Paris und versucht sich in
der Deutung des Geschlechtswechsels – mit dem Bewusstsein der „Unsinnigkeit
jeglicher Mutmaßungen in dieser Sache“. Mit besonderem Nachdruck schließt sie
etwaige Homosexualität bzw. Transsexualität Komornickas aus, als ob sie ‚ihre’
Dichterin von derartigen Vorwürfen schon im Vorfeld schützen müsste:
Der Autorin von „Szkice“ ging es jedoch weder um Unterhaltung noch um – dies muss deutlich
hervorgehoben werden – Homosexualität. Vor dem Hintergrund des damaligen Glaubens an die
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Tragik geschlechtlicher Liebe handelt es sich hier vielmehr um ein androgynes Verlangen nach
Geschlechtslosigkeit (...). (Ebd. 11) 42
(...) nichts deutet darauf hin, dass sie ihre Weiblichkeit verraten und in das gegnerische Lager
wechseln wollte. Wie im Übrigen auch nichts darauf hindeutet, dass sie ein transsexuelles, mit
seinem Geschlecht unzufriedenes Individuum wäre. Ihre Äußerungen über Männer sind typisch
für damalige Feministinnen (...). Es wäre schwierig, im Schaffen Komornickas einen den
Männern wohlgesonnenen Text zu finden. (...) Es gibt allerdings auch keine klare Akzeptanz der
eigenen Weiblichkeit. Dazu ringt sich erst Zofia Nałkowska durch. (Ebd. 13) 43
Komornicka sei an einem geschlechtslosen Zustand, an Entleibung und Vergeistigung
interessiert gewesen. Für das „verhasste männliche Geschlecht“ habe sie sich
möglicherweise aber auch entschieden, um einen höheren gesellschaftlichen Status zu
erlangen. Auch frühe traumatische Erlebnisse (dominanter, gewalttätiger Vater,
‚Hurenuntersuchung’) hätten bei ihrer Geschlechtstransformation eine Rolle gespielt.
Das letzte, etwas hilflose Erklärungsmuster Podraza-Kwiatkowskas lautet: „Vielleicht
war der Geschlechtswechsel einfach nur eins von vielen Symptomen der
vorangeschrittenen Krankheit, gar nicht mal das wichtigste, aber das auffälligste, weil
schockierend?“ 44 (Ebd. 14) Die essentialistische Behandlung der Geisteskrankheit
bleibt unverändert. In der Bewertung literarischer Texte aus der Zeit des Wahnsinns
schwankt Podraza-Kwiatkowska. Sie präsentiert zwar einige wenige Ausschnitte der
„Xięga“, räumt aber gleichzeitig vorsichtig ein, dass Komornicka zu dieser Zeit zwar
viel, aber „leider unterschiedlich“ und zum Teil „mit Maßlosigkeit“ schrieb:
Ein Leser, der außergewöhnliche Entdeckungen, originelle mehrfachcodierte Bilder sowie
‚unlogische’, neue Denkdimensionen eröffnende Zusammenhänge erwartet, wird enttäuscht
42
Polnisch: „Autorce ‚Szkiców’ nie chodziło jednak ani o zabawę, ani o - trzeba to wyraźnie podkreślić –
homoseksualizm. To raczej – wobec wyznawanego wówczas tragizmu miłości płciowej – androgyniczne
pragnienie uzyskania bezpłciowości (...).“
43
Polnisch: „(...) nic nie wskazuje na to, aby chciała zdradzić swój rodzaj kobiecy i przenieść się do
obozu przeciwnika. Podobnie zresztą jak nic nie wskazuje na to, żeby była osobnikiem transseksualnym,
niezadowolonym ze swojej płci. Jej sformułowania na temat mężczyzn są typowe dla ówczesnych
feministek (...). Trudno by było znaleźć w twórczości Komornickiej tekst przychylny mężczyznom. (...)
Nie ma co prawda także jakiejś wyraźnej akceptacji własnej kobiecości: na to zdobędzie się dopiero Zofia
Nałkowska.“
44
Polnisch: „A może ta zmiana płci była po prostu tylko jednym z licznych objawów zaawansowanej
choroby, wcale nie najważniejszym, ale najbardziej zauważalnym, bo szokującym?“
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werden. Dies ist kein Hölderlin. (...) „Xięga poezji idyllicznej“ kann höchstens – interessant sein
(...), vor allem für jene, die nach krankhaften Symptomen bei der Dichterin suchen. (Ebd. 32) 45
An männlichen und weiblichen Wahnsinn scheint Podraza-Kwiatkowska, trotz ihrer
zweifellosen Sympathie für Komornicka, unterschiedliche Maßstäbe anzulegen. Dies
ist für die androzentrischen Kulturen im Allgemeinen charakteristisch: Der männliche
Wahnsinn korreliert eher mit Genialität, der weibliche mit Krankheit und Hysterie. 46
Selbst wenn die Literaturwissenschaftlerin auf – ihrer Meinung nach – wertvolle Texte
hinweist, macht sie dabei deutlich, dass bestimmte interessante Effekte quasi zufällig
bzw. krankheitsbedingt aufgetreten sind und nicht als Verdienst der Autorin betrachtet
werden können. (Ebd. 35) Als ob sie sich wegen der Publikation der Texte der
‚Verrückten’ rechtfertigen müsste, beteuert sie zum Schluss mit dem Gestus der
Verlegenheit, dass „Xięga“ „ziemlich viele wirklich sehr gute Texte“ beinhaltet. 47
Eine besondere Würdigung erfahren die „eigenartigsten erotischen Texte des Jungen
Polen“ der Autorschaft Komornickas. Das Merkwürdigste an dieser mutigen Lyrik
und Prosa sei die obsessive Spannung zwischen dem Imperativ moralischer Reinheit
und dem leidenschaftlichen, animalischen Begehren (z.B. in „Andronice“). Liebe und
Hass, Ekel und Verlangen stünden sehr dicht beieinander. Es sei der Mann, welchem
der Bereich der Biologie zugewiesen wird – die Frau lasse ihn auf grausame Weise
dafür büßen:
Bei Przybyszewski (...) war nämlich gerade die Frau die Botin der Natur, die auf die Seite der
animalischen Biologie und Geschlechtlichkeit lockte. Komornicka kehrte die Rollen um und zog
45
Polnisch: „Czytelnik który spodziewa się nadzwyczajnych odkryć, oryginalnych, wprowadzających w
nadmiar znaczeń obrazów, alogicznych, otwierających nowe możliwości myślenia, powiązań – taki
czytelnik będzie zawiedziony. To nie jest Hölderlin. (...) ‚Księga poezji idyllicznej’ może być najwyżej –
interesująca (...) głównie dla tych, którzy poszukują chorobowych symptomów u poetki.“
46
Vgl. Schlichter 2000.
47
Ansonsten weist Podraza-Kwiatkowska auf die tiefe, undogmatische Religiosität der „Xięga“ hin, auf
die hinduistischen Inspirationen, den Kult der Familie, den intimen Ton, die Umgangsprache, die Liebe
zum Detail, und auf Gedichte, die zum einen persönliches Leiden, und zum anderen Affirmation der
Existenz ausdrücken. In den ersten Beiträgen Podraza-Kwiatkowskas war, wohl aus politischen Gründen,
von der religiösen Dimension der Texte keine Rede.
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gleichzeitig – mit der für sie charakteristischen Neigung zur Hyperbolisierung – die letzten
Konsequenzen aus der Konzeption der tragischen Liebe. (Ebd. 31) 48
2.2.2. Maria Janion
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Märtyrerin des Andersseins
Es war die Kultprofessorin Maria Janion, die sich als erste mit großer Vehemenz und
in Anlehnung an antipsychiatrische Positionen gegen die Pathologisierung
Komornickas wandte und die Dichterin als patriarchatskritische Figur einsetzte. Ihr
temperamentvoll geschriebener, glänzender Beitrag (Janion 1982 u. 1996) erschien in
einer Serie von Sammelbänden, die künstlerische und existenzielle
Grenzüberschreitungen zum Thema hatten. 49 Der vieldeutige Titel des Beitrags „Gdzie
jest Lemańska?“ (Wo bleibt Lemańska?) 50 signalisiert die Fokussierung auf die
Problematik der Geschlechtsflucht Komornickas, ihrer Verweigerung der Rolle der
Ehefrau, aber auch der Verdrängung Komornickas aus der Literaturgeschichte. Maria
Janion macht den Fall Komornicka zu ‚ihrer’ Sache und meidet einen ‚trockenen’
wissenschaftlichen Diskurs. Anders als die vorsichtige Podraza-Kwiatkowska
behandelt sie Komornicka mit uneingeschränkter persönlicher Anteilnahme, die sich
u.a. in stark emotional gefärbter Syntax und der Großschreibung von bestimmten
Begriffen ausdrückt. Sie verfolgt das Ziel, die Dichterin als mutige Kämpferin um
Authentizität und Menschwerdung nicht nur zu rehabilitieren, sondern auch zu
sakralisieren. Sie spricht von einer „moralischen Pflicht“ Komornicka gegenüber
(Janion 1996, 201) und zählt die Dichterin zu „Märtyrern der Existenz“, die für ihr
Anderssein und ihre Rebellion gegen einengende Normen mit strengsten Sanktionen
48
Polnisch: „U Przybyszewskiego (...) to właśnie kobieta była emisariuszką natury, pociągającą w stronę
zwierzęcej biologii i rozrodczości. Komornicka dokładnie odwróciła role, wyciągając jednocześnie – z
właściwą sobie skłonnością do hiperbolizacji - ostateczne konsekwencje z koncepcji miłości tragicznej.“
49
Vgl. Miszewski 1995, 77-95.
50
Dabei handelt es sich um ein Zitat aus der biographischen Erzählung Maria Dernałowiczs (1977). Bei
der Flucht aus Grabów (1944) soll Wanda, die Frau von Jan Komornicki, mit dieser Frage den 68 Jahre
alten Piotr Włast krampfhaft gesucht haben. (Lemańska war der Ehename Komornickas.)
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bestraft worden seien. Dabei betrachtet Janion diese Problematik nicht nur aus einer
sozial- und kulturkritischen, sondern auch aus einer metaphysischen Perspektive, die
den Konflikt zwischen Individualität und Mittelmaß, Freiheit und Sklaverei, Opfern
und ihren Peinigern ‚naturalisiert’: „Man bereitete Komornicka das Dasein einer
Märtyrerin – sie nahm es als Herausforderung an, mit der ewige Verfolger denen
begegnen, die anders sind.“ 51 (Ebd. 187) Bewusst konstruiert Janion einen Mythos,
indem sie sich eines spirituellen Diskurses in metaphorischer Funktion bedient:
Für ihren Nonkonformismus, ihren Protest gegen gesellschaftliche Konventionen, ihre
Unnachgiebigkeit und Unabhängigkeit, für ihr den Göttern der „inneren Erfahrung“ dargebrachtes
Opfer, trug sie die schwersten existenziellen und moralischen Konsequenzen (...). (Ebd. 187) 52
Die Gottheiten, zu deren Märtyrerin Janion Komornicka erhebt, sind das ‚Anderssein’
und die ‚innere Erfahrung’. Das Opfer, das sie verlangen, ist transgressives Eindringen
in Bereiche des Verbotenen. 53 Im Fall Komornickas ist es vor allem die
Grenzüberschreitung auf dem Gebiet der Gechlechterrolle:
[Komornicka] stellte all diese Rollen in Frage, welche den Frauen als deren heilige Missionen
zugeschrieben wurden. Daher quälten ihre Person und ihr Schicksal derart Zofia Nałkowska, 54 die
nicht in der Lage war (...) eine Wahl von der Art Komornickas zu treffen. (Ebd. 190) 55
Komornickas Protest gegen die Diskriminierung der Frauen verfolgt Janion nicht nur
in der Biographie, sondern auch in ihren frühen literarischen Texten, vor allem in den
51
Polnisch: „Zgotowano Komornickiej żywot męczennicy – przyjęła go jak wyzwanie rzucone przez
odwiecznych prześladowców tym, którzy są inni.“
52
Polnisch: „Za swój nonkonformizm, za swój protest przeciwko przyjętym konwencjom społecznym, za
swoją nieuległość i niezależność, za swoją ofiarę złożoną bogom Doświadczenia Wewnętrznego, poniosła
najcięższe konsekwencje życiowe i moralne (...).“
53
Zu den Helden dieses Janionschen Mythos, die nach ihrer Auffassung eine gigantische Arbeit und
Verspottung auf sich genommen haben, gehören u.a. auch Gombrowicz, Stanisława Przybyszewska und
Nietzsche. (Janion 1996, 227)
54
Auch hier, wie im Beitrag Podraza-Kwiatkowskas wird Komornicka mit Zofia Nałkowska verglichen.
Anders als ihre Vorgängerin zieht Janion die Rebellion Komornickas, „ihr Experiment an sich selbst“ den
Rationalisierungspraktiken und der Affirmation des eigenen Geschlechts durch Nałkowska vor. (Vgl.
auch Borkowska 1995, 201-256.)
55
Polnisch: „[Komornicka] rzucała (...) wyzwanie tym wszystkim rolom, jakie kobietom jako święte ich
misje zostały przypisane. Dlatego postać jej i los tak dręczyły Zofię Nałkowską, która (...) nie umiała
dokonać wyboru na miarę Komornickiej.“
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Erzählungen „Szkice“, dem Drama „Skrzywdzeni“ und dem unvollendeten Roman
„Halszka“. In ihrer Interpretation des Geschlechtswechsels weist Janion auf die
Schwierigkeit hin, als Frau um die Jahrhundertwende einen Lebensstil zu finden, der
sich der verhängnisvollen Opposition zwischen ‚Flittchen’ und ‚Dame’ verweigern
könnte. Mit ihrem Entschluss, diesem Schema zu entgehen, mit ihrer „wahnsinnigen
Konsequenz in den geistigen Akten der Tapferkeit, mit ihrer Dreistigkeit“ (Ebd. 193)
sei Komornicka so weit gegangen, dass sie zum Schluss ganz einsam geblieben und
für verrückt erklärt worden sei. 56
Dies bedeutet keineswegs, dass Komornicka wirklich wahnsinnig war. Die Konsequenz ihrer
existenziellen Praxis verlangte nach einem Identitätswechsel. Als sie diesen vollzogen hatte,
formte sich ihr Bild im Bewusstsein der Anderen sofort als das der „Verrückten“. (226) 57
Dieses Schicksal sei für diejenigen bestimmt, die beginnen, ihre gesellschaftliche
Rolle schlecht zu spielen. Mit den Antipsychiatrie-Vertretern Szasz, Laing und Cooper
prangert Janion die ‚Medikalisierung der geistigen Konflikte’ durch die Gesellschaft
an:
Mit diesen Worten wird das professionelle ärztliche Handeln bezeichnet, das jede als „nicht
normal“ geltende Erscheinung des seelischen Lebens auf Krankheit reduziert, die nach arbiträrer
medizinischer Intervention der Psychiatrie verlangt. Komornicka wurde zum Opfer dieses
furchterregenden Reduktionismus. (Ebd. 198) 58
Entschieden lehnt Janion jegliche Essentialisierung des Wahnsinns ab, will
psychisches Leiden aus der Kategorie der Krankheiten verbannt wissen und in ihnen
„den Ausdruck eines Kampfes des Menschen um den Lebenssinn und Lebensmodus
56
Schonungslos kritisiert Janion die Diagnosen Oszackis und ironisiert: „Dies ist ein typisches Beispiel
des Versuchs, jemanden von dem Bestreben heilen zu wollen, er selbst zu werden.“ Pigońs editorische
Bemühungen im „Archiwum Literackie“ bezeichnet sie als „Zeremonie der Degradierung“. Durch solche
Praktiken bleibe Komornicka aber „die geheimnisvolle, illegale Person unserer Literaturgeschichte“.
(Janion 1996, 223 ff.)
57
Polnisch: „Nie znaczy to bynajmniej, że Komornicka byla regularnie obłąkana. Konsekwencja jej
egzystencjalnej praktyki domagała się zmiany tożsamości; gdy dokonała tego, jej obraz w świadomości
innych ukształtował się od razu jako obraz ‚szalonej’.“
58
Polnisch: „Określa się w ten sposób profesjonalne postępowanie lekarskie, które każdy, uznany za
‚nienormalny’, objaw życia duchowego chce zredukować do przypadłości podlegającej arbitralnej
interwencji medycznej psychiatry. Komornicka stała się ofiarą tego złowrogiego redukcjonizmu.“
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sehen“. (200) Die Geschlechtstransformation Komornickas betrachtet sie als eine
radikale Trennung vom vorgegebenen fremdbestimmten Schema der weiblichen
Biographie und die Konstruktion eines „neuen, symbolischen Lebenslaufes“. Mehr
noch. Es handle sich dabei um einen spirituellen Akt – eine Wiedergeburt als neuer
Mensch, die gleichzeitig eine Offenbarung der „tiefsten Wahrheit des eigenen
Lebenslaufes“, der eigenen Bestimmung bedeute. Komornickas alte Identität als Frau
betrachtet Janion als einen rein äußerlichen Kokon, welcher, sobald die Zeit reif
wurde, den „authentischen inneren Menschen“, Piotr Włast, befreite. Sie macht darauf
aufmerksam, dass diese „Engels-Transfiguration“ in den literarischen Texten
vorweggenommen wurde. 59 Mit ihrer neuen Identität habe sich Komornicka „ein
zweites Leben“, eine „zweite Geburt“ geschenkt:
Schon immer wollte sie Künstler, Dichter, Kritiker, Philosoph, Guru, Priester sein – dies
erforderte allerdings die Aufgabe der Kondition der Frau, die all dies nicht sein konnte bzw. nicht
sein durfte. (...) Komornicka widerlegte die Behauptungen Weiningers. Sie wurde zum
symbolischen Mann. Sie wurde jemand, der „seinen PROTOTYP“ gefunden hatte (...), frei von
der Zufälligkeit des Geschlechts und von Einschränkungen durch gesellschaftliche Rollen. (Ebd.
229) 60
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Das Fazit der Janionschen Überlegungen ist die Hypothese vom rein geistigen
Charakter der Geschlechtsumwandlung Komornickas, „ohne das Anstreben
irgendwelcher (…) körperlicher Korrekturen“. Die ‚Operation’ sei ausschließlich im
semiotischen Bereich der Sprache und der Bekleidung verlaufen. Auch Janion wird
nicht müde zu betonen, dass die Männlichkeit für Komornicka einfach ein Äquivalent
für Menschlichkeit war: 61
59
In diesem Zusammenhang macht Janion auf Motive der mystischen Verwandlung, der Metamorphose,
der Wiedergeburt in Komornickas Texten aufmerksam („Szkice“, „Chimera“-Lyrik, „Biesy“). Viele
„Xięga“-Texte schilderten hingegen den Zustand nach der Engelwerdung. (Janion 1996, 212, 225)
60
Polnisch: „Zawsze chciała być Artystą, Poetą, Krytykiem, Filozofem, Guru, Kapłanem – wymagało to
jednak porzucenia kondycji kobiety, która nie mogła – czy raczej nie powinna – być tym wszystkim. (...)
Komornicka zaprzeczyła twierdzeniom Weiningera. Stała się Symbolicznym Mężczyzną. Kimś, kto
odnalazł ‚swój PROTOTYP’ (...) wolny również od przypadkowości płci i od ‚granic’ narzucanych przez
role społeczne.“
61
Vgl. die Thesen Simone de Beauvoirs (1949) zur Parallelisierung von Menschlichkeit und
Männlichkeit im Patriarchat.
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In ihrem Fall gibt es keinen Grund (…) vom Hermaphrodismus oder Homosexualismus zu
sprechen (...), vor allem weil (...) die Idee der FAMILIENBANDE in ihrer tiefsten Struktur eine
Idee vollkommen geschlechtsloser Geistigkeit war. (Ebd. 23) 62
Zimands Polemik – Wiedergeburt oder Schönheitsoperation?
Bevor ich zum zweiten Beitrag Janions übergehe, stelle ich Roman Zimands (1984)
Polemik gegen ihre Thesen vor, die sie zum Überdenken eines ihrer Standpunkte
veranlasste. In seinem distanziert-nüchtern, aber auch humorvoll geschriebenen und
persönliche Vorlieben des Autors durchaus akzentuierenden Aufsatz wertet Zimand
„Xięga poezji idyllicznej“ – das Werk von Piotr Włast – stark auf und das
vorhergehende Schaffen Komornickas ab. Gerade in diesem Band finde er Gedichte,
die ihm persönlich gefallen, die er nicht nur aus fachlichem Interesse, sondern ‚zum
Spaß’ lesen würde. Sie bedienten sich nicht mehr der expressionistischen Technik,
sondern würden durch tragische Autoironie bestechen: „Die ‚Xięga’-Gedichte sind so
wie sie sind, nicht weil P.O.W. 63 keine Gedichte schreiben konnte, sondern weil er es
konnte und so schrieb, wie er es wollte.“ 64 (Zimand 1984, 138) Die Polemik mit
Janion äußert sich zunächst einmal in der Infragestellung des antipsychiatrischen
Zugangs zum Phänomen der Geisteskrankheit:
Ich gestehe, dass ich ein Obskurant bin, der dem dunklen Aberglauben huldigt, dass es so etwas
wie psychische Krankheit gibt. Tatsache ist, dass ich mir einen Zugang zur Welt von Maria
P.O.W. ganz ohne den Begriff der Krankheit verschaffen kann. (Ebd. 140) 65
In seiner Interpretation des Geschlechtswechsels versucht Zimand, der Problematik
des Wahnsinns auszuweichen. Eine Verklärung Komornickas als Opfer von
62
Polnisch: „W jej przypadku nie ma powodu (...) sugerować ani hermafrodytyzmu, ani
homoseksualizmu (...) przede wszystkim dlatego, że (...) idea RODU w swej najgłębszej strukturze była
ideą całkowicie pozapłciowej duchowości.“
63
P.O.W. ist die Abkürzung von Piotr Odmieniec Włast (Piotr Sonderling Włast) – so der volle
männliche Name Komornickas.
64
Polnisch: „Wiersze ‚Xiegi’ są takie, jakie są, nie dlatego, by P.O.W. nie umiał pisać wierszy, lecz
dlatego, że umiał i pisał tak jak chciał.“
65
Polnisch: „Wyznaję, że jestem obskurantem hołdującym ciemnemu zabobonowi, wedle którego istnieje
coś takiego jak choroby psychiczne. Rzecz jednak w tym, iż mój klucz do świata Marii P.O.W. doskonale
obchodzi się bez pojęcia choroby.“
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repressiven gesellschaftlichen Systemen ist für ihn wenig reizvoll. Ganz im Gegenteil,
er finde „die Reaktion der Familie des P.O.W. auf eine kulturelle Erschütterung von
einem solchen Ausmaß“ (140) nicht so schlimm.
Die Hauptthese Zimands, die er auf der Grundlage eines metaphysischen
Verständnisses des Geschlechterdualismus entwickelt, lautet: Die Entscheidung für
Männlichkeit sei für Komornicka nicht so sehr, wie Janion will, die Wahl der
Menschlichkeit, sondern „die Wahl dessen, was sie für besser hielt“ gewesen.
Insgesamt ist es sein Anliegen, Janion in ihrer Überhöhung Komornickas zu bremsen.
Diesem Ziel dient auch sein etwas ironischer, in seinen performativen Effekten nicht
ganz harmloser66 Hinweis darauf, dass Komornickas Aktion, sich alle Zähne ziehen
zu lassen, eher als „Schönheitsoperation“ denn als eine „ikonische Geste“ zu verstehen
sei. Anstatt von Wiedergeburt spricht auch Zimand, ähnlich wie Podraza-
Kwiatkowska, vom Scheitern. Gescheitert sei Komornicka an ihrer
Kompromisslosigkeit und ihrem Idealismus:
(...) in der Welt von Piotr Włast gelang es, vom Blickwinkel des Betroffenen aus, auf eine
effektive Weise die in der Welt Komornickas unlösbaren Probleme zu lösen. Das Problem war,
nach meinem Verständnis, eines – die Unvollkommenheit der Welt und Komornickas selbst.
Dazu kam ein ungewöhnlich heftig erlebter Konflikt zwischen den maximalistischen Forderungen
an diese Welt und an sich selbst einerseits und der Realität dieser Welt und der eigenen Person,
einschließlich ihres körperlichen Erscheinungsbildes, andererseits. (Ebd. 136) 67
Die Verfechterin des Patriarchats
Inspiriert von Zimands Behauptung, Komornicka habe sich mit ihrem
Geschlechtswechsel für das ‚Bessere’ entschieden, korrigiert Janion (1996a) ihre
66
Ich betrachte dies als ein Beispiel der Zurückführung von ‚Frauenproblemen’ auf ihre Körperlichkeit
und ihr Äußeres. Eine ähnliche Funktion erfüllt der ebenfalls von Zimand (durchaus wohlwollend)
unternommene Rekurs auf Komornickas ‚Bedürfnis nach Liebe’. Probleme männlicher Künstler werden
meist nicht auf dieser Ebene diskutiert.
67
Polnisch: „(...) w świecie Piotra Własta udało się, w sposób z punktu widzenia podmiotu skuteczny,
rozwiązać problemy nierozwiązywalne w świecie Komornickiej. Problem był, w moim rozumieniu,
jeden: niedoskonałość świata i samej siebie. I jeden niezwykle ostro przeżywany konflikt między
maksymalistycznymi wymogami wobec świata i samej siebie a rzeczywistością tegoż świata i własnej
osoby, łącznie z fizycznym jej wyglądem.“
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Thesen und spricht von der extremen Verinnerlichung patriarchalischer Werte, vor
allem der Verachtung der Weiblichkeit durch Komornicka. Die Schriften von
Nietzsche, Möbius, Weininger hätten die Dichterin in der Überzeugung bekräftigt,
dass Männlichkeit einen Zugang zur geistigen Macht eröffnen kann, an der sie, im
Bewusstsein ihrer herausragenden intellektuellen Fähigkeiten, sehr interessiert war,
Weiblichkeit aber das Verhaftetsein im Geschlechtlichen und Biologischen sowie
Verlogenheit und Sklaverei bedeutet. Dies äußere sich u.a. in Własts Phantasma, ein
Königssohn zu sein, das sich in seinen Briefen aus den Irrenanstalten verfolgen lasse:
Komornicka verließ die Domäne gesellschaftlicher Erniedrigung der Frauen und griff imaginär
nach Macht, sogar nach der höchsten – der königlichen. Sie trägt nicht nur Männerkleidung und
wartet auf ein angemessenes Amt, sondern empfindet sich darüber hinaus als KÖNIGSSOHN.
(Janion 1996a, 268) 68
Wenn eine Frau nur beraten kann, Piotr Włast aber für die Rolle des Königssohnes und für das
Herrschen bestimmt ist, ist es klar, dass er keine Frau sein kann. (Ebd. 270) 69
Der Geschlechtswechsel, auf dessen asexueller Dimension Janion weiterhin besteht,
sowie die Identifizierung mit den Ahnen hätten Komornicka einen Übergang in die
privilegierte, männliche Position in der patriarchalischen Kultur ermöglichen sollen.
Aus dieser Motivation heraus habe sie sich genötigt gefühlt, die Körperlichkeit völlig
abzulehnen und „die Seele aus dem Leib der Frau zu befreien“, um eine rein geistige
Existenz zu führen, die in ihrer Vorstellung bisher den Männern vorbehalten war.
Dabei betont Janion, dass Komornickas Weg zur „Fixierung am Patriarchat“ ein sehr
komplizierter war und über emanzipatorische Entwürfe („Raj młodzieży“) führte:
Komornicka betrat den Weg der Negierung gesellschaftlich festgelegter geschlechtlicher Identität.
Dies geschah im Prozess einer komplizierten Transformation. Ihre Auflehnung wurde zu etwas
68
Polnisch: „Opuszczając domeny społecznego poniżenia kobiety, Komornicka imaginacyjnie sięgnęła
po władzę, i to najwyższą, bo królewską. Nie tylko nosi męskie stroje i czeka na stosowny Urząd, ale
czuje się Synem Królewskim.“
69
Polnisch: „Wenn eine Frau nur beraten kann, Piotr Włast aber für die Rolle des Königssohnes und für
das Herrschen bestimmt ist, ist es klar, dass er keine Frau sein kann.“
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Paradoxem – zu einer triumphalen Resignation, einem Übergang auf die Seite der patriarchalen
Kultur, einem derart radikalen Übergang, dass er nahezu entsetzt. (Ebd. 264) 70
Ausgehend von Komornickas Essay über Oscar Wilde, 71 zieht Janion Parallelen
zwischen dem Schicksal und den geistigen Leitlinien der beiden Künstler, in denen sie
„Märtyrer der Geschlechtlichkeit“ sehen will. Den beiden sexuellen „Sonderlingen“,
dem „Homosexuellen“ und der „symbolischen Transsexuellen“, 72 sei das Konzept der
Entwicklung durch das Leiden, durch produktive Niederlagen und letztlich durch ein
bewusstes Streben nach existenzieller Transformation gemeinsam. 73 Für beide
charakteristisch sei auch das Bestreben, ihre Individualität „mitten unter Philistern
aller Art“ zu bewahren sowie der Ekel weiblicher Physiologie gegenüber. Diese
Behauptung ist besonders problematisch, denn sie stützt sich auf einen literarischen
Text – die biographische Prosa Maria Dernałowiczs (1977). 74 Janion geht sogar so
weit zu behaupten:
Ihre biologische und ästhetische Abscheu vor Weiblichkeit und ihre Verwandlung in einen Mann
können davon zeugen, dass sie nicht so sehr ein Mann, sondern vielmehr ein homosexueller,
misogyner Mann wurde. (Ebd. 287) 75
Resümierend verbindet Janion das Schicksal Komornickas mit dem feministischen
Topos der ‚Verrückten auf dem Dachboden’. 76 In diesem Zusammenhang zieht sie
70
Polnisch: „Komornicka weszła na drogę zanegowania społecznie ustalonej tożsamości płciowej.
Dokonało się to w toku skomplikowanej tranformacji. Jej bunt stał się czymś bardzo paradoksalnym –
triumfalną rezygnacją, przejściem na stronę kultury patriarchalnej, przejściem tak radykalnym, że aż
przerażającym.“
71
Komornicka 1905.
72
Vom Transsexualismus Komornickas spricht Janion in Anführungsstrichen. (Janion 1996a, 291)
73
Es folgt eine Interpretation der literarischen Texte Komornickas (auch der sehr stark gewürdigten
„Xiega“) unter dem Blickwinkel des obsessiven Motivs der geistigen Verwandlung. Erwähnenswert ist
auch Janions Polemik mit Jerzy Sosnowskis (1993) Wahrnehmung des Wahnsinns Komornickas, den
Janion in mystisch-existenziellen Kategorien betrachtet wissen will, als „Katastrophe des Ichs“. (306)
74
1977 erscheinen in „Twórczość“ einige Gedichte Komornickas und ein biographischer Essay ihrer
heute noch lebenden Großnichte Maria Dernałowicz. Mit großem Einfühlungsvermögen und zum Teil
lyrischen Verfahren versucht die Autorin, sich in die Perspektive der ‚Verrückten’ hineinzuversetzen und
aus ihrem Blickwinkel den Geschlechlechtswechsel zu schildern.
75
Polnisch: „Jej biologiczny i estetyczny wstręt do kobiecości i jej ‚przekształcenie się’ w mężczyznę
mogą świadczyć o tym, że stała się nie tyle mężczyzną, ile mężczyzną homoseksualnym,
mizoginicznym.“
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73

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auch eine Parallele zwischen Komornicka und Emily Dickinson, die nicht nur ihre
Romanfiguren verrückt werden ließ, sondern auch selber an Agoraphobie litt und
zwanzig Jahre lang ihr Schlaf- und Arbeitszimmer nicht verließ. Bezeichnend für
beide Autorinnen, die sich selbst zum Schweigen und zu einer verborgenen Existenz
verurteilt hätten, sei ihre ‚Selbstvertreibung’:
Sie war der Meinung, dass sie als Frau eine Selbstvertreibung aus dem eigenen Geschlecht
vollziehen muss, um schöpferisch sein zu können: Dieser Vertreibung folgten weitere – aus der
Familie, der Gesellschaft, der Literaturgeschichte. (...) Unsere „Verrückte auf dem Dachboden“
bleibt eine lebendige Metapher, ähnlich wie Oscar Wilde (...) Dank ihr erkennen wir Sphären des
Schweigens, des Verschweigens und des Ausschlusses aus der Literatur, aus ihrer Geschichte, und
d.h. aus der Geschichte der Menschen. (Ebd. 317 ff.) 77
2.2.3. Edward Boniecki – Die Rache des ‚animus’
Während Maria Janion Komornicka verklärt und überhöht, legt Edward Boniecki
(1998) in seiner Monographie 78 einen ganz anderen Duktus an den Tag. Von
Komornickas Familiennamen macht er keinen Gebrauch: Intim-verniedlichend nennt
er sie im Anschluss an Oszacki ‚Marynia’. (Im Fall Oszackis erscheint diese Praxis, da
sie mit dem Verwandschaftsverhältnis des Arztes zur Dichterin erklärt werden kann,
weniger problematisch.)
Boniecki vermittelt detaillierte Informationen zu vielen bisher ungeklärten Fragen der
Biographie der Autorin sowie der Włast-Legende und präsentiert bisher nicht
veröffentlichte Aquarelle Komornickas. Der Schwerpunkt seiner hermeneutischen
Untersuchung liegt auf dem Verhältnis zwischen Körper und Geist in ausgewählten
Schriften (insbesondere in „Biesy“ und „Xięga“) und der Vita Komornickas.
Bonieckis Abhandlung stellt sich in erster Linie die Aufgabe, Komornickas Leben und
76
Aus Charlotte Brontës Roman, „Jane Eyre“.
77
Polnisch: „Uważała, że jako kobieta musi dokonać S a m o w y g n a n i a z własnej płci, by móc
tworzyć: Za tym wygnaniem poszły następne – z domu, ze społeczeństwa, z historii literatury. (...) Nasza
‚wariatka na strychu’ pozostaje żywą figurą poetycką, podobnie jak Oskar Wilde (...) Dzięki niej
dostrzegamy obszary milczenia, przemilczenia i wykluczenia z literatury, z jej historii, a więc z historii
ludzkości.“
78
Es ist die erste Monographie zu Komornicka.
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vor allem ihre Geschlechtstransformation aus der Sicht der Jungschen
Archetypentheorie zu interpretieren. Mit dem geschlechtlichen Aspekt der
Transformation setzt sich Boniecki bewusst nicht auseinander. Aus seiner Sicht sei
lediglich die personale und geistige Dimension der Verwandlung von Interesse – d.h.
nicht die Verwandlung Frau zu Mann, sondern die von Maria zu Piotr. Dies begründet
er mit seiner Intention, „sich so weit wie möglich von oberflächlichen (…) Meinungen
zu vermeintlicher Transsexualität Komornickas fernzuhalten“ (Boniecki 1998, 54).
Die Sexualität habe Komornicka gänzlich und für immer verleugnet. Bonieckis
Argumentation läuft auf die Diagnose von der „Besessenheit einer Frau durch den
animus“ 79 hinaus:
Eine solche Frau „weiß alles besser, denkt wie ein Mann und reagiert nicht instinktiv“. (Jacobi)
Diese Charakteristik entspricht weitgehend dem Temperament Marynias und bestätigt die bereits
aufgestellte These von Störungen im Bereich ihres animus. Dieser Zustand wird von der
Dominanz patriarchaler Normen in der europäischen Kultur verstärkt, die eine Frau zu dem
Glauben veranlassen können, Männlichkeit wäre wertvoller als Weiblichkeit. Und Komornicka
war genau dieser Meinung. (Ebd. 46) 80
Das Hauptproblem Komornickas sei „die dominierende Position des Bewusstseins in
ihrer Psyche“ gewesen. Sie habe bereits in ihren jungen Jahren alles Triebhafte,
Emotionale, Körperliche aus ihrem Leben verbannt und ihr Leben der
uneingeschränkten Kontrolle des Verstandes unterwerfen wollen. 81 In „Biesy“, das
Boniecki autobiographisch liest, habe Komornicka das Unbewusste zwar erstmalig in
der polnischen Literaturgeschichte „offenbart“, es jedoch gleichzeitig mit der
Willenskraft, mit der „Tyrannei des Bewusstseins“ zu zähmen versucht. Insofern sei
das Ziel „ihrer Reise in sich selbst“ in „Biesy“ nicht erreicht worden. Es sei der
79
Die Diagnose von der Besessenheit Komornickas durch ihren ‚animus’ stellt Boniecki in Anlehnung an
das entsprechende Urteil Jungs über Nietzsche (Identifizierung mit Zarathustra). (Ebd. 76)
80
Polnisch: „Kobieta taka jest ‚wszystko lepiej wiedząca, rozumująca jak mężczyzna i nie reagująca w
sposób instynktowy’. (Jacobi) Charakterystyka ta w znacznym stopniu odpowiada temperamentowi
Maryni i potwierdza, zauważone już wcześniej, zakłócenia w obszarze animusa. Stan ten podtrzymuje i
wzmacnia dominująca rola zasady patriarchalnej w kulturze europejskiej, przez co kobieta jest skłonna
mniemać, że męskość jest jako taka bardziej wartościowa niż kobiecość. A Komornicka tak właśnie
sądziła.“
81
Diese Thesen lassen sich mit den Ausführungen Oszackis in Verbindung bringen.
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Dichterin nicht gelungen, ihre Psyche zu harmonisieren und damit den
Individuationsprozess erfolgreich zu beenden. Das unterjochte Unbewusste habe sich
an ihr gerächt, „indem es Marynia mit den Krallen der Neurose packte und ihr jegliche
Identität entriss“. Mit Jung spricht Boniecki metaphorisierend auch von „Rache der
entwürdigten Götter“, „Vergeltung der betrogenen Psyche“ und vom „Angriff der
Naturkräfte auf das übermächtige Ego“. (Ebd. 47)
Das einzige, was Komornickas Bewusstsein zu seiner Verteidigung habe tun können,
sei nun die Herausbildung einer Ersatzpersönlichkeit (Piotr Włast) gewesen. Dieser sei
als Komornickas ‚animus’, die Personifizierung ihres Unbewussten, anzusehen. Er
habe die Macht über ihr Ego ergriffen und dieses der Gewalt der imaginierten Ahnen
unterworfen. So bildete sich Komornicka ein, wie Boniecki bedauernd resümiert, der
Hüter ihres Geschlechts zu sein, während sie de facto „eine von der Mutter nicht
abgelöste, in ihrer Persönlichkeitsentwicklung zurückbleibende und in das Dunkel des
matriarchalen Komplexes zurückfallende Tochter“ geblieben sei, die in einer
Glaskugel über der Erde schwebte. 82 (Ebd. 77) Komornickas „Abneigung dem Körper
und der Geschlechtlichkeit gegenüber“ belegt Boniecki auch anhand der weiblichen
Figuren ihrer frühen Werke (Wanda, Helena), die er, wie zuvor schon Oszacki, mit der
Person der Autorin beinahe gleichsetzt:
Die von ihr geschaffenen weiblichen Figuren zeichnen sich durch eine eigentümliche
„Vergeistigung“ aus, eine Neigung zur Selbstreflexion und eine im Verhältnis zum emotionalen
Bereich übermäßig entwickelte intellektuelle Sphäre. Auf dieses emotionale Defizit der
Heldinnen Komornickas machte bereits Wacław Nałkowski aufmerksam. (...) Genauso war, wie
es scheint, auch Komornicka selbst. (Ebd. 72) 83
82
Aus der Sicht Komornickas sei jedoch ihre „symbolische Maskulinisierung“ das „Zeichen des
Erreichens eines höheren Grades der geistigen Entwicklung“ gewesen. Denn, und hier knüpft Boniecki an
Zimand an, die Weiblichkeit sei für sie das Schlechtere, Männlichkeit aber das kulturell Überlegene
gewesen. (Ebd. 72)
83
Polnisch: „Stworzone przez nią postaci kobiece wyróżniają się swoistym ‚przeduchowieniem’,
zdolnością do samorefleksji i w ogóle sferą intelektualną rozwiniętą nieproporcjonalnie w stosunku do
reakcji emocjonalnych. Na ten jakiś niedorozwój uczuciowy bohaterek Komornickiej zwrócił już uwagę
Wacław Nałkowski. (...) Taka, zdaje się, była sama Komornicka.“
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Komornickas Überbewertung des Geistigen führt Boniecki zum Teil auf die
Inspiration mit den anthropologischen Ideen der polnischen Romantik zurück:
Komornicka glaubte an die romantischen anthropologischen Phantasien. (...) Sie glaubte an den
menschlichen Geist, der als Buße für die Sünden im Körper gefangen bleibt und dazu bestimmt
ist, sich auf der Erde zu reinigen und den Körper engelsgleich werden zu lassen. Sie glaubte an
die Unabhängigkeit und die Allmacht des menschlichen Geistes, der dazu fähig sei, den Körper,
ein an ihn mechanisch angehängtes Werkzeug, zu beherrschen. (Ebd. 68) 84
Damit habe sich die Dichterin letztendlich vom mechanistischen, kartesianischen
Körper-Geist-Modell nicht entfernt. Eine Überwindung dieses Dualismus sieht
Boniecki erst in „Xięga“ verwirklicht, die er als „Eruption eines neuen Talents eines
verwandelten Dichters“ betrachtet. Gemeinsam mit der Ästhetik des Jungen Polen
habe Własts opus magnum die enge Verknüpfung von Leben und Existenz, ansonsten
aber ist es der Poetik der Zwischenkriegszeit verpflichtet, 85 vor allem durch die
Einführung der Alltagssprache, der Dialoge, der Sprachspiele, des ‚doppelzüngigen’
Humors, der Ironie und Groteske. Insgesamt sei „Xięga“ eine „Reinterpretation der
eigenen Biographie im mystischen Geist“ und damit eine Geschichte der
Vergeistigung und Veredelung des Körpers auf der Grundlage mystischer Ideen
verschiedener Religionen und esoterischer Lehren. 86 An die Stelle des übertriebenen
Rationalismus und der Rebellion trete hier die Affirmation des Daseins sowie
franziskanische Askese. Auf eine eigentümliche Weise kehre Komornicka nun zum
Körper zurück, und zwar zum Leib ihres Geschlechts, an den sie ihre neue Identität
anlehnt. Damit sei „Xięga“ Ausdruck einer geistigen Selbstfindung, die jedoch, und
das bedauert Boniecki nach wie vor, als Flucht in die Welt der idyllischen Phantasmen
erfolgt:
84
Polnisch: „Komornicka uwierzyła w romantyczne fantazje antropologiczne (...) Uwierzyła w duchową
naturę człowieka, uwięzioną w ciele za grzechy, a przeznaczoną do oczyszczenia się na ziemi i
przeanielenia tegoż ciała. Wierzyła w niezależność i wszechmoc ducha ludzkiego, zdolnego swobodnie
władać ciałem, jako mechanicznie przyczepionym do niego narzędziem.“
85
Hier sieht Boniecki Parallelen zur Poetik von Laforque und Poe.
86
Wie bereits Janion macht Boniecki auf die Affinität zum mystischen Słowacki („Król Duch“), aber
auch zu Novalis aufmerksam.
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Im Endeffekt erreichte die Autorin von „Czarne płomienie“ (Schwarze Flammen) in der Welt der
Phantasie und Poesie als Piotr Odmieniec Włast eine partielle Affirmation ihrer selbst. Sie
scheiterte jedoch an der Realität, deren Gesetzmäßigkeiten sie nicht anerkennen wollte. Sie
scheiterte am Körper, von dem sie sich abgrenzen, den sie umwandeln wollte. Sie lebte
verschlossen in der Welt der Träume, abgetrennt von der Realität (...). (Ebd. 120) 87
2.2.4. Izabela Filipiak – Ein sexuelles Delikt?
Gegen die Betrachtung Komornickas als „Krankheitsfall“, „Lehre für die Nachwelt“
bzw. „geschlechtslosen Krüppel“ 88 wendet sich vehement die feministische
Schriftstellerin und Literaturwissenschaftlerin Izabela Filipiak (2000). Bei der
Interpretation des Geschlechtswechsels und seiner Konsequenzen richtet sie ihr
Augenmerk nicht nur auf die nationalen und soziokulturellen Umstände, sondern auch
auf die privaten, intimeren Zwänge, denen die Dichterin unterworfen war – vor allem
ihre konfliktgeladene, von Machtkämpfen geprägte Beziehung zur Mutter. In dieser
von ungestilltem Hunger nach Liebe und Anerkennung gezeichneten Beziehung sucht
Filipiak einen der Gründe der persönlichen und gesellschaftlichen Niederlage Maria
Komornickas. Als einen weiteren wichtigen Faktor betrachtet sie Komornickas
‚Vereinsamung’ zwischen dem misogynen und dem damals aus taktischen Gründen
sehr vorsichtigen feministischen Diskurs. Beiden Paradigmen habe sich Komornicka
nicht anschließen können.
Als erste geht Filipiak an der Frage der Transsexualität und auch der mutmaßlichen
lesbischen Orientierung Komornickas nicht vorbei. Dezidiert polemisiert sie gegen die
in der bisherigen Forschung oft vertretene These, dass es sich bei Komornickas
Geschlechtswechsel um einen alles Körperliche ausklammernden Prozess der
allgemeinen Menschwerdung und Vergeistigung handeln würde. Auch bestreitet sie
87
Polnisch: „W rezultacie autorka Czarnych płomieni osiągnęła częściową samoafirmację, w świecie
wyobraźni i poezji jako Piotr Odmieniec Włast. Przegrała z rzeczywistością, której racji nie chciała
uznać. Przegrała z ciałem, od którego tak pragnęła się odgrodzić, przeistoczyć je. Żyła zamknięta w
świecie marzeń, oderwana od realności (...).“
88
Zitat: „(...) das Bild einer auf das Patriarchat fixierten und der Intimität beraubten Person (...) machte
aus ihr einen Krüppel.“ (Filipiak 2000, 132)
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die Behauptungen Janions und Podraza-Kwiatkowskas, dass sich Komornicka nach
der Metamorphose als ein entleibtes, asketisches Wesen begriff. Sie habe durchaus
auch sexuelles Begehren in ihre literarischen Texte, vor allem in die „Xięga“ und in
ihre private Korrespondenz, ‚eingeschrieben’. Den Geschlechtswechsel Komornickas
betrachtet Filipiak als durchaus sexuell motiviert:
Die Annahme der Position des „männlichen“ Subjekts verleiht, außer dem Zugang zur Sprache,
zum Diskurs und dem kulturellen Erbe, auch das Recht, männlich definierte Phantasien zum
Ausdruck zu bringen. Davon, dass die Mannwerdung das Öffnen einer [Pandora]-Büchse der
Sexualität bedeuten könnte, zeugen (...) sinnliche Beschreibungen, erotische Phantasien, Träume
und Realisierungswünsche, die in „Księga“ verstreut sind. (Filipiak 2000, 124) 89
Das sexuelle Begehren, von dem Filipiak spricht, richtet sich ihrer Ansicht nach –
gerade in „Xięga“, die in der bisherigen Forschung paradoxerweise als ein beinahe
mystisches Werk galt – vor allem an weibliche Figuren. (Hier polemisiert Filipiak
gegen Zimands und Janions These, Komornicka hätte die Männer für ‚etwas Besseres’
gehalten, Frauen verachtet und sich dem misogynen Diskurs der Zeit angeschlossen.)
Die Komornicka-Forscher hätten dies bislang verschwiegen, um die Dichterin nicht
einem ‚schlimmen’ Verdacht auszusetzen, einem Verdacht, den Filipiak selbst nicht
ausspricht, auf den sie aber anspielt:
Wie geschah es, dass die evidente Sinnlichkeit der Gedichte und Poeme (…) von „Księga poezji
idyllicznej“ in jeder bisherigen Deutung annulliert wurde? Was wäre, wenn in den
Interpretationen neben dem Priester Baka ein Piotr Włast erscheinen würde, der mit einem
sinnlichen Vergnügen verschiedene Dienstmädchen (…) ansieht und mit romantischem
Enthusiasmus den Reiz der wandelnden Muse lobt? Ich frage, obwohl ich verstehe. Es war das
Gefühl der Diskretion, von dem sich die Forscher leiten ließen. (...) Obwohl das „männliche“
Subjekt in „Księga“ die Attraktivität seiner weiblichen Heldinnen wahrnimmt und diese mit einer
Zärtlichkeit beschreibt, die die romantischen Muster belebt und erfrischt, erweist sich die
fehlende Übereinstimmung zwischen dem so ausgedrückten Begehren und dem, was Piotr Włast
im biographischen Bereich, außerhalb des Textes, in seinen Hosen versteckte als peinlich. Die
von Włast geschaffene Magie des heterosexuellen decorum hat nicht genügend
89
Polnisch: „Wpisanie się w pozycję ‚męskiego’ podmiotu, oprócz dostępu do języka, pola dyskursu i
dziedzictwa kulturowego, daje też prawo do wyrażania fantazji, definiowanych jako męskie. O tym, że
przemiana w mężczyznę mogła być uświadomieniem i otwarciem puszki z seksualnością, świadczą (...)
zmysłowe opisy, erotyczne fantazje, sny i życzenia realizacji, rozsiane po ‚Księdze’.“
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79

80
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Überzeugungskraft. (...) Das Odium eines sexuellen Exzesses umgibt die ganze Angelegenheit
(...). (Ebd. 133) 90
In den Vordergrund ihrer Interpretation des Geschlechtswechsels stellt Filipiak
folglich das, was ihre Vorgänger ausgeschlossen haben wollten – die Homosexualität.
Dieses Wort wird jedoch nicht ausgesprochen. Explizit äußert Filipiak lediglich die
Vermutung, es handle sich bei Włast um einen Zwitter, um das ‚dritte Geschlecht’ mit
einer fließenden sexuellen Identität, bzw. um eine Transsexuelle, die es liebt, aus dem
‚Schrank der Kultur’ spektakuläre Verkleidungen herauszuholen:
Die geschlechtlich unmarkierte Stimme des Subjekts von „Księga“ wählt die männliche
Konvention des Ausdrucks von Begehren nicht nur, weil ihm keine andere zur Verfügung steht,
sondern weil diese Wahl einen Schrank mit einer unzähligen Menge von Verkleidungen öffnet,
während die Alternative das Schweigen bedeutet. (Ebd. 140) 91
Interessant ist, wie radikal Filipiak die bisherige Forschung auf den Kopf stellt und als
verlogen denunziert. Dabei verfällt sie in das andere Extrem und ignoriert bei ihrem
Streifzug durch „Xięga“ die spirituellen Aspekte dieses Werkes.
Einen anderen Aspekt der Geschlechtstransformation Komornickas sieht Filipiak in
der Notwendigkeit des Ausbruchs aus der symbiotischen Beziehung zur Mutter, der
Abgrenzung und Abnabelung:
Piotr Włast wäre (...) eine Verkleidung, die Maria anzieht, um ihr Verlangen nach Individuation
zu verstärken und zu legalisieren. Er wäre ein Versuch, die eigene Identität zu bestimmen, eine
Differenzierung dort einzuführen, wo sie vorher nicht existierte, eine Barriere in diesem Bereich
90
Polnisch: „Jak to się stało, że ewidentna zmysłowość wierszy i poematów (...)‚Księgi poezji
idyllicznej’ została w każdym po kolei, skądinąd wartościowym i godnym szacunku odczytaniu –
anulowana? Co by było, gdyby obok interpretacji księdza Baki, pojawił się Piotr Włast z renesansową
przyjemnością oglądający różne panny służące (...), z romantycznym entuzjazmem wychwalający urok
wędrownej muzy? Pytam, bo rozumiem. To poczucie dyskrecji kierowało badaczami. (...) Chociaż w
tekście ‚Księgi’ ‚męski’ podmiot dostrzega atrakcyjność swoich kobiecych bohaterek i opisuje je z
czułością, która ożywia i odświeża romantyczne wzory, to brak równania między wyrażonym w ten
sposób pragnieniem, a tym, co Piotr Włast w obszarze biograficznym - na zewnątrz tekstu – skrywał w
swych spodniach, okazuje się kłopotliwy. Magia heteroseksualnego decorum, przez niego stworzona, nie
ma dość przekonywującej mocy. (...) Odium seksualnego wykroczenia unosi się nad całą sprawą (...).“
91
Polnisch: „Głos podmiotu z ‚Księgi’, uformowany jako głos płynnego rodzajowo podmiotu, wybiera
męską konwencję ekspresji pożądania nie tylko dlatego, że nie ma pod ręką żadnej innej, ale dlatego, że
wybór ten otwiera szafę z niezliczoną ilością przebrań, podczas gdy alternatywą jest milczenie.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
aufzustellen, in dem das Fehlen eines Unterschiedes zwischen Maria und ihrer Mutter eine
Vereinnahmung der einen durch die andere ermöglichte. (Ebd. 132) 92
Die Erforschung des handschriftlichen Briefmaterials veranlasst Filipiak dazu, den
Bericht Anielas vom plötzlichen Geschlechtswechsel Komornickas im Posener Hotel
auf der Durchreise zur Ostsee in Frage zu stellen. Es sei durchaus denkbar, dass
Komornickas Bekenntnis zum männlichen Geschlecht nicht so abrupt vor sich
gegangen sei, sondern sich bereits einige Monate vor der Posener Nacht angekündigt
habe. Aus den Briefen Komornickas an die Mutter lasse sich nämlich rekonstruieren,
dass es der Familienstreit um das väterliche Erbe in Radom gewesen sein kann, der die
benachteiligte und nicht ernst genommene Dichterin zum Geschlechtswechsel bewog.
2.3. Die Revision des Forschungsparadigmas ‚Pathologisierung
– Rehabilitierung’
2.3.1. German Ritz – Geschlechterkämpfe auf der Ichbühne des
Textes
Die erste Auseinandersetzung mit Komornicka im deutschen Sprachraum stammt von
German Ritz (2001) und unterscheidet sich wesentlich von den polnischen
Interpretationsansätzen. Die bisherige Forschung, die in erster Linie das Ziel der
Rehabilitierung Komornickas verfolgte, habe, wie Ritz herausgearbeitet hat, eine
Antwort auf den biographisch-kulturellen Fall Komornickas gesucht und sich hierbei
auf explizite Textaussagen konzentriert. Keiner der Forscherinnen und Forschern habe
von einem Gender-Ansatz ausgehend die Diskursformen und die Textkonzeptionen
selbst anvisiert. Auch sei bisher, auf der Grundlage eines aus dem 18. Jahrhundert
92
Polnisch: „Piotr Włast byłby (...) przebraniem, które Maria zakłada, by wzmocnić swoje pragnienie
indywiduacji i nadać mu sankcję legalności. Byłby sposobem na określenie własnej tożsamości,
wprowadzenie dyferencjacji tam, gdzie uprzednio nie było różnicy, postawienie bariery w tym obszarze,
w którym brak różnicy pomiędzy nią a matką zezwala na absorbcję tej pierwszej przez tą drugą.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
stammenden Autorbegriffs heraus (Originalitätsprinzip, Autor als das absolute
Zentrum des Werks), das Problem der zweifachen Autorschaft (als geschlechtliches
Wesen und als ‚Schöpfer’) umgangen worden. Dadurch seien heterogene
Texterscheinungen ignoriert bzw. oft mit normativen Maßstäben zu einem Ganzen
reintegriert worden. Die Methode von Ritz ist nicht normativ und geht von einem
modernen Autorbegriff aus. Sie setzt sich zum Ziel, der Form des sexuellen
Transgresses in den Texten nachzuspüren, sich auf die Eigenart und die Heterogenität
der imaginierten Geschlechtsidentität zu konzentrieren. Den Ausgangspunkt einer so
angelegten, auf Lacans Sprachtheorie basierenden Untersuchung, bildet die These,
dass die empirische Komornicka, die den Geschlechtswechsel auf ‚Gender’- und nicht
auf ‚Sex’-Ebene vollzogen hat, nicht als Transsexuelle zu betrachten ist. Sie sei
vielmehr eine Transvestitin gewesen, ohne jedoch die dazu gehörenden kulturellen
Formen zu übernehmen. Ihre Transformation habe sich, wie Ritz betont, innerhalb der
symbolischen Ordnung vollzogen (Bekleidung, Name), wollte sich aber von dieser
nicht ableiten. Insofern stelle Komornicka einen Sonderfall in der Tradition der
Mystifikation dar. Ihre neue Geschlechtsidentität resultiere nicht aus einer inszenierten
freien Wahl, die essentialistische Festschreibungen dekonstruiere, sondern verstehe
sich als existenzieller Entscheid von ontologischer Dimension. Jeden Versuch,
Komornickas Identität an eine bestehende kulturelle Form der Sexualität zu binden,
hieße für Ritz, die Eigenart ihres Geschlechtstransgresses zu missdeuten.
Die Untersuchung von Textstrukturen führt Ritz zu dem Schluss, dass die Stimme des
Geschlechts die Identität des Autors zersetzt: „Die Rede vom Geschlecht (‚sex’) und
vor allem vom eigenen bleibt im Text das Andere. Sie durchbricht als Heterotext die
Einheit des Textes.“ (Ritz 2001, 136) Daher verpflichtet sich der Forscher einer
historischen, widerständigen Gender-Lektüre, die sich auf die Suche nach diesen
Heterotexten, und zwar in ausgewählten Schriften aus der Zeit vor und nach 1907,
begibt. In Komornickas frühen Prosawerken stünden zwei Selbstdarstellungen im
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Widerstreit zueinander: die als Frau (die sich als emanzipatorisch zeitkritisch versteht)
und die als Dichter (die ohne kulturelle Bedingtheit auskommt). 93 Auf der Ichbühne
der Texte werden Geschlechterkämpfe ausgefochten, und zwar zwischen der
imaginierten schöpferischen, phallischen Kraft und der Erfahrung des Körpers als des
ganz Anderen, welches Chaos, Nicht-Form und Nicht-Sprache bedeutet.
„Komornickas Schwanken zwischen weiblicher und männlicher Identität“ führe „zu
keinem Transgress, sondern muss im Gegenteil eine Utopie nach außen projizieren,
die die alte Geschlechteridentität letztlich restituiert.“ (Ebd. 151)
Nach 1907 sei der Geschlechtertausch zur Hauptform der Selbstinszenierung
geworden, aber auch dieser habe keine einheitliche, sondern nur relative, ungesicherte
Identität stiften können: „(...) im Konzept der Sprache enthüllt sich der
Geschlechtertausch lediglich aus Verschiebung entlang der Signifikanten, als
Transvestismus.“ (Ebd. 157) In der späten Lyrik Komornickas trete an die Seite des
neuen männlichen Ichs das Ich des Wahns. Beides will Ritz nicht ursächlich
miteinander verknüpft wissen: „In beiden Formen überschreitet Komornicka ihr
ursprüngliches Autoren-Ich und gibt dem Autoren-Ich des Piotr Odmieniec Włast
seine unbedingte Identität.“ (Ebd. 156)
2.3.2. Krystyna Kralkowska-Gątkowska – Der Schatten des Vaters
Kurz vor der Beendigung meiner Arbeit an der vorliegenden Studie erschien
Kralkowska-Gątkowskas (2002) „Cień twarzy“ (Der Schatten des Gesichts) – eine
Aufsatzsammlung zu Komornicka. Auch Kralkowska-Gątkowskas Analysen 94 kreisen
um das Problem der ‚Mannwerdung’ und des Wahnsinns der Dichterin. Während
Janion Komornickas Transgress emphatisch als Wiedergeburt bezeichnet, spricht
Kralkowska-Gątkowska, und hier antizipiert sie meine eigene, in der Einleitung
93
In der Funktion des Anderen könne der Körper nie ganz in einen emanzipatorischen bzw. historischen
Diskurs überführt werden.
94
„Szkice“, „Baśnie i psalmodie“, Lyrik vor 1907, ansatzweise „Xięga“.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
suggerierte Konzeption, von Amputation bzw. gar Tötung eines (weiblichen) Teils
von sich selbst: „Das Aufgeben der ‚schmutzigen’ weiblichen Identität, die
Identifizierung mit P.O.W. wird zum symbolischen Selbstmord.“ 95 (117) Die
feministische, Weiblichkeit valorisierende Perspektive kombiniert Kralkowska-
Gątkowska mit psychoanalytisch und religionsphilosophisch fundierten
Überlegungen. Sie achtet darauf, bei allem – zum Teil problematischen – Rückgriff
auf biographische Begebenheiten, der ‚Verrückten’ mit Achtung und Maß zu
begegnen, d.h. ohne sie zu entwürdigen oder zu romantisieren. Der
Geschlechtstransgress gehört für die Forscherin, ähnlich wie für Podraza-
Kwiatkowska, zu den Erscheinungsformen ihrer Geisteskrankheit, der sie im
Anschluss an psychiatrische Systematisierungen einen Namen gibt – Schizophrenie
(Paranoia) mit Größen- und Missionswahn. Auch dies steht meinen Ergebnissen sehr
nahe. Im Gegensatz zu Kralkowska-Gątkowska vermeide ich es jedoch, von
‚Pathologie’ zu sprechen und die Krankheit damit zu essentialisieren.
Mit der Anlehnung an die Nomenklatur der Psychiatrie bagatellisiert Kralkowska-
Gątkowska keineswegs den Stellenwert der Geschlechtsumwandlung innerhalb
Komornickas Biographie, sondern will im Gegenteil wissen, wie es gerade zu dieser
spezifischen Ausprägungsform des psychischen Leidens gekommen ist. Damit
verbindet sie zutreffend die Frage nach der obsessiven Korrelierung der Sexualität mit
dem ‚Komplex der Sünde’ und ‚Schuld’ in den Schriften Komornickas vor 1907. Ihre
biographisch ausgerichteten Text-Analysen sowie Quellenstudien ergeben, dass es
mindestens vier traumatische Erlebnisse waren, die zu Komornickas Psychose und
ihrer „pathologischen Erfahrung der Geschlechtlichkeit“ (120) entscheidend
beigetragen haben: (1) die Misshandlung der zweijährigen Maria durch den Vater
(Schläge), (2) die „verfrühte Initiation“, d.h. Verführung, möglicherweise
95
Polnisch: „Symbolicznym samobójstwem będzie porzucenie ‚brudnej’ kobiecej tożsamości,
identyfikacja z P.O.W.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Vergewaltigung durch einen „älteren Mann“, 96 (3) die Verhaftung und ärztliche
Untersuchung der sechzehnjährigen Maria in Warschau unter Hurenverdacht, der ich
ebenfalls eine große Bedeutung beimesse, (4) Lemańskis Schießerei in Krakau, (5)
eine mögliche Abtreibung. Darüber hinaus suggeriert Kralkowska-Gątkowska in
Anlehnung an die Freudsche Diagnostik 97 den traumatischen, möglicherweise auf
inzestuöse Wünsche bzw. Handlungen zurückzuführenden Charakter der Beziehung
Komornickas zu ihrem Vater und die fehlende Unterstützung durch die Mutter.
Von feministischen Theorien des weiblichen Schreibens inspiriert (Showalter 1993,
Gilbert/Gubar 1979) sucht Kralkowska-Gątkowska in den frühen Prosaschriften
Komornickas, der demonstrativen Ausrichtung der weiblichen Hauptfiguren nach
ausdrücklich männlichen Lebens- und Verhaltensmustern zum Trotz, nach einem
verborgenen Code, der die androzentrische Kultur unterminiert, subvertiert und
ursprünglich weibliche Erfahrung und Weltwahrnehmung chiffriert zum Ausdruck
bringt. Dabei neigt die Forscherin dazu, Weiblichkeit, die sie u.a. nach Jungschen
Vorstellungen konzeptualisiert, zu substantialisieren und zu überhöhen. Mit dem
Vokabular von Gilbert und Gubar verfolgt Kralkowska ‚Spuren des Palimpsest’, u.a.
in der Erzählung „Fantazje realne“.
Es ist Kralkowska-Gątkowskas Anliegen, zu zeigen, dass es in Komornickas Schriften
keine Belege für die Favorisierung der Männlichkeit gibt. Sie sieht in ihnen vielmehr
ein Plädoyer für androgyne Ganzheit und Fülle sowie für eine ‚weibliche’ Kultur, die
als Alternative zum patriarchalen und androzentrischen, seit der griechischen Antike
in Europa dominierenden Paradigma zu verstehen ist. 98 Diese These ist das Ergebnis
einer detaillierten Analyse der Kunstmärchen Komornickas „Ojciec i córka“ (Vater
96
Als Quelle dieser ungesicherten Information gibt Kralkowska-Gątkowska ein Interview mit Podraza-
Kwiatkowska an („Wolna, sama, niczyja. Z profesor Marią Podrazą-Kwiatkowską rozmawia Agnieszka
Kosińska.“ In: „Dekada Literacka“ 1996, 12).
97
Vgl. Freuds und Breuers „Studien zur Hysterie“ (Breuer/Freud 1997).
98
Für eine solche Kultur plädiert heute in der polnischen Psychologieszene u.a. Wojciech Eichelberger
(1997), auf den sich Kralkowska-Gątkowska mehrmals beruft.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
und Tochter) und „Andronice“, an denen die Forschung bislang meist vorbei ging.
Kralkowska-Gątkowska rollt das unter der kitschig-naiven Oberfläche dieser Texte
versteckte, in Inszenierungen des ödipalen Dreiecks eingearbeitete, gewaltige
patriarchatskritische Potential auf. Gleichzeitig schlägt sie im Anschluss an Janion
eine andere Interpretationslinie ein – die auf die Ankündigung der erotisch-mystischen
Sehnsucht, der Transformationsphantasmen und des Missionsbewusstseins hinzielt. 99
Die „mystischen Ahnungen“ Komornickas, die sich in der Zeit der psychischen
Krankheit noch gesteigert haben sollen und von „pathologischer“, „schizophrener“
Lebensvision kaum zu trennen seien, werden zum Hauptgegenstand einer in der
Forschung erstmaligen, die Zeit vor und nach dem Geschlechtswechsel
berücksichtigenden religionsphilosophischen Untersuchung ausgewählter Schriften
Komornickas. Ihren Abschluss bildet eine, wohlgemerkt eher bruchstückhafte,
Analyse der „Xięga poezji idyllicznej“, 100 die in der Option Kralkowska-Gątkowskas
ein Zeugnis von sowohl Destruktion als auch rettender Rekonstruktion der
Persönlichkeit Komornickas abgibt:
[Komornicka] hinterließ ein frappierendes Dokument einer krankhaften
Persönlichkeitsdestruktion (...). Jedoch erweist sich diese radikale Destruktion einer einstigen,
rebellischen und entfremdeten stormy personality gleichzeitig als ein Versuch einer positiven
Rekonstruktion. In den polnischen und französischen Gedichten von „Xięga“ bemüht sich die
geisteskranke Dichterin, eine Welt der Ordnung, Sicherheit und Harmonie zu erschaffen. Ein
Garant dieser Attribute eines paradiesischen Universums ist das Gefühl der Einheit von Gott,
Kosmos und Subjekt. (Ebd. 205) 101
99
Mitunter scheint die Forscherin literarische Texte (auch explizit) etwas simplifizierend als Dokumente
der psychischen Krankheit zu behandeln.
100
Kralkowska-Gątkowska berücksichtigt auch die bisher vernachlässigten französischen Gedichte der
„Xięga“.
101
Polnisch: „[Komornicka] pozostawiła frapujący dokument chorobliwej destrukcji osobowości (...). Ale
oto radykalna destrukcja dawnej, zbuntowanej i wyobcowanej stormy personality okazuje się probą
pozytywnej rekonstrukcji. Chora umysłowo poetka usiłuje zbudować w polskich i francuskich wierszach
‚Xięgi’ świat ładu, bezpieczeństwa i harmonii. Gwarancje dla tych atrybutów rajskiego uniwersum
zakorzenione są w odczuciu jedności Boga, Kosmosu i podmiotu.“
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3. Der Ruf des Todes – „Szkice“ (Skizzen)
Und vielleicht gerade aus dem Grund, dass sowohl die Welt
der Aufopferung als auch die Welt der moralischen Armut
gleichermaßen für sie verschlossen sind, ist sie so einsam,
so müde, so hoffnungslos in Ohnmacht versunken.
(Komornicka 1894, 20) 1
Den Erzählzyklus „Szkice“ (1894) verfasst Komornicka im Alter von sechzehn
Jahren. 2 Sie schickt ihm ein mutiges Vorwort voraus, in dem sie ihr Projekt einer
‚Reform’ der europäischen Gegenwartsprosa im Geiste des Psychologismus und
Subjektivismus darlegt. Mit ihren Anregungen will die Debütantin die Autorinnen und
Autoren ihrer Zeit dazu befähigen, „die erschütternde Symphonie des geistigen
Lebens“ in adäquater, moderner (nicht realistischer) Form wiederzugeben. 3 In ihren
eigenen, von der Schwester Aniela als autobiographisch bezeichneten vier
Erzählungen des Bandes inszeniert Komornicka, wie ich im folgenden zeigen werde,
retrospektiv und prospektiv die Leitmotive ihres Lebenstextes. Die zwei
umfangreichsten Erzählungen – „Z fantazyi realnych“ und „Staszka“, deren
Protagonistinnen sich als Komornickas Ichfiguren interpretieren lassen, unterziehe ich
1
Alle Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf diese „Szkice“-
Ausgabe. Polnisch: „I może dlatego – może dlatego, że tak świat poświęcenia, jak świat nędzy moralnej
zamknięte są dla niej zarówno, – jest tak samotna, tak znużona, tak beznadziejnie pogrążona w
bezsilności.“
2
Komornickas damaliger Vertrauter und Mitautor von „Forpoczty“ Cezary Jellenta (1935) behauptet
sogar, sie hätte die Erzählungen im Alter von 14 Jahren verfasst. Noch vor der Buchpublikation
erscheinen zwei der Erzählungen („Staszka“ und „Z życia nędzarza“) in „Gazeta Warszawska“
(Komornicka 1892, 1892 b).
3
Die Kritiker (z.B. Jeske-Choiński 1895) zeigen sich von der Kühnheit des ‚Fräuleins’ empört und
demütigen die junge Autorin. Ihre Hilflosigkeit angesichts weiblicher Kompetenz und Kreativität
kommentiert ausführlich Kralkowska-Gątkowska (2002, 75). Darüber hinaus weist sie auf die Relevanz
der Erkenntnisse Komornickas für die heutige Diskussion um die Ästhetik des jungpolnischen Romans
hin und betont die Affinität des reformatorischen Projektes der jungen Komornicka zu den Entwürfen der
‚neuen Prosa’, die von d’Annunzio, Huysmans, Przybyszewski, Sologub vorgelegt wurden.
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im Folgenden einer eingehenden, auf gendertheoretische Fragestellungen fokussierten
Betrachtung.
In dieser Debütprosa zeigt sich Komornicka dem sich zunehmend etablierenden
literarischen Code der Młoda Polska (vor allem der Dekadenz) verpflichtet, der sich
gegen den positivistischen Meisterdiskurs wendet. Dies äußert sich u.a. im Entwurf
eines pessimistischen Weltbildes und der Verteidigung des Individualismus gegenüber
dem Utilitarismus (dem letzteren wird freilich nicht vollständig aufgekündigt), unter
Rückgriff auf lexikalische, phraseologische, syntaktische und mentale Klischees der
Epoche. Die Erzählungen haben einen beinahe programmatischen Charakter. In ihrer
expliziten, polemisch strukturierten Auslegung weltanschaulicher Konzepte nähern sie
sich gattungsmäßig der Publizistik. Sie weisen zahlreiche strukturelle und inhaltliche
Wiederholungen sowie eine zirkuläre Struktur auf. So kreisen sie z.B. um das Thema
der unabänderlichen Leere und Trivialität des Lebens. Zu der gattungsmäßigen
Hybridität der „Skizzen“ gehört auch ihre Nähe zum Drama: Sie bestehen fast nur aus
Dialogen. Lyrische Passagen, charakteristisch für die Prosa dieser Zeit, sind seltener.
Es ist anzunehmen, dass Komornicka ihre Texte nicht in ‚weiblicher’ Manier
verfassen wollte, die sie in ihrer Publizistik scharf kritisierte.
3.1. Zwischen Lebensdurst und Todessehnsucht – „Z fantazyi
realnych“ (Aus den realen Phantasien)
3.1.1. Verstöße gegen Weiblichkeitsbilder
Eine junge Frau, Helena, trennt sich von ihrem Ehemann Konrad, weil sie ihm keine
Liebe und Achtung mehr entgegenbringt. Sie begibt sich zu ihrer Verwandten Adela
und verbringt dort eine unbestimmte Zeit, in der sie ihre Entscheidung zu rechtfertigen
und vergeblich eine Zukunftsvision zu entwerfen versucht. Dort lernt sie einen
anderen Mann, Karol, kennen und verliebt sich in ihn. Um diese Liebe vor einer
desillusionierenden Enttäuschung zu bewahren, schlägt Helena einen gemeinsamen
Selbstmord vor. Der Geliebte jedoch geht darauf nicht ein. Wenig später begibt sie
sich allein auf den Weg zum neuen Leben.
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Die Protagonistin der Geschichte gehört zu jenen Frauenfiguren, denen die Forschung
mangelnde Weiblichkeit, Unfähigkeit Bindungen einzugehen, eigentümliche Härte
und Ichbezogenheit bescheinigte, und die sie mitunter mit der Autorin gleichsetzte. 4 In
der Tat wird Helena, wenigstens auf der Textoberfläche, zu einer Frau stilisiert, die
den gängigen Weiblichkeitsmustern zu trotzen scheint. Im Zentrum ihrer
Charakterisierung stehen der Freiheitsdrang und die Rebellion gegen die geistige
Trägheit der Philister und die patriarchale Versklavung der Frau. Gleich in der
Eingangsszene manifestiert sie demonstrativ ihre Ablehnung der ‚Weichheit’ und ihre
Sehnsucht nach einem harten, dynamischen, anspruchsvollen Leben:
Der Teppich dämpfte ihre unregelmäßigen, stockenden Schritte. Es war, als ob seine Weichheit
sie reizte, als ob sie auf hartem Boden laufen und der Rastlosigkeit, die im Echo ihrer unruhigen
Bewegungen bebte, lauschen wollte. (11) 5
Ihren Mann erwartet sie nicht mit freudiger Erregung, sondern mit „Ernst und
Traurigkeit“. Damit verweigert sie sich der Rolle der Hüterin des Hauses, die als eine
nicht in Anspruch genommene Alternative im ersten Satz des Textes durch das Bild
des Kaminfeuers visualisiert wird. Andererseits jedoch rekurriert der Text, auf der
figurativen, tropologischen Ebene, welche die intendierte Bedeutungsstruktur
unterläuft, durchaus affirmativ auf die althergebrachten Weiblichkeitsfiktionen. Der
erste Hinweis darauf befindet sich gleich im ersten Absatz: Helena wird mit einem nur
„zur Hälfte menschlichen Wesen“ (pół tylko ludzkiej istoty), mit einem „phantastisch
bedrohlichen Gespenst“ (fantastycznie groźny upiór) verglichen. 6 Diese quasi
‚unbewusste’ Text-Tendenz wird sich im Verlauf der Erzählung erheblich steigern.
4
Z.B. Boniecki 1998, 72: „So war, wie es scheint, Komornicka selbst.“
5
Polnisch: „Dywan głuszył jej kroki nierówne, urywane. – Zdawało się, że ją drażni jego miękkość, – że
chciałaby stąpać po twardym gruncie i słuchać zniecierpliwienia, drgającego w echu jej niespokojnych
ruchów.“
6
Vgl. Überlegungen Kralkowska-Gątkowskas (2002, 26) zum ‚weiblichen’ Subtext dieser Erzählung. In
der mit Naturbildern operierenden Metaphorisierung der urbanen Umgebung durch Helena sieht die
Forscherin „die unbewusste Enthüllung einer tieferen, weiblichen Persönlichkeitsstruktur“. Dieser
Meinung kann ich mich nicht anschließen. Nicht die tieferen Schichten der weiblichen Seele Helenas
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Die in ‚human’ und ‚subhuman’ dualisierte symbolische Chiffrierung der Weiblichkeit
hat eine sehr lange literarische Tradition, die auf die Imaginierung der Frau als
Zwitterwesen (halb Mensch, halb Tier; halb Engel, halb Bestie), als gespaltener
Sirenenleib in der Antike und im Mittelalter zurückgreift. 7 Die im Laufe des
Zivilisationsprozesses und der damit verbundenen Naturunterwerfung an Bedeutung
gewinnende Differenz zwischen Natur und Kultur, Unbewusstem und Bewusstem,
Körper und Geist wurde im Kunstbereich den Sirenen, Nixen und Wasserfrauen quasi
auf den Leib geschrieben. Das Nixen- und Wasserfraumotiv bot die Möglichkeit, das
aus der Konstitution des abendländischen (männlichen) Subjekts Verdrängte 8
symbolisch am weiblichen Leib zu verorten und damit einerseits zu bewahren,
andererseits zu bezwingen, zu domestizieren. Damit wurden sowohl
Verschmelzungswünsche als auch Beherrschungs- und Unterwerfungsphantasien der
Natur gegenüber bedient. Die zwischen Vergöttlichung und Verdammung, Wildnis
und Zivilisation oszillierenden Weiblichkeitsbilder unserer Kultur, deren Aggressivität
im 19. Jahrhundert einen Höhepunkt erreichte, setzen die beherrschte und die
rebellierende, die lebensspendende und die lebensvernichtende Natur zugleich in
Szene. Sie drücken bis heute „den paradoxalen Wunsch nach einer gefahrlosen
Annäherung an das Weibliche und nach seiner Eliminierung“ zugleich aus. 9 (Stuby
1992, 14) Die in Literatur und Kunst waltende Geschlechtermythologie, die den
Frauen auf Grund ihrer physiologischen Funktionen größere Affinität zum
Animalischen, Naturhaften, und den Männern die Rolle des Schöpfers von Artefakten
und Kulturprodukten zuschrieb, korrelierte jahrhundertelang mit der realen
Asymmetrie der Geschlechterverhältnisse, vor allem mit der sich im 19. Jahrhundert
zuspitzenden geschlechtsspezifischen Verteilung von Macht- und Subjekt-Objekt-
Positionen sowie der Ausgrenzung des ‚Mangelwesens’ Frau aus vielen Bereichen des
öffentlichen Lebens, u.a. aus der Kulturproduktion. Auf Komornickas Erzählungen
bezogen heißt dies: Auf der Textoberfläche startet die junge, temperamentvolle
Autorin ein offensives, fast übertrieben wirkendes Projekt gegen diese – Frauen
marginalisierenden und entwürdigenden – Tendenzen. Unbewusst reproduziert sie
jedoch, wie noch zu zeigen sein wird, die Parallelisierung der Weiblichkeit mit dem
Naturhaften, Dämonischen, Todverhafteten. Dies wirkt sich weder auf das Schicksal
ihrer Figuren noch auf ihr eigenes produktiv aus.
werden hier von der Figur unbewusst enthüllt, sondern das Verhaftetsein der Autorin in dem von ihr
selbst angeprangerten, aktuellen Geschlechterdiskurs.
7
Eine detaillierte Untersuchung dazu bietet die Publikation „Liebe, Tod und Wasserfrau. Mythen des
Weiblichen in der Literatur“ von Anna Maria Stuby (1992), der ich viele Anregungen verdanke.
8
Vgl. Horkheimer/Adorno 1984.
9
Vgl. hierzu den Film P. Almodovars „Sprich mit ihr“ (2002).
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Fehlender Zukunftsentwurf
Nach der in den ersten beiden Dialogen vollzogenen Trennung von ihrem Mann
befindet sich Helena in einem ‚Zwischenraum’ und einer ‚Zwischenzeit’: „Ich erhole
mich von der Anstrengung der zweiten entschlossenen Tat meines Lebens.“ 10 (49) Der
Gestus der Trennung ist von keiner Zukunftsvision begleitet. Es fehlt, und dies ist
wohl der dekadenten Manier ‚zu verdanken’, auch die Hoffnung, dass eine solche
überhaupt gefunden werden kann:
Das Leben ist für mich die Hölle, eine Qual der Langeweile (...). Wenn man irgendetwas heiß
begehren könnte, begehren wie früher... Aber was kann man schon wollen? Was begehren? Wer
das Leben kennt, der weiß, dass nichts in ihm ist, was der Liebe wert wäre. (18) 11
Sie sollten außerdem wissen, dass dieses Begehren des Undefinierbaren, welches mich antreibt,
sich im Leben als Negation dessen manifestiert, was da ist, weil es das, was es begehrt, das aber
nicht vorhanden ist, nicht beim Namen nennen kann. Es protestiert, weil nur das, wogegen es
protestiert, ihm genau bekannt ist. Es muss sich auf die Auflehnung konzentrieren. Es verkündet
den Tod, kann aber über die Auferstehung noch nichts sagen. Darin liegt die Ironie solcher Wesen
[wie ich]. (58) 12
Sowohl Helenas bisherige als auch die zukünftige Existenz ist im semantischen
Bereich des Todes angesiedelt. Das eintönige, die ehrgeizige junge Frau
unterfordernde Eheleben wird mehrmals als ‚tot’ bzw. ‚tödlich’ bezeichnet, 13 die
Zukunft ebenfalls mit Leere und Tod in Verbindung gebracht. Als eine mögliche
Alternative zeichnet sich die ewige Heimatlosigkeit, Einsamkeit und das Umherirren
von Insel zu Insel als Schiffbrüchige ab.
10
Polnisch: „Spoczywam po wysiłku – po drugim stanowczym czynie mego życia.“
11
Polnisch: „Życie jest dla mnie piekłem, męczarnią nudy (...). Gdyby módz chcieć czegoś gorąco, –
pragnąć jak dawniej... Ale czegoż chcieć można? Czego pragnąć? Kto zna życie, ten wie, że nic w niem
niema, coby kochać warto było.“ In den Komornicka-Zitaten habe ich die altpolnische Orthographie
beibehalten.
12
Polnisch: „Wiedz pan zatem, że to pragnienie nieokreślonego, które mną popycha, – objawia się w
życiu negacyą tego co jest, bo tego, czego pragnie i czego nie ma, nie umie nazwać po imieniu. Przeczy,
bo tylko to czemu przeczy, jest jej znanem dokładnie. Musi się skupić w proteście. – Zwiastuje śmierć, –
a o zmartwychwstaniu nic powiedzieć nie może. – W tem jest ironia podobnych natur.“
13
Beispiele: „genug von diesem toten Leben“ (25); „Untätigkeit und Philistertum sind tödlich“ (29).
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Aufstand gegen den Vater, Schweigen über die Mutter
Definieren kann sich die Protagonistin vor allem durch Negativität, durch das, wie sie
nicht leben will, was sie hasst. Dazu gehört vor allem jegliche Fremdbestimmung,
besonders jedoch die Entmündigung der Frauen durch ihre Väter und Ehemänner.
Retrospektiv, im Dialog mit dem neuen Partner, rollt sie die Geschichte ihrer
Auflehnung gegen die familiäre Tyrannei auf: „Ich erstickte in dieser Atmosphäre und
zerrte an den Ketten bis sie zersprangen.“ 14 (54) Diese Auseinandersetzung erfährt
eine große Aufwertung durch die Erzählinstanz, indem sie in einer sich über mehrere
Seiten hinziehenden, feurigen Rede der Protagonistin präsentiert wird. Die gesamte
Erzählung scheint auf diesen Punkt fokussiert zu sein. (Die Auseinandersetzung mit
familiären Unterdrückungsmechanismen ist auch eines der wichtigsten Leitmotive der
Biographie Komornickas.) In ihrer Anklage der repressiven Struktur der Philister-
Familie deckt Helena verhängnisvolle Erziehungseffekte auf:
Sie [die Erziehung] zerstört Fröhlichkeit und Gleichmut. Bei den einen ruft sie einen idiotischen
Automatismus hervor, bei den anderen führt sie zur Auflehnung, Verbitterung, Hass (...). Sie
verbiegt Gehirne oder zerschmettert sie, lehrt Lüge und niederträchtige Schmeichelei oder
Sarkasmus und stummen Widerstand. Sie verwandelt das Leben in bitteren Hass oder in
apathische Erstarrung. Sie weckt Rachegelüste oder die Lust am Verrat. (...) Sie kreiert
Verdammte und Verrückte oder Verbrecher und – zu guter Letzt – Idioten. (52) 15
Hervorgehoben werden insbesondere die demütigende Erfahrung der Angst und die
abtötende Wirkung väterlicher Gewalt. Den Bruch mit ihrem kompromisslosen Vater
deklariert Helena als ihre Pflicht. Dabei qualifiziert sie die Liebe des Vaters radikal
ab, da sich diese aus Eitelkeit, Eigenliebe und Konvention zusammensetze. Ihre
Schilderung des Aufstands gegen den Vater berührt den feministischen Diskurs der
14
Polnisch: „W tej atmosferze dusiłam się; targałam kajdany, aż pękły.“
15
Polnisch: „Wyrywa ona wtedy całą wesołość i pogodę ducha, wyrabia w jednych idyotyczny
automatyzm, a w drugich obudza bunt, gorycz, nienawiść, (...) – paczy umysły, – lub je druzgocze; – uczy
kłamstwa i podłości pochlebstwa, – lub sarkazmu i niemego, pełnego mściwych marzeń oporu; –
zamienia życie w gorzką nienawiść – lub apatyczne osłupienie. Wzbudza chęć zemsty, lub chęć zdrady.
(...) Tworzy potępieńców i szalonych – albo występnych – lub wreszcie idyotów.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Zeit: 16 Ich brach mit der verhassten, grausamen Gefangenschaft, protestierte gegen
die Tyrannei des (…) Vaters und des Mannes – als Tochter, Frau, Mensch.“ 17 (49) Die
Kritik der patriarchalen Gewalt wird an einigen Textstellen von Helenas abwertenden
Urteilen über Frauen begleitet, denen ein von Klatsch und Flirt geprägtes Salonleben
vollkommen ausreiche. Dieser Sicht auf die Durchschnittsfrau pflichtet die Erzählerin
bei. 18 Was die übrigen Familienangehörigen betrifft, so erklärt Helena: „Eine Mutter
hatte ich nicht, und meine Schwester ist zur Fügsamkeit erschaffen.“ 19 (56)
Biographische Allusionen liegen hier auf der Hand. Der Vater dominiert das
Familienleben und beansprucht uneingeschränkte Macht über die Tochter. Die
Schwester fügt sich. Die Mutter ist nicht da. Es lässt sich nicht rekonstruieren, ob
Komornicka hier auf eine bestimmte Schwester, auf die Haltung ihrer beiden
Schwestern oder der Frauen allgemein rekurriert. Fest steht, dass sich ihre Ichfigur
Helena in ihrem Aufbegehren von den anderen Frauen allein gelassen fühlt. Damit es
nicht zu einer direkten Beschuldigung der realen, geliebten Mutter der Autorin kommt
(literarische Werke werden von den Familienangehörigen meist biographisch gelesen),
heißt es in der Erzählung: „Ich hatte keine Mutter“. Diese Formulierung lässt viele
Interpretationsmöglichkeiten zu. Sie überrascht mit ihrer Zurückhaltung, scheint eine
Leerstelle zu sein, markiert vielsagend die Schwelle des Schweigens.
Ich will mich weder aufopfern, …
Für ihren Ausbruch aus dem zweiten Beziehungsgefängnis – der Ehe – muss sich
Helena in Gesprächen mit ihrem neuen ‚Partner’ Karol gegen den Vorwurf des
16
Vgl. Zofia Nałkowskas berühmt gewordene Tagebuchnotiz vom 05.11.1899: „Ein Mann kann die Fülle
des Lebens kennenlernen, weil in ihm der Mann und der Mensch zugleich leben. Der Frau bleibt jedoch
nur ein Bruchteil des Lebens – sie muss entweder Mensch oder Frau sein.“ (Zit. nach Janion 1995, 190)
17
Polnisch: „Zrywałam z nienawidzoną ohydną niewolą; protestowałam przeciwko (...) tyranii ojca i
mężczyzny, – jako córka – kobieta – człowiek.“
18
Beispiel: „Aus dem Salon drang das Stimmengewirr der Gesellschaft, das piepsende Lachen kichernder
Gören und die erbärmlichen Versuche laienhafter Musik.“ (48)
19
Polnisch: „Matki nie miałam, – a siostra moja, ta jest zrodzona do uległości.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Egoismus und der Kaltherzigkeit verteidigen. Dauernd steht Helena unter
Rechtfertigungszwang: Die verbalen Auseinandersetzungen zwischen den Figuren
dienen hauptsächlich ihrer Anklage, Verteidigung und letztendlich auch
Selbstanklage. Mit Hilfe des feministischen Diskurses hebt sie mit Vehemenz und
Radikalität hervor, dass die Trennung nicht durch eine neue Liebschaft motiviert
wurde, sondern als eine bewusste Tat eines freien Menschen, der nicht mehr liebt, zu
werten sei:
Verstehen Sie diese Aufrichtigkeit der Gefühle, die einen Verrat nicht zulässt, sogar dann, wenn
eine dritte Person nicht in Frage kommt? Sicherlich nicht. Selbst der zivilisierteste Mann kann
seine feudalen Ansichten über die Frau nicht ablegen. Er verzeiht ihr eher einen Ehebruch als eine
ehrliche Trennung, als die Unabhängigkeit im Handeln. Denn offen handelt ein freier Mensch,
eines Verrats bedient sich nur ein Sklave. In der Liebe bleibt für ihn aber die Frau immer noch,
auch wenn es ihm vielleicht unbewusst ist, eine Sklavin. (58) 20
Indem Karol Helena der fehlenden Aufopferungsbereitschaft beschuldigt, rekurriert er
auf das bis auf den heutigen Tag in der polnischen Kultur populärste Weiblichkeitsund
Mütterlichkeitsstereotyp. 21 Doch Helena lässt sich von ihrem männlichen
Gesprächspartner nicht einschüchtern. Ihre Wertehierarchie wird sehr offensiv als
abweichend von diesem Bild modelliert. An die Stelle der Aufopferung setzt Helena
entschieden die Ehrlichkeit. Bei ihrem Ehemann zu bleiben, würde Lüge und Verrat
bedeuten:
Von den Menschen sollten wir nur Ehrlichkeit verlangen. Wer weiß, ob dieser Anspruch
realisierbar ist. Die heutige Frau (…) neigt eher zur Aufopferung als zur Ehrlichkeit, sie macht
sich eher zum Opfer, als das sie etwas tut, das durch die Tradition nicht geheiligt ist. (57) 22
20
Polnisch: „Czy rozumiesz pan tę rzetelność uczuć, która nie zezwala na zdradę, – nawet gdy osoba
trzecia w grę nie wchodzi? Zapewne nie. – Nawet najbardziej ucywilizowany mężczyzna nie może się
pozbyć feodalnych poglądów na kobietę. Przebaczy on jej prędzej zdradę niż szczere zerwanie, niż
niezależność czynu. – Bo jawnie postępuje człowiek wolny, – zdrady dopuszcza się tylko niewolnik. – A
kobieta w kwestyach miłości, pozostała dla niego dotąd, choć nieświadomie może, niewolnicą.“
21
Dazu der zeitgenössische polnische Psychotherapeut Wojciech Eichelberger (1997, 50) überzeugend:
„Unsere Mütter sind ausschließlich fürsorglich, warmherzig, gütig und hilflos. (...) Wir wollen solche
Mütter: gedemütigt und untergeordnet, süß und lieb – Mütter, die sich dafür entschuldigen, das sie leben.“
22
Polnisch: „Od ludzi wymagajmy tylko uczciwości. – Kto wie, czy to żądanie jest wykonalne. – Kobieta
dzisiejsza (...) skłonniejszą jest do poświęcenia, niż do uczciwości; prędzej z siebie uczyni ofiarę, niż
spełni obowiązek nie uświęcony przez tradycyę.“
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Dies impliziert bei weitem nicht, dass Helena ein schlechtes Gewissen erspart bleibt.
Schuldbewusst bezeichnet sie sich u.a. als eine ‚gesellschaftliche Null’.
Zu den weiteren Verstößen gegen postulative Weiblichkeitsentwürfe gehört Helenas
fehlender Kinderwunsch. Sie äußert heftige Empörung, als ihr der Ehemann diesen
Wunsch unterstellt. Dabei bleibt sie (wie anscheinend auch die Erzählerin) den
herrschenden Stereotypen der Mütterlichkeit durchaus verhaftet, andernfalls würde sie
sich selbst nicht unbedingt als für eine Mutterschaft untauglich ansehen:
Weißt du immer noch nicht, dass dies die einzige Niederlage ist, die mir erspart blieb? Hör zu,
was wäre ich für eine Mutter und was würde aus dem Kind so einer Frau werden? Und was für
eine Qual wäre für mich der Kampf der Verantwortung mit dem Wahnsinn meiner Natur? (18) 23
Auch gegen die Vorstellung, dass eine glückliche Partnerschaft und damit die Liebe
allein einer Frau zu einem erfüllten Leben reichen, verstößt Helena:
Nein, nein, sage ich dir. Glück ist etwas mehr als das Zusammenleben mit einer geliebten Person,
mehr als ein ruhiges Dasein. Das ist ein kaum wahrnehmbarer Duft, ein mächtiger,
unbeschreibbarer Zauber, der sich über das Leben erhebt, aber nicht mit diesem gleichzusetzen
ist. (18) 24
… noch genießen
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Andererseits assoziieren Protagonistin und Erzählerin Hedonismus und sinnliches
Vergnügen – in Übereinstimmung mit den herrschenden Diskursen – mit dem äußerst
negativ besetzten Weiblichkeitsmuster der ‚Hure’ bzw. ‚Eva’. In einer sehr emotional
gestalteten (erlebten) Rede verdeutlicht die Erzählerin Helenas Immunität der
Versuchung eines Ehebruchs gegenüber, um diese so weit wie möglich von diesem
Weiblichkeitsklischee zu ‚verorten’:
23
Polnisch: „Czy ty dotąd nie wiesz, że to jedyna klęska, której mi życie oszczędziło? Słuchaj, cobym ja
była za matka i czemby było dziecko takiej jak ja kobiety? – I co za męką byłaby dla mnie walka
obowiązku z szaleństwem mej natury?“
24
Polnisch: „Nie, nie, powtarzam ci. Szczęście, to coś więcej niż życie z osobą kochaną, niż życie
spokojne. – To woń nieuchwytna, to czar potężny, a nieokreślony, unoszący się nad życiem, – i nie
wcielający się w jego kształty.“
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Betrügen – wen? (...) Den Ehemann, der Respekt und Ehrlichkeit verdient – wegen eines
Menschen, den man nicht liebt, um Zeit totzuschlagen, um einige erbärmliche, schmutzige, flache
Eindrücke zu gewinnen. (...) Sie [Helena] kann nutzlos und unglücklich sein, aber niederträchtig,
der Selbstverachtung würdig will und kann sie nicht werden. (...) Sie kann gar nichts tun, aber sie
lässt keine moralische (…) Trivialität zu. Sie mag eine Null sein, eine gesellschaftliche Null, aber
sie will und kann nicht ein Atom des moralischen Drecks in der stinkenden Pfütze der Falschheit
und des Fehltritts sein. (20) (Fortsetzung vgl. Motto des Kapitels) 25
Dies scheint eine Schlüsseläußerung Helenas zu sein, in der die Figur selbst ihre
Heimatlosigkeit, ihren Ort zwischen den Diskursen, reflektiert. Beide
Weiblichkeitsmuster, der Heiligen und der Hure, des ‚angels’ und des ‚monsters’
kommen für sie nicht in Frage. Besonders radikal distanziert sie sich jedoch vom
vermeintlichen moralischen Verfall. Die Erzählerin vermeidet es sorgfältig, Helena
mit Sinnlichkeit und Sexualität in Verbindung zu bringen. Die Protagonistin lehnt
nicht nur die körperlichen Annäherungsversuche ihres ungeliebten Mannes, sondern
auch die ihres neuen ‚Partners’ schroff ab. Vordergründig kommt auch der Weg der
verführerisch-dämonischen ‚femme fatale’ für Helena nicht in Frage, der ihr von den
beiden männlichen Figuren suggeriert wird. Konrad bezeichnet sie als eine
„wunderschöne, elektrisierende Frau“ und ein „seltsames, unfassbares Wesen“. Karol
bezieht sich noch deutlicher auf dieses Klischee, indem er Helena mit furchterregender
Macht, mit Chaos und Grausamkeit in Verbindung bringt:
Heute oder morgen wird deine berauschende Liebenswürdigkeit zur Verachtung und Ironie, und
du wirst mich verletzen wie du die anderen verletzt hast. Ein drittes Mal wirst du sagen: „Ich will
frei sein.“ Ja, Helena, in all dem bist du eine Frau, du hast die weibliche Grausamkeit und
Ungerechtigkeit. (61) 26
25
Polnisch: „Zdradzić – kogo? (...) Męża, który zasługuje na szacunek i szczerość – dla człowieka nie
kochanego – dla zabicia czasu, dla zdobycia sobie kilku nędznych, brudnych, płytkich wrażeń. (...) Ona
może być bezużyteczną, nieszczęśliwą, – ale nikczemną, godną samopogardy nie chce być i nie może.
(...) Ona może nic nie uczynić, – ale nie dopuści się moralnej (...) trywialności. Może być zerem, zerem
społecznem, – ale nie chce i nie może być atomem moralnego brudu w cuchnącej kałuży fałszu i
występku.“
26
Polnisch: „Dziś, jutro, zamienisz swą silną, upajającą słodycz w pogardę i ironię, zranisz mnie
słowami, jak tamtych, po raz trzeci powiesz: ‚chcę być wolną.’. Tak, Heleno: z tem wszystkiem jesteś
kobietą; masz jej okrucieństwo i niesprawiedliwość.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Ihre Abneigung gegen das Weiblichkeitsklischee der ‚femme fatale’ manifestiert
Helena u.a. mit ihrem Plädoyer für Ehrlichkeit und ihrer Verabscheuung jeglicher
Hinterlist. Es ist unschwer zu erkennen, dass sich der Text hinsichtlich dieses
Selbstverständnisses Helenas jedoch bald stark in Widersprüche (und in den
dominierenden Geschlechterdiskurs der Zeit, gegen den er eigentlich zu Felde zieht)
verwickelt.
Der im 19. Jahrhundert u.a. als Reaktion auf emanzipatorische Bestrebungen der
Frauen außerordentlich popularisierte Typus der zerstörerischen ‚femme fatale’ geht
übrigens auf die bereits angesprochenen ‚uralten’ mythischen
Weiblichkeitsvorstellungen wie die Sirenen und Wasserfrauen, aber auch
Klytaimestra, Kleopatra und Helena 27 (!) zurück. Zu seinen Abwandlungen gehören
auch die literarisch vielfältig eingesetzten Gestalten der Sphinx, der Medusa, der
Salome, der Lilith. 28 Die ‚femme fatale’ ist eine rätselhafte, ungebundene Frau, die nur
„sich selbst gehört“ und die „zum Verhängnis des Mannes wird, den sie mit List und
überströmender Sinnlichkeit verführt, unterwirft und schließlich tötet.“ (Christov
1998, 42)
Imaginäres Greifen nach der Macht
Zu den manifesten Verstößen gegen die ‚Weiblichkeit’ gehört im Selbstentwurf
Helenas auch der Wunsch nach Macht und Einfluss. Allerdings wird dies explizit nur
ein einziges Mal im Text thematisiert, im Zusammenhang mit Helenas
Selbstgesprächen zur Trennung. An dieser Stelle wird ein intertextueller Bezug zu
Mickiewiczs „Großer Improvisation“ in „Dziady“ (Die Ahnen) hergestellt, aber auch
an Nietzsches Ideen angeknüpft. Mit einem Zitat wird auf den Anspruch des
Mickiewicz’schen Konrads, die geistige Herrschaft über das Volk zu erlangen,
rekurriert:
27
Die möglichen interpretatorischen Implikationen der Übereinstimmung der Namen zwischen der
Protagonistin der Erzählung und der mythologischen Figur der ‚schönen Helena’ (in Huysmans Roman
„À rebours“ als ‚femme fatale’ konzipiert) können an dieser Stelle nur angedeutet werden.
28
Zahlreiche Beispiele nennt Janion (2001, 292 ff.).
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(...) sie spürt in sich die unbezwungene, teuflische Macht des Willens – der dazu fähig ist, alles,
wenn er es nur will, zu zertrümmern oder alles zu vollbringen – und auch die unbezwungene
Kraft hypnotischer Herrschaft über die Seelen. (24) 29
Hier bemächtigt sich eine Frau der dem männlichen Subjekt vorbehaltenen geistigen
Führungsautorität. Bezeichnend ist, dass Helenas Mann, wie das Subjekt der „Großen
Improvisation“, den Namen Konrad trägt. Damit wird die Umkehrung der
Geschlechterrollen auf der Textoberfläche deutlichst in Szene gesetzt.
Männlichkeit – tierisch und geistlos
Beide männlichen Figuren unterscheiden sich im Grunde genommen nicht wesentlich
voneinander. Dies wird schon dadurch angedeutet, dass ihre Namen mit ‚K’
beginnen. 30 Beide handeln nicht eigenmächtig, sondern reagieren auf Handlungen
Helenas. Beide stellen Helena jedoch mehrmals zur Rede und versuchen vergeblich,
ihr ihre ‚egoistischen’ Wünsche und Pläne auszureden und ihre Weiblichkeit, d.h. vor
allem ihre Liebessehnsucht anzusprechen. Dafür werden sie von der Erzählerin nicht
geschont. Insbesondere Helenas Ehemann wird – dies erweist sich als kennzeichnend
für Komornickas spätere Männlichkeitsinszenierungen – in den Bereich des
Tierischen und Geistlosen verwiesen. Damit subvertiert der Text die für die
abendländische Kultur charakteristische Gleichsetzung des Männlichen mit dem Geist
und des Weiblichen mit dem Körper, 31 die im Bereich der polnischen Literatur der
Jahrhundertwende einen exemplarischen Ausdruck u.a. in Przybyszewskis, Berents
und Tetmajers literarischer Kunst gefunden hat.
Mit einer ähnlichen, jedoch weniger radikalen Inversion der
Geschlechtersymbolisierungen haben wir es in Eliza Orzeszkowas „Nad Niemnem“ zu
29
Polnisch: „(...) ona czuje w sobie niepokonaną, szatańską potęgę woli, która wszystko, jeżeli zechce,
zdolna zdruzgotać, lub wszystkiego dokonać; i niepokonaną siłę hipnotycznego rządu nad duszami.“
30
Auf die Ähnlichkeit von Helenas Ehemann Konrad mit Charles Bovary (Flaubert) weist Kralkowska-
Gątkowska (2002, 27) hin.
31
Näheres zur Dualisierung von weiblicher Körperlichkeit/Irrationalität und männlicher
Spiritualität/Rationalität im Diskurs der Vernunft seit der Antike in : Schlichter 2000, 98-127.
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tun. 32 In diesem Fall handelt es sich um die Enttäuschung der Adelsfrau Emilia über
ihren Ehemann Benedykt, der sich im Laufe des Zusammenlebens von einem
phantasievollen ‚Ross’ zu einem unromantischen ‚Arbeitsochsen’ entwickelt. (In ihrer
Sicht des Ehemanns wird Emilia, anders als Helena, von der Erzählerin, zumindest an
der Textoberfläche, keineswegs unterstützt.) Helenas Mann Konrad wird, anders als
Benedykt, nicht der Verlust der Liebesromantik angelastet, sondern der Moral, der
hohen ethischen Forderungen an sich selbst und an die Gesellschaft. Im Gegensatz zu
Helena bricht Emilia nicht aus der Ehe aus, sondern terrorisiert ihre Familie mit
Hysterie (d.h. inszeniert ihr unerfülltes Begehren körperlich) und flüchtet in
zweifelhafte Flirts. Da diese Demonstration durchaus die Dimension eines
berechtigten Protestes hat, bringt sie damit die akkurate Erzählerin, die mit dem
polnisch-nationalen Aufopferungsethos nicht in Kollision treten will, in
Schwierigkeiten. Helena flüchtet zwar nicht in Krankheiten und erotische Abenteuer,
dafür aber ebenfalls in Selbstmitleid und Selbstauslöschung. Der Unterschied besteht
darin, dass sie trotz des fehlenden Zukunftsentwurfes aktiv wird. Ihr Protest spielt
sich, anders als bei der Hysterikerin Emilia, bewusst ab. Darüber hinaus genießt sie
den Beistand der Erzählerin. Viel radikaler jedoch als im als ‚körperfeindlich’ 33
geltenden „Nad Niemnem“ wird die Sexualität aus der Erzählung Komornickas
verdrängt.
3.1.2. Rekurrenz auf archetypische Weiblichkeitsäquivalente
Als performativen Effekt der Erzählung betrachte ich eine möglicherweise von der
Autorin nicht intendierte, unterschwellige Parallelisierung der Hauptfigur mit den
Weiblichkeitsvorstellungen der androzentrischen Kultur. ‚Unversehens’ rückt die
Protagonistin in die Nähe des Irrationalen, Verrückten, Chaotischen, Pathologischen,
in die Nähe des Todes.
Irrationalität
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Die Verbindung Helenas mit Irrationalität erfolgt dadurch, dass sich die Protagonistin
entweder selbst als ‚wahnsinnig’ bezeichnet oder von anderen Figuren entsprechend
eingeschätzt wird. Allerdings fungiert der Wahnsinn nicht unbedingt als eine einfache
32
Ein weiteres Beispiel wäre Flauberts „Madame Bovary“.
33
Vgl. Borkowska 1995, 149-181.
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Opposition zum Verstand. Dies wird an folgender Äußerung Helenas aus dem Brief an
Freundin Adela deutlich: „Du hast eine einfachere und gesündere Seele als ich, als
dieser Wahnsinn oder diese Logik meines Wesens, das mit dem verhassten Leben
bricht, um seinen Hass überall wieder zu finden (...)“. 34 (42) Dabei ist der Wahnsinn
an der Textoberfläche meist positiv konnotiert, z.B. soll er, in der Vorstellung
Helenas, einem starken Willen Schwung verleihen.
Todessehnsucht
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Auf die Möglichkeit des Todes (als Metapher für Selbstaufgabe) und den realen
Todeswunsch der Protagonistin wird mehrmals diskursiv und figurativ angespielt.
Todesphantasien tauchen bereits auf den ersten Seiten der Erzählung auf. Bei den
Rechtfertigungsversuchen ihres unkonventionellen modus vivendi verwickelt sich
Helena in Widersprüche, die für den gesamten Text konstitutiv sind. Einerseits
artikuliert sie ihr Verlangen eines auf ihre persönlichen Bedürfnisse zugeschnittenen
Lebens, andererseits deklariert sie den Verzicht auf Selbstverwirklichung und wünscht
sich stattdessen entweder den Tod oder prophezeit trotzig eine altruistische Wandlung
und damit Anpassung. Es fehlen ihr Argumente (eine diskursive Anbindung), die ihr
Verhalten vor dem Vorwurf des Egoismus und damit vor Schuldgefühlen schützen
würden. Daher ist sie in den meisten Dialogen mit ihren Gesprächspartnern zugleich
einverstanden und nicht einverstanden. Sie gibt zu, egoistisch zu sein und bestreitet es
gleichzeitig. Sie stellt sich in die Mitte der binären Oppositionen: Es entsteht das Bild
einer zerrissenen, zwischen zwei Standpunkten aufgespannten, ‚gekreuzigten’
Persönlichkeit. Auf den ersten Blick wird Helena als eine entscheidungsfreudige Frau
modelliert, die sich durchsetzt. Auf den zweiten Blick wird eine Person sichtbar, die
von Widersprüchen zerrissen, noch sehr abhängig, fremdbestimmt und am Rande der
34
Polnisch: „(…) masz duszę prostszą i zdrowszą ode mnie, – tego szaleństwa, czy tej logiki mego
jestestwa, które zrywa z życiem znienawidzonem, by nienawiść swą odnaleźć wszędzie (...).“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Resignation oder gar des Selbstmords steht. Sie wird auch partiell von der Figur des
Ehemanns und von der Erzählerin pathologisiert. Der Ehemann betont, er halte sie
nicht für eine Komödiantin (Hysterikerin), sondern für wirklich krank im Sinne von
‚apathisch’. Auch die Erzählerin sieht Helenas Seele als krank und melancholisch an.
(Emilia aus „Nad Niemnem“ wird durchgehend auf diese Weise charakterisiert.) Man
hat den Eindruck, dass die Autorin eine Intention verfolgt, welcher der Text nicht ganz
folgen will. Eine Kostprobe:
Ich brauche große, wunderbare, die Seele zutiefst erschütternde Eindrücke (…). Ich möchte
gewaltige Gewitter und nicht eine sich leicht kräuselnde Oberfläche der Lebenswellen. Aber
eigentlich möchte ich gar nichts! (...) All dies ist ein Zucken des Egoismus, wie du zu sagen
pflegst (...). Vermeiden wir heute lieber Diskussionen zum unausschöpflichen Thema der
Selbstsucht und der Aufopferung. Ich gebe mich geschlagen. (...) Außerdem wissen wir beide, du
theoretisch und ich aus Erfahrung, dass dieser ausufernde Individualismus eigentlich eine
Tragödie ist. Ich denke nicht daran, mich zu verteidigen. Ich gebe zu, dass du edelmütig, erhaben
und altruistisch bist, dass die Größe deiner Tugend überwältigend ist, und dass ich klein,
gewöhnlich und niederträchtig bin – ein hungriger, unter einer Pyramide heulender Schakal. Der
Schatten der Pyramide wird den Schakal verhüllen und das große Grab das erbärmliche,
verwüstete Leben verschlingen... (16) 35
Nach dem rebellischen Textanfang überrascht dieser Anflug von Selbstaufgabe und
Selbstmitleid, der von fortschreitendem Selbstvernichtungsdrang zu zeugen scheint.
Genau hier wird zum ersten Mal auch der Tod als Lösung der Probleme anvisiert.
Wiederholt erscheint er in dieser Funktion, als Helena ihre Entscheidung bereits
getroffen hat:
35
Polnisch: „Mnie potrzeba wrażeń wielkich, wspaniałych, wstrząsających duszę do głębi (...). – Chcę
wielkich własnych burz, – nie lekkiego marszczenia się powierzni życiowej fali. Ale zresztą, niczego nie
chcę! (...) to paroksyzm egoizmu, jak mówisz (...). Nie zaczynajmy dziś dysputy na niewyczerpany temat
samolubstwa i poświęcenia. – Daję za wygranę. (...) Zresztą wiemy oboje, ty teoretycznie, ja
doświadczalnie, że ten wybujały indywidualizm jest w gruncie rzeczy smutną tragedyą. – Nie myślę swej
natury bronić; przyznaję, żeś ty szlachetny, wzniosły, społeczniony, że cnota, której jesteś
przedstawicielem druzgocze wielkością; i że ja jestem mała, pospolita, nikczemna... że jestem głodnym
wyjącym pod piramidą szakalem; a cień piramidy skryje szakala – a wielki grób pochłonie nędzne,
wyniszczone życie...“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
(...) er wird sich einer ruhigen Arbeit hingeben, und ich werde ewig nach einer Beschäftigung
suchen, heute in die eine, morgen in eine andere Richtung agierend, bis ich der Erde meine
erbärmlichen Überreste zurückgebe – wie dem auch sei, alles ist besser als Langeweile. (22) 36
Den Höhepunkt der Todessehnsucht bildet jedoch Helenas Versuch, Karol zu einem
gemeinsamen Selbstmord zu verführen. (Sowohl der freiwillige Liebestod auch der
Suizid generell werden seit dem 18. Jh. verstärkt weiblich konnotiert. Die Faszination
der Dichter für den weiblichen Tod und vor allem den weiblichen Selbstmord im
Wasser, erreicht im 19. Jh. ihren Höhepunkt. Zu einer unerschöpflichen
Inspirationsquelle auf diesem Gebiet wird die Shakespeare’sche Ophelia.) 37 Das
Szenario ist düster, selbst das Quaken der Frösche klingt „begräbnisartig“
(pogrzebowo). Helena ist keine Kämpferin mehr, sie verlässt den diskursiven Bereich
und taucht in die Welt der Natur ein. Karol hingegen ist romantisch eingestellt und
versucht vergeblich, wie zuvor schon Konrad, ihr die körperliche Annäherung
schmackhaft zu machen. In dieser Szene wird Helena mit archetypischen
Äquivalenten der Weiblichkeit in Verbindung gebracht, mit Wasser (mit dem sie ihre
Seele vergleicht), Mond und Tod. Sanft und stufenweise setzt sie zur Verführung
Karols an („toniemy w nieskończoności“) und gibt ihr regressives Begehren nach
Ichauflösung, Selbstauslöschung („zabicie swego ja“) zu erkennen.
Satan, Hexe, Sirene – wenn schon kein Mensch
Während des zweiten Treffens, auf dem Höhepunkt der narrativen Spannung, träumt
Karol vom ewigen Liebesglück während Helena weitere Anstalten macht, ihren
Liebsten zu verhexen und zu umgarnen: „Lass uns nicht zur Wirklichkeit
zurückkehren, weil diese widerlich ist. Lass uns nicht erwachen.“ 38 (62) Die
36
Polnisch: „(...) on odda się cichej pracy, – ja – wiecznie szukać będę zajęcia, działając dziś w jednym,
jutro w drugim kierunku, aż rozbite resztki oddam ziemi – bądź co bądź wszystko lepsze od nudy.“
37
Vgl. Stuby 1992, 182; Higgonet 1985, 105; Bachelard 1942, 112-113.
38
Polnisch: „Nie wracajmy do jawy, bo ona wstrętna. Nie budźmy się.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Feministin verwandelt sich in einen Dämon, in den Satan. 39 Sie zieht Karol zum
Wasser, dem, wie es bei Shakespeare heißt, „angestammten Element“ der Frau. 40 Die
Stimmung wird immer gespenstischer (es ist die Johannisnacht). Helena verwandelt
sich in eine Hexe, Zauberin, Sirene – alles in der abendländischen Kultur gängige
Frauenbilder, die die Weiblichkeit mit der Sphäre des Irrationalen und für den
Zusammenhalt und die Identität des Subjekts Bedrohlichen identifizieren:
In diesem Wasser werden dich Nixen und Feen mit einer himmlischen Hoffnung berauschen (...),
wunderschön und verführerisch locken sie mit Liebe und Glück – Göttinnen des Todes und der
Rache. (...) Sie locken dich in die Tiefe paradiesischer Orte. Und weißt du, was sich in der Tiefe
[des Flusses] befindet? Das Symbol deines Wesens – Sand und Reptilien. Ein Tod inmitten der
Symbole des Lebens erwartet dich. Und weißt du, was ist der Tod? Er ist das Leben in den tiefen
Fluten unbewusster, kosmischer Phantasien. (63) 41
Nachdem Helena die Alternativen der Heiligen und Hure für sich abgelehnt hat,
versucht sie sich in der Rolle der Sirene. Dies ist jedoch nur scheinbar ein alternativer
‚dritter Weg’, denn – wie Stuby (1992, 56) herausgearbeitet hat – vereinigt der
gespaltene Nixenleib in einer Gestalt diese zwei entgegengesetzten, die europäische
Literatur von der Romantik bis zum fin de siècle durchziehenden Frauenbilder „der
entsexualisierten Kindfrau (angel)“ und der „männermordenden Dämonin“
(monster): 42 Beide Varianten stehen für Weiblichkeit, die zu einer erfüllenden,
erotischen und partnerschaftlichen Begegnung nicht fähig ist: Helena trennt sich von
39
Beispiele: „sie lachte kreischend, teuflisch“ / „Zwei Seelen waren in ihr – eine der Frau (…) und eine
des Teufels (…)“ (63)
40
Nach Bachelard 1942, 112 ff.
41
Polnisch: „W tej wodzie rusałki, boginki – piękne i nęcące, – wabiące miłością i szczęściem; bóstwa
śmierci i zemsty; (...) poją cię nadzieją nieba (...). Wabią cię na dno do rajskich ustroni. – A wiesz, co na
dnie? – symbol twej istoty: piasek i gady. – Czeka cię śmierć śród symbolów życia. A wiesz czem
śmierć? Życiem w topieli bezświadomych, wszechświatowych marzeń.“
42
Als weitere Konkretisierungen dieser dichotomischen Vorstellungen nennt Stuby u.a. folgende
Kontrastpaare: Eva (Lilith) – Maria, Schlange – Taube, Rose – Lilie. „Im Bild der Sirene, Melusine, Nixe
fließen sie ineinander. Dies ist unter anderem ein Grund dafür, warum gerade diese Ausprägung
imaginierter Weiblichkeit so überaus verbreitet war und selbst im 20. Jahrhundert noch eine große
Suggestivkraft besitzt.“ (Stuby 1992, 56) Die bekanntesten Imaginierungen der Nixen und Wasserfrauen
(rusałki, nimfy, topielice, ondyny) in der polnischen Literatur stammen aus der Feder des Romantikers
Adam Mickiewicz und des Modernisten Bolesław Leśmian. Charakteristisch ist das Motiv auch für die
Malerei von Jacek Malczewski. (Vgl. Janion 2002, 274 ff.)
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ihrer Sexualität und Körperlichkeit und ist nicht in der Lage, sich auf eine
Liebesbeziehung einzulassen. Ihren in der gesellschaftlichen Realität nicht
realisierbaren Anspruch auf Macht und Einfluss kompensiert sie im verzweifelten und
destruktiven Versuch, sich den Liebespartner untertan zu machen. Karols Versuche,
körperlichen Kontakt aufzunehmen, werden abgelehnt: „Dies ist nicht der Zeitpunkt
für Streicheleinheiten, es geht um die Wahrheit und nicht um Liebesgeflüster.“ 43 (63)
In poetisch überhöhter Rede lockt die anfangs so tatkräftige Rebellin den Liebsten
zum gemeinsamen Freitod – plötzlich und unmotiviert stört sie am Leben
paradoxerweise die Tatsache, dass man „unentwegt tätig sein und sich wandeln
muss“: 44
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Heute finden wir die Blume des Glücks... Heute machen wir die Möglichkeit zunichte, dass unser
Lied jemals zu Ende geht. Heute suchen wir die Tiefe des Flusses auf, vielleicht wird es dort
etwas anderes als Schlamm und Ungeziefer geben. (...) Ich weiß nicht, ob das der Tod ist, ich
weiß, dass es nicht Leben ist. (...) Falls wir heute, verbunden mit der letzten Strophe unseres
Poems, nicht den Tod erblicken sollten, werden wir uns morgen gleichgültig sein. (63) 45
Im Leben gibt es keine Unsterblichkeit des Traums, es existiert nur ein nervöses, beunruhigendes
Zucken! Ich möchte dich dorthin führen, wo du ewig den Trank des Vergessens aus deinem Kelch
trinken kannst. Möchtest du mit mir dorthin gehen? (65) 46
Karol lässt sich jedoch nicht verführen, er bleibt wachsam und vernünftig. Die
resignierte Helena taucht nun ihren Blick in die „dunklen Ströme des Flusses“. Das,
was gerade passiert ist, tut sie als „Nachtgespenst“ (upiór nocy) und „Tagtraum“ (sen
na jawie) ab. Bezeichnenderweise verschwindet sie in den „düsteren Schatten der
Nacht“. (66)
43
Polnisch: „Nie pora na pieszczoty, chodzi o prawdę, nie o słowa miłości“.
44
Auf dem Höhepunkt der Entwicklung Helenas zur Sirene bekommt Komornickas Prosa plötzlich
lyrische Qualitäten, weist z.B. Alliterationen auf.
45
Polnisch: „Więc dziś znajdziemy kwiat szczęścia.... Dziś zniszczymy możność końca naszej pieśni.
Dziś odwiedzimy dno rzeki, – może będzie tam co innego niż mół i gady. (...) Ja nie wiem, czy to śmierć,
wiem, że to nie życie. (...) jeżeli dziś, złączeni ostatnią strofą poematu, nie ujrzymy zgonu, – jutro
będziemy dla siebie obojętni.“
46
Polnisch: „W życiu nie ma nieśmiertelności snu; jest tylko nerwowe, niepokojące drganie! Chcę cię
zaprowadzić tam, gdzie w czarze twojej napój zapomnienia nieustannie sączyć się będzie. Czy chcesz iść
tam ze mną?“
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Symbolischer Selbstmord
Helenas Dämonisierung wird auch die Erzählung beenden. Das allerletzte, auf die
Protagonistin bezogene Wort des Textes lautet ‚Satan’. Helena verabschiedet sich von
ihrer Verwandten Adela und deklariert eine Wandlung im positivistisch-
utilitaristischen Sinne, die sie schon mehrmals in den Augenblicken resignativer und
trotziger Selbstaufgabe angekündigt hat. Zu den wichtigsten Kollektivsymbolen des
polnischen positivistisch- utilitaristischen Diskurses nach 1863 gehörten Arbeit und
Nützlichkeit. Genau auf diese Werte beruft sich Helena in ihrem Abschiedsgespräch
mit Adela. Für den Leser ist es offensichtlich, dass Helenas Vorsatz, ab jetzt Altruistin
zu werden, ironisch gemeint ist. Die vermeintliche Konvertitin gibt nämlich zu
verstehen, dass diese Absicht für sie in Wirklichkeit Selbstauslöschung, ja Selbstmord
bedeutet:
Arbeiten will ich für die Arbeit, für die Tötung des Ichs, dieses unerträglichen, mich quälenden
Gespenstes. Ich begehre weder großartige Resultate noch Denkmäler des Ruhmes. Alles in mir
töten, was meines ist, alles, was schmerzt, sich mit Arbeit erregen, um keine Langeweile
zuzulassen, (...) die Kraft des Dampfkessels bei Küchenarbeiten verbrauchen. Das Paradoxon
erfüllt sich. Dies ist wahrhaftig eine seltsame Verwandlung – vor lauter Individualismus Altruistin
zu werden. (68) 47
Doch die seltsam unsensible Adela ist über die Metamorphose ihrer bislang so
egoistischen Verwandten beglückt und macht ihr eine Liebeserklärung: „Heute liebe
ich dich, Helena. Du wirst zum Menschen.“ 48 Helenas Reaktion und damit der letzte
Satz des Textes machen die Verbitterung und den Sarkasmus der – um es ‚poetisch’
auszudrücken – zwischen den Diskursen einsam irrenden und von der Erzählerin quasi
im Stich gelassenen Protagonistin deutlich: „Ein spöttischer Krampf streifte ihre
Lippen. ‚Wenn du wüsstest, dachte sie mit zusammengebissenen Zähnen, dass ich
47
Polnisch: „Pracować chcę dla pracy, – dla zabicia siebie, tej nieznośnej, dręczącej mnie mary; – nie
pragnę ani świetnych rezultatów, ani pomników sławy. – Zabić w sobie wszystko co jest moje, –
wszystko, co boli; – podniecać się pracą, by nie dopuścić nudy; (...) siłę kotła parowego zużyć w
zajęciach kuchni domowej. – Paradoks się spełnia; to doprawdy przemiana dziwnego gatunku: – stać się z
powodu indywidualizmu altroistą.“
48
Polnisch: „Kocham cię dziś, Heleno. Stajesz się człowiekiem.“
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heute erst zum Satan werde!’“ 49 (69) Dies ist der einzige konkrete Zukunftsentwurf
Helenas, und dieser Entwurf ist ein stummer, 50 d.h. nicht mehr offen ausgesprochener,
ohnmächtiger und ver-rückter Protest gegen das Verbot, sich als Frau außerhalb des
Paradigmas der Aufopferung zu realisieren. Er realisiert sich im geheimen
Augenzwinkern Richtung Leser, das sich folgendermaßen semantisieren lässt: „Ach!
Sie denkt, ich werde mich nützlich machen, dabei habe ich vor, sie zu überlisten und
mich zu vernichten.“ Diese Entwicklung wird bereits am Anfang der Erzählung
angekündigt. Im Gespräch mit Karol definiert sich Helena als „Geist, der zum Satan
geworden ist, weil es ihm verboten war, Mensch zu bleiben“. (47)
Exkurs: Widersprüchliche Konzeptualisierung des Wahnsinns
Die Konzeptualisierung des Wahnsinns wird vor allem in den Passagen zur
Abrechnung Helenas mit ihrer Lebensgeschichte deutlich. Im Zentrum dieser
Auseinandersetzung steht die für den Diskurs des Jungen Polen charakteristische,
sprachlich sehr leidenschaftlich umgesetzte Verurteilung der Philister-Welt:
Ich mache Sie bekannt mit der Tyrannei von Gesellschaft und Familie, die mich peinigte, und mit
den Menschen, aus denen ich hervorgegangen bin. Sie zeichnen sich durch konventionelle
Gewöhnlichkeit aus. Sie sind nicht glücklich und lechzen nicht nach Glück, weil sie sich mit
Spießbürgertum zufrieden geben. Diese Zufriedenheit ist eine ekelhafte Mischung aus Faulheit
und Feigheit, Gedanken- und Gefühlslosigkeit, Arroganz und blinder Ergebenheit gegenüber
Konventionen. (50) 51
49
Polnisch: „Kurcz szyderski przebiegł jej usta. ‚Gdybyś wiedziała, pomyślała z zaciśniętemi zębami, że
dziś dopiero staję się szatanem!’“
50
Vgl. Ausführungen Stubys (1992, 84) zum sukzessiven „Stimmverlust“ der „ehemals so
stimmgewaltigen Wasserfrauen“ in den Adaptionen der Nixenmythen in der europäischen Kunst:
„Goethes Wasserweib in der Ballade ‚Der Fischer’ und die tote ‚Ophélie’ im gleichnamigen Gedicht
Rimbauds markieren in etwa den Anfang- und Endpunkt dieser Entwicklung.“ Den Sprachverlust der
Wasserfrauen hält Stuby „für eine epochentypische Spezifik der Sirenenimaginationen im 19.
Jahrhundert: der poetische Diskurs über den Ausgrenzungs- und Zähmungswunsch (…) wird zunehmend
durchkreuzt vom medizinischen, später psychiatrischen und psychologischen Diskurs über weiblichen
Wahnsinn und Hysterie.“
51
Polnisch: „Zapoznam pana z tyranią towarzyską i rodzinną, która mnie dręczyła i z gatunkiem ludzi, z
których wyszłam (...). – Ogólna ich nazwa – pospolitość konwencjonalna. Są to istoty, które nie będąc
szczęśliwymi, nie łakną szczęścia; których zadowala filisterstwo mieszczańskie. (...) Zadowolenie to
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Bei dieser Charakterisierung ‚verrät’ die Protagonistin unwillkürlich und ex negativo,
welche Werte in ihrem Weltbild positiv markiert sind. Es wird deutlich, dass sie
ungezügelte Leidenschaftlichkeit und Emotionalität, ja selbst ‚tierische’ Fleischeslust
höher schätzt als geistige Trägheit, Bequemlichkeit, Durchschnittlichkeit, Banalität,
Schablonenhaftigkeit und hohe Anpassungsbereitschaft. Die Kritik gipfelt im Einsatz
lexikalisierter Metaphern, die der ethischen Abqualifizierung der kleinbürgerlichen
Moral dienen („moralna stęchlizna“, „błoto“). Der Wahnsinn wird auf der
Textoberfläche semantisch vorteilhaft aufgeladen: „Zadowolenie to [filistrów] (...) nie
jest ani uczuciem szaleńca, ani rozkoszą epikureizmu, ani zaślepieniem przez własne
wielkie namiętności“. (50) Der angeprangerten ‚Menschengattung’ wird somit
fehlende Größe sowohl auf dem Gebiet der Rationalität (Vernunft) als auch der
Sensibilität (Wahnsinn) bescheinigt. Rationalität und Emotionalität werden hier nicht
gegeneinander ausgespielt. Was unter die Räder der Kritik gerät, sind vielmehr der
Kleinmut, die Ignoranz, das Fehlen eines materielle Bedürfnisse überschreitenden,
über flache Sippschaftsinteressen und Statusfixierung hinausgehenden
Lebensentwurfes – der Minimalismus und Materialismus. 52
Bemerkenswert ist, was an den Rändern des Textes passiert. Wenn wir die
Aufmerksamkeit auf scheinbar selbstverständliche Details – die man bei der nicht
professionellen Lektüre nicht wahrnimmt – richten und sie kurz von der
sinnzentrierten Aussage des Textes abwenden, fällt auf, dass das Verrücktsein auch
negativ konnotiert wird. Die Wahnsinnigen werden mit ‚Verdammten’, ‚Verbrechern’
und ‚Idioten’ gleichgesetzt. Die Rede vom Wahnsinn ist gebrochen, inkonsequent.
Zwei diskursive Paradigmen und damit zwei unterschiedliche Wahnsinnskonzeptionen
werden gleichzeitig aktualisiert, das der Aufklärung und des Positivismus einerseits
(Unzurechnungsfähigkeit), das der Romantik und des Jungen Polen andererseits
(Leidenschaftlichkeit, geistige Größe, Genialität). Denn einerseits ist es schlimm, dass
die Philister nicht einmal ‚richtig’ wahnsinnig werden können, andererseits ist es
beklagenswert, dass sie durch die Erziehung verrückt gemacht werden.
[jest] (...) jakąś wstrętną mieszaniną lenistwa i tchórzostwa, bezmyślności i nieczucia, arogancyi i ślepej
uległości konwenansom.“
52
Bei ihrer Kritik des kleinbürgerlichen Opportunismus bringt Helena soziokulturelle und metaphysische
Kategorien durcheinander. Denn einerseits diskutiert sie Folgen einer problematischen Erziehungshaltung
und Wertehierarchie in einer bestimmten gesellschaftlichen Schicht, andererseits operiert sie mit
Kategorien wie ‚Menschengattung’ oder ‚meine Natur’. Diese Inkonsequenz ist für den gesamten
jungpolnischen Diskurs konstitutiv.
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3. 2. Wahnsinn oder Tod – „Staszka“
Die Metaphysik ruft: „Alles ist ein Nichts, alles ist ein
Rätsel!“ Der Positivismus spottet: „Lebst du noch, du
leere, erbärmliche Null?“ (...) Und beides schließt sich
zusammen zu einem höllischen Chor – einem Urteil der
Zerstörung. (Komornicka 1894, 195) 53
In der Kritik und Forschung wurde „Staszka“, die letzte und umfangreichste
Erzählung des Zyklus, als die künstlerisch überzeugendste angesehen. Sie weist
weniger Parallelen zum publizistischen Diskurs auf. Die junge Komornicka verzichtet
hier auf bloße Auslegung von weltanschaulichen Konzepten zugunsten ihrer
Einflechtung in eine etwas breiter angelegte Handlungsstruktur. Es wird ein Einblick
ins Seelenleben nicht nur einer, sondern zweier Figuren vermittelt, der 18-jährigen
Staszka und des 40-jährigen Gustaw. Die auktoriale Erzählinstanz verzichtet
weitgehend auf wertende Kommentare und verhält sich zurückhaltend, um die
Perspektiven der Figuren für sich sprechen zu lassen (in bewusstem Kontrast zu den
literarischen Gepflogenheiten der vorausgegangenen Epoche). Diesem Zweck dienen
vor allem die ausgebauten inneren Monologe der Protagonisten, die zum Teil die
Form von Tagebuchaufzeichnungen und Halluzinationen annehmen. Hervorzuheben
ist auch das Verfahren der gegenseitigen Analyse der Hauptfiguren im Verlauf ihrer
Monologe, mit dem Effekt der Durchkreuzung und Spiegelung ihrer Perspektiven.
Auch in dieser Erzählung werden zahlreiche literarische Motiv-Klischees der Epoche
eingesetzt, so z.B. die Romantisierung des Todes auf dem Höhepunkt der Liebe. 54
53
Alle Seitenangaben in diesem Kapitel beziehen sich, sofern nicht anders angegeben, auf diese
„Szkice“-Ausgabe. Polnisch: „Metafizyka woła: ‚Wszystko nicość, wszystko pytanie!’ Pozytywizm
szydzi: ‚Żyjesz jeszcze, ty puste, marne zero?’ (...) A wszystkie razem wiążą się w chór piekielny, wyrok
zniszczenia.“
54
Dieses Motiv wurde zum Gegenstand des berühmten und skandalösen Gemäldes „Szał“ (Der Wahn)
von Wacław Podkowiński.
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Das junge Mädchen und der ‚Greis’
Ähnlich wie in „Z fantazyi realnych“ ist eine junge, äußerst intelligente Frau aus
adligem Geschlecht die Hauptfigur der Erzählung. Staszka ist noch jünger als Helena
und noch nicht verheiratet. Mit ihren achtzehn Jahren steht sie dem Alter der
empirischen Autorin am nächsten. Anders als Helena ist sie nicht mit einem
ungeliebten, zum anspruchslosen Kleinbürger mutierten Mann zusammen, sondern,
und das erweist sich als noch unheilvoller, liebt leidenschaftlich einen Vertreter der
„besseren Menschengattung“ (121) – einen den Trivialitäten und Zwängen des Alltags
entfremdeten, feinfühligen Dekadenten. Die beiden Partner sind sich zwar in ihrer
seelischen Sensibilität, ihrer Überentwicklung der „Nerven“ und des „Gehirns“
ähnlich, jedoch im Hinblick auf ihr Alter und ihre aktuelle Lebensstation sehr
verschieden. Staszka wird als leidenschaftlich, voller Lebenskraft und Lust, Gustaw
als ein vom Leben erschöpfter, seelischer Greis bzw. gar ‚seelische Leiche’ modelliert.
Doch beide werden im Laufe der Erzählung etwas voneinander lernen, etwas vom
Wesen des anderen in die eigene Persönlichkeit integrieren – mit einem fatalen
Ergebnis. Beide Liebende sterben im Laufe der Erzählung: Gustaw zuerst, weil er sich
von Staszka zur Liebe und Leidenschaft hinreißen lässt, und sein krankes Herz es
nicht durchsteht, Staszka hinterher, weil sie ohne Gustaw, dafür aber mit dem ihr von
ihm ‚eingeimpften’ Zweifel am Lebenssinn nicht mehr leben kann. Er stirbt an
Herzinfarkt, sie erschießt sich. Gustaw, der Staszka, wie es zunächst einmal heißt,
„zum Leben erweckt hat“ (im Frühling), bringt ihr paradoxerweise den Tod (im
Herbst). Damit kehrt auch das obsessive Motiv des Selbstmords zurück, das in allen
Erzählungen des Zyklus auf variierende Art und Weise durchgespielt wird. Doch
lediglich diese letzte Erzählung und damit das ganze Buch enden mit einem
tatsächlich durchgeführten Selbstmord der jüngsten aller auftretenden Figuren.
Darüber hinaus lassen sich nur in dieser Erzählung auch positiv markierte
Anspielungen auf Erotik verfolgen.
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Die Alternativen, zwischen denen sich die Figur der Staszka bewegt, sind – nicht viel
anders als im Fall Helenas – geistiger Tod und leiblicher Tod. Der gesellschaftliche
Raum des Salons wird gleich zu Beginn der Erzählung als „Grab“ bzw. als „hinter
dem Schein des Lebens tot“ (117) kenntlich gemacht. Von diesem Hintergrund heben
sich lediglich die Figuren Staszkas und Gustaws ab, die, zunächst in den Rollen des
unwissenden Kindes und des belehrenden Vaters, miteinander ins Gespräch kommen.
Beide durchschauen die geistige Trägheit und Verlogenheit ihrer Umwelt. Gustaw
entrollt vor Staszka eine neue Welt, die Welt der Menschen, die sensibler,
moralischer, damit aber anfälliger für seelische Leiden sind:
Ich fing [erst dann] zu lesen, als ich von Ihnen erfuhr, dass es außer dem philisterhaften Leben
noch eine Menge großartiger Gedanken und schmerzlicher Gefühle gibt, dass außer den Träumen
von einem wohlschmeckenden Mittagessen und einer rührseligen Liebe noch eine Welt voller
erhabener Bestrebungen existiert, voller Mitgefühl für Elende, Verachtung der Gewöhnlichkeit –
eine Welt grandioser Programme und belebender Ideen. Durch Sie habe ich ungelöste Rätsel
erkannt, die mich umgeben, durch Sie habe ich über mich selbst nachdenken müssen und die
Tragik solcher Wesen wie das Ihre, das Elend des Lebens und die Torturen leidender erhabener
Seelen kennen gelernt. (121) 55
Die Philisterwelt wird mit negativ konnotierten Tierarten, mit Barbarei, Pfützen,
Schlamm und Marionettenspiel metaphorisch in Verbindung gebracht. Als Opposition
dazu fungiert Staszkas utopischer Entwurf von den „Söhnen der Sonne“, „Herren der
Erde“, vom „Menschen als individueller Macht“, der wenig später von Komornicka,
Nałkowski und Jellenta in „Forpoczty“ konkretisiert wird.
Während Gustaw, der raffinierte und lebensuntaugliche Vertreter der „Aristokratie der
Gehirne und der Nerven“ (131), aus Staszkas Sicht ein Märtyrer ist, sieht er selbst
seinen seelischen Zustand der absoluten Leere als pathologisch an und prophezeit in
seinen inneren Monologen der von ihm ‚angesteckten’ Staszka den Untergang:
55
Polnisch: „Zaczęłam czytać, gdy z Twego sposobu mówienia dowiedziałam się, że poza filisterstwem
życia jest ogrom wielkich myśli i uczuć bolesnych; że oprócz marzenia o smacznym obiedzie i ckliwej
miłości istnieje świat cały wzniosłych usiłowań, współczucia dla nędzy, pogardy dla pospolitości,
wspaniałych programów i ożywczych idei. Przez pana poznałam nierozwiązane zagadki, które mnie
otaczają; przez pana zastanowiłam się nad sobą, poznałam tragizm takich istnień jak twoje, nędzę życia i
tortury dusz wzniosłych i cierpiących.“
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Sie geht nun bergab, stürzt in den Abgrund der Verzweiflung. Und diese wird bei ihrem
leidenschaftlichen und heißen Temperament furchtbar sein – nicht nur ein intellektueller
Bankrott, sondern ein Ruin ihrer Lebensgrundlage. (135) 56
Die auktoriale Modellierung Gustaws und ansatzweise Staszkas zum Typus des
‚degenerierten Genies’ schöpft ihre Inspiration aus der zur damaligen Zeit sehr
verbreiteten, in der Erzählung explizit thematisierten psychopathologischen
Konzeption von Cäsar Lombroso. In seinen populärpsychologischen Werken „Genie
und Irrsinn“ (1887) und „Der geniale Mensch“ (1887) säkularisiert dieser, wie Lange
(1992, 32 ff.) auf den Punkt bringt, psychiatrisch den Wahnsinn und beraubt ihn seiner
mythischen Aura. Von der konservativen, kleinbürgerlichen Kritik wurden seine
Werke, so Lange, wenig später zur Denunziation moderner Literatur und Kunst als
dekadent und entartet adaptiert. Am Beispiel von Künstlern wie Poe, Baudelaire und
Dostoevskij beweist Lombroso, dass Genialität immer mit krankhafter Abnormität
einhergeht, die jedoch, so Lange weiter, „von der Natur selbst über kurz oder lang zur
Raison gebracht wird.“ Demnach sei „das geniale Individuum ein Bankrotteur,
unfähig, die ihm von der Natur verliehenen Möglichkeiten ökonomisch effizient zu
verwerten“, und überanstrengt sich fortlaufend durch ein „Übermaß an geistiger
Arbeit“. Anders als in Nietzsches glorifizierenden Konzeptualisierungen des
künstlerischen ekstatisch-visionären Wahns werden für Lombroso „die eruptiven
Entladungen ästhetischer Produktivität“ zum Verhängnis des Genies. Zu den
Konsequenzen der „exzessiven Überreizung des Nervensystems“ gehören für
Lombroso Melancholie, Niedergeschlagenheit, Depression 57 – alles Leiden, an denen
die „Szkice“-Autorin auch Gustaw und Staszka zugrunde gehen lässt. (Lange 1992,
28-35)
Staszkas Modellierung schwankt zwischen den im vorigen Kapitel bereits ausführlich
kommentierten Mustern der entsexualisierten ‚femme fragile’ und der verführerischen
‚femme fatale’. 58 Einerseits ist sie eine zierliche und schöne, empfindsame,
melancholische Kindfrau und sieht mit ihren achtzehn Jahren „wie ein Teenager aus“
56
Polnisch: „Teraz stąpa po spadzistej drodze, stacza się szybko ku otchłani rozpaczy, a będzie ona
straszną przy jej namiętnym, gorącym temperamencie: to nie będzie bankructwo intelektualne tylko, to
będzie ruina podstawy jej życia.“
57
Langes (1992, 35) Kommentar zu Lombroso: „Deren [der Schriften Lombrosos] geradezu
ungeheuerliche Auflagenhöhe im wilhelminischen Deutschland nimmt denn auch nicht wunder. Sie
verdankt sich der Raffinesse Lombrosos jene anzusprechen, die über sich nichts Höheres dulden als eine
Inkarnation ihrer selbst, jemanden, der ihnen bestätigt, das die Mittelmäßigkeit des Geistes einzig wahre
Größe ist.“
58
Näheres zum Verhältnis der Weiblichkeitsimaginationen ‚femme fragile’ und ‚femme fatale’ siehe
Schaps 1982.
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112
(femme fragile): „Der matte Teint, das Zittern der Lippen und der Nasenlöcher und
eine gewisse Unruhe der Bewegungen deuteten auf ein zartes und nervöses Wesen.“ 59
(118) Diese Übersensibilität sieht die Figur selbst als typisch östlich bzw. slawisch an.
Andererseits wird Staszka mit Hinweis auf ihr südländisches, italienisches Blut und
Temperament große Leidenschaftlichkeit zugesprochen, die zum Extremismus neigt
(femme fatale): „(...) wenn schon leben, dann im Fieber, aus dem Vollen, im Rausch.
Dies ist zweifellos eine Qual, aber es ist auch Wollust. Schmerz und Wollust fließen
so stark ineinander über!“ 60 (121) Sowohl übertriebene Feinfühligkeit als auch
Leidenschaftlichkeit erweisen sich als nicht lebbar, mehr noch, als eine explosive,
tödliche Mischung. 61 Nur ansatzweise werden beide Weiblichkeitsmuster durch die
Akzentuierung des Freiheitsdrangs Staszkas und ihres großen geistigen Potentials,
ihrer ‚philosophischen’ Neugier überschritten.
Die Liebe
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Gustaw selbst bzw. Gustaws Blick wird aus Staszkas Perspektive mehrmals mit dem
Abgrund bzw. Meeresgrund (Wasser) verglichen, zu dem es Staszka unweigerlich
hinzieht. Zahlreiche diesbezügliche Vorausdeutungen durchziehen die Erzählung. Von
Anfang an wird das Liebesverhältnis als tragisch, vom Fatalismus des Schicksals
gezeichnet, imaginiert. Dabei handelt es sich um eine Art magnetischer,
leidenschaftlicher Anziehung, die auf das seit dem 16. Jahrhundert die Literatur
durchziehende Konzept der ausschließlichen und unverwechselbaren ‚Liebe als
Passion’ zurückgreift. Es ist die romantische Utopie einer grenzenüberschreitenden,
59
Polnisch: „Matowa cera, drgania war i nozdrzy, pewien niepokój ruchów znamionowały delikatną i
nerwową naturę.“
60
Polnisch: „(...) jeżeli żyć to w gorączce, pełnią życia, szałem; to męka, prawda, ale to rozkosz także,
ból i rozkosz tak się z sobą plączą!“
61
Darüber hinaus schwankt sie, ähnlich wie Gustaw, zwischen dem positivistischen und dem
modernistischen weltanschaulichen Paradigma: Beide bieten ihr keine positive Lebensalternative. Gleich
zu Anfang der Erzählung wird sie als ‚Kaulquappe’ (kijanka), jemand, der sich in einem Zwischenzustand
befindet, bezeichnet.
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bedingungslosen, sich der rationalen und moralischen Kontrolle entziehenden Liebe,
die keine Kompromisse und Zugeständnisse, keinen Pragmatismus und
selbstverständlich keinen Ehewunsch kennt. In der neuzeitlichen abendländischen
Kultur fungiert diese als Gegenentwurf zur bürgerlich-christlichen Ehe. Aus diesem
Oppositionsverhältnis bezieht sie ihre Dynamik und Daseinsberechtigung. 62 In
„Staszka“ wird diese Liebe mit mystischem Begehren, mit der Passion Christi
parallelisiert. Sie verlangt (wenigstens von Staszkas Seite – und dies ist der
geschlechtsspezifische Aspekt des Unternehmens) nach der Verschmelzung beider
Liebender, nach der Aufgabe ihrer individuellen Existenz. Staszka wird von ihrem
zunächst etwas zögerlichen Geliebten abhängig, denkt unaufhörlich an ihn, richtet sich
in ihrem Denken und Handeln nach seinen Anweisungen. Damit schließt sie sich der
unüberschaubaren Reihe von literarischen Darbietungen der masochistischen, das
Liebesobjekt fetischisierenden, auf den geliebten Mann uneingeschränkt fixierten, von
innerer Auszehrung und Todessehnsucht bedrohten Weiblichkeit an. 63 Zu den
performativen Effekten dieser Imaginationen gehört die Suggestion, dass das Leiden
und Zugrundegehen an unerfüllbarer Liebe ein unvermeidliches weibliches Schicksal
darstellen würde.
Sie fühlte Unruhe und Liebe in jedem einzelnen Nerv. Sie versank in Gedanken an ihn mit der
Ekstase von Stigmatisierten. Sein Blick führte bei ihr hypnotische Erstarrung herbei (...). Sie
entwickelte sich schnell, unwillkürlich, unter dem Einfluss seiner Größe. Sie dachte seine
Gedanken, fühlte seine Gefühle. Dort, wo sie nicht instinktiv und blind nach seiner unbewussten
Suggestion handeln konnte, blieb sie leblos. Der chronische Schmerz seines Wesens ging auch in
ihre Seele über. (138) 64
62
Vgl. Stuby 1992, 92, 121/128; Luhmann 1982, 64.
63
Als Paradebeispiele für diese Art fingierter Weiblichkeit in der Literatur nennt Stuby (1992) Hans
Christian Andersens Märchennovelle „Die kleine Meerjungfrau“ und die Erzählung des Romantikers
Friedrich de la Motte-Fouqué „Undine“.
64
Polnisch: „Czuła niepokój i miłość w każdym nerwie, zatapiała się w myślach o nim z ekstazą
stygmatyków; pod wpływem jego wzroku ogarniała ją martwota hipnotyzowanych (...). Rozwijała się
szybko, mimowiednie, pod wpływem jego potęgi. Myślała jego myślami, czuła jego wrażeniami. Tam,
gdzie nie mogła instynktownie, ślepo działać według jego nieświadomej sugestyi, pozostawała martwą.
Chroniczny ból istoty Gustawa przeszedł także do jej duszy.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Mit der Aktualisierung der Konzeption der individuellen Leidenschaftsliebe bezieht
die Autorin Position sowohl gegen das Oktroi der bürgerlichen, Frauen in besonderer
Weise disziplinierenden Moral als auch gegen das in der polnischen Kultur noch
weitgehend aktuelle feudale Diktum des standesgemäßen ehelichen Arrangements.
Gleichzeitig gerät Komornicka jedoch (in die paradoxe Situation als Frau und
kreatives Subjekt zugleich verfangen) auch hier in den Sog patriarchaler
Weiblichkeitsmodellierungen. Dies lässt sich allerdings nicht verallgemeinern, denn
die sechzehnjährige Debütantin verleiht ihrer Ichfigur Staszka auch Züge, die sie
gleichzeitig als Entwurf einer ‚neuen Frau’ erscheinen lassen. Es ist nämlich Staszka,
die aktiv wird, die Gustaw ihre Liebe als erste bekennt, ihr Begehren ausspricht (wohl
wissend, dass sie damit ein kulturelles Tabu verletzt), ohne um Erwiderung zu flehen.
Sie schlüpft nicht in die romantische Rolle des verschämten jungen Mädchens, „das
beim Anblick des Geliebten die Augen niederschlägt und errötend darauf wartet, was
wohl mit ihr geschehen mag.“ 65 (Stuby 1992, 86) Sie ist es auch, die Gustaw mit ihrer
sich auch körperlich manifestierenden Leidenschaft und Ekstase ansteckt, die „die
Asche auf seinem Grab wieder aufwühlt“. (142) Einige Beispiele aus Gustaws
Tagebuchaufzeichnungen:
– Ihre Leidenschaft äußert sich durch Zittern und durch brennende Blicke. (141)
– (...) ich küsste ihre Stirn mit väterlichen und brüderlichen Gefühlen, und sie bebte in meinen
Armen, geschüttelt vom elektrischen Strom, der sich letztlich auch auf mich übertrug (...). (143)
– (...) sie zeigt aufbrausende Leidenschaft, ist aber überzeugt, dass ihr Gefühl nur auf einer
Gemeinsamkeit von Denkvorstellungen und Schmerz, von Anbetung und Sympathie gründet. (...)
ein Kuss (...) hält sie in Anspannung und unnötiger Erregung. (146)
– Ihr Gefühl hat die Wucht einer Granate (...). Sie spielt nicht mit den Leidenschaften, sondern
wird von ihnen getrieben. (151) 66
65
Dafür aber bittet sie um ein wenig ‚Mitleid’. Auch hier wird deutlich: Es will Komornicka nicht
gelingen, sich beim Entwurf dieser Figur den Weiblichkeitsstereotypen völlig zu entziehen.
66
Polnisch: „Namiętność jej objawia się drżeniem, palącemi spojrzeniami. / – (...) pocałowałem jej czoło
z uczuciem ojca i brata, a ona drżała w moich rękach, wstrząsana prądem elektrycznym, który i mnie w
końcu się udzielił (...) / – (...) daje dowody wybuchającej namiętności, a jest przekonana, że jej uczucie –
to tylko wspólność pojęć i bólu, uwielbienia i sympatyi. (...) pocałunek (...) ją zaś trzyma w naprężeniu i
podnieca niepotrzebnie. / – Jej uczucie ma rozpęd granatu (...). Nie ona igra z namiętnościami, ale one nią
miotają.“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Gustaw nimmt Staszkas erotische Ausstrahlungskraft wahr, mit dem Verdacht, dass
sie selber ihrer nicht bewusst ist. Und in der Tat spricht Staszka meist von der
Verschmelzung der Seelen der Liebenden, von der geistig veredelnden Kraft dieser
Liebe. Damit ‚entleibt’ aber die implizite Autorin diskursiv die bereits eindeutig
sexuell konnotierte Leidenschaft ihrer Protagonistin:
Ich liebe dich, verstehst du? (...) Das ist kein ruhiges, passives Gefühl, das ist Wahn, das ist
Schmerz, das ist die Wollust der Qualen. (...) In mir beben durch dich und für dich geweckte
höchste und edelste Kräfte, du bist die Gottheit meiner Gedanken und Gefühle, der Magnet des
Lebens. Meine Seele begehrt dich und verzehrt sich nach dir. Wann sehe ich dich wieder? Wann?
Wann? (135) 67
Offensichtlich ist es aus der Sicht Komornickas zu risikoreich, eine als
Identifikationsangebot fungierende weibliche Figur mit bewussten sexuellen
Bedürfnissen auszustatten. Der Text inszeniert die Sinnlichkeit in erster Linie auf der
stilistischen und lexikalischen Ebene. Es wird von Leidenschaft und von Begehren
leidenschaftlich gesprochen. Die körperliche Begegnung der Figuren auf der
Handlungsebene erschöpft sich in Berührungen der Hände, der Wangen, im Küssen
der Stirn der Geliebten. Gustaw sieht die Liebesbeziehung zu Staszka als pathologisch
(chorobliwa, monomanijna) an und ist sich ihrer destruktiven Dimension bewusst.
Andererseits aber, und hier verwickelt sich der Text in Widersprüche, erweckt ihn
diese Liebe mit aller Gewalt zum Leben, sie „weckt den Wahn in der Leiche“. (155)
Wahn (szał) ist auch hier einerseits positiv konnotiert (Nietzsche), führt aber
andererseits unweigerlich in den Untergang (Lombroso). Beide Partner phantasieren
einen gemeinsamen Tod im Rausch ihrer nicht lebbaren Liebe als den Höhepunkt der
Lust herbei: 68
67
Polnisch: „Ja cię kocham, rozumiesz? (...) To nie spokojne, bierne uczucie; to szał, to ból, to rozkosz
męki. (...) we mnie drgają obudzone przez ciebie i dla ciebie najwyższe i najszlachetniejsze władze; ty
jesteś bóstwem moich myśli i uczuć, magnesem życia; dusza moja pragnie ciebie i rwie się ku tobie.
Kiedy cię zobaczę? Kiedy? Kiedy?“
68
Als Movens dieser Phantasie fungieren die nicht näher begründete Unmöglichkeit, die Liebe zu
verwirklichen (anscheinend handelt es sich dabei um Standes- bzw. Vermögensschranken), sowie die
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Aber mit ihr sterben, im Nichts verschwinden, mit ihrem bis zum letzten Moment mir
zugewandten Blick, ihren Lippen auf den meinen... Das wäre ein größerer Genuss als das Leben...
(162)
„Wozu noch leben?“, fragte sie. „Wäre es nicht besser, sich jetzt das Leben zu nehmen? Gustaw,
zögern wir nicht! Das Leben ist eine Qual! Ein sich seiner selbst bewusstes Nichts! Lass uns im
glücklichsten Moment sterben! Warten wir nicht auf das Erwachen! (172) 69
Nach Gustaws Tod betont Staszka in ihren Monologen und Halluzinationen, dass der
nicht realisierte gemeinsame Selbstmord der Grund ihrer eigentlichen Verzweiflung
ist. Der Tod zu zweit wäre eine „Wollust“ und ein „Augenblick des Glücks“ gewesen.
Das Erbe
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Im Zusammenhang mit der für die Erzählung konstitutiven Problematik der Vererbung
entwickelt Staszka die Idee eines über ihr lastenden Fluches, den sie von einem
düsteren, wahnsinnigen Helden aus der Vergangenheit ihres Geschlechts geerbt haben
soll. Damit nimmt sie wiederum ein wichtiges Lebensthema der realen Autorin
vorweg – ihre Identifizierung mit Piotr Włast:
Warum leide ich? (...) So ein namenloser, drückender, chronischer Schmerz im Gehirn und in den
Nerven, geerbt mit dem Blut der Verzweifelten und der Stolzen. Vielleicht ist es ein Vermächtnis
des Atavismus, von einem düsteren, verrückten Helden geerbt, der mit Hohn und einem Fluch auf
den Lippen gefallen ist? (128) 70
Auch Gustaw (dessen Herzkrankheit ebenfalls vererbt ist), sieht sich selbst und
Staszka – unter dem Einfluss der Lektüre Lombrosos – als ‚Sündenbock’ des ganzen
Stammbaumes an. In seiner emotional sehr aufgeladenen Schilderung der
Angst vor dem irgendwann zu erwartenden Verblassen der Leidenschaft. Darüber hinaus heißt es, dass
beide Liebende ohnehin nichts Gutes vom Leben zu erwarten haben.
69
Polnisch: „Ale zginąć z nią, zaniknąć w nicości, z jej wzrokiem do ostatniej chwili ku mnie
zwróconym, z ustami jej na moich ustach... to większa rozkosz, niż życie... / – Na co żyć? – pyta; – czy
nie lepiej skończyć teraz? Gustawie, nie zwlekajmy, życie to męczarnia; to nicość świadoma siebie;
zgińmy w najszczęśliwszej chwili! nie czekajmy przebudzenia!“
70
Polnisch: „Dlaczego cierpię? (...) Taki bezimienny, tłoczący ból chroniczny, umieszczony w mózgach i
nerwach, odziedziczony z krwią zrozpaczonych i dumnych; może to dar atawizmu, po chmurnym
szaleńcu–bohaterze; poległym z szyderstwem i klątwą na ustach?“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
fatalistischen Kräfte der Vererbung lassen sich Parallelen zu dem von Komornicka
etwas später geschriebenen Prosastück „Biesy“ finden:
So geartete Menschen wie Sie sind der Sündenbock des ganzen Stammbaums: Das morsche Holz
des Stammes zerstört in ihnen die letzten blühenden Sprösslinge. Der Nervenverschleiß äußert
sich unterschiedlich. (...) Ihre gemeinsame Eigenschaft ist die Zerrüttung der Nerven, ihr
gemeinsamer instinktiver Drang ist der nach Selbstzerstörung (...). Aber das Traurigste daran ist,
dass gerade die reichen, vielseitig entwickelten Wesen Opfer der vererbten Abnutzung sind. Der
Zenit der menschlichen Seele ist also eine günstige Voraussetzung ihres Niedergangs. Er ist das
endgültige Ergebnis der Entwicklung – und die entscheidende Ursache der Dekadenz. (137)
[Hervorh. B. H.-M.] 71
Im Fall von Staszka ist nicht nur von der Vererbung der Übersensibilität, sondern auch
des Wahnsinns die Rede. Mehrere Figuren deuten an, dass Staszka die Tochter einer
Wahnsinnigen sei und „einen höllischen Keim erblicher Behinderungen“ in sich
trüge. 72 (170) Dies wird ausdrücklich von verschiedenen Textinstanzen als Fluch bzw.
Verurteilung bezeichnet. Nicht nur die drohende Geisteskrankheit, sondern auch das
menschliche Bewusstsein an sich und insbesondere die geistige Konstruktion der
„besseren Menschengattung“ werden als Fluch konzeptualisiert: „(...) wenn er noch
leben würde, wären wir gemeinsam gestorben, weil wir nicht leben konnten. Wir sind
Verdammte, vom Fluch Gezeichnete – der Tod wäre unsere einzige Lust gewesen
(...).“ 73 (178) Gustaw und Staszka sind sich sicher, dass sie beide dem Erbe ihrer
Vorfahren nicht entgehen können: „Was bringt uns die Zukunft? Ihr – den Wahnsinn,
mir – den plötzlichen Tod durch einen Anfall.“ 74 (172) Nach Gustaws Tod
konstatieren Staszkas Verwandte auch tatsächlich Verrücktheit in ihren Augen. Und
71
Hier wird die hohe geistige Entwicklung eines Individuums notwendigerweise mit seinem Untergang
verknüpft. Polnisch: „Takie, jak ona, organizacye są kozłem ofiarnym całego genealogicznego drzewa;
próchno pnia obala w niem ostatnie, bujne latorośle. Nerwowe zużycie objawia się różnie, (...) jedna
ogólna ich cecha – starganie nerwów, jeden wspólny instynkt – samozniszczenie. (...) I co w tem
najsmutniejszego, to, że ofiarą zużycia odziedziczonego są właśnie bogate, wszechstronnie rozwinięte
natury; zenit człowieczego ducha jest więc sprzyjającym warunkiem jego upadku, jest ostatecznym
wynikiem rozwoju – i rozstrzygającą przyczyną dekadencyi.“
72
Polnisch: „ma w sobie piekielny zaród dziedzicznego kalectwa“.
73
Polnisch: „(...) gdyby żył, zginęlibyśmy razem, bo myśmy żyć nie mogli, my jesteśmy ludzie potępieni,
naznaczeni przekleństwem – śmierć byłaby jedyną naszą rozkoszą (...).“
74
Polnisch: „Co nam da przyszłość? Jej – szaleństwo, mnie – nagłą śmierć w ataku.“
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118
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
auch die Protagonistin selbst prophezeit immer wieder ihre geistige Umnachtung.
Dabei wird der Unterschied zwischen ‚Wahnsinn’ im Sinne von Geisteskrankheit
(Lombroso) und ‚Wahn’ im Sinne von Toben, Ekstase (Nietzsche) verwischt:
– (...) sie war grauenhaft mit diesem Wahnsinn im Gesicht! (173)
– Ich flehe euch an, lasst mich in Ruhe, sonst werde ich verrückt! (173)
– Hin und wieder überwältigte sie der Rausch, sie schreckte auf und wälzte sich, das Stöhnen
unterdrückend (…). (173)
– Sie machte [den Sarg] leise auf. Er ist fort, nur Milliarden von Würmern verbreiten sich im
Sarg, auf der Erde, laufen ihr entgegen – sie läuft mit gesträubtem Haar davon, mit dem
Wahnsinn in den Augen und in der Seele. (177)
– (...) das Grab fällt unter ihr zusammen, sie zerfällt in Asche – in die eigene und in seine. Der
Wahnsinn ergreift sie, die Erde bedeckt und erdrückt sie… (177) 75
Staszkas Wahn äußert sich u.a. in ihrem unheimlichen Lachen, das mit dem
semantischen Bereich des Todes verschränkt wird (vgl. die lautliche Äquivalenz
zwischen „śmiech“ und „śmierć“). Das ganze Geheimnis des ihr vererbten Wahnsinns
kennt Staszka, die ohne Mutter und Vater bei ihren Großeltern aufwächst, offenbar
nicht. Erst gegen Ende der Erzählung entnimmt sie einem Gespräch zwischen ihrer
Großmutter und ihrer Schwägerin, dass ihre Mutter an Melancholie gelitten und
Selbstmord begangen habe. Die Familienangehörigen äußern die Vermutung, dass
dieses Schicksal auch Staszka widerfahren könnte. Seit diesem Augenblick sucht
Staszka obsessiv nach den ersten Anzeichen der Geisteskrankheit in ihrer Psyche,
bezeichnet sich als ‚waryat’ (Verrückter) und ‚idyota’ (Idiot). Dies sind
Zuschreibungen, von denen sich Komornicka in ihren Briefen aus den Irrenanstalten
vergeblich distanzieren wird:
Sie [die anderen] haben Recht, bin ich nicht zum Teil schon verwirrt? Diese Apathie und dann das
fehlende Bewusstsein meiner selbst und die Wahnanfälle – ach! Das ist furchtbar – mit dem
75
Polnisch: „(...) była straszna z tym obłąkaniem w twarzy! /– Błagam was; zostawcie mnie, bo oszaleję!
/ – Chwilami szał ją ogarniał; zrywała się, tarzała, tłumiąc jęki (...) / – Otwarła – cicho – nie ma go –
tylko miliardy robactwa rozchodzą się z trumny – zakrywają ziemię, biegną ku niej – ona ucieka z
najeżonym włosem, z szaleństwem w oczach i w duszy. / – (...) mogiła się pod nią zapada, zapada się w
proch własny – i w jego proch, obłęd ją porywa, ziemia zakrywa, dusi...“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
ewigen Gespenst des Wahnsinns zu leben, keinen einzigen ruhigen Moment zu haben, jede
Regung seiner Seele zu bewachen und zu kontrollieren, ob sie noch normal ist! (183) 76
Die panische Angst vor dem Wahnsinn dient der zuverlässigeren Motivierung der
Selbstmordabsichten Staszkas. Als Alternative zum Suizid fungiert in den Augen der
Protagonistin nämlich nur das Irrenhaus:
(...) man muss bewusst sterben, zumindest wissend, weshalb man umkommt! Weshalb? Weil ich
nicht leben kann, kein Ziel habe und Glück nicht erreichen kann. Weil ich schon gar nichts mehr
möchte, nichts begehre; weil er nicht mehr existiert. Weil ich eine Null bin und eine Null sein
muss; weil ich anderenfalls im Irrenhaus enden werde. Wozu den Menschen, der Gesellschaft und
sich selbst eine Last sein? (183) 77
Vor ihrem Selbstmord beschäftigt sich Staszka noch sehr intensiv mit dem Wahnsinn:
Seine negative semantische Besetzung wird von ihr, in Auseinandersetzung mit
Lombrosos Bestseller zunehmend in Frage gestellt. In einem ihrer letzten inneren
Monologe stellt sie die Opposition ‚Wahnsinn-Normalität’ offensiv in Frage. Doch
dies nimmt ihr nicht die Angst vor dem drohenden Realitätsverlust und der
Depression. Was sie aber geradezu heraufbeschwört, ist der ‚Wahn’ – dieser soll sie
nämlich zum Selbstmord befähigen. In einen solchen Wahn versetzt sie sich u.a. durch
Weintrinken und Reiten, das im Abschlussszenario des Textes, in deutlicher
Anspielung auf Podkowińskis Bild, zweimal visualisiert wird: „Es gab Tage, an denen
sie Zdunów bereiste und in einem wahnsinnigen und angespannten Ritt nach einem
Ventil für die angestaute, krankhafte Energie suchte. Sie kehrte erschöpft nach Hause
76
Polnisch: „Mają racyę; czy ja już w połowie nie mam pomięszania zmysłów? Ta apatya, a potem
nieświadomość siebie – i szały – ach! To okropne! żyć z ciągłem widmem obłąkania, nie mieć ani jednej
chwili spokojnej, czuwać nad każdym ruchem swej duszy i kontrolować, o ile on jest normalny!“
77
Die Motivierung der Selbstmordabsicht fällt sehr chaotisch aus. Als Gründe gelten Lebensunfähigkeit,
fehlende Lebensziele, die Unmöglichkeit des Glücks, Gustaws Tod, die eigene gesellschaftliche
Nutzlosigkeit (die Selbsteinschätzung der Figuren als ‚gesellschaftliche Null’ gehört zum festen
Motivrepertoire der „Szkice“) und die Aussicht, als Irre zu enden. Polnisch: „(...) trzeba umrzeć ze
świadomością przynajmniej, wiedząc, dlaczego się ginie! Dlaczego? Dlatego, że żyć nie umiem, celu nie
mam, szczęścia mieć nie mogę. Dlatego, że już niczego nie chcę, niczego nie pragnę; dlatego, że jego nie
ma. Dlatego, że jestem zerem, i zerem być muszę; dlatego; że w innym razie dostanę się do domu
waryatów. Na co ciężyć ludziom, społeczeństwu, sobie?“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
zurück und versank in Apathie (...).“ 78 (191) Der Zustand der Protagonistin wird von
der Erzählinstanz einerseits als frappierend und beinahe heroisch, andererseits aber
auch als krankhaft konzeptualisiert. Dieser Widerspruch ist auch für die allgemeine
Charakteristik der beiden Figuren konstitutiv und markiert die auktoriale ‚Verirrung’
zwischen dem psychopathologischen und dem philosophisch-literararischen Diskurs
über den Wahnsinn.
Der den Text abschließenden Selbstmordszene wird ein äußerst emotionaler
(Oxymorona, Paradoxe), grandioser innerer Monolog der tobenden Staszka
vorausgeschickt, in dem sie nochmals die tragischen Widersprüche ihrer „paradoxen
Existenz“ (195) in Szene setzt. So beschreibt sie sich als voller Lebenslust und
Energie, die sich nicht sinnvoll entladen kann, als ein „Wesen aus Blut und Feuer“,
eine „elektrische Batterie, die mit dem Hurrikan des eigenen Inneren erschüttert“ wird,
(196) aber gleichzeitig als von Selbstzerstörungspotential und von Todeswütigkeit
gezeichnet: „Was ist das? Ich besitze explosive Kräfte... Was für ein höllisches,
lustvolles Gift! (...) Ich weiß noch zu leben... Leben und sterben in einem Moment!“ 79
(197) Den Augenblick vor dem Selbstmord bezeichnet Staszka als Höhepunkt und
Tiefpunkt ihrer Existenz – die Oppositionen heben sich angesichts des Todes auf. Der
Monolog endet mit der Betonung der eigenen Nichtigkeit und dem furchtbaren
Lachen, das Staszkas dance macabre mitten in einem Ball, ihren „Selbstmord im
Augenblick des Wahns“ ankündigen soll. (202)
An dieser Stelle muss nochmals auf das Problem der zunehmenden weiblichen
Konnotierung sowohl des Wahnsinns als auch des Selbstmords (und insbesondere des
Freitods im Wasser) in der abendländischen Kultur seit dem 18. Jh. eingegangen
werden, das ich bereits im vorigen Kapitel angesprochen habe. Erhellend erscheint mir
in diesem Zusammenhang die Beobachtung von Stuby (1992, 182), dass „die
bekannten Beispiele der Selbsttötung in der klassischen Literatur des Abendlandes
78
Polnisch: „Były dnie, w których objeżdżała Zdunów, w szalonym i natężonym pędzie szukając ujścia
dla nagromadzonej, chorobliwej energii. Wracała do domu wyczerpana i zatapiała się w apatyę (...).“
79
Polnisch: „Co to jest? Mam siłę wybuchową.... Co za piekielna, rozkoszna trucizna! (...) Ja żyć umiem
jeszcze... Żyć i zginąć w jednej chwili!“
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
noch als Akte eines Heroismus“ galten, „der im positiven Sinne mit männlicher
Tapferkeit und Größe assoziiert wurde (auch bei Frauengestalten wie Antigone,
Cleopatra, Lady Macbeth)“. Seit der Mitte des 18. Jhs. lasse sich jedoch „eine
veränderte Einstellung gegenüber dem Tod durch Suizid feststellen. Selbstmord wird
zunehmend als krankhafte Abweichung von der sozialen Norm definiert, nicht mehr
als freie Willensentscheidung. Mit der Medikalisierung des Selbstmords beginnt auch
seine Feminisierung.“
In der Modellierung des Suizids Staszkas (durch Erschießen) schwankt die Autorin
zwischen Pathologisierung und Heroisierung, schließt sich also nicht vollends der
herrschenden geschlechtsspezifischen Codierung des Selbstmords an. Zwar folgt die
‚Ausstattung’ der Protagonistin mit extremer Todeslust und den Vorstellungen vom
Tod als Vereinigung mit dem Liebsten den traditionellen Mustern des weiblichen
Masochismus. Gleichzeitig jedoch zeugen sowohl die Wahl der Selbstmordart als
auch die Tatsache, dass Staszka vor dem Tod ausgiebig das Wort erteilt wird, von
einem gegenläufigen Versuch der Autorin, ihre Ichfigur am Ende doch noch als
eigenmächtiges, heldenhaftes, dem männlichen ebenbürtiges Subjekt (und nicht
konturloses, stummes, schon zu Lebzeiten halb aufgelöstes Wesen) gelten zu lassen.
Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski
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Resümee
Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Die Texte der 16-jährigen Komornicka weisen sie als Autorin mit ausgeprägtem
feministischem Bewusstsein aus. Die Charakterisierung der weiblichen Figuren richtet
sich, jedenfalls vordergründig-intentional, gegen die gängigen Weiblichkeitsfiktionen.
Den gegen patriarchale Weiblichkeitsentwürfe aufbegehrenden, mit ungewöhnlicher
Lebensenergie und Wissensdurst ausgestatteten Frauenfiguren Helena und Staszka
wird jedoch kein Lebensrecht eingeräumt: Ihr enormes Potential an Lebensenergie
findet keinen Einsatzbereich und pervertiert zu einer selbstdestruktiven, tötenden
Kraft. Für ihren Aufstand gegen die ihnen zugedachten sozialen Rollen bestrafen sie
sich mit Selbstauslöschung. Helena entwickelt einen trotzigen Lebensentwurf als
Altruistin, den sie als ‚Selbstmord’ zu erkennen gibt, Staszka erschießt sich. Beide
sind in ihren Anschauungen in extreme Widersprüche verwickelt und finden letztlich
keinen Platz für sich in der Gesellschaft. (In Ausweg- und Hoffnungslosigkeit münden
wohlgemerkt alle, auch männliche Lebensläufe in „Szkice“.) 80 Beiden Hauptfiguren
verweigert die Autorin sexuelle Erfahrungen und eingestandene erotische Sehnsüchte.
Im Fall von Staszka wird zwar innerhalb des Konzeptes der Liebe als Passion
leidenschaftliche Erregung bei erotischen Handlungen (Kuss) thematisiert, jedoch
sogleich sowohl von der Figur selbst als auch von der Erzählerin verdrängt und auf die
80
Die beiden kürzeren „Szkice“-Erzählungen „Nirwana“ und „Z życia nędzarza“ (Aus dem Leben eines
Bettlers) haben, da es sich um universelle, nicht geschlechtsspezifische Probleme handelt, einen
männlichen Protagonisten. In beiden Fällen ist es ein Dichter und Außenseiter, der sein Leben und sein
Talent vergeudet hat und von der Gesellschaft verstoßen wird. Sowohl der „Nirwana“-Protagonist Henryk
als auch der namenlose Dahinsiechende aus „Z życia nędzarza“ sehnen sich nach dem Tod. Eine der
relevantesten semantischen Oppositionen beider Texte ist auch hier die antagonistische Beziehung
zwischen Individuum und Gesellschaft. Gegen den Künstler wird der Vorwurf gesellschaftlicher
Nutzlosigkeit, gegen die Gesellschaft der des Materialismus und der Schablonenhaftigkeit des Denkens
erhoben. Einen Ausweg aus diesem unaufhebbaren, tragischen Konflikt findet Henryk aus „Nirwana“ im
Selbstmord. Die Erzählung endet mit seiner Entscheidung, im Wald zu bleiben, um dort die mystische
Einheit mit der Natur zu erfahren und sich sanft aufzulösen. Die Opposition zwischen Leben und Tod
wird im Nirwana-Konzept aufgehoben. Zu einer Dekonstruktion dieser Gegenüberstellung kommt es
auch in der Erzählung „Z życia nędzarza“. Hier träumt der Protagonist zwar vom Selbstmord, ist jedoch,
an einem noch höheren Grad an Apathie und Resignation leidend, zu seiner Durchführung nicht mehr
imstande.
Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Seele des Begehrten projiziert. Nicht zu übersehen ist die Nähe der entsprechenden
Textpassagen zum mystischen Diskurs, der sich als richtungweisend für das weitere
Schaffen Komornickas erweisen wird. In Übereinstimmung mit gesellschaftlichen
Vorgaben gerät in „Szkice“ die sexuelle Genussfähigkeit in die Nähe des Stereotyps
der Hure. Eine Liebe, die nicht den patriarchalen Mustern gehorcht, kann nur im
gemeinsamen Selbstmord der Paare eine Erfüllung finden. Der mehrmals imaginierte
Doppeltod wird als ekstatischer Höhepunkt der Liebe romantisiert. Eine sexuelle
Annäherung von Lebenden ist in „Szkice“ ausgeschlossen. In der hier nicht
ausführlich besprochenen Erzählung „Nirwana“ richtet sich das Begehren des
Protagonisten bezeichnenderweise auf die tote Geliebte.
In einem Zug mit der explizit verfolgten, feministischen Infragestellung der tradierten
Geschlechtercodes (sowohl auf der Handlungsebene als auch durch diskursive
Anknüpfung an feministische Diskurse) wird unterschwellig auf die überlieferte
‚Weiblichkeitsmythologie’ zurückgegriffen. Die zunächst kämpferische, pragmatische
Helena, die Rebellin gegen die Macht des Vaters und des Ehemanns, entwickelt sich
ziemlich unmotiviert zu einer verführerischen, satanischen, todbringenden Sirene.
Auch Staszka ist einerseits eine emotional von ihrem Angebeteten vollkommen
abhängige Kindfrau, andererseits eine ‚femme fatale’, die ihn in den Untergang reißt.
Damit wird der explizite feministische Protest durch die den Mustern der
androzentrischen literarischen Tradition folgende „Tötung der Frauen“ sowie durch
ihre Parallelisierung mit Unberechenbarkeit, Wahnsinn und Tod (die möglicherweise
ohne eine bewusste Reflexion der Autorin erfolgen) unterminiert. Die Rebellion
gelingt nicht, sie wird bestraft – dies gehört zu den performativen Effekten der
Erzählungen. Die ursächliche Verknüpfung von herausragender geistiger Potenz mit
dem Untergang, des Wahnsinns mit Sensibilität und Genialität, sowie die
Romantisierung des Selbstzerstörungsdrangs (ebenfalls performative Texteffekte) sind
Faktoren, die sich als ausschlaggebend für Komornickas Biographie erweisen werden.
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
Neben der feministischen haben die Texte noch eine weitere, ‚modernistische’
Dimension, die um die Opposition ‚Individuum-Gesellschaft’ bzw. ‚Künstler-
Philister’ zentriert ist. Dieser Konflikt zeitigt ebenso tragische, an dekadente
Weltanschauung und Ästhetik anknüpfende Konsequenzen, wie der zwischen ‚Frau’
und ‚Gesellschaft’. Er wird sowohl an weiblichen als auch an männlichen Figuren
ausgetragen. Auch hier ist es keineswegs so, dass sich die feinfühligen Sonderlinge in
ihrem Protest immer wohl und im Recht fühlen. Ganz im Gegenteil, auch ihre
Rebellion ist mit Schuldgefühlen belastet: Sie sind zerrissen zwischen der Sehnsucht
nach Selbstverwirklichung und dem in der polnischen Kultur sehr stark verankerten
Verantwortungsgefühl der Nation gegenüber; heimatlos zwischen dem
modernistischen und dem positivistischen Paradigma. Dabei leiden die weiblichen
Protagonistinnen doppelt – ausgegrenzt als herausragendes Individuum und als Frau.
Der positivistische Diskurs hält sie in der spießbürgerlichen, die Frau
diskriminierenden Doppelmoral gefangen, der modernistische dämonisiert sie.
In den von mir näher betrachteten Erzählungen „Z fantazyi realnych“ und „Staszka“
werden retro- und prospektiv die Leitmotive der Biographie der realen Autorin
durchgespielt. Dazu gehören: Selbstmord (Selbstmordversuch Komornickas mit 17
Jahren), Entfremdung von der ‚mittelmäßigen’, geistig verkrusteten Umwelt und von
den als anspruchslos und unterwürfig wahrgenommenen Frauen, Gefühle der
gesellschaftlichen Nutzlosigkeit, der vergeudeten Kraft und der Schuld, Scheidung,
Abkehr von Sexualität, Neigung zur Mystik, Bedrohung durch Wahnsinn, 81
Einsperrung ins Irrenhaus, Auseinandersetzung mit dem geistigen Erbe der Ahnen
(Familienfluch), depressive Veranlagung, ‚Abwesenheit’ der Mutter, Despotismus des
Vaters und des Ehemanns, gescheiterte Rebellion. Auch die Wertehierarchie der
Protagonistinnen weist Parallelen zu den Überzeugungen Komornickas auf. Als einer
81
Ihre Angst vor dem Wahnsinn soll die reale Maria Komornicka schon lange vor ihrer
Geschlechtsumwandlung der jungen Zofia Nałkowska verraten haben. Dies notiert Nałkowska in ihren
Tagebuchaufzeichnungen vom 28.02.1914 (vgl. Janion 1996, 193).
Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski
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Brigitta Helbig-Mischewski: Ein Mantel aus Sternenstaub, Norderstedt 2005
der höchsten Werte fungieren hier wie dort Ehrlichkeit, Kompromisslosigkeit,
Leidenschaftlichkeit, Unbotmäßigkeit, (Über)Mut.
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