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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />
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9. Das Schwert <strong>de</strong>s Schaffens –<br />
Lyrik vor <strong>de</strong>r Metamorphose (1887-1907) 1<br />
9.1. In <strong>de</strong>r Materie gefangen<br />
Es fließt das Blut aus <strong>de</strong>r aufgerissenen Wun<strong>de</strong> –<br />
Es strömt die ewige Blutkaska<strong>de</strong> –<br />
Das Schwert <strong>de</strong>s Schaffens schlitzte die frische Narbe auf –<br />
Das Blut strömt – stürzt in <strong>de</strong>n schwarzen Abgrund –<br />
Es birst die geschwollene Brust – zerspringt die Schale –<br />
In Milliar<strong>de</strong>n von Funken, es höhnt im Wi<strong>de</strong>rhall <strong>de</strong>r Höllen –<br />
Welch Schmerzen! Welch Fluch! Welche Sün<strong>de</strong>! – Ich schaffe!<br />
(Komornicka 1996, 288) 2<br />
Das große Thema von „Biesy“, die pathetische Klage eines (weiblichen) Ichs, nie ein<br />
Subjekt gewor<strong>de</strong>n zu sein, nie Konturen bekommen zu haben, ist auch in<br />
Komornickas Lyrik stark vertreten, z.B. in <strong>de</strong>m expressionistischen 1898 publizierten<br />
„Krzyk“ (Der Schrei, 159). 3 In Bezugnahme auf Munchs berühmtes Bild „Der<br />
Schrei“ von 1893 setzt das Gedicht existenzielles Entsetzen in Szene und ist sehr<br />
ausdrucksstark konstruiert. Die erste Strophe entwirft eine Vision <strong>de</strong>r Geburt:<br />
Ich! Kind <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Ich! Staub <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>!<br />
Blutig gebar mich <strong>de</strong>r Schoß meiner Mutter!<br />
Stöhnend vor Schmerzen – mit beben<strong>de</strong>n Hän<strong>de</strong>n<br />
Wiegte sie <strong>de</strong>n geborenen in Wun<strong>de</strong>n<br />
1 Komornickas Lyrik erscheint ab 1887 in verschie<strong>de</strong>nen literarischen Zeitschriften, vor allem in „Życie“,<br />
„Głos“, „Strumień“, und zwischen 1901 und 1907 in „Chimera“.<br />
2 Alle Seitenangaben in diesem Kapitel stammen, sofern nicht an<strong>de</strong>rs angegeben, aus dieser Ausgabe.<br />
Polnisch: „Płynie krew z otwartej znowu rany – / Toczy się wieczysta krwi kaskada – / Miecz tworzenia<br />
rozdarł świeżą bliznę – / Krew się toczy – w czarną otchłań spada – / Pękła pierś wezbrana – pryska<br />
czasza – / Skier miliar<strong>de</strong>m, szy<strong>de</strong>m piekieł dzwoni – / O boleści! Klątwo! Grzechu! – – Tworzę!“<br />
3 „Życie“ 1898, Nr. 39/9.<br />
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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />
Unförmigen, grässlichen Klumpen! 4<br />
Die letzten Verse sind <strong>de</strong>r Beerdigung gewidmet. ‚Dazwischen’ spielt sich das<br />
existenzielle Drama <strong>de</strong>s Ichs, seine gesamte Biographie ab. Doch in Wirklichkeit ist es<br />
gar keine Biographie, <strong>de</strong>nn von <strong>de</strong>r Geburt bis zum Grab än<strong>de</strong>rt sich nichts: Dies ist<br />
auch <strong>de</strong>r Grund <strong>de</strong>r Verzweiflung. Die erste und die letzte Strophe fangen mit genau<br />
<strong>de</strong>rselben Klage an: das Ich sieht sich als das ‚Kind’ und die ‚Asche’ <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, als<br />
vollständig im Körperlichen verhaftet, ganz ungeformte Materie. Je<strong>de</strong> Strophe beginnt<br />
mit zwei Ausrufesätzen (Selbst<strong>de</strong>finierungsversuchen), von <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r erste jeweils<br />
gleich bleibt und <strong>de</strong>r zweite nur leicht abgewan<strong>de</strong>lt wird: (1) Ich! Kind <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Ich!<br />
Staub <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! / (2) Ich! Kind <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Ich! Das Geschöpf <strong>de</strong>s Augenblicks! / (3)<br />
Ich! Kind <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Ich! Der Begier<strong>de</strong> Kind! / (4) Ich! Kind <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Ich! Gespenst<br />
<strong>de</strong>r Wellen, / (5) Ich! Kind <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! Ich! Staub <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>! 5 Die Variationen in <strong>de</strong>r<br />
Textmitte markieren keine Verän<strong>de</strong>rungen, sind nur Facetten <strong>de</strong>sselben Zustands – <strong>de</strong>s<br />
Nicht-Seins. Der Beginn <strong>de</strong>s Lebens ist <strong>de</strong>r Anfang <strong>de</strong>s Sterbens. 6<br />
Die Zeit, die<br />
dazwischen liegt, wird vollständig nivelliert: „Mit <strong>de</strong>m Leben begann mein Sterben!“ /<br />
„Schon ist das Grab zur Hälfte ausgehoben...“ 7 In ihr gibt es nichts als Begehren, Blut,<br />
Dunkelheit. In turpistisch-expressionistischer Ästhetik wird die Formen- und<br />
Konturlosigkeit <strong>de</strong>s Ichs, seine vollkommene Entgrenzung vorgeführt. Das „aus <strong>de</strong>n<br />
Wun<strong>de</strong>n geborene“ Ich sieht sich zunächst als „formlosen, grässlichen Klumpen“ am<br />
bluten<strong>de</strong>n Schoß seiner Mutter. Sowohl <strong>de</strong>r bluten<strong>de</strong> Schoß als auch <strong>de</strong>r Mund <strong>de</strong>r<br />
Mutter sind geöffnet. 8 Die Mutter spricht nicht, son<strong>de</strong>rn winselt. Auch sie ist ganz<br />
4 Polnisch: „Jam dzieckiem ziemi! jam prochem ziemi! / Krwawe mię matki zrodziło łono! / Ustami w<br />
jęku – dłońmi drżącemi / Tuliła bryłę w ranach zrodzoną – / Bezkształtną,ohydną bryłę!“<br />
5 Polnisch: (1) Jam dzieckiem ziemi! jam prochem ziemi! / (2) Jam dzieckiem ziemi! jam tworem chwili!<br />
/ (3) Jam dzieckiem ziemi! Jam żądzy dzieckiem! / (4) Jam dzieckiem ziemi! Jam marą falistą, / (5) Jam<br />
dzieckiem ziemi! jam prochem ziemi!<br />
6 Eine vergleichbare Vision <strong>de</strong>r Existenz zwischen ‚Grab’ und ‚Grab’ entwickelt Komornicka in <strong>de</strong>m<br />
1905 in „Chimera“ (B. 9, H. 27, 306 f.) publizierten Gedicht „Księżyca kryształowy...“.<br />
7 Polnisch: „Z życiem się moje wszczęło konanie! / Już dół mogilny na wpół wykopany…“<br />
8 Ritz (2001, 152) bringt das Bild <strong>de</strong>s aufgerissenen Körpers <strong>de</strong>s Mutterschoßes mit Lacans Leerstelle im<br />
Symbolischen in Verbindung.<br />
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Materie, Entgrenzung, Schmerz. Die Welt erscheint <strong>de</strong>m Ich als großer Friedhof, es<br />
lebt auf <strong>de</strong>n „Überresten“ von Verstorbenen und erbt <strong>de</strong>ren „Daseinsschmerz“,<br />
„Angst“ und „Ohnmacht“. 9 „Millionen von Begier<strong>de</strong>n“ spürt das Ich in seiner Brust,<br />
und es „watet im Blut“. Es sieht sich auch als substanzloses, heulen<strong>de</strong>s Gespenst<br />
(mara), 10 das über <strong>de</strong>m bo<strong>de</strong>nlosen Nichts gespannt ist und „nur das An<strong>de</strong>re<br />
reflektiert“. (Ritz 2001, 153) In <strong>de</strong>r letzten Strophe wird es als „versteinerte Klage“ ins<br />
Grab, „an die sandigen Wän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Friedhofs geworfen“. Es taucht ein christliches<br />
Motiv auf – die Verdammung zur ewigen Strafe, die jedoch nicht in <strong>de</strong>r Hölle,<br />
son<strong>de</strong>rn ganz materiell auf <strong>de</strong>m Friedhof lokalisiert wird. Jegliche Sinn<br />
konstituieren<strong>de</strong> Metaphysik wird aus diesem Gedicht verbannt. Die entworfene Vision<br />
<strong>de</strong>s menschlichen Lebens lässt keinen Raum für Hoffnung. Zwischen <strong>de</strong>m<br />
mütterlichen Schoß und <strong>de</strong>m Grab gibt es keinen Unterschied. Doch auch schon zu<br />
Lebzeiten ist <strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>s Ichs nicht intakt, seine Brust ist aufgeschlitzt und blutet,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r „Unglaube“ (niewiara) 11 hat seine Krallen in sie hineingebohrt.<br />
Es gibt im Jungen Polen zahlreiche, meist von Männern (u.a. von Bolesław Leśmian)<br />
geschriebene Gedichte, die die Ichauflösung als einen durchaus verlocken<strong>de</strong>n Zustand<br />
imaginieren. 12 Doch, wie <strong>de</strong>r zeitgenössische Mystiker Anselm Grün schreibt: „Man<br />
kann das eigene Ich nur loslassen, wenn man es erworben hat.“ (Grün/Riedl 2001, 39)<br />
Das Ich von „Krzyk“ aber hat keine Hoffnung, jemals ein Subjekt, ein Individuum zu<br />
wer<strong>de</strong>n. Das unausgelebte, uferlose Lebensbegehren wird als „Millionen von<br />
Begier<strong>de</strong>n“ (żądz miliony) ins Bild gesetzt, die uneingelöste Ichwerdung dramatisch<br />
9 Polnisch: „Ból życia – strach – i bezsiłę...“ (159)<br />
10 Vgl. die Bildlichkeit von „Biesy“.<br />
11 Es könnte sich hier um das für Komornickas Schaffen vor 1900, insbeson<strong>de</strong>re für „Forpoczty“<br />
signifikante Motiv <strong>de</strong>s verlorenen religiösen Vertrauens han<strong>de</strong>ln.<br />
12 Zu diesem Motiv vgl. <strong>de</strong>n Film von P. Almodovar „Sprich mit ihr“ (2002). In <strong>de</strong>n die Aktion auf eine<br />
metaphorische Ebene projizieren<strong>de</strong>n Stummfilmszenen kriecht ein geschrumpfter Mann in die Vagina<br />
seiner Frau und erfüllt sich damit seine erotisch-existenziellen Sehnsüchte. Der Ort <strong>de</strong>r Geburt wird zum<br />
Grab.<br />
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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />
beklagt. 13 (Es sind vor allem Dichterinnen, die im Jungen Polen Lebensverlangen ins<br />
Spiel bringen. In <strong>de</strong>n Texten <strong>de</strong>r Männer überwiegen Motive <strong>de</strong>s<br />
Lebensüberdrusses). 14 Man könnte fast sagen, dass hier eine in erster Linie weibliche<br />
Erfahrung, wie<strong>de</strong>rum nicht im essenziell-biologischen, son<strong>de</strong>rn im sozialen Sinne,<br />
universalisiert wird. 15 Explizit wird Geschlechtlichkeit zwar genauso wenig wie in<br />
„Biesy“ signalisiert, das Geschlecht aber auf <strong>de</strong>r symbolischen Ebene in <strong>de</strong>n Text<br />
eingeschrieben: Der Inszenierung <strong>de</strong>r nihilistischen Daseinserfahrung <strong>de</strong>s lyrischen<br />
Ich dienen Bil<strong>de</strong>r, die in <strong>de</strong>r abendländischen Kultur für Weiblichkeit stehen: Geburt<br />
und Tod, Er<strong>de</strong>, offene Wun<strong>de</strong>, Blut. 16 Dabei gibt es Signale im Text, die aus <strong>de</strong>m<br />
Paradigma <strong>de</strong>s nicht gelebten Lebens und <strong>de</strong>m Verbleiben im Kreislauf <strong>de</strong>r Materie<br />
hinausführen, die auf einen Versuch <strong>de</strong>r Rettung hin<strong>de</strong>uten. Es ist die Kunst, die das<br />
Bild <strong>de</strong>r absoluten Hoffnungslosigkeit bricht. Denn erstens ist das Gedicht sehr<br />
kunstvoll gestaltet (silbisch-tonisch mit festem Reimschema): Die Bemühung um die<br />
Form stellt sich damit <strong>de</strong>r Formlosigkeit <strong>de</strong>r Existenz entgegen. Zweitens lässt sich<br />
13 Vgl. die Interpretation von Ritz (2001, 152): „Die Verankerung <strong>de</strong>r Existenz im Körperlichen versperrt<br />
<strong>de</strong>n Gang zur Individuation“.<br />
14 Vgl. „Rozmyślania“ von Antoni Lange (Sikora 134): „Von allen Dingen, die es in <strong>de</strong>r Natur gibt, /<br />
Lockt mich allein <strong>de</strong>r Tod mit seinem Reiz: (...) Oh, Tod, wenn ich in <strong>de</strong>inem Schoß versinke. / Du füllst<br />
Vertrautheit mir in durchsichtige Krüge.“ (Ze wszystkich rzeczy które są w naturze, / Śmierć mię dziś<br />
jedna swym urokiem nęci: (...) O śmierci, gdy się w łonie twym zanurzę. / Ty ład mi wlejesz w<br />
przezroczyste kruże.) Vgl. auch Podraza-Kwiatkowska 1973, 397: „Es genügt, die Jahrbücher <strong>de</strong>r<br />
Krakauer „Życie“ durchzusehen und die Gedichte <strong>de</strong>r Frauen, die voller Elan und Vitalität sind, mit <strong>de</strong>n<br />
resignierten Ergüssen männlicher Poeten zu vergleichen. Bekanntlich zeichnet sich das Schaffen<br />
aufbegehren<strong>de</strong>r gesellschaftlicher Gruppen, z.B. das <strong>de</strong>r Frauen, die um ihre Rechte als Menschen<br />
kämpfen, niemals durch Stagnation o<strong>de</strong>r Unlust, son<strong>de</strong>rn stets durch ihren Aktivismus, ihren<br />
Eroberungsdrang und ihre Vitalität aus.“ Mehr Beispiele, u.a. aus <strong>de</strong>r Lyrik von Tetmajer und Karab-<br />
Brzozowski gibt Podraza-Kwiatkowska (1969, 138 ff.).<br />
15 Eine ‚universelle’ Lektüre <strong>de</strong>s Gedichtes im Kontext <strong>de</strong>s Nietzscheanismus und Existentialismus<br />
schlägt Podraza-Kwiatkowska (1997, 398 u. 1969, 138) vor.<br />
16 Die Erfahrung, Fleisch, Objekt, Blut, stumme Materie, Dunkelheit zu sein, wur<strong>de</strong> von feministischer<br />
Seite oft genug als im Abendland vor allem weiblich wahrgenommen. Vgl. Simone <strong>de</strong> Beauvoirs<br />
Kommentar zum Erleben <strong>de</strong>s Geschlechtsaktes durch Frauen: „Sie ba<strong>de</strong>t in sehnsüchtiger Passivität. Mit<br />
geschlossenen Augen, anonym und verloren, fühlt sie sich von Wellen emporgehoben, in Qualen<br />
gewälzt, in <strong>de</strong>r Nacht begraben: in <strong>de</strong>r Nacht <strong>de</strong>s Fleisches, <strong>de</strong>r Gebärmutter, <strong>de</strong>s Grabes.“ (<strong>de</strong> Beauvoir<br />
1997, 807)<br />
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die auch hier vorhan<strong>de</strong>ne Anspielung auf Konrads Große Improvisation 17 („Millionen<br />
von Begier<strong>de</strong>n spür ich in <strong>de</strong>r Brust“) als I<strong>de</strong>ntifizierung <strong>de</strong>s Ichs mit großen<br />
Künstlern und geistigen Führern lesen.<br />
Die Ablehnung <strong>de</strong>r eigenen Körperlichkeit nimmt in „Krzyk“ äußerst ausdrucksstarke<br />
Formen an: Alles Materielle, vor allem aber <strong>de</strong>r eigene Körper, wird als etwas<br />
Ekelerregen<strong>de</strong>s visualisiert. Interessant ist auch, dass <strong>de</strong>m elen<strong>de</strong>n, formlosen Stück<br />
Materie trotz<strong>de</strong>m sprachlose Liebe <strong>de</strong>r Mutter zuteil wird: Sie ist es, die es „in <strong>de</strong>n<br />
Armen wiegt“. Einige Jahrzehnte später wird Piotr Włast in seinem Poem<br />
„Niebografia“ (Himmelskun<strong>de</strong>) dafür Sorge tragen, dass seine Mutter als Gebärerin<br />
und För<strong>de</strong>rin eines ‚Autors’ in die Geschichte eingeht, dass sie nicht namenlos, nicht<br />
ein Nichts bleibt:<br />
Am 24.07.1844 wur<strong>de</strong> in Smagorzewo Opoczyńskie ANNA MARYA LUDWIKA DUNIN<br />
WĄSOWICZ geboren, verheiratete KOMORNICKA AUGUSTOWA, Mutter <strong>de</strong>s Autors von<br />
„Himmelskun<strong>de</strong>“. Ihren beeindrucken<strong>de</strong>n Vorträgen verdanke ich meine in frühester Kindheit<br />
geweckte und andauern<strong>de</strong> Begeisterung für <strong>de</strong>n Katechismus und die Geographie. – Falls diese<br />
meine „Himmelskun<strong>de</strong>“ von einem gewissen Wert ist, so erblühen in meinem Verdienst Ihre<br />
Verdienste. Ge<strong>de</strong>nkt ihrer, meine Leser. P.O.Włast. 24.07.1938. 18<br />
Włast schreibt die Bemerkung am 94. Geburtstag <strong>de</strong>r verstorbenen Mutter. Das<br />
Projekt <strong>de</strong>s Dichters Piotr Odmieniec Włast ist, mit seinem künstlerischen Schaffen<br />
auch seine Mutter zum Status <strong>de</strong>s Subjekts zu erheben. (In „Krzyk“ sind Mutter und<br />
Kind in <strong>de</strong>r bluten<strong>de</strong>n Körperlichkeit vereint.)<br />
17 Aus „Dziady“ (Die Ahnenfeier) <strong>de</strong>s Romantikers Adam Mickiewicz (1991).<br />
18 Das Manuskript befin<strong>de</strong>t sich im Literaturmuseum in Warschau. Polnisch: „24. 07.1844 urodziła się w<br />
Smagorzewie Opoczyńskim ANNA MARYA LUDWIKA DUNIN-WĄSOWICZ, zamężna<br />
KOMORNICKA AUGUSTOWA, matka autora ‚Niebografii’. Jej uroczym wykładom zawdzięczam<br />
wcześnie obudzony, ale trwały zapał dla Katechizmu i Geografii. – Jeżeli ta moja ‚Niebografia’ jest coś<br />
warta, to w mojej zasłudze rozkwitają Jej zasługi. Pomnijcie to czytelnicy moi. P.O. Włast. 24.07.1938.“<br />
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9.2. Auf das Leben warten<br />
Ich warte, ein ewiger Freiwilliger <strong>de</strong>s Lebens (…).<br />
Ich warte – ein gol<strong>de</strong>ner Pfeil am Bogen <strong>de</strong>r Sehnsucht.<br />
(145) 19<br />
Auch die noch früheren Gedichte Komornickas sind von <strong>de</strong>r Opposition zwischen<br />
<strong>de</strong>m verzweifelten Lebensverlangen und <strong>de</strong>r Befürchtung <strong>de</strong>s Subjekts, nie ‚richtig<br />
zum Zuge zu kommen’, in <strong>de</strong>r Schwebe und Unbestimmtheit ‚hängen zu bleiben’,<br />
beherrscht. In „Nastrój“ (Stimmung, 145) 20 , das einen ruhigeren Rhythmus aufweist,<br />
jedoch von starken semantischen Kontrasten lebt, glüht das lyrische Ich zwar vor<br />
Begehren, ist jedoch von <strong>de</strong>r absoluten Vergeblichkeit seiner ‚Sprungbereitschaft’<br />
überzeugt. 21<br />
Das mehrfach am Strophenanfang wie<strong>de</strong>rholte „Czekam“ (ich warte)<br />
steht im Zentrum <strong>de</strong>s Textes. Anfangs scheint es noch, als ob noch nicht alles<br />
entschie<strong>de</strong>n, die Alternative ‚Leben o<strong>de</strong>r Sterben’ (życie lub mogiła) noch offen wäre:<br />
„Je<strong>de</strong>r Augenblick kann eine verborgene Kraft zutage för<strong>de</strong>rn.“ 22 Das Ich wartet auf<br />
eine Herausfor<strong>de</strong>rung, ein Zeichen, um entwe<strong>de</strong>r zum wahren Leben zu erwachen o<strong>de</strong>r<br />
endgültig <strong>de</strong>m Zauber <strong>de</strong>s dionysischen Rausches und <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s zu erliegen: „Ich<br />
warte, ein ewiger Freiwilliger <strong>de</strong>s Lebens. Möge <strong>de</strong>r Wahn / <strong>de</strong>r Bacchantinnen mit<br />
<strong>de</strong>m Stab <strong>de</strong>s Thyrsus auf mich zeigen... O<strong>de</strong>r möge eine I<strong>de</strong>e / blutüberströmt, mich<br />
kniend zu sich rufen (…) / o<strong>de</strong>r das Jenseits – wie Me<strong>de</strong>a mich verzaubern…“ 23 Es<br />
erklärt sich zum „ewigen Freiwilligen <strong>de</strong>s Lebens“, immer bereit, sich zu stellen, o<strong>de</strong>r<br />
aber verzaubert, verführt zu wer<strong>de</strong>n. Das so kreierte Ich ist stark maskulin besetzt.<br />
Dazu trägt sowohl die militärische Semantik als auch die geschlechtlich markierte<br />
19 Polnisch: „Czekam, ochotnik wieczny życia (...). / Czekam – strzała złocista na pragnień cięciwie.“<br />
20 „Życie“ 1897, Nr. 4.<br />
21 Auch hier spricht ein ‚universelles’, eher als männlich mo<strong>de</strong>lliertes Subjekt. Und auch dieses Subjekt<br />
hat die Ambition, Dichter und Prophet zu sein, setzt sich einmal die Maske <strong>de</strong>s Poeten, einmal die <strong>de</strong>s<br />
Narren auf.<br />
22 Polnisch: „Każda chwila wyzwolić może skrytą siłę.“<br />
23 Polnisch: „Czekam, ochotnik wieczny życia. Niechaj skinie / Na mnie szał bachtanek tyrsem... Lub<br />
niech I<strong>de</strong>a / Zawoła klęcząc, krwawa (...) / lub zaświat – niech mnie zaczaruje jak Me<strong>de</strong>a...“<br />
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Verführungsmetaphorik bei. Ein weiteres wichtiges, ebenfalls aus <strong>de</strong>m semantischen<br />
Bereich <strong>de</strong>s Kampfes entnommenes Ich-Äquivalent ist: „strzała złocista na pragnień<br />
cięciwie“ (gol<strong>de</strong>ner Pfeil am Bogen <strong>de</strong>s Verlangens). Das Ich ist abschussbereit, es<br />
vibriert und „brennt“ (gorze) vor Lust, seine Aktivität auf etwas zu richten, und sei es<br />
auf einen Kampf, doch es kennt sein Ziel nicht („ich suche ein Ziel... eine Taube im<br />
sonnigen Himmelsblau... / Beeren <strong>de</strong>s Glücks – auf <strong>de</strong>s Lebens fruchtlosem Granit – /<br />
o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Feind – auf hoffnungslosem Feld <strong>de</strong>s Mitleids...“). 24 Dieses Dilemma bringt<br />
das Ich mit <strong>de</strong>r ‚fa<strong>de</strong>n’ Stimmung <strong>de</strong>r Epoche in Zusammenhang, in <strong>de</strong>r sowohl die<br />
rationalistischen als auch die religiös-metaphysischen Welt<strong>de</strong>utungsmo<strong>de</strong>lle bankrott<br />
gegangen sind („Die Pforte zum Paradies ist geschlossen – und wenig gastfreundlich<br />
ist die Er<strong>de</strong>.“), 25<br />
in <strong>de</strong>r nicht einmal eine heidnische Revolte <strong>de</strong>nkbar ist. Die<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> wird als eine Zeit <strong>de</strong>s Schlafs, <strong>de</strong>r Ohnmacht, <strong>de</strong>r Gleichgültigkeit<br />
imaginiert:<br />
Tag <strong>de</strong>r Zauber im Nebel <strong>de</strong>r Legen<strong>de</strong>. Ein neuer folgte nicht.<br />
Die Sterne sind erloschen, und keine Sonne in Sicht.<br />
Stille <strong>de</strong>r Gräber – Marktgeschrei. Die Propheten schweigen.<br />
Gott ist gestorben, doch kein Antichrist betritt die Er<strong>de</strong>.<br />
Der heidnische Wahn schläft in ewigen Ketten <strong>de</strong>s Nirwana,<br />
Der Geist verlor die schwarzen, verwegenen Flügel Luzifers... (...)<br />
Ich suche... träume... tue nichts, entbrenne, erbebe... Das Warten –<br />
fruchtlos, bewusst vergeblich – verschlingt<br />
Die Jugend – zerrt an <strong>de</strong>n Nerven... Verzweiflung schwillt,<br />
da Krösus Macht in Staub und Asche wird zerfallen... 26<br />
Nach <strong>de</strong>n dramatischen Zeilensprüngen <strong>de</strong>r letzten Strophe taucht zum Schluss das<br />
uns aus „Krzyk“ bekannte Motiv auf. Von <strong>de</strong>r titanischen Kraft <strong>de</strong>s Ichs bleibt<br />
24 Polnisch: „szukam celu... gołębia w słonecznych błękitach... / Jagód szczęścia – na Życia jałowych<br />
granitach – / lub Wroga – na Litości beznadziejnej niwie...“<br />
25 Polnisch: „Raju bramy zawarte – niegościnną ziemia.“<br />
26 Polnisch: „W mgle legendy dzień czarów. Nowy nie nastąpił. / Gwiazdy zgasły, a słońce nie zabłysło<br />
jeszcze – / Cisza grobów – targ bluźni. Milczą głosy wieszcze, / Bóg umarł, a Antychryst na ziemię nie<br />
wstąpił. / Szał pogański w Nirwany śpi wiecznym uścisku, / Duch stracił czarne, har<strong>de</strong> skrzydła<br />
Lucypera... // Szukam... marzę... próżnuję, płonę, drżę... Czekanie / Bezowocne, świadomie daremne,<br />
pożera / Młodość – i targa nerwy... Rozpacz tylko wzbiera, / Bo z Krezusa potęgi – garść prochu<br />
zostanie...“<br />
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letztlich eine Handvoll Asche übrig. Auch hier wie später in „Biesy“ verschlingt das<br />
Ich seine eigene Kraft und erlei<strong>de</strong>t damit einen ‚Tod’ (im Sinne eines nie gelebten<br />
Lebens) vor <strong>de</strong>m Tod – symbolisiert u.a. durch einen Vers, <strong>de</strong>r ausschließlich aus<br />
Bin<strong>de</strong>strichen besteht.<br />
9.3. Das Schwert ziehen<br />
Ohnmacht, Lähmung und Angst einerseits sowie Sehnsucht nach einem intensiven,<br />
gefährlichen, mutigen Leben an<strong>de</strong>rerseits sind auch die Themen von „Drugie życie“<br />
(Das zweite Leben, 161 f.). 27 Auch dieses Gedicht gehört zu <strong>de</strong>r expressionistischen,<br />
mit starker Hyperbolisierung arbeiten<strong>de</strong>n Strömung in Komornickas Lyrik, die<br />
Podraza-Kwiatkowska (1969, 1973) als ‚tragischen’ bzw. ‚heroischen Vitalismus’<br />
bezeichnet und zu recht zu Nietzsche und zum Existentialismus in Beziehung setzt. Im<br />
Zentrum dieses u.a. mittels zahlreicher Gedankenstriche stark rhythmisierten, von<br />
Wortwie<strong>de</strong>rholungen, syntaktischen Parallelismen und strophenübergreifen<strong>de</strong>n<br />
Reimen geprägten Textes steht die Angst einer ‚Seele’ 28 vor <strong>de</strong>n Herausfor<strong>de</strong>rungen<br />
und <strong>de</strong>n Gefahren <strong>de</strong>s – stark sakralisierten 29 – Lebens, die „Wahnsinnsfurcht vor <strong>de</strong>m<br />
Feuer <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns“ (trwoga obłędna przed ogniem cierpienia). Feuer und Lei<strong>de</strong>n<br />
stehen in dieser Lyrik wie in <strong>de</strong>r mystischen Tradition für die reinigen<strong>de</strong> Kraft, sie<br />
be<strong>de</strong>uten Zerstörung, die eine Wie<strong>de</strong>rgeburt und geistiges Wachstum ermöglicht: „Als<br />
<strong>de</strong>r grimmige Schmerz in Tränen <strong>de</strong>r Verzückung umkam... / Als die Zauber <strong>de</strong>r Gifte<br />
ihr das Leben einflößten...“, „als sie in <strong>de</strong>n Abgrund <strong>de</strong>r Hölle hinabstieg, um Rosen<br />
27 „Życie“ 1898, Nr. 45.<br />
28 Die ‚Seele’ ist hier, wie bei Leśmian, sehr stark materialisiert und steht metonymisch für das Ich.<br />
Interessant ist, dass Komornicka hier eine ‚Seele’ einführt, um von <strong>de</strong>r Körperlichkeit <strong>de</strong>s Ichs<br />
abzulenken und damit <strong>de</strong>r Verengung <strong>de</strong>r Rezeptionsoptik vorzubeugen.<br />
29 Beispiele: „bóg życia“ (Gott <strong>de</strong>s Lebens), „życia ofiarne ołtarze“ (<strong>de</strong>s Lebens Opferaltare).<br />
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zu pflücken.“ 30 Wil<strong>de</strong>, gefährliche Gewässer bil<strong>de</strong>n – wie in „Halszka“ – das Pendant<br />
zum Feuer: ein Sprung in die „wüten<strong>de</strong>n Meeresfluten“ (und zwar nackt, hautlos, wie<br />
in <strong>de</strong>r bereits analysierten lyrischen Prosa „Odrodzenie“ aus „Forpoczty“, <strong>de</strong>ren Linie<br />
hier fortgeführt wird) ist ein genauso heroischer Akt wie ein Gang ins Feuer. Zu<br />
bei<strong>de</strong>m war die Seele, wie das lyrische Ich hervorhebt, in <strong>de</strong>r Vergangenheit bereit,<br />
doch jetzt besteht ihr Leben nur aus Resignation, Misstrauen, Angst. Den mit<br />
Männlichkeit und Kraft konnotierten Visionen <strong>de</strong>s Feuers und wil<strong>de</strong>n Gewässers steht<br />
das Bild <strong>de</strong>s erbärmlichen Schwimmens im trüben Wasser, im Sumpf, im Schilf, am<br />
Seeufer gegenüber. Die Seele gleicht jetzt einer „Krötenbrut“ (lęg ropuszy), sie<br />
schluckt <strong>de</strong>n Sumpf und verfault, ist „tot“ (martwa) und „gelähmt“ (zdrętwiała), von<br />
ihren eigenen Gefühlen und damit vom Leben abgeschnitten. Doch ihre Sehnsucht<br />
nach <strong>de</strong>m Leben erlischt nicht. Von Zeit zu Zeit erwacht sie, bäumt sie sich auf, wird<br />
von einer plötzlichen Erkenntnis erschüttert:<br />
Von Zeit zu Zeit, wenn die dürsten<strong>de</strong> Kehle<br />
Den körnigen, kalten Schlamm verschlingt –<br />
Fühlt sie, wie sich das Leben vor ihr verschloss<br />
die aufgehen<strong>de</strong> Sonne sie gleichsam im Grabe empfing...<br />
Um erneut das magische Land <strong>de</strong>r Gefühle zu erobern,<br />
gilt es, Angst hervorzuholen und <strong>de</strong>n Dolch zu zücken. (…)<br />
Für nur eine Stun<strong>de</strong> jugendlicher Qualen –<br />
Für ein Zucken begierig trunkenen Muts –<br />
Für einen nackten, feurigen Krampf <strong>de</strong>r Lust –<br />
Wür<strong>de</strong> sie die Stille ihrer düsteren Seele hergeben –<br />
Die Stille – entrissen <strong>de</strong>m Untergang im Feuer<br />
Und <strong>de</strong>r Furcht – <strong>de</strong>r Furcht – <strong>de</strong>r Furcht bis ins Mark. 31<br />
30 Polnisch: „Gdy ból nasroższy w łez ginął zachwycie... / Gdy czary trucizn dawały jej zycie...“, „gdy w<br />
otchłań piekła schodziła po róże“.<br />
31 Polnisch: „I czasem, czasem, gdy spragnione gardło / Muł połknie śliski, roztarty i zimny – / Czuje – że<br />
życie się przed nią zawarło / Że słońce wstało dla niej w mogile pustynnej... / Że <strong>by</strong> znów czucia kraj<br />
magiczny zdo<strong>by</strong>ć / Trza wywlec trwogę – i sztylet wydo<strong>by</strong>ć. // I za godzinę młodzieńczej tortury – / Za<br />
jedno drgnienie pijanej odwagi – / Za spazm rozkoszy płomienny i nagi – / Dała<strong>by</strong> ciszę swej duszy<br />
ponurej – / Ciszę – wydartą zagładzie płomienia / I trwodze – trwodze – trwodze aż do rdzenia.“<br />
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Um wie<strong>de</strong>r zu fühlen, so <strong>de</strong>r Handlungsimperativ <strong>de</strong>s Textes, muss sich die Seele <strong>de</strong>r<br />
Angst und <strong>de</strong>m Schmerz stellen, sich für <strong>de</strong>n Kampf rüsten, sie muss das Schwert<br />
ziehen – die ‚phallische’ Metaphorik spricht für sich.<br />
Das Bild <strong>de</strong>r im Sumpf langsam vorwärts kommen<strong>de</strong>n Seele kann in <strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r<br />
bereits thematisierten Visualisierungen <strong>de</strong>r toten Geliebten im Wasser gestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
Direkt um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> und danach wer<strong>de</strong>n diese Bil<strong>de</strong>r sowohl in <strong>de</strong>r<br />
bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst als auch in <strong>de</strong>r Literatur radikalisiert – sie zeigen weibliche,<br />
verfaulen<strong>de</strong> Kadaver im Wasser. Stu<strong>by</strong> (1992, 205 ff.) nennt hier exemplarisch das<br />
Gemäl<strong>de</strong> von Arthur Hacker „Blättertreiben“ (1902) sowie Alfred Kubins Zeichnung<br />
„Sumpfpflanzen“ (1903-1906): „Die <strong>de</strong>n Wurzeln <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sich anverwan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Frauenkörper betonen die natürliche Beschaffenheit ‚<strong>de</strong>r Frau’, ihre Assoziierung mit<br />
<strong>de</strong>m Vegetativen. So gesehen bil<strong>de</strong>n sie die Vorstufe zu jenen Imaginationen, in <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r weibliche Körper sich in einem totalen Auflösungsprozess befin<strong>de</strong>t.“ Als<br />
literarische Beispiele nennt Stu<strong>by</strong> (1992, 208) Bil<strong>de</strong>r verwesen<strong>de</strong>r Leichen ertrunkener<br />
Mädchen bei Rilke, Heym, Benn, Brecht (beeinflusst von Bau<strong>de</strong>laire). Doch die<br />
‚Seele’ im Gedicht Komornickas ist keine ‚wirkliche’ Leiche, ihre Imaginierung<br />
erfüllt auch an<strong>de</strong>re Funktionen als in <strong>de</strong>r ‚männlichen Lyrik’. Sie ist zu Lebzeiten<br />
schon tot, gibt aber ihre Sehnsucht noch nicht auf. Eine interessante Parallele dazu<br />
fin<strong>de</strong>t sich auch in <strong>de</strong>r polnischen Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>-Literatur. In einem Sonett von<br />
Antoni Lange, „Aber du, Seelenvergifter, weiche von mir, Hamlet“ (A ty, dusz<br />
trucicielu idź mi precz Hamlecie) aus <strong>de</strong>m Zyklus „Rozmyślania“ (Sikora 1990, 135),<br />
unternimmt das lyrische Ich <strong>de</strong>n Versuch, die <strong>de</strong>ka<strong>de</strong>nte Haltung, für die <strong>de</strong>r<br />
Shakespearesche Hamlet steht, zu überwin<strong>de</strong>n und eine neue, von Tatkraft gezeichnete<br />
Lebensperio<strong>de</strong> zu beginnen. In diesem Sinne wen<strong>de</strong>t es sich direkt an Hamlet mit <strong>de</strong>r<br />
Auffor<strong>de</strong>rung: „Erwache, kranke Seele!“ (zbudź się duszo chora!) Damit jedoch<br />
Hamlet, das männliche Subjekt, tatkräftig wer<strong>de</strong>n und kämpfen kann, muss die<br />
Passivität, <strong>de</strong>r Tod, die Ohnmacht an das weibliche Geschlecht endgültig <strong>de</strong>legiert<br />
wer<strong>de</strong>n: „Ophelia schläft schon für alle Ewigkeiten in <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Sees.“ (Ofelia<br />
już na wieki śpi w głębiach jeziora.“) 32 Dies ist in Komornickas „Drugie życie“ so<br />
nicht möglich. Hier vereinigt das Ich bei<strong>de</strong> Haltungen in sich. Es ist, wie in so vielen<br />
Texten <strong>de</strong>r Dichterin, zwischen <strong>de</strong>m Drang zur Aktivität und <strong>de</strong>r Ohnmacht, <strong>de</strong>m<br />
Aufbäumen und <strong>de</strong>m Aufgeben, <strong>de</strong>n ‚wil<strong>de</strong>n Gewässern’ und <strong>de</strong>m ‚Sumpf’, zwischen<br />
Verbrennen und Verfaulen gespalten. 33<br />
32 Vgl. auch das Bild <strong>de</strong>r ‚topielica’ (Wasserleiche) in „Popioły“ von Stefan Żeromski (1948, 36-37).<br />
33 Die <strong>de</strong>ka<strong>de</strong>nten Resignationsgefühle sind in <strong>de</strong>n Gedichten <strong>de</strong>r meisten männlichen Dichter <strong>de</strong>r Młoda<br />
Polska (ausgenommen Bolesław Leśmian) nicht von dieser bestechen<strong>de</strong>n Tragik gezeichnet, meist<br />
bewegen sie sich stärker im engen Rahmen <strong>de</strong>r poetologischen Muster und i<strong>de</strong>ologischen Schablonen<br />
ihrer Zeit und wirken dadurch ‚unechter’.<br />
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Der Mut zum intensiven Leben, zum Wahn, zum Empfin<strong>de</strong>n von Schmerz, Lei<strong>de</strong>n<br />
und Lei<strong>de</strong>nschaft als Bedingung <strong>de</strong>s Reifens <strong>de</strong>s Individuums bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n motivischen<br />
Schwerpunkt <strong>de</strong>r von Nietzsche inspirierten aphoristischen Prosa „Mądrość“<br />
(Weisheit, 211) 34 aus <strong>de</strong>mselben Zyklus, in welchem ein zum geistigen Lehrer<br />
stilisiertes lyrisches Ich seine Lebensweisheit (quasi an einen Schüler) vermittelt.<br />
Dreimal wird als Refrain die jeweils leicht abgewan<strong>de</strong>lte Auffor<strong>de</strong>rung wie<strong>de</strong>rholt:<br />
„Liebe und tobe, du junger Geist, – lass dich von <strong>de</strong>inem Herzen verschlingen. / Liebe<br />
und tobe, du junger Geist, und lass dich vom Leben verschlingen. / Liebe und tobe vor<br />
Schmerz, du junger Geist, – und die Welt wird <strong>de</strong>in sein.“ 35 Im Schmerz sieht <strong>de</strong>r<br />
sprechen<strong>de</strong> Weise „Wollust“ und „Kraft". (211) In <strong>de</strong>r Poetik <strong>de</strong>r Paradoxe wird, wie<br />
in „Drugie życie“, die Bereitschaft zu verbrennen und die Furchtlosigkeit auch<br />
angesichts <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s angepriesen. Wer damit beschäftigt war, sein Ego übertrieben<br />
vor Risiken zu schützen, habe gar nicht gelebt:<br />
Wer nicht To<strong>de</strong>squal und Pein erfahren hat, hat nicht gelebt – hat <strong>de</strong>n geheimen Abgrund seiner<br />
Seele nicht kennen gelernt. (...)<br />
Wer <strong>de</strong>m Tod nicht ins Gesicht geblickt hat, ist sterblich; vergänglich, wer vor ihm in nie<strong>de</strong>re<br />
Gelüste und trügerische Ruhe geflüchtet ist. (...)<br />
Denn er hat das Geheimnis, das ihm innewohnt, nicht ent<strong>de</strong>ckt und bleibt Sklave seines eigenen<br />
Entsetzens. (...)<br />
Je lichter das Feuer brannte, <strong>de</strong>sto mehr Asche bleibt zurück. Und mehr Kraft. 36<br />
9.4. Der rasen<strong>de</strong> Engel<br />
Neben <strong>de</strong>n Gedichten, die zwischen <strong>de</strong>n Polen <strong>de</strong>s wil<strong>de</strong>n Lebensbegehrens und <strong>de</strong>r<br />
Verzweiflung über Nichtexistenz schwanken, gibt es auch solche, die gewaltige<br />
34 Zyklus „Czarne płomienie“, „Chimera“ 1901, B. 4, H. 10-12.<br />
35 Polnisch: „Kochaj i szalej, duchu młody, – daj się swemu sercu pożerać. / Kochaj i szalej, duchu<br />
młody, i daj się życiu pożerać. / Kochaj i z bólu szalej, duchu młody, – a twoim będzie świat.“<br />
36 Polnisch: „Nie żył, kto nie zaznał konania i męczarni – nie poznał tajemnic otchłani swojej. (...) /<br />
Śmiertelny, kto w twarz nie spojrzał śmierci, kto przed nią uciekał między liche rozkosze i spokój (...). /<br />
Albowiem nie poznał tajemnicy swojej i niewolnikiem jest swojego przerażenia. (...) / Im więcej <strong>by</strong>ło<br />
płomienia – tym więcej będzie popiołu. I mocy więcej.“<br />
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Subjektentwürfe nach <strong>de</strong>m romantischen Muster kreieren, wie wir sie von Frauen in<br />
<strong>de</strong>r polnischen Literatur <strong>de</strong>s 19. und beginnen<strong>de</strong>n 20. Jahrhun<strong>de</strong>rts sonst nicht kennen.<br />
Dazu gehört u.a. „Bunt anioła“ (Die Rebellion <strong>de</strong>s Engels, 147). 37 Der Engel, das<br />
lyrische Ich, gibt sich (nicht nur) auf <strong>de</strong>r grammatischen Ebene als männlich zu<br />
erkennen. Auch hier, wie schon in „Biesy“, ist sein schrecklicher Lebenshunger das<br />
Movens <strong>de</strong>s Geschehens. Dieser Lebenshunger, die Sehnsucht nach einem Leben in<br />
Hülle und Fülle, mutiert in „Bunt anioła“ zum Begehren von Glück, Ruhm und Macht:<br />
„Ich wer<strong>de</strong> meinen furchtbaren Hunger mit <strong>de</strong>r bislang verachteten Kost stillen (...).“ 38<br />
(150) Der zutiefst enttäuschte und daher rebellieren<strong>de</strong> Engel verkün<strong>de</strong>t pathetisch<br />
seinen Bruch mit seinem bisherigen, von Leid und Masochismus geprägten Leben und<br />
seinen Sturz in eine dämonische Seinsweise: „[Die Welt] wird in seinem Herrn <strong>de</strong>n<br />
Teufel erblicken – und <strong>de</strong>n Erzengel in ihm verlieren!“ (150) / „Und selbst die Tauben<br />
wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>n zischen<strong>de</strong>n Hohn <strong>de</strong>s Satans in mir hören.“ 39 (151) Sein ehemals heiliges,<br />
auf Gott gerichtetes Begehren pervertiert zu Herrschsucht, Eroberungs- und<br />
Rachegelüsten, aber auch zum Verlangen nach dionysischem Rausch, Wahn und<br />
Vergessen. Dieses gebieterische Subjekt entwirft Visionen <strong>de</strong>r Inbesitznahme <strong>de</strong>r<br />
Welt. Die Menschen sollen sich in „Medien seines schrecklichen Willens“ verwan<strong>de</strong>ln<br />
und seinen Befehlen folgen. (148) Es erlebt ekstatische Zustän<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Machtrausches:<br />
„Die Welt gehört mir! Gehört mir! In mir tobt die Begier<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Eroberers!“ 40 (150),<br />
verwirft brutal Symbole eines christlichen Lebenswan<strong>de</strong>ls, kreiert sich zum König und<br />
Henker: „Genug <strong>de</strong>s Martyriums! Genug <strong>de</strong>r Kreuze, auf die ich je<strong>de</strong>n Tag geschlagen<br />
wer<strong>de</strong>. / Ich trete die Dornenkronen nie<strong>de</strong>r, die das Blut <strong>de</strong>s lebendigen Geistes<br />
saugen!“ 41 (150) Dabei han<strong>de</strong>lt es sich um einen Racheakt gegenüber <strong>de</strong>r Welt. Lange<br />
37 „Życie“ 1897, Nr. 7.<br />
38 Polnisch: „Ja głód swój straszny nakarmię gardzoną aż dotąd strawą (…).“<br />
39 Polnisch: „[Świat] <strong>de</strong>mona ujrzy w swym panu – straciwszy w nim archanioła!“ / „I głusi usłyszą<br />
chichot szatanów syczących we mnie!“<br />
40 Polnisch: „Świat do mnie! do mnie należy! Zdo<strong>by</strong>wcy żądzę mam w sobie!“<br />
41 Polnisch: „Męczeństwa dość! i tych krzyżów, na których zawisa co dnia. / Depcę korony cierniowe,<br />
pijące żywą krew mózgu!“<br />
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genug hat <strong>de</strong>r Engel, wie er es in seiner grandiosen Re<strong>de</strong> voller verschachtelter<br />
metaphorischer Konstruktionen verkün<strong>de</strong>t, schweigend die Demütigungen und<br />
Schmähungen seitens <strong>de</strong>r Welt ertragen und seinen Groll unterdrückt. Nun ist die Zeit<br />
<strong>de</strong>r Verwandlung gekommen, <strong>de</strong>r Engel wechselt seine Gewän<strong>de</strong>r, er zieht neue<br />
Klei<strong>de</strong>r an:<br />
Denn ich schwieg... schwieg... klaglos... immerzu... als sie mich bewarfen<br />
Mit Steinen, Gelächter... als sie mich hinabstießen in die grässliche Dunkelheit <strong>de</strong>r Erniedrigung.<br />
Denn ich schwieg... schwieg... als ich unermüdlich alle Gifte <strong>de</strong>r Hölle sammelte<br />
Für <strong>de</strong>n großen Tag <strong>de</strong>r Offenbarung – <strong>de</strong>n Tag <strong>de</strong>r Rache! Des Triumphes! Des Gelächters!<br />
Denn ich schwieg... das Meer schweigen<strong>de</strong>r Tränen ist durch die Augen ins Herz gesickert –<br />
Und ich lebte einsam, erbärmlich, im Mantel <strong>de</strong>r Armut – in <strong>de</strong>r Pracht <strong>de</strong>r Verachtung,<br />
Heute – werfe ich sie von mir, <strong>de</strong>s verarmten Bettler-Geistes Lumpenhülle!<br />
Tausche leuchtend helle Engelsflügel gegen Fackeln <strong>de</strong>r Vernichtung aus! (151) 42<br />
Das Motiv <strong>de</strong>r Bestätigung <strong>de</strong>s Aufbruchs zu einem neuen Leben durch ein äußeres<br />
Zeichen, insbeson<strong>de</strong>re durch einen Klei<strong>de</strong>rwechsel (z.B. das Überziehen eines neuen<br />
Mantels) ist für Komornicka sehr bezeichnend. Darauf komme ich bei <strong>de</strong>r Analyse <strong>de</strong>s<br />
Gedichtes „Na rozdrożu“ noch zu sprechen.<br />
Der Gesinnungswechsel <strong>de</strong>s Engels von Demut zum heftigen Zorn führt zwar zur<br />
Ekstase, nicht jedoch zu einem glücklichen Ausgang <strong>de</strong>s Gedichtes. Auf <strong>de</strong>m<br />
Höhepunkt <strong>de</strong>r orgiastischen Rache- und Unterwerfungsvisionen <strong>de</strong>s Engels kommt es<br />
zu einem semantischen Bruch: Es ist von einem Gift die Re<strong>de</strong>, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r rasen<strong>de</strong><br />
Engel sowohl seinem eigenen Herzen als auch <strong>de</strong>r Menschheit einen To<strong>de</strong>sstoß<br />
versetzt. Wofür die Gift-Metapher steht, kann allerdings kaum <strong>de</strong>chiffriert wer<strong>de</strong>n. Es<br />
könnte sich hier um eine An<strong>de</strong>utung <strong>de</strong>r Melancholie han<strong>de</strong>ln: Trotz <strong>de</strong>s ‚besseren<br />
42 Polnisch: „Bom milczał... milczał... bez jęku... przez wieki... gdy mi rzucali / Kamienie, śmiech... gdy<br />
strącali w poniżeń ohydne ciemnie. / Bom milczał… milczał… przez wieki skupiałem wszechjadów<br />
piekło / Na wielki dzień Objawienia – dzień zemsty! Tryumfu! Śmiechu! / Bom milczał... morze<br />
milczących łez z oczu w serce przeciekło – / I żyłem samotny, nędzny, w nędz płaszczu – wzgardy<br />
przepychu, / Dziś – zrzucam z siebie łachmanną Ducha-Nędzarza powłokę! / Świetliste skrzydła aniołów<br />
– w zniszczenia zmieniam pochodnie!“<br />
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Wissens’ trauert man <strong>de</strong>m Rest <strong>de</strong>r alten I<strong>de</strong>ntität nach. Dieser Rest wird im realen<br />
Leben Komornickas eine herausragen<strong>de</strong> Rolle spielen. 43<br />
Das Gedicht en<strong>de</strong>t mit einem <strong>de</strong>m Zeitgeist <strong>de</strong>r Deka<strong>de</strong>nz entsprechen<strong>de</strong>n Bild <strong>de</strong>r<br />
absoluten Zerstörung. Denn <strong>de</strong>r Wahn und die Verwandlung <strong>de</strong>s ‚verdammten’ Engels<br />
haben einen <strong>de</strong>struktiven Charakter, <strong>de</strong>r Racheakt und die „schreckliche Liebe“ (151)<br />
vermögen we<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Engel selbst noch die Menschheit zu heilen. Eine Erlösung sieht<br />
<strong>de</strong>r Rasen<strong>de</strong> ausschließlich im Tod, im Nirwana, im Nichts, und so strebt er einem<br />
Selbstmord zu und berauscht sich an <strong>de</strong>r im Jungen Polen populären Phantasie, die<br />
Menschheit an <strong>de</strong>n Haaren mit in <strong>de</strong>n Tod zu reißen.<br />
Es erscheint produktiv, dieses Gedicht mit <strong>de</strong>m feministischen Schlüssel zu lesen. 44<br />
Mittels teuflischer Metaphorik flechten, so Brinkler-Gabler (1978), weibliche<br />
Lyrikerinnen im 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt die verdrängte Lei<strong>de</strong>nschaftlichkeit, Sinnlichkeit und<br />
– meines Erachtens – auch Geltungsbedürfnisse in ihre Texte ein. Die Verwandlung<br />
<strong>de</strong>s Engels (im 19. Jh. das populärste Bild für Hausfrau und Mutter) in einen rasen<strong>de</strong>n<br />
Dämon könnte metaphorisch für die Bestrebungen eines weiblichen Ichs stehen, seine<br />
althergebrachte, vom Masochismus bestimmte Seinsweise aufzugeben und sich zu<br />
einer überragen<strong>de</strong>n, gott- bzw. teufelsgleichen Machtposition aufzuschwingen, das<br />
Korsett <strong>de</strong>r Weiblichkeit abzuwerfen und einen ‚Mantel’ <strong>de</strong>s Genusses und <strong>de</strong>r Macht<br />
anzuziehen. 45 Die Phantasie ist vom Impetus <strong>de</strong>r Rache getragen und läuft, ähnlich<br />
wie in „Andronice“, auf ein <strong>de</strong>struktives Telos zu. Letztendlich gelingt es nicht (dies<br />
ist sicherlich auch poetologisch bedingt), einen positiven existenziellen Entwurf zu<br />
43 Als Inszenierung <strong>de</strong>r Melancholie sehe ich auch die <strong>de</strong>n ersten Gedichtabschnitt abschließen<strong>de</strong><br />
Begegnung <strong>de</strong>s Engels mit einem lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, weiblichen Wesen mit <strong>de</strong>m „Herz einer Taube“ (150),<br />
welches er – in seiner Vision – mitten im Kampf aufsucht und zärtlich küsst. Es scheint die<br />
Personifizierung eines Bereichs <strong>de</strong>r Persönlichkeit <strong>de</strong>s Engels zu sein – seines ‚weiblichen’ Anteils, <strong>de</strong>r<br />
nicht ohne Schmerz verabschie<strong>de</strong>t wer<strong>de</strong>n kann.<br />
44 Eine ‚universelle’ Lektüre ist ebenfalls möglich.<br />
45 Vgl. dazu Brinkler-Gabler 1978, 55: „Der Dämon vereinigt alles, was eine Frau, solange sie eine Dame<br />
war, sich nicht einzugestehen wagte: erotisches Verlangen, Sinnlichkeit, Lei<strong>de</strong>nschaft.“<br />
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schaffen. Die das Gedicht strukturieren<strong>de</strong> semantische Opposition erinnert an das<br />
Fazit <strong>de</strong>r bereits analysierten Erzählung „Z fantazyi realnych“ von Komornicka:<br />
Helena wur<strong>de</strong> zum Satan, weil es ihr nicht vergönnt war, Mensch zu sein. 46 Auch in<br />
„Bunt anioła“ hat das lyrische Ich zwischen Engel und Dämon zu wählen. Und wenn<br />
es ihm nicht vergönnt ist, ein Subjekt zu sein, dann gönnt es dies <strong>de</strong>r ganzen Welt<br />
nicht.<br />
9.5. Die Liebe und die Peitsche<br />
Komornickas erotische Gedichte gehören neben <strong>de</strong>nen Bolesław Leśmians zu <strong>de</strong>n<br />
ungewöhnlichsten, bizarrsten, unheimlichsten, die <strong>de</strong>r polnische Mo<strong>de</strong>rnismus zu<br />
bieten hat. Bei bei<strong>de</strong>n Dichtern nimmt das Begehren sadomasochistische Züge an und<br />
wird einerseits mit Grausamkeiten und Gräueltaten, Mord und Totschlag, an<strong>de</strong>rerseits<br />
mit Gott und Mystik in Verbindung gebracht. In einem beson<strong>de</strong>ren Maße trifft dies auf<br />
<strong>de</strong>n Gedichtzyklus „Czarne płomienie“ (Schwarze Flammen, 192 ff.) 47 zu, und hier<br />
vor allem auf das lyrische Prosastück „Miłość“, 48 welches – wie die<br />
Märchenerzählung „Andronice“ – mör<strong>de</strong>rische Erotik präsentiert.<br />
Die lyrische Prosa „Miłość“ (Die Liebe, 197 ff.) en<strong>de</strong>t mit genau <strong>de</strong>rselben Vision<br />
wie „Bunt anioła“. Ein zorniges, berauschtes, übermächtiges Ich zieht ein an<strong>de</strong>res<br />
Geschöpf an <strong>de</strong>r Mähne in <strong>de</strong>n Abgrund, reißt es mit in <strong>de</strong>n Tod. Es ist in diesem Fall<br />
ein auch grammatisch ein<strong>de</strong>utig markiertes weibliches Subjekt, das han<strong>de</strong>lt. Das<br />
46 Zur Dualisierung <strong>de</strong>s Frauenbil<strong>de</strong>s in Engel und Dämon siehe auch das Gedicht „Stanowisko kobiety“<br />
von Jadwiga Łuszczewska (Deotyma) aus <strong>de</strong>m Jahre 1870: „Unser Jahrhun<strong>de</strong>rt! Man wird dich das große<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rt <strong>de</strong>r Frauen nennen. / Mit einer unbekannten For<strong>de</strong>rung kam die Frau zu Wort: / Bisher war<br />
sie Engel o<strong>de</strong>r Satan, / Heute will sie Mensch wer<strong>de</strong>n.“ (Wieku nasz! Ty zwan będziesz wielkim kobiet<br />
wiekiem. / Niewiasta się ozwała z żądaniem nieznanym: / Dotąd aniołem <strong>by</strong>ła lub szatanem, / Dzisiaj<br />
chce zostać człowiekiem.) Zacharska 2000, 155.<br />
47 „Chimera“ 1901, B. 4, H. 10/12, S. 164-186.<br />
48 Fragmente aus diesem Text hat Ta<strong>de</strong>usz Różewicz (1975) in sein von <strong>de</strong>r Biographie Komornickas<br />
inspiriertes Drama „Białe małżeństwo“ eingearbeitet.<br />
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Objekt dieses Han<strong>de</strong>lns ist <strong>de</strong>r Geliebte. (Auch hier liegt die Anspielung auf die<br />
Bildlichkeit von Podkowińskis „Szał“ auf <strong>de</strong>r Hand – <strong>de</strong>r Geliebte ist das Äquivalent<br />
<strong>de</strong>s Rosses.) In „Miłość“ spricht die Stimme einer begehren<strong>de</strong>n Frau, und eine<br />
begehren<strong>de</strong> Frau ist in <strong>de</strong>r abendländischen Kultur eine wahnsinnige, dämonische,<br />
gefährliche Frau. Es ist skandalös: Eine Frau verrät sich hier mit einem wil<strong>de</strong>n,<br />
ungezügelten Begehren, mit ihrer fleischlichen Lust. Sie tut dies in einer Sprache und<br />
mit einer Wucht, die in <strong>de</strong>r abendländischen Kultur für das männliche Subjekt<br />
reserviert ist. Um zu veranschaulichen, welch ein be<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s kulturelles Tabu hier<br />
gebrochen wird, 49 zitiere ich das bekannte Gedicht „Lubię, kiedy kobieta…“ (Ich mag<br />
es, wenn die Frau...) vom Dichterfürsten <strong>de</strong>s Jungen Polen Kazimierz Przerwa-<br />
Tetmajer:<br />
Ich liebe diese Scham, die <strong>de</strong>r Frau verbietet<br />
zu gestehen, dass sie Lust empfin<strong>de</strong>t, dass sie <strong>de</strong>r Macht <strong>de</strong>s Verlangens<br />
erliegt und <strong>de</strong>m Wahn <strong>de</strong>r Erfüllung,<br />
wenn sie die Lippen sucht, doch Worte und Blicke fürchtet. 50<br />
In dieser ‚Männerphantasie’ entspricht das Verhalten <strong>de</strong>r Frau vollkommen <strong>de</strong>n<br />
Normen <strong>de</strong>r patriarchalischen Kultur. 51 Die Frau schämt sich für ihre Lust, sie darf<br />
sich nur im Rausch, im Wahn (quasi ohne zu wissen, was sie tut) hingeben, nicht aber<br />
ihr Begehren aussprechen und nicht <strong>de</strong>m Geliebten in die Augen schauen. Um ihre<br />
Selbstachtung und die Achtung <strong>de</strong>s Mannes zu bewahren, muss sie sich von ihrem<br />
Begehren abspalten, entfrem<strong>de</strong>n, so tun, als ob sie nichts von ihm wüsste. 52 Gera<strong>de</strong><br />
49 Die Verletzung dieses Tabus zeitigt in „Białe małżeństwo“ von Ta<strong>de</strong>usz Różewicz groteske Effekte.<br />
Zitate aus „Miłość“ wer<strong>de</strong>n hier <strong>de</strong>n ‚anständigen’ Eltern <strong>de</strong>r jungen Dichterin in <strong>de</strong>n Mund gelegt. Den<br />
Eltern fällt das Poesieheft <strong>de</strong>r Tochter zufällig in die Hän<strong>de</strong>, sie lesen sich die Lyrik gegenseitig vor. Die<br />
Komik entzün<strong>de</strong>t sich am Zusammenstoß <strong>de</strong>r Moral und <strong>de</strong>s Lebenswan<strong>de</strong>ls <strong>de</strong>r Eltern mit <strong>de</strong>n von ihnen<br />
ent<strong>de</strong>ckten ‚anstößigen’ Texten <strong>de</strong>r jugendlichen Dichterin.<br />
50 Sikora 1990, 273 f. Polnisch: „I lubię ten wstyd, co się kobiecie zabrania / Przyznać, że czuje rozkosz,<br />
że moc pożądania / Zwalcza ją, a sycenie żądzy oszalenia, / Gdy szuka ust, a lęka się słów i spojrzenia.“<br />
51 Das Gedicht insgesamt ist exemplarisch für die geschlechtsspezifische Semantisierung <strong>de</strong>r Körper-<br />
Geist-Opposition in unserer Kultur.<br />
52 Vgl. Eichelbergers (1997, 62 f.) kulturkritische Interpretation <strong>de</strong>s „Wahns“ von Podkowiński, die einen<br />
Bogen zur heutigen (!) Sozialisation von Frauen schlägt.<br />
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dies ist es auch, was in Tetmajers Gedicht das männliche Subjekt als äußerst erotisch<br />
empfin<strong>de</strong>t. 53<br />
In „Miłość“ spricht eine weibliche Stimme bei vollem Bewusstsein von ihrer Lust.<br />
Dies heißt nicht, dass sie die kulturellen Schranken hinter sich lässt und einer<br />
Befreiung von <strong>de</strong>r patriarchalen Spaltung <strong>de</strong>r Frau entgegensteuert. Von <strong>de</strong>r ersten<br />
Zeile an wird das Begehren von extremen Hass- und Selbsthassausbrüchen, mehr<br />
noch, von Mord- bzw. Selbstmordphantasien begleitet. Der Frau, die sich zu ihrer<br />
„schrecklichen, brutalen Liebe“ bekennt, „die vor Begehren heult und das Begehren<br />
verachtet“ (198) bleibt am En<strong>de</strong> eine Alternative – entwe<strong>de</strong>r bringt sie sich selbst o<strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>n Geliebten um:<br />
Allein diese Bil<strong>de</strong>r entfachten mein Blut zu unheilvollem Feuer – im höllischen, ewigen<br />
Verlangen verbotener Begier<strong>de</strong> – und ich sterbe. Ich wer<strong>de</strong> sterben, sofern nicht du durch meine<br />
Hand <strong>de</strong>n Tod fin<strong>de</strong>st. (...) Stirb! Du, <strong>de</strong>ssen Existenz die meinige tötet (...). (199) 54<br />
In „Miłość“ entschei<strong>de</strong>t sich das weibliche Textsubjekt für die zweite Variante. Der<br />
Hass und die Zerstörungswut richten sich in erster Linie auf <strong>de</strong>n Mann, <strong>de</strong>n Verführer,<br />
<strong>de</strong>r ihr „<strong>de</strong>n Körper geoffenbart hat“. Das eigene Begehren wird quasi an ihn<br />
<strong>de</strong>legiert. Der Mann wird somit zum Inbegriff seelenloser animalischer Lust (selbst<br />
seine Seele ist ‚tierisch’!):<br />
Ich liebe zum ersten Mal – obwohl viele, ach so viele Küsse meine Lippen verbrannten. Ich liebe<br />
<strong>de</strong>n herrlichsten Er<strong>de</strong>nsohn, das prächtigste Menschentier mit brennen<strong>de</strong>n Augen und einer<br />
schlummern<strong>de</strong>n Seele. Ich liebe grauenhaft und wun<strong>de</strong>rbar, ich liebe und hasse, ich begehre und<br />
53 Auf diese Aporien <strong>de</strong>s weiblichen Lustempfin<strong>de</strong>ns machte bereits 1949 Simone <strong>de</strong> Beauvoir (1997, 806<br />
f.) aufmerksam: „Sich zu einem fleischlichen Objekt, einer Beute zu machen wi<strong>de</strong>rspricht ihrer [<strong>de</strong>r Frau]<br />
Selbstverehrung: sie hat <strong>de</strong>n Eindruck, dass die Umarmungen ihren Körper schän<strong>de</strong>n und beschmutzen,<br />
o<strong>de</strong>r dass ihre Seele Scha<strong>de</strong>n daran nimmt. Darum glauben manche Frauen, durch eine frigi<strong>de</strong> Haltung<br />
die Integrität ihres Ego zu bewahren. An<strong>de</strong>re trennen die animalische Wollust von erhabenen Gefühlen.<br />
(…) Sie sehen in <strong>de</strong>r körperlichen Liebe eine Entwürdigung, die sich mit Gefühlen <strong>de</strong>r Hochachtung und<br />
<strong>de</strong>r Zuneigung nicht vereinbaren lässt. (…)“. Vgl. auch diesbezügliche, allerdings das weibliche Gefühl<br />
<strong>de</strong>r Entwürdigung durch Sexualität affirmieren<strong>de</strong> Äußerungen <strong>de</strong>r auktorialen Erzählerin im Roman<br />
„Kaśka Kariatyda“ <strong>de</strong>r polnischen Prosa- und Dramenautorin <strong>de</strong>s Jungen Polen Gabriela Zapolska (1957,<br />
193). Siehe auch Podraza-Kwiatkowska 2001, 140.<br />
54 Polnisch: „Tylko od tych obrazów rozpaliła się moja krew ogniem nieczystym – piekielnym, wiecznym<br />
pożądaniem zakazanej żądzy – i umieram. I umrę, jeżeli ty nie padniesz z mej ręki. (…) Umrzyj ty,<br />
którego istnienie zabija moje (…).“<br />
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verachte, vergehe im wahnsinnigen Verlangen und for<strong>de</strong>re seinen Untergang. Lebt er, wer<strong>de</strong> ich<br />
sterben, stirbt er, wer<strong>de</strong> ich nicht überleben. Ich liebe schamlos, ohne Gegenliebe – nur, damit er<br />
liebe und vergehe. Du weißt es, du wun<strong>de</strong>rbares, törichtes Tier (...) Du fühlst diese entsetzliche<br />
Flamme in mir – und <strong>de</strong>shalb läufst du in sie hinein, wie ein irres Pferd in ein brennen<strong>de</strong>s Haus.<br />
Aber <strong>de</strong>ine Seele, die tauber und stumpfer ist als <strong>de</strong>in herrlicher, kluger, siegreicher Körper, wird<br />
niemals die Gewissheit spüren, geliebt zu wer<strong>de</strong>n, (...) wenn mein Spott dich peitscht, meine<br />
Hand dich ohrfeigt und je<strong>de</strong>r Blick von mir dich verhöhnt. (197) 55<br />
Und so besteht Liebe fast nur aus Visionen sadistischer Rache am Mann, <strong>de</strong>r<br />
Machtausübung und Unterwerfung. Das Auspeitschen <strong>de</strong>s Mannes soll dazu dienen,<br />
die Seele bzw. <strong>de</strong>n Geist in ihm ‚wachzuprügeln’:<br />
Ich will dich peitschen, peitschen, peitschen, <strong>de</strong>n unaussprechlichen Schmerz herauspeitschen,<br />
<strong>de</strong>r selbst im Tier <strong>de</strong>n Geist erweckt: Ich will aus dir ein Stöhnen herausfoltern wie aus <strong>de</strong>m<br />
tiefsten Abgrund (...). Ich will in dir <strong>de</strong>n Geist erwecken, <strong>de</strong>r du mir <strong>de</strong>n Körper offenbartest, (...)<br />
<strong>de</strong>inen Geist unter furchtbaren Qualen meinem Willen unterwerfen, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>in Schicksal ist. (198) 56<br />
An<strong>de</strong>rerseits ist aber klar, dass <strong>de</strong>r Geliebte sterben muss, <strong>de</strong>nn das Weiterleben eines<br />
Zeugen <strong>de</strong>r weiblichen Lust wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>r Frau be<strong>de</strong>uten: „Stirb! Du, <strong>de</strong>ssen<br />
Existenz die meinige tötet“. 57 Die weibliche Stimme gibt kund, durch die erotische<br />
Begegnung mit <strong>de</strong>m Mann, durch seine zynischen Worte und Blicke, seine<br />
entwürdigen<strong>de</strong> Berührung befleckt und <strong>de</strong>s Geistes beraubt wor<strong>de</strong>n zu sein. Geist und<br />
Erotik, Spiritualität und Sinnlichkeit stellen in dieser Vision unvereinbare Gegensätze<br />
55 Polnisch: „Kocham pierwszy raz – choć tyle, och tyle pocałunków spaliło mi usta. Kocham<br />
najpiękniejszego syna ziemi, przepyszne zwierzę ludzkie ze świecącymi oczyma i duszą śpiącą. Kocham<br />
ohydnie i cudownie, kocham i nienawidzę, pragnę i pogardzam, zabijam się tą żądzą i wołam jego<br />
śmierci. Umrę, jeżeli on żyć będzie, – a gdy umrze – nie ma dla mnie życia. – Kocham bezwstydnie,<br />
bezwzajemnie – i po to tylko, <strong>by</strong> kochał i zginął. Ty o tym wiesz, cudowny, głupi zwierzu (...) Czujesz<br />
ten przerażający we mnie płomień – i dlatego biegniesz weń fatalnie, jak rozhukany koń w płonący dom.<br />
Lecz dusza twoja, tępsza niż twe przepyszne, twe mądre, twe zwycięskie ciało, – nie zdobędzie się nigdy<br />
na pewność, że jesteś kochany, (...) która cię szy<strong>de</strong>rstwem smagam – i policzkuję ręką – i znieważam<br />
każdym spojrzeniem.“<br />
56 Polnisch: „Chcę cię smagać, smagać, smagać, aż dosmagam się w tobie tego bezwględnego bólu, który<br />
ducha budzi nawet w zwierzęciu. Chcę dokatować się w tobie jęku z najgłębszych otchłani (...). Chcę<br />
wzbudzić w tobie ducha – o ty, który mi objawiłeś ciało, (...) zbudzić ducha i straszną jego mękę i jego<br />
posłuszeństwo mej woli, która jest twoim przeznaczeniem.“<br />
57 Dieses Motiv weckt Assoziationen mit <strong>de</strong>r griechischen Sage von <strong>de</strong>r Verwandlung <strong>de</strong>s Aktaion von<br />
Artemis-Diana in einen Hirsch als Strafe dafür, dass er sie unabsichtlich im Bad überrascht hat.<br />
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dar. Beispielhaft führt das Gedicht die Abspaltung <strong>de</strong>s Sakralen vom Erotischen in <strong>de</strong>r<br />
abendländischen Kultur vor: 58<br />
Du hast mich mit <strong>de</strong>inen Blicken geschän<strong>de</strong>t und musst sterben. Du hast mich mit <strong>de</strong>r Schmach<br />
<strong>de</strong>iner Worte geschän<strong>de</strong>t und musst sterben. Du hast mich durch <strong>de</strong>ine entwürdigen<strong>de</strong>n<br />
Berührungen geschän<strong>de</strong>t und es gibt keine Tortur, die ich nicht ersänne, um dich ihr auszusetzen.<br />
Es gibt keine Rache, die es vermag, die Gier meines Hasses zu stillen. Es gibt keine To<strong>de</strong>squal,<br />
die lang genug dauerte, um das Sterben meines Geistes zu vergelten, <strong>de</strong>n das wahnsinnige<br />
Verlangen nach dir vergiftete. (199) 59<br />
Gleichzeitig usurpiert das weibliche Subjekt das Recht zu durchaus männlichen<br />
Phantasien. Es tritt aus <strong>de</strong>m Objektstatus heraus, es spricht über sein Begehren und<br />
imaginiert sich als Han<strong>de</strong>ln<strong>de</strong> – Verführerin, Herrscherin, Verfolgerin, wil<strong>de</strong>r<br />
Indianer. Über das Paradigma <strong>de</strong>r Zerstörung kommt es jedoch auch hier nicht hinaus.<br />
Die Sexualität bleibt in <strong>de</strong>n Schuldkomplex verstrickt. 60 Dabei kann die Figur <strong>de</strong>s<br />
Geliebten als Metapher für die Anteile <strong>de</strong>r eigenen Psyche <strong>de</strong>s weiblichen Ichs<br />
interpretiert wer<strong>de</strong>n, die es von sich abspalten will – für das eigene Begehren. 61 Dann<br />
wür<strong>de</strong> sich das Auspeitschen und Töten auf das Projekt <strong>de</strong>r Ausrottung <strong>de</strong>r<br />
Sinnlichkeit aus <strong>de</strong>m eigenen Leben beziehen. Aber auch bei <strong>de</strong>r Bevorzugung dieser<br />
Lesart, die sich beson<strong>de</strong>rs schlüssig mit <strong>de</strong>r weiteren Biographie Komornickas fügt,<br />
erscheint es nicht unerheblich, dass die Dichterin, an<strong>de</strong>rs als Berent, Przy<strong>by</strong>szewski<br />
58 Vgl. Eichelberger 1997, 64 ff.<br />
59 Polnisch: „Pokalałeś mnie oczyma swymi – i musisz zginąć. Pokalałeś mnie bluźnierstwem słów – i<br />
musisz zginąć. – Pokalałeś mnie zniewagą dotknięcia – i nie ma tortury, której nie wymyślę dla ciebie.<br />
Nie ma zemsty zdolnej wyczerpać moją żądzę nienawistną. Nie ma konania dość długiego, <strong>by</strong> okupiło<br />
konanie mego ducha w szale tego pożądania, w otruciu żądzą ciebie.“<br />
60 Von einem solchen Schuldkomplex wer<strong>de</strong>n insbeson<strong>de</strong>re Frauen begleitet, die sexuellen Missbrauch<br />
erlitten haben bzw. <strong>de</strong>nen bereits von <strong>de</strong>n Eltern Misstrauen auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r Sexualität<br />
entgegengebracht wur<strong>de</strong> (Unterstellung potenzieller sexueller Zügellosigkeit). Ein Mann, <strong>de</strong>r einer<br />
solchen Frau mit Liebe begegnet, wird, so Eichelberger (1997, 49), „halb bewusste Gefühle <strong>de</strong>r (…)<br />
Verachtung in ihr wecken“.<br />
61 Zitat: „Seelenloser Dämon <strong>de</strong>r Lei<strong>de</strong>nschaft, Sün<strong>de</strong> meines Geistes, tödlich schöne Blume meiner<br />
Begier<strong>de</strong> (...).“ (200)<br />
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o<strong>de</strong>r Tetmajer, für ihre Inkarnationen sündhafter Körperlichkeit männliche Figuren<br />
auswählt. 62<br />
Auch an<strong>de</strong>re Dichterinnen <strong>de</strong>s Jungen Polen setzen das Ausleben <strong>de</strong>s weiblichen<br />
Begehrens mit <strong>de</strong>m inneren Tod <strong>de</strong>r Frau gleich, so z.B. Marcelina Kulikowska in<br />
„Zniewaga“ (Entwürdigung):<br />
Deine Hän<strong>de</strong> haben das Weiß meiner Seele befleckt,<br />
Hän<strong>de</strong>, die mich zärtlich und entwürdigend gepackt,<br />
Ich starb unter ihnen..., meine Leiche liegt nackt.<br />
Und <strong>de</strong>r sehnsuchtsvolle Wind be<strong>de</strong>ckt sie mit <strong>de</strong>n Herbstblättern. 63<br />
Doch hier bleibt das weibliche Subjekt vollkommen passiv. Das einzige, was ihm<br />
verbleibt, ist, seine Befleckung durch körperliche Liebe dichterisch zu betrauern. 64<br />
9.6. Männlichkeit ist etwas an<strong>de</strong>res als die Männer<br />
Zwischen „tödlichem Begehren“ und „tödlicher Verachtung“ bewegt sich auch das<br />
Subjekt <strong>de</strong>r von Schopenhauerschen I<strong>de</strong>en beeinflussten lyrischen Prosa „Dwie moce“<br />
(Zwei Mächte, 195 f.), 65 das <strong>de</strong>n „auf ewig begehrten“ Geliebten „wie einen Hund“<br />
vor seiner Tür für immer vertreibt. Das Ich dieses Textes befin<strong>de</strong>t sich im Zustand<br />
eines unentschie<strong>de</strong>nen inneren Kampfes, <strong>de</strong>r zwischen seinem Willen (versinnbildlicht<br />
62 Auch Zofia Nałkowska verwen<strong>de</strong>t in ihrer frühen Prosa, z.B. in „Kobiety“, Tiermetaphorik in Bezug<br />
auf männliche Figuren im sexuellen Kontext. Ähnliches lässt sich u.a. in <strong>de</strong>r Prosa von Gabriela Zapolska<br />
und Theresita (Maria Krzymuska-Iwanowska) fin<strong>de</strong>n. Vgl. Podraza-Kwiatkowska 2001, 139 f. u. 150 f .<br />
63 Zacharska 2000, 142. Polnisch: „Ręce twoje skalały białość mojej duszy, / Ręce twoje, tak pełne<br />
pieszczot i zniewagi – / I oto ja umarłam..., trup mój leży nagi. / I po nim wicher tęskny liść jesienny<br />
prószy...“<br />
64 Interessantes Vergleichsmaterial bietet auch die Młoda Polska-Forscherin Maria Podraza-Kwiatkowska<br />
in ihrem Aufsatz „Kompleks Parsifala, czyli o młodopolskim i<strong>de</strong>ale czystości“. (Podraza-Kwiatkowska<br />
2001, 127-165) Sie weist darauf hin, dass auch innerhalb <strong>de</strong>r literarischen Inszenierungen <strong>de</strong>r Erotik bei<br />
männlichen Autoren das Motiv <strong>de</strong>r Verzweiflung wegen <strong>de</strong>r verlorenen Unschuld stark vertreten ist. In<br />
diesen Werken, so z.B. von Przy<strong>by</strong>szewski, Żeromski, aber auch von Huysmans, Bjørnson o<strong>de</strong>r Tolstoi,<br />
betrauern männliche Figuren ihre moralische Entgleisung (ein sexuelles Abenteuer, oft mit einer<br />
Prostituierten). Innerhalb dieses Paradigmas ist es die Frau, die <strong>de</strong>n Mann verführt und ‚in <strong>de</strong>n Schmutz<br />
zieht’. Meist aber führen die moralischen Dilemmata nach einer entwürdigen<strong>de</strong>n sexuellen Begegnung<br />
nicht zu Mord- und Selbstmordphantasien in <strong>de</strong>m Ausmaß wie bei Komornicka.<br />
65 „Chimera“ 1901, B. 4, H. 10/12, S. 164-186.<br />
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durch die Eiche) und seinem Begehren (Schlange) ausgefochten wird: 66 „Ewig ist<br />
mein Verlangen, mit meinem Willen zusammengeprallt wie eine Schlange, die die<br />
Eiche würgt und an ihr zerrt. Und niemals locker lässt.“ 67 (196) Um Sün<strong>de</strong> und ihre<br />
Überwindung geht es auch im Gedicht „Przeszłość“ (Vergangenheit, 240) 68 und <strong>de</strong>m<br />
parabolischen Prosastück „Sprzymierzeniec“ (Der Verbün<strong>de</strong>te, 194). 69 In<br />
„Przeszłość“ wird suggeriert, dass die Sün<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Vergangenheit, die sich das<br />
weibliche lyrische Ich anlastet, erotischer Natur sein könnten: „Die vergangenen Tage<br />
und die vergangenen Nächte / (...) Alle durchweint und durchküsst – / (...) Alle<br />
höhnisch, böse, unzüchtig – / (...) Alle verbrennen mir die Augen mit <strong>de</strong>r Sattheit <strong>de</strong>r<br />
nie<strong>de</strong>rträchtigen Schauer (…).“ 70 Das Textsubjekt sagt sich von <strong>de</strong>r Vergangenheit los<br />
und verkün<strong>de</strong>t seine Wendung zu einer mannhaften inneren Haltung, zur Tapferkeit.<br />
Eine Strafe <strong>de</strong>s Himmels scheint trotz<strong>de</strong>m unumgänglich: Die immer wie<strong>de</strong>r<br />
auftauchen<strong>de</strong>n Gespenster <strong>de</strong>r Vergangenheit erinnern das lyrische Ich spottend daran.<br />
Die im Polnischen etymologisch und lautlich mit ‚Männlichkeit’ (męskość)<br />
korrespondieren<strong>de</strong> ‚Tapferkeit’ (męstwo) entwickelt sich langsam zu einer<br />
motivischen Konstante <strong>de</strong>r Texte Komornickas und einem äußerst be<strong>de</strong>utsamen<br />
Element ihrer persönlichen Wertehierarchie. In <strong>de</strong>n Aphorismen <strong>de</strong>r „Księga mądrości<br />
tymczasowej“ setzt Komornicka in einer berühmt gewor<strong>de</strong>nen Passage Männlichkeit<br />
ausdrücklich mit Mut und Tapferkeit gleich: „Der männliche Charakter, also<br />
Tapferkeit, formt sich allein durch männliche Erfahrung, d.h. durch die Erfahrung <strong>de</strong>r<br />
66 Der Kampf zwischen Willen und Begehren ist auch ein führen<strong>de</strong>s Motiv <strong>de</strong>s Gedichtes „Lohengrin“<br />
(294) sowie <strong>de</strong>r Aphorismen und <strong>de</strong>r moralisieren<strong>de</strong>n Prosa aus <strong>de</strong>r Sammlung „Z księgi mądrości<br />
tymczasowej“, die <strong>de</strong>n philosophischen Diskurs nach <strong>de</strong>m Nietzscheanischen Muster realisiert. („Aus<br />
<strong>de</strong>m Buch <strong>de</strong>r vorläufigen Weisheit“, 250 ff.; „Chimera“ 1904, B. 7, H. 20/21) Das Subjekt dieser Texte<br />
stilisiert sich zu einem erleuchteten Weisen. Diese Linie wird in „Xięga poezji idyllicznej“ fortgeführt.<br />
67 Polnisch: „Wiekuiste jest pożądanie moje, zwarło się z moją wolą jak wąż dusiciel z dębem, – i targa<br />
nią. I nie rozluźni.“<br />
68 „Chimera“ 1902, B. 6, H. 18, Zyklus „Ze szlaków duszy“.<br />
69 „Chimera“ 1904, B. 7., H. 19.<br />
70 Polnisch: „Dni przeszłe i przeszłe noce, / (...) Wszystkie przełkane i przecałowane – / (...) Wszystkie<br />
szy<strong>de</strong>rcze, złe, sprośne – / (...) Wszystkie mi oczy palą nikczemnych dreszczów dosytem (…)“.<br />
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Tapferkeit...“ 71 (269) In „Sprzymierzeniec“ 72 wird die Tapferkeit <strong>de</strong>m Löwen<br />
zugeordnet, <strong>de</strong>n sich die Erzählerin als ihren ständigen Begleiter aussucht und mit<br />
starkem, zielgerichteten Willen und absoluter Aufrichtigkeit in Verbindung bringt:<br />
[Es ist] die Rechtschaffenheit eines so starken Wesens, dass es jeglicher Lüge spottet. Tapferkeit!<br />
Nicht mehr und nicht weniger war in diesen bernsteinfarbenen Pupillen. Die ganze Macht <strong>de</strong>s<br />
vollkommenen, unwi<strong>de</strong>rruflichen, unerbittlich aufrichtigen und bedingungslos zielgerichteten<br />
WILLENS! (247) 73<br />
In <strong>de</strong>r Figur <strong>de</strong>s Löwen erkennt und begrüßt die weibliche, unter diesem Sternzeichen<br />
geborene Hauptfigur dieses Prosastücks 74<br />
einen neuen Anteil ihrer eigenen<br />
Persönlichkeit. Diese unter Rückgriff auf archetypische Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt<br />
veranschaulichte Erkenntnis gewinnt das weibliche Ich, wie in vielen an<strong>de</strong>ren Texten<br />
Komornickas, während einer einsamen nächtlichen Wan<strong>de</strong>rung im dionysischen<br />
Rauschzustand. Der Löwe erscheint auf <strong>de</strong>n Ruf dieses Ichs, das auch hier nach<br />
Lebensfülle dürstet, von „schrecklicheren Nächten, Meerestiefen, Schrecken <strong>de</strong>r<br />
Wüsten, Inseln <strong>de</strong>s Feuers, von großen, übermenschlichen, von wirklichen<br />
Abenteuern“ 75 träumt:<br />
„Ein Löwe möchte ich sein! Ins tosen<strong>de</strong> Meer jagen!“, rief ich in höchster Erregung. „Wachse,<br />
Löwenmut! Willkommen, Abenteuer! – Du bist <strong>de</strong>r Wächter meines Schatzes, du bist Ganyme<strong>de</strong>s<br />
meiner Unsterblichkeit!“ (244) 76<br />
Die Figur <strong>de</strong>s Löwen wird zum Inbegriff von Willenskraft, Macht, Souveränität,<br />
königlicher Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Individuums und einer Existenz, die nicht nach einer<br />
71 Polnisch: „Męski charakter, czyli męstwo, zdo<strong>by</strong>wa się tylko przez męskie doświadczenie, czyli przez<br />
doświadczenie męstwa...“<br />
72 Kralkowska-Gątkowska (1999) hat <strong>de</strong>n Text im Hinblick auf Nietzsche-Parallelen einer <strong>de</strong>taillierten<br />
Analyse unterzogen.<br />
73 Polnisch: „(...) prawość istoty z<strong>by</strong>t silnej, <strong>by</strong> nie gardziła wszelkim kłamstwem. (...) Męstwo! nic<br />
więcej, nic mniej nie <strong>by</strong>ło w tych źrenicach bursztynowych; cała potęga całkowitej, nieodwołalnej,<br />
nieubłaganie prostej i celowej – absolutnie celowej WOLI!“<br />
74 Löwe ist auch das Sternzeichen <strong>de</strong>r Komornicka.<br />
75 Polnisch: „(...) majacząc o straszniejszych nocach, głębiach mórz, grozach pustynnych, wyspach<br />
ognistych, – o wielkich, nadludzkich, – o prawdziwych przygodach.“ (245)<br />
76 Polnisch: „Lwem chcę <strong>by</strong>ć! w huczące morza gnać!“ wołałam w uniesieniu. – „Przy<strong>by</strong>waj, Lwie<br />
odwagi! Witaj, Przygodo! – tyś klucznicą mych Sezamów, tyś Ganime<strong>de</strong>m mej nieśmiertelności!“<br />
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289<br />
Daseinsberechtigung fragt. Ihm schreibt die Protagonistin auch die Fähigkeit zu, sie in<br />
<strong>de</strong>r Zukunft von <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> fernzuhalten: „Nimm! Ich schenke dir all meine<br />
wahrhaftigen Fein<strong>de</strong>! – All meine Sün<strong>de</strong>n werfe ich dir zum Fraß vor – Friss!“ 77 (249)<br />
9.7. Komornicka, Lemański, Mickiewicz<br />
Es gibt unter <strong>de</strong>r in „Chimera“ veröffentlichten Lyrik einen Text zum Thema<br />
Liebesbeziehung, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>m Paradigma <strong>de</strong>s Kampfes zwischen Begier<strong>de</strong> und <strong>de</strong>m<br />
Verlangen nach Reinheit herausfällt. Es ist „Dumanie“ (Nachsinnen, 235 f.), 78 ein<br />
syllabotonisches, an die Lyrik <strong>de</strong>r polnischen Romantik anknüpfen<strong>de</strong>s Gedicht.<br />
Eingeleitet und been<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>r Shakespeare-Paraphrase „Sterben o<strong>de</strong>r töten? – das ist<br />
hier die Frage“, 79 wird die Zerrissenheit einer starken Frau vorgeführt, die sich in ein<br />
Liebesverhältnis zu einem ‚klammern<strong>de</strong>n’, parasitären, armseligen Wesen verstrickt<br />
hat. Das metaphorische Bild für dieses Wesen ist <strong>de</strong>r Efeu (bluszcz), auch im<br />
Polnischen ein Maskulinum. Der Efeu umrankt die Frau ganz fest, als ob diese eine<br />
Marmorsäule wäre. Er sieht in ihr die „Sonne seines Lebens“ (słońce żywota). Ein<br />
an<strong>de</strong>res, <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Frau verpflichtetes Bild für das Beziehungsdrama ist:<br />
schlanke Kiefer, die von Moos befallen ist. So hat die Frau, wie die Bil<strong>de</strong>r nahe legen,<br />
das Gefühl, gefesselt zu sein und in <strong>de</strong>r „tödlichen Umarmung <strong>de</strong>r Langeweile“ 80<br />
sterben zu müssen. Schuldgefühle und Mitleid hin<strong>de</strong>rn sie jedoch daran, sich zu<br />
befreien und die Pflanze in Fetzen zu reißen, <strong>de</strong>nn dies wäre ein Verbrechen. Der<br />
Handlungsspielraum <strong>de</strong>r weiblichen Figur bewegt sich zwischen <strong>de</strong>r radikal gestellten<br />
Alternative – <strong>de</strong>m eigenen o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Tod. Daran, dass das Dilemma nicht zu<br />
77 Polnisch: „Masz! daję ci wszystkie me prawdziwe wrogi! – Rzucam ci na pastwę – pożeraj – wszystkie<br />
moje grzechy!“<br />
78 „Chimera“ 1902, B. 6, H. 18.<br />
79 Polnisch: „Umrzeć czy zabić? oto pytanie.“ (235)<br />
80 Polnisch: „W uścisku nudy skonać szkielecim.“ (235)<br />
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lösen ist, lässt die Wie<strong>de</strong>rholung <strong>de</strong>r Eingangsfrage in <strong>de</strong>r letzten Gedichtzeile nicht<br />
zweifeln:<br />
Efeu umrankte <strong>de</strong>s Nachts die schlafen<strong>de</strong> Frau.<br />
Im Glauben, er habe eine Marmorsäule gefun<strong>de</strong>n.<br />
Morgens wer<strong>de</strong>n ihre Füße im Lauf,<br />
Die törichte Pflanze zertreten, die sie umwun<strong>de</strong>n.<br />
Die Frau erwacht, fährt auf, die Fesseln spürend –<br />
Der erschrockene Efeu ergreift ihre Hän<strong>de</strong>,<br />
Und sie fragt sich, halb erhoben, in Qualen,<br />
Sterben o<strong>de</strong>r töten?... 81<br />
An<strong>de</strong>rs als im Zyklus „Czarne płomienie“ kann sich hier das Begehren auf Seiten <strong>de</strong>r<br />
Frau gar nicht erst einstellen, da man nichts begehren kann, was sich im ersticken<strong>de</strong>n<br />
Übermaß selbst darbietet. In diesem bemerkenswerten Gedicht wird die<br />
Selbstaufopferung und Selbstaufgabe <strong>de</strong>r Frau in einer Liebesbeziehung in Anschluss<br />
an Nietzsche in Frage gestellt. Die Frau wird mittels ‚phallischer’ Bildlichkeit als<br />
starke, souveräne, lebendige, aber auch zu moralischer Reflexion fähige Persönlichkeit<br />
mo<strong>de</strong>lliert, <strong>de</strong>r Geliebte aber, konträr zum gängigen Geschlechterdiskurs, mit <strong>de</strong>r<br />
Naturwelt in Verbindung gebracht und als schwach, ängstlich, armselig, heteronom,<br />
unfähig zum Denken in Szene gesetzt (erbärmliches Wesen, armes Ding, beben<strong>de</strong><br />
Seele, törichte Kletterpflanze). 82<br />
Das Gedicht scheint in einen polemischen Dialog mit zwei Texten männlicher<br />
Autoren einzutreten – mit <strong>de</strong>m Sonett „Do…“ (An…) von Adam Mickiewicz (1972,<br />
202) und mit <strong>de</strong>r Fabel „Lilia wodna“ (Wasserlilie) von Komornickas Ehemann Jan<br />
Lemański. In <strong>de</strong>r Forschung wur<strong>de</strong>n die starken motivischen Äquivalenzen zwischen<br />
diesen Texten noch nicht diskutiert. In Mickiewiczs Liebesgedicht steht <strong>de</strong>r Efeu,<br />
81 Polnisch: „Żywą kobietę bluszcz oplótł nocą, / Myśląc, że znalazł marmur kolumny. / Rankiem jej<br />
stopy, biegnąc, zgruchocą / Słabej rośliny pnącz bezrozumny. // Budzi się – zrywa, czując spętanie – /<br />
Bluszcz przerażony chwyta jej ręce, / A ona pyta, półleżąc, w męce: / Umrzeć czy zabić?...“<br />
82 Polnisch: „marne trwanie“, „nieboga“, „dusza drgająca“, „pnącz bezrozumny“. Der Efeu ist zwar<br />
geschlechtlich nicht ein<strong>de</strong>utig markiert, es gibt aber Hinweise darauf, dass mit diesem Bild ein<br />
menschliches Wesen, höchstwahrscheinlich ein männlicher Geliebter konnotiert wird („bluszcz<br />
przerażony chwyta jej ręce“).<br />
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gegenläufig zum Bild Komornickas, für die Frau. Das starke, autonome Subjekt, das<br />
gehen und frei sein will, ist männlich. Bei aller Symmetrie <strong>de</strong>r entworfenen Visionen:<br />
In Mickiewiczs Gedicht fehlt die starke negative Besetzung <strong>de</strong>r Schwäche und<br />
Unselbstständigkeit <strong>de</strong>r weiblichen ‚Efeu-Person’. In Bezug auf eine Frau verstehen<br />
sich diese Eigenschaften quasi von selbst. Es kann <strong>de</strong>r Frau, die vom lyrischen Ich als<br />
‚Kind’ angesprochen wird, nicht übel genommen wer<strong>de</strong>n, dass sie sich an ein<br />
männliches Subjekt anhängen möchte. Der düstere, an „Friedhöfe und Särge“<br />
verlorene, geheimnisvolle romantische Wan<strong>de</strong>rer will ihr die Qual <strong>de</strong>s<br />
Zusammenlebens mit einem Vagabun<strong>de</strong>n ersparen: Er weist ihr ihren Platz in einer<br />
geselligen Run<strong>de</strong> an <strong>de</strong>r Festtafel zu. Dabei erlei<strong>de</strong>t das männliche Ich keine<br />
moralischen Qualen, <strong>de</strong>nn es will <strong>de</strong>m ‚Kind’ nur Gutes:<br />
Du bist ein Kind! Mich verbrannten lei<strong>de</strong>nschaftliche Schmerzen;<br />
Du sollst glücklich sein, Dein Platz ist im Kreise <strong>de</strong>r Gäste.<br />
Mein Platz ist, wo <strong>de</strong>r Vergangenheiten Friedhöfe und Särge.<br />
Du junger Efeu, umwickle die grünen Pappeln,<br />
überlass es <strong>de</strong>n Dornen, die Grabsäulen umzuranken. 83<br />
Übereinstimmend mit <strong>de</strong>n Meisterdiskursen <strong>de</strong>r abendländischen Kultur ist es hier die<br />
Frau, die als Naturelement fungiert, und <strong>de</strong>r Mann, <strong>de</strong>r mit hoher, an die Antike<br />
anknüpfen<strong>de</strong>r Kultur (Säule) in Beziehung gebracht wird. Bei<strong>de</strong> Metaphern –<br />
‚bluszcz’ (Efeu) und ‚kolumna’ (Säule) sind in gegenläufiger semantischer Besetzung<br />
in Komornickas „Dumanie“ präsent. Mit <strong>de</strong>r Säulenmetaphorik kann sich jedoch die<br />
betont als ‚lebendig’ bezeichnete Geliebte aus Komornickas Gedicht im Gegensatz<br />
zum Mickiewicz’schen Hel<strong>de</strong>n nicht restlos i<strong>de</strong>ntifizieren; ebenso wenig wie sie<br />
<strong>de</strong>ssen Lust teilt, die Nähe von Friedhöfen und Särgen zu suchen.<br />
Unter <strong>de</strong>n 1902, also im selben Jahr wie Komornickas Gedicht „Dumanie“,<br />
veröffentlichten Fabeln („Bajki“) von Jan Lemański (1973, 33-37) befin<strong>de</strong>t sich eine,<br />
83 Mickiewicz 1972, 202. Polnisch: „Tyś dziecko, mnie namiętne przepaliły bóle; / Tyś szczęśliwa, twe<br />
miejsce w biesiadników kole. // Moje, gdzie są przeszłości smętarze i trumny. / Młody bluszczu, zielone<br />
obwijaj topole, / zostaw cierniom grobowe otaczać kolumny.“<br />
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die sich als Dialog sowohl mit Komornickas „Bluszcz“ und ihren an<strong>de</strong>ren lyrischen<br />
und narrativen ‚Beziehungs’-Texten als auch mit <strong>de</strong>m ‚Leben’, d.h. mit <strong>de</strong>n realen<br />
Erfahrungen <strong>de</strong>s Paares betrachten lässt. Es ist „Lilia wodna“. Die Frage, ob es<br />
Komornicka o<strong>de</strong>r Lemański ist, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>s jeweils an<strong>de</strong>ren reagiert, und ob<br />
sich <strong>de</strong>r Dialog überhaupt als eine bewusste Bezugnahme <strong>de</strong>nken lässt, muss<br />
allerdings offen bleiben. In seiner Fabel entwirft Lemański das Bild einer Wasserlilie,<br />
die nicht für immer im Sumpf verfaulen möchte (vgl. „Drugie życie“!) und davon<br />
träumt, sich frei wie eine Libelle in die Lüfte zu erheben:<br />
„Ach, warum habe ich keine Flügel!“ –<br />
klagt die Lilie. – „In die Lüfte möcht ich mich erheben...<br />
Warum verwickelt mich das unglückliche Geschick<br />
mit diesem Sumpf?“ 84<br />
Ein Krebs eilt ihr zu Hilfe und schnei<strong>de</strong>t sie vom „heimatlichen“ Ast ab. Es ist<br />
vorauszusehen: Die Anmaßung, als Lilie fliegen zu wollen, kann nicht gut gehen. Eine<br />
moralisieren<strong>de</strong> Stimme schil<strong>de</strong>rt erschrecken<strong>de</strong> Konsequenzen dieses dreisten<br />
Begehrens. Die Lilie wird vom Strom weggerissen, von Booten und Ru<strong>de</strong>rn verletzt,<br />
so dass „ihr weißes Blatt gebrochen und befleckt wird“. (Lemański 1973, 37) Die<br />
Moral <strong>de</strong>r Geschichte, die sowohl gegen die Botschaft von Komornickas „Dumanie“<br />
als auch von „Drugie życie“ zu polemisieren scheint, lautet:<br />
Ruhelos, ohne Hafen<br />
die heimatlose Blume.<br />
Sie welkte bald vor Gram,<br />
so ist das nun mal, werte Dame. 85<br />
Die von <strong>de</strong>r etwas scha<strong>de</strong>nfrohen, aber auch verbitterten Stimme <strong>de</strong>s Erzählers<br />
formulierte Belehrung ist an die Blume gerichtet. Als ‚Subscriptio’ <strong>de</strong>s Lilienbil<strong>de</strong>s<br />
lässt sich eine Frau (‚pani’ in <strong>de</strong>r letzten Strophe!) <strong>de</strong>nken, die die vorgegebenen<br />
84 Lemański 1973, 36. Polnisch: „Ach, dlaczegom nie skrzydlata?“ – / Biada Lilia. – Wzlecieć pragnę… /<br />
„Czemu, czemu mnie z tym bagnem / Nieżyczliwa dola splata?“<br />
85 Polnisch: „Ni spoczynku, ni przystani / Nie mający kwiat tułaczy / Rychło, rychło zwiądł z rozpaczy, /<br />
Tak to <strong>by</strong>wa, proszę pani.“<br />
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Bahnen einer weiblichen Existenz überschreiten möchte. Da sie, um <strong>de</strong>n Preis <strong>de</strong>r<br />
Befreiung von familiären Bindungen, zu hoch hinaus will, muss sie bestraft wer<strong>de</strong>n.<br />
9.8. Von Gott entführt<br />
Bereits im Zyklus „Czarne płomienie“ tauchen Bil<strong>de</strong>r auf, die auf die Transponierung<br />
<strong>de</strong>s erotischen Potentials <strong>de</strong>s Textsubjekts auf die mystische Liebe, auf die Beziehung<br />
zwischen Ich und Gott hin<strong>de</strong>uten, so z.B. in <strong>de</strong>r lyrischen Prosa „Idylla“ (Idylle,<br />
192). 86 Unter <strong>de</strong>m Gesichtspunkt <strong>de</strong>r Geschlechtersymbolisierung erscheint dieser<br />
Text verwirrend und kaum <strong>de</strong>chiffrierbar. Zwei Wesen fühlen sich magisch<br />
voneinan<strong>de</strong>r angezogen: die in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> fest verwurzelte Pappel (topola) und die am<br />
Himmel schweben<strong>de</strong> Wolke (obłok). Im Polnischen haben sie verschie<strong>de</strong>ne<br />
grammatische Geschlechter, die Pappel ist <strong>de</strong>mnach feminin, die Wolke maskulin.<br />
Von Anfang an hat ihre Begegnung einen erotischen Charakter. Bereits im ersten Satz<br />
gibt sich <strong>de</strong>r Text als Liebesgeschichte aus: „Die Wolke verliebte sich in eine<br />
Pappel“. 87<br />
Einerseits verweist die Pappel nicht nur auf grammatischer Ebene auf<br />
Weiblichkeit – vor allem durch ihr Verwurzeltsein in <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, Verhaftetsein im<br />
Irdischen und ihre Nähe zum Traum und zum Unbewussten. An<strong>de</strong>rerseits wird ihr<br />
‚männliches’ Hinausragen in <strong>de</strong>n Himmel ebenfalls stark betont; die Erzählstimme<br />
vergleicht sie mit einer Säule und einem gotischen Turm. Auch die Wolke kann nicht<br />
ein<strong>de</strong>utig einem Geschlecht zugeordnet wer<strong>de</strong>n. Denn einerseits steht sie für das<br />
männlich besetzte spirituelle Prinzip, für Freiheit und für <strong>de</strong>n Geist. Sie hat keine<br />
materielle Substanz, entsteht je<strong>de</strong>n Tag neu und löst sich, vom Wind getrieben, je<strong>de</strong>n<br />
Tag neu auf. An<strong>de</strong>rerseits lässt sich diese Konturlosigkeit und Verän<strong>de</strong>rbarkeit mit<br />
Weiblichkeitsbil<strong>de</strong>rn assoziieren. Die fehlen<strong>de</strong> Ein<strong>de</strong>utigkeit auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r<br />
86 „Chimera“ 1901, B. 4, H. 10-12.<br />
87 Polnisch: „Kochał się obłok w topoli.“<br />
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Geschlechtersymbolisierung kann als ein Indiz dafür angesehen wer<strong>de</strong>n, dass das<br />
Gedicht über das Schema einer zwischenmenschlichen (heterosexuellen)<br />
Liebesbeziehung hinausgeht und eine an<strong>de</strong>re Art von Liebe und Begehren in Szene<br />
setzt. 88 Denn auch in diesem Text, wie in <strong>de</strong>n meisten aus <strong>de</strong>m Zyklus „Czarne<br />
płomienie“, geht es um das Begehren. Und auch dieses Prosastück en<strong>de</strong>t, wie das<br />
bereits analysierte „Miłość“, aber auch „Czemu“, mit einer Vision <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s aus <strong>de</strong>r<br />
Hand <strong>de</strong>s geliebten Wesens. In diesem Fall han<strong>de</strong>lt es sich jedoch um eine Beziehung<br />
zwischen Mensch (Pappel) und undogmatisch verstan<strong>de</strong>ner Transzen<strong>de</strong>nz (Wolke, als<br />
nubes tenebrosa interpretierbar): „Idylla“ verschränkt aufs Engste <strong>de</strong>n erotischen mit<br />
<strong>de</strong>m mystischen Diskurs. Das Begehren <strong>de</strong>r Pappel ist ganz auf <strong>de</strong>n Himmel<br />
ausgerichtet, sie „streckt sich“ zu ihm, ist zwischen <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>, die sie „nährt“ und<br />
„erstickt“ (192), und <strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>r Transzen<strong>de</strong>nz gespannt und wird damit zum<br />
Inbegriff <strong>de</strong>r spirituellen Sehnsucht. Im Mittelpunkt <strong>de</strong>r Narration steht ihre Angst,<br />
sich vom Irdischen loszulösen, um in <strong>de</strong>n Himmel zu steigen, <strong>de</strong>nn dies wür<strong>de</strong><br />
zunächst einmal ihren Tod erfor<strong>de</strong>rn. Die Wolke ermutigt und verführt sie dazu. In<br />
einer das Stück abschließen<strong>de</strong>n, furchterfüllten Imaginierung antizipiert die Pappel<br />
ihre Entführung durch die Wolke, von <strong>de</strong>r sie mit Gewalt aus <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> gerissen und<br />
mit sich gezogen wird. Den symbolischen, an sakrale Metaphorik anknüpfen<strong>de</strong>n<br />
Hintergrund für die Vision dieses mystischen To<strong>de</strong>s liefern dafür (wie in „W górach“)<br />
Bil<strong>de</strong>r von Blitz und Gewitter:<br />
Weil (...) die Nacht <strong>de</strong>s Gewitters kommen wird – wenn du <strong>de</strong>inen Blitz nach mir schicken –<br />
wenn <strong>de</strong>r Wind mir die Füße vom Bo<strong>de</strong>n wegreißen, und Blätter wie Fe<strong>de</strong>rn auflösen – und dir<br />
nach in die Welt entführen wird. (194) 89<br />
Im Kontext von „Idylla“ nehmen auch die an<strong>de</strong>ren Texte <strong>de</strong>s Zyklus einen etwas<br />
ambivalenteren Charakter an. Die Parallelen ihrer Schlussszenen weisen auf <strong>de</strong>n<br />
88 Sie lässt sich auch als Dekonstruktion vereinfachter Geschlechtersemiotik interpretieren.<br />
89 Polnisch: „Bo (...) przyjdzie noc burzy – gdy wyślesz piorun swój po mnie – gdy wiatr twój stopy me<br />
wyrwie z ziemi, i liście rozpuści jak pióra – i porwie za tobą w świat.“<br />
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immer wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n Versuch hin, Liebe und Erotik zu transzendieren, von <strong>de</strong>r<br />
körperlichen Komponente zu befreien.<br />
Auch das drei Jahre früher publizierte Prosastück „W górach“ 90 (In <strong>de</strong>n Bergen, 153<br />
ff.) zeigt ein vergleichbares Bild <strong>de</strong>s mystischen To<strong>de</strong>s – symbolisiert ebenfalls durch<br />
einen tödlichen Blitz – und <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt. Der Name <strong>de</strong>r Hauptfigur ‚Agni’ 91<br />
knüpft an ein <strong>de</strong>r indischen Philosophie (<strong>de</strong>m Vedismus und Brahmanismus)<br />
entnommenes Konzept an. Agni ist ein indischer Gott, <strong>de</strong>r als Feuer und Lebenshauch<br />
zugleich angesehen wird, <strong>de</strong>r Dämonen verbrennt und reinigt, <strong>de</strong>m man die Kraft <strong>de</strong>r<br />
Heilung und <strong>de</strong>r Tilgung von Sün<strong>de</strong>n zuschrieb. 92<br />
Die Sün<strong>de</strong> und <strong>de</strong>r unbändige<br />
Wunsch nach Strafe und tiefster Erneuerung bil<strong>de</strong>n das semantische Zentrum dieses<br />
Textes. Agni verirrt sich in <strong>de</strong>n Bergen und zieht sich in eine Höhle <strong>de</strong>r<br />
Affenmenschen zurück. Die Höhle kann als Metapher für Unbewusstes und<br />
Animalisches gelesen wer<strong>de</strong>n. Agni hält dort eine Rückschau auf ihr Leben, die sich<br />
vor allem als Sün<strong>de</strong>nschau erweist, und fleht die Transzen<strong>de</strong>nz um Strafe, ewige<br />
Verdammung und Tod an: „‚Und nun bin ich zum To<strong>de</strong> verurteilt’, dachte sie<br />
erstarrend. ‚Zum To<strong>de</strong>! (…) Und zur ewigen Verdammnis. Weil dieses Leben eine<br />
Sün<strong>de</strong> war.’“ 93 (154) Die „begangenen und nicht begangenen Verbrechen“ wer<strong>de</strong>n nur<br />
an<strong>de</strong>utungsweise konkretisiert, und zwar als „Schlangen <strong>de</strong>r Ehrgeizes und <strong>de</strong>r<br />
Rache“, als „ihre wil<strong>de</strong> und hassen<strong>de</strong>, Tod und Zerstörung säen<strong>de</strong> Natur.“ 94<br />
Ausmaß <strong>de</strong>s begangenen Bösen erscheint gigantisch: In <strong>de</strong>n Erinnerungen „spukt die<br />
Hölle“. Wie in „Biesy“ richtet sich <strong>de</strong>r Fokus <strong>de</strong>r Betrachtung auch auf das von <strong>de</strong>r<br />
90 „Życie“ 1898, Nr 7.<br />
91 Denselben Namen gibt Olga Tokarczuk (1998) zwei ihrer Figuren in ihrem zeitgenössischen Roman<br />
„Dom dzienny, dom nocny“ (Taghaus, Nachthaus).<br />
92 Vgl. Bockenheim/Bednarek/Jastrzębski 1993, 8.<br />
93 Polnisch: „Otom skazana na śmierć – myślała, drętwiejąc. Na śmierć!... (…) I na wiekuiste potępienie.<br />
Bo to życie <strong>by</strong>ło grzechem.“<br />
94 Polnisch: „węże ambicji i zemsty“, „jej dzika, nienawidząca, śmierć i zniszczenia siejąca natura“. Auch<br />
das „Biesy“-Subjekt ist von <strong>de</strong>m Gedanken besessen, nur <strong>de</strong>struktive Kräfte zu besitzen, nur vernichten,<br />
nicht aber lieben zu können.<br />
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‚sündhaften’ Figur selbst erlittene Leid, das ihr von <strong>de</strong>r ganzen Welt angetan wor<strong>de</strong>n<br />
ist: 95 „Ich vernichtete – weil sie mich vernichteten! Ich hasste, weil mich <strong>de</strong>r Hass<br />
nährte... Und ich verzehrte mich selbst – an<strong>de</strong>re verschlingend! Ich – Agni! Ich, Feuer<br />
<strong>de</strong>s Himmels, Schlangen in <strong>de</strong>n Tümpeln <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> brütend!“ 96 (155) Agni hat, so ihre<br />
Erkenntnis, ihre Göttlichkeit geschmälert. Auf <strong>de</strong>m Höhepunkt ihrer mystischen<br />
Ekstase 97 hört sie die transzen<strong>de</strong>nte Stimme, <strong>de</strong>n Wind (Hurrikan), <strong>de</strong>r sie zu sich<br />
holen will, so wie in „Idylla“ die Wolke ihre Pappel:<br />
Ich bin <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r da ist und <strong>de</strong>r dich liebt in alle Ewigkeit (...). Ich bin <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r für dich<br />
die Sternenschar erschuf (...). Ich bin <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>n du mit <strong>de</strong>m Verlangen eines menschlichen<br />
Daseins verraten hast.<br />
Für einen Moment ließ ich dich allein – für die Fortdauer <strong>de</strong>r irdischen Pein. Heute komme ich,<br />
dich zu holen... (...) Du gehörtest mir unaufhörlich (...), auch als du in <strong>de</strong>r Umarmung irdischer<br />
Liebe bebtest... (…)<br />
Ich öffnete dir (…) die Augen für (...) die Nichtigkeit <strong>de</strong>iner menschlichen Seele und für die<br />
Nichtigkeit <strong>de</strong>r Menschen, die du lieben wolltest...<br />
Das vorirdische Dasein in meinen Armen vereitelte dir die Er<strong>de</strong>... Meine Liebe trug dir<br />
Verachtung für die menschliche Liebe zu... (156) 98<br />
In <strong>de</strong>r Vorstellungswelt <strong>de</strong>r indischen Religionslehren (z.B. in <strong>de</strong>n „Upanischa<strong>de</strong>n“)<br />
fungiert <strong>de</strong>r Wind als Weltgeist, als das absolute kosmische Prinzip und <strong>de</strong>r Urgrund<br />
allen Seins, das umfassen<strong>de</strong> All-Eine: „Nur in ekstatischer Schau lässt es sich<br />
teilweise erschließen, und hier nur wenigen Mystikern“. 99 (Bellinger 1999, 61) Er<br />
erinnert Agni an seine Wesensgleichheit mit ihr und verführt sie in einer stark<br />
95 Mit „Biesy“ ist auch das Motiv <strong>de</strong>s unerfüllten Begehrens („kościotrupy zagłodzonych żądz“, 155)<br />
vergleichbar.<br />
96 Polnisch: „Niszczyłam – bo mnie niszczyli! Nienawidziłam, bo mnie karmiła nienawiść... I trawiłam<br />
się sama – pożerając drugich! Ja – Agni! Ja, ogień Nieba, lęgnący węże w kałużach ziemi!“<br />
97 Knaurs Großer Religionsführer, 61.<br />
98 Polnisch: „Jam jest, który jest i który cię ukochał w wieczności (...). Jam jest, który dla ciebie stworzył<br />
plejady gwiazd (...). Jam jest, którego zdradziłaś żądzą ludzkiego istnienia. / Na mgnienie zostawiłem cię<br />
samą – na długość trwania ludzkiej katuszy. Dziś przychodzę po ciebie... (...) Moją <strong>by</strong>łaś nieustannie (...)<br />
moją, gdyś drżała w objęciu ziemskiej miłości... (...) / Ja ci (...) otwierałem oczy na (...) nicość twojej<br />
ludzkiej duszy i na nicość ludzi, których chciałaś kochać... / Przedziemski <strong>by</strong>t w mych ramionach<br />
unicestwił ci ziemię... miłość moja ci niosła wzgardę dla ludzkiej miłości...“<br />
99 Was sich in einer solchen Ekstase vor allem erschließen kann, ist die Einheit und Wesensgleichheit <strong>de</strong>s<br />
Urprinzips <strong>de</strong>s Makrokosmos mit <strong>de</strong>m ‚atman’, <strong>de</strong>m wahren Selbst <strong>de</strong>s Menschen als Mikrokosmos.<br />
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erotisierten Sprache zur Verschmelzung mit ihm; er verspricht, ihre Wun<strong>de</strong>n zu<br />
heilen, ihre Sün<strong>de</strong>n hinwegzufegen:<br />
Komm zu mir, du ewiges Feuer! Oh, Agni! Du Geist meiner Wogen! Glut meiner Wolken! (...)<br />
Ich entführe dich dorthin, wo Neptun seinen weitesten Kreis zieht... (...) Deine besu<strong>de</strong>lte,<br />
erschöpfte Seele, getötete Seele wer<strong>de</strong> ich erneuern... Mit meinen Lippen <strong>de</strong>n Schmerz aus<br />
<strong>de</strong>inem Mund saugen... <strong>de</strong>iner Liebe die Unermesslichkeit schenken. (...) In <strong>de</strong>r Woge <strong>de</strong>s<br />
Allseins <strong>de</strong>inen Leib ba<strong>de</strong>n... in uralten Quellen <strong>de</strong>ine Wun<strong>de</strong>n heilen – <strong>de</strong>ine Verbrechen<br />
auslöschen... (157) 100<br />
Die Verführung ist erfolgreich. Das Stück en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s mystischen To<strong>de</strong>s.<br />
Ein Blitz trifft die Verurteilte (skazana) mitten in die Brust, die Höhle stürzt auf <strong>de</strong>n<br />
sündhaften Körper von Agni, zerstört ihn. Nach einer durch Sternchen markierten<br />
Leerstelle im Text wird die Wie<strong>de</strong>rgeburt ange<strong>de</strong>utet: „Durch <strong>de</strong>n Blitz wie<strong>de</strong>rgeboren<br />
(...) schwebt sie durch die Unermesslichkeit auf Flügeln <strong>de</strong>s Hurrikans...“ 101 (158)<br />
9.9. ‚Komplett aussterben’<br />
Eine erschüttern<strong>de</strong> Steigerung <strong>de</strong>r Intensität erfährt das Motiv <strong>de</strong>r mystischen<br />
Verwandlung in <strong>de</strong>m 1905 – also zwei Jahre vor Komornickas Mannwerdung – in<br />
„Chimera“ publizierten Gedichtzyklus „Ze szlaków ducha“ (Auf <strong>de</strong>n Pfa<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s<br />
Geistes, 276-299), 102<br />
insbeson<strong>de</strong>re in „Z chłodów“ (Aus <strong>de</strong>r Kälte, 276) und<br />
„Pragnienie“ (Verlangen, 296). In bei<strong>de</strong>n Gedichten entrollt ein lyrisches Ich eine<br />
erschrecken<strong>de</strong> Selbstvernichtungsvision, begleitet vom Wunsch nach einem<br />
I<strong>de</strong>ntitätswechsel. Aus <strong>de</strong>m Gefühl einer bis ins Knochenmark beißen<strong>de</strong>n Kälte heraus<br />
(dies wird zweimal am Strophenen<strong>de</strong> wie<strong>de</strong>rholt) äußert das lyrische Ich von „ Z<br />
100 Polnisch: „Chodź do mnie, o ogniu wiekuisty! O, Agni! Duchu moich fal! Żarze moich chmur! (...)<br />
Porwę cię... gdzie Neptun zatacza swój najdalszy krąg... (...) Zbrukaną duszę, zmęczoną, zabitą duszę<br />
odnowię w tobie... Twą boleść wypiję ustami z twych ust... miłości twej oddam Bezmiary. (...) W<br />
wszech<strong>by</strong>tu fali skąpię twoje ciało... w przedwiecznych zdrojach zgoję rany twoje – zmażę zbrodnie<br />
twoje...“<br />
101 Polnisch: „Odrodzona piorunem (...) płynie po Bezbrzeżach na skrzydłach Huraganu...“ Ein so<br />
optimistisches En<strong>de</strong> wird in „Biesy“ nicht mehr möglich sein.<br />
102 „Chimera“ 1905, B. 9, H. 25.<br />
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chłodów“ in sehr emotionalen Ausrufesätzen sein unbändiges Verlangen danach, zu<br />
Asche zu wer<strong>de</strong>n: „Ins Feuer treten! Sich von Schlangen <strong>de</strong>s Feuers umschlingen<br />
lassen! Im Kreis lo<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>r Schwerter tanzen!“ 103 (276) Die Feuerphantasien <strong>de</strong>s<br />
lyrischen Ich wer<strong>de</strong>n mit Schlangen- und Schwertmetaphorik versinnbildlicht und<br />
damit auf das Äußerste dramatisiert. Mit dieser Vision for<strong>de</strong>rt das Ich quasi <strong>de</strong>n<br />
größtmöglichen Schmerz. Auf <strong>de</strong>m Höhepunkt <strong>de</strong>s Spannungsbogens taucht das<br />
Phönix-Symbol als Hoffnung auf Wie<strong>de</strong>rgeburt auf: „(...) vielleicht schießt dann aus<br />
heißer Asche / <strong>de</strong>r Phönix-Funke <strong>de</strong>s Lebens hoch ins Himmelszelt.“ 104 (276) Nach<br />
<strong>de</strong>r Visualisierung dieser Erwartung wer<strong>de</strong>n in biblischer Stilisierung, in wie<strong>de</strong>rholten<br />
Imperativkonstruktionen Naturgewalten (Sonne, Blitz, Wind) und spirituelle Mächte<br />
(Liebesgott, Erzengel, Sehnsucht) mehrfach nachdrücklich dazu aufgefor<strong>de</strong>rt, das<br />
Subjekt zu vernichten, um es dann zu neuem, von einer Quelle symbolisierten Leben<br />
zu erwecken. 105 Die abschließen<strong>de</strong>n Strophen <strong>de</strong>s Dreizehnsilblers entwerfen die vom<br />
lyrischen Ich ersehnten Bil<strong>de</strong>r seines Ausmerzens. Das Ich will sich von schneeweißen<br />
Rossen zertrampeln und bei lebendigem Leibe verbrennen lassen. Der Körper wird<br />
nicht im Geringsten betrauert, <strong>de</strong>nn es han<strong>de</strong>lt sich um die „sterben<strong>de</strong> Armseligkeit“<br />
(mrąca nędza). In <strong>de</strong>r letzten Strophe setzt das lyrische Ich in einer emphatischen<br />
Anrufung in Übereinstimmung mit <strong>de</strong>m mystischen Diskurs Feuer, Leben und Tod<br />
gleich: „Oh, Flamme! Oh, Tod! Oh, Leben!“ 106 (277)<br />
Noch mehr Bil<strong>de</strong>r mystischer Provenienz für das Begehren <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s bietet<br />
„Pragnienie“. Vier unterschiedliche To<strong>de</strong>sarten in unterschiedlichen Elementen<br />
visiert das lyrische Ich in <strong>de</strong>n ersten vier Strophen an. In je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Strophen wird<br />
„pragnę“ (ich verlange) wie<strong>de</strong>rholt. Wie ein Taucher will das lyrische Ich im<br />
Meeresgrund versinken, wie ein Korn in die „schwarze Brust <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>“ eintauchen,<br />
103 Polnisch: „W ogień wejść!“ Płomienia okręcić się wężem! W płomiennych mieczów kole tańczyć!“.<br />
104 Polnisch: „(...) może wtedy, z gorących popiołów, / Feniksowa w strop nieba strzeli iskra życia.“<br />
105 Es tauchen die uns aus „Idylla“ und „W górach“ bereits bekannten Bil<strong>de</strong>r für spirituelle ‚Zündung’<br />
auf. Das Subjekt sieht sich selbst u.a. als eine ausgetrocknete Pappel, die vom Blitz getroffen wer<strong>de</strong>n soll.<br />
106 Polnisch: „O Płomieniu! O śmierci! O życie!“<br />
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wie <strong>de</strong>r Dunst in <strong>de</strong>n Himmel steigen und sich dort auflösen, wie das Erz<br />
„hinschmelzen, verbrennen, verkohlen, untergehen“ 107 und zu Asche wer<strong>de</strong>n, um dann<br />
– auch hier – als Phönix die Flügel auszubreiten. Die Grün<strong>de</strong> dieses Verlangens<br />
wer<strong>de</strong>n nur an einer leicht zu übersehen<strong>de</strong>n Textstelle subtil ange<strong>de</strong>utet: Das lyrische<br />
Ich ist „gepeinigt vom Schatz eines stummen Geheimnisses“, 108 es muss „das<br />
Sonnenauge und die Menschenblicke fliehen“. 109 Diese metaphorische Visualisierung<br />
<strong>de</strong>r vier To<strong>de</strong>sarten und <strong>de</strong>r Auferstehung als Phönix bzw. als Funke, Regenbogen,<br />
Tau wird in <strong>de</strong>r vorletzten Strophe um noch eine weitere Stufe dramatisiert:<br />
Ich will aus <strong>de</strong>m Weltgedächtnis so restlos<br />
schwin<strong>de</strong>n, dass von meinem Namen keine Spur mehr bleibt –<br />
Dass mich niemand am alten Mal erkennt,<br />
Wenn ich das Land vom Deck meiner Flotte grüßen wür<strong>de</strong>.<br />
Entfliehen, verschwin<strong>de</strong>n, vergehen – wie <strong>de</strong>r Taucher, das Erz, <strong>de</strong>r Nebel, das Korn;<br />
Verwandlung suchen im Meer, im Feuer, in <strong>de</strong>n Wolken, <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>,<br />
Verwan<strong>de</strong>lt zurückkehren in die Grabesstille meines Hauses,<br />
Von <strong>de</strong>n bestürzten Gesichtern <strong>de</strong>n Zauber mit <strong>de</strong>n Lippen küssen - - - (296) 110<br />
Das Ich wird nicht mü<strong>de</strong>, Äquivalente <strong>de</strong>r Selbstauslöschung und die dazu gehörigen<br />
Metaphern aneinan<strong>de</strong>r zu reihen: fliehen, verschwin<strong>de</strong>n, vergehen. Es gibt aber auch<br />
zu verstehen, dass es hier um etwas mehr als eine vertrauliche Angelegenheit<br />
zwischen Mensch und Gott geht. In die Metamorphosenproblematik wird auch die<br />
Welt mit einbezogen. Das Ich will aus <strong>de</strong>m Weltgedächtnis „restlos verschwin<strong>de</strong>n“<br />
bzw. – wörtlich übersetzt – „komplett aussterben“ (doszczętnie wymrzeć), <strong>de</strong>n alten<br />
107 Polnisch: „Pragnę się stopić, spalić, zwęglić, zginąć –“. (296)<br />
108 Polnisch: „Dręczone skarbem niemej tajemnicy“. (296) Von einem solchen Geheimnis ist auch im<br />
gleichnamigen Gedicht „Tajemnica“ aus <strong>de</strong>m Zyklus „Czarne płomienie“ die Re<strong>de</strong>. (207) Auch hier<br />
befin<strong>de</strong>t sich das Ich in einem Reifungsprozess (existenzielle Entscheidungsfindung) und schirmt sich<br />
von <strong>de</strong>r menschlichen Welt, von sozialen Beziehungen ab, sucht die Nähe zur Natur. Das <strong>de</strong>n Text<br />
abschließen<strong>de</strong> Bild <strong>de</strong>s meditieren<strong>de</strong>n, wie eine Schlange im Gras liegen<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>n Natur- und<br />
spirituellen Kräften verschmelzen<strong>de</strong>n Ich ist für diese Lyrik konstitutiv.<br />
109 Polnisch: „ujść oku słońca i ludzkiej źrenicy“.<br />
110 Polnisch: „Pragnę z pamięci świata tak doszczętnie / Wymrzeć, <strong>by</strong> z nazwy nie zostało śladu – / By<br />
mnie nie poznał nikt po dawnym piętnie, / Gdy ląd pozdrowię z floty mej pokładu. // Chcę uciec, zniknąć,<br />
zginąć – jak nurek, ruda, mgła, ziarno; / Przeistoczenia szukać w morzu, w ogniu, w chmurach, w ziemi, /<br />
Przeistoczony wrócić w głusz mojego domu cmentarną, / Z twarzy osłupionych czar ustami zdjąć<br />
budzącemi - - -“<br />
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Namen, mit <strong>de</strong>m es sich gebrandmarkt fühlt, ablegen, so dass keine Spur von ihm<br />
übrig bleibt. Bis auf die Substanz erneuert will das Textsubjekt in sein Haus, an seinen<br />
Sterbeort zurückkehren und sich <strong>de</strong>n verblüfften Mitmenschen stellen. Dabei sieht es<br />
die Notwendigkeit, von diesen Mitmenschen „<strong>de</strong>n Zauber zu nehmen“, damit sie seine<br />
Verwandlung annehmen können. Drei Bin<strong>de</strong>striche am Texten<strong>de</strong>, Signifikanten einer<br />
Leerstelle, verweisen möglicherweise auf die Unheimlichkeit dieser Aufgabe, die sich<br />
in <strong>de</strong>r Sprache kaum ereignen kann.<br />
Intendiert wird folglich nicht nur eine mystische, son<strong>de</strong>rn auch eine soziale<br />
Wie<strong>de</strong>rgeburt. Das Ich beabsichtigt, seinen I<strong>de</strong>ntitätswechsel auch kundzutun, und<br />
zwar u.a. durch die Namensän<strong>de</strong>rung. Es will mit <strong>de</strong>r alten I<strong>de</strong>ntität so radikal<br />
brechen, dass es auch von <strong>de</strong>r Umwelt nicht mehr damit in Verbindung gebracht wird.<br />
Dabei antizipiert es die Verwirrung und <strong>de</strong>n Wi<strong>de</strong>rstand <strong>de</strong>r Mitmenschen. Von einer<br />
Geschlechtsumwandlung ist in diesem Gedicht zwar nicht die Re<strong>de</strong>, doch scheint es<br />
nicht zufällig zu sein, dass im ersten Metamorphosengedicht („Z chłodów“), in <strong>de</strong>m<br />
noch von Kälte und <strong>de</strong>m Zustand vor <strong>de</strong>m Verbrennen die Re<strong>de</strong> ist, ein weibliches,<br />
und im zweiten („Pragnienie“) ein männliches Ich spricht, und zwar erst in <strong>de</strong>r letzten<br />
Strophe in Bezug auf die Zeit nach <strong>de</strong>r Wandlung. 111<br />
Je näher das Jahr 1907 heranrückt, <strong>de</strong>sto obsessiver wird das bereits in „Forpoczty“<br />
vorhan<strong>de</strong>ne Verwandlungsmotiv in <strong>de</strong>r Lyrik Komornickas. Ihren existenziellen<br />
Entschluss <strong>de</strong>r Geschlechtsmetamorphose bereitet sie in ihrer literarischen Produktion<br />
sorgfältig vor. Dabei steht nicht <strong>de</strong>r geschlechtliche Aspekt <strong>de</strong>s Vorhabens, son<strong>de</strong>rn<br />
das Begehren nach vollkommener Ausmerzung <strong>de</strong>r alten I<strong>de</strong>ntität im Vor<strong>de</strong>rgrund.<br />
Das Subjekt <strong>de</strong>r ‚Verwandlungstexte’ ist von einem Selbsthass und<br />
Selbstvernichtungsdrang ohnegleichen erfüllt. Die alte I<strong>de</strong>ntität erscheint als etwas<br />
Schändliches. Dieses Verhältnis zu sich selbst steht im Zusammenhang mit <strong>de</strong>m<br />
111 Vgl. die maskuline Form <strong>de</strong>s Adjektivs ‚przeistoczony’ – zu einem an<strong>de</strong>ren Wesen verwan<strong>de</strong>lt. Vgl.<br />
auch die in „Forpoczty“ (1895) veröffentlichte und bereits analysierte lyrische Prosa „Odrodzenie“. Hier<br />
wird <strong>de</strong>r Zustand nach <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt ebenfalls als ‚männlich’ imaginiert („druga męska młodość“,<br />
Komornicka/Nałkowski/Jellenta 1895, 193).<br />
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immer wie<strong>de</strong>r, vor allem in Bezug auf Sexualität aktualisierten Schuldkomplex und<br />
<strong>de</strong>m Bedürfnis nach Tilgung <strong>de</strong>r Schuld. Der Drang zur Selbstvernichtung ist von<br />
gewaltigen Erneuerungsphantasien begleitet. Vor diesem Hintergrund scheint sowohl<br />
<strong>de</strong>r in einigen lyrischen Texten auf grammatischer und semantischer Ebene als auch<br />
<strong>de</strong>r im realen Leben Komornickas auf <strong>de</strong>r Ebene <strong>de</strong>r Namens- und Kleidungssemiotik<br />
vollzogene Geschlechtswechsel hauptsächlich <strong>de</strong>r vollständigeren Erneuerung <strong>de</strong>s<br />
Subjekts zu dienen. Denn nach <strong>de</strong>m ca. seit <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt gängigen binären<br />
Geschlechtermo<strong>de</strong>ll ist ein Mensch notwendig ein geschlechtlich <strong>de</strong>finierter, und die<br />
Geschlechter sind grundverschie<strong>de</strong>n. 112 „Es gibt“, so Gabriele Lehnert (1997, 93)<br />
„nicht <strong>de</strong>n Menschen, son<strong>de</strong>rn nur Männer o<strong>de</strong>r Frauen“. In diesem auch heute<br />
verpflichten<strong>de</strong>n Mo<strong>de</strong>ll bil<strong>de</strong>t die Geschlechtsi<strong>de</strong>ntität, so Lehnert weiter, „<strong>de</strong>n Kern<br />
aller I<strong>de</strong>ntität“. Im Kontext dieser Auffassung wird verständlich, warum das nach<br />
vollständiger Selbstauslöschung und Wie<strong>de</strong>rgeburt dürsten<strong>de</strong> Subjekt von<br />
„Pragnienie“ auch das Geschlecht, das es als etwas Wesenhaftes versteht, wechseln<br />
und es durch Zeichen, durch ein neues Gewand, sichtbar machen will.<br />
112 Vor <strong>de</strong>m 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt galten Frauen als <strong>de</strong>fizitäre Männer, das Weibliche als die schlechtere<br />
Variante <strong>de</strong>s Männlichen (vgl. Laqueur 1992). Dazu Lehnert (1997, 65): „Denn die Medizin <strong>de</strong>r<br />
Renaissance, die sich auf die Antike berief, war <strong>de</strong>r Auffassung, Männer und Frauen hätten grundsätzlich<br />
die gleichen Geschlechtsorgane, nur lägen sie beim Manne außen, bei <strong>de</strong>r Frau innen. (…) Der Penis und<br />
das Skrotum waren bei ihr [<strong>de</strong>r Frau] einfach unterentwickelt – als Gebärmutter – im Körper geblieben.<br />
(…) In rein biologischer Hinsicht gab es also in <strong>de</strong>r Auffassung <strong>de</strong>r Zeit nur ein einziges Geschlecht, das<br />
in zwei Varianten auftrat.“ Im 18. Jahrhun<strong>de</strong>rt entsteht dann die Theorie von <strong>de</strong>n<br />
Geschlechtercharakteren. Männlichkeit und Weiblichkeit gelten nun als grundsätzlich verschie<strong>de</strong>ne<br />
Seinsweisen. Das 19. Jahrhun<strong>de</strong>rt entwickelt, wie Lehnert weiter ausführt (1997, 127), immer mehr<br />
Metho<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Messung und Katalogisierung von biologischen Eigenschaften, um die ‚Natürlichkeit’ <strong>de</strong>s<br />
Geschlechts und <strong>de</strong>r damit verbun<strong>de</strong>nen Dualisierung von sozialen Aufgaben zu untermauern.<br />
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9.10. Mantel aus Sternenstaub<br />
Wohin gehst du, Nackte?<br />
Einen Mantel aus Sternenstaub holen. (292) 113<br />
Wie bereits erwähnt spielt das Bedürfnis nach einem neuen Gewand auch in<br />
zahleichen an<strong>de</strong>ren Texten Komornickas eine beson<strong>de</strong>re Rolle. Dies ist z.B. in einem<br />
ihrer bekanntesten Gedichte „Na rozdrożu“ (Auf <strong>de</strong>m Schei<strong>de</strong>weg, 292) 114 <strong>de</strong>r Fall,<br />
das mitunter als eine Art feministisches Manifest gilt und bereits in zahlreichen<br />
Anthologien präsentiert wur<strong>de</strong>. Und tatsächlich lässt es sich als eine für ein weibliches<br />
Subjekt damaliger Zeit dreiste Demonstration geistiger Souveränität und<br />
Unbeirrbarkeit interpretieren. Das Gedicht ist als Dialog konzipiert. Ein weibliches<br />
Ich, das sich gera<strong>de</strong> allein auf <strong>de</strong>m Weg irgendwohin befin<strong>de</strong>t, wird von einer nicht<br />
näher i<strong>de</strong>ntifizierbaren Stimme aufgehalten und zur Re<strong>de</strong> gestellt. Die Stimme<br />
versucht, die aufbrechen<strong>de</strong> Frau zur Rückkehr in ihr „altes Haus“, man könnte auch<br />
sagen, in ihr altes Leben und ihre alte I<strong>de</strong>ntität zu verführen. Vergeblich, <strong>de</strong>nn die<br />
Entscheidung ist bereits getroffen: Es gibt keinen Weg zurück, die Angesprochene<br />
bleibt nicht einmal stehen. Gleich im ersten Vers <strong>de</strong>s Gedichtes, das nur aus Fragen<br />
bzw. Auffor<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r frem<strong>de</strong>n Stimme und <strong>de</strong>n scharfen, ein<strong>de</strong>utigen Repliken <strong>de</strong>r<br />
Frau besteht, erfahren wir, dass die Frau ‚nackt’ ist: „Wohin gehst du, Nackte?“ (292)<br />
Die konnotativen Signifikate <strong>de</strong>r Nacktheit sind unschwer zu erraten: Auch hier geht<br />
es um <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s alten Menschen und die Geburt eines neuen, auch hier befin<strong>de</strong>t<br />
sich die Figur in einem Zwischenstadium. Sie hat ihre alte I<strong>de</strong>ntität bereits endgültig<br />
hinter sich gelassen und will „einen Mantel aus Sternenstaub holen“. Das Motiv eines<br />
Sternen-/Sonnen-/Mondklei<strong>de</strong>s kennen wir u.a. aus zahlreichen Volksmärchen, z.B.<br />
aus „Allerleihrauh“. Es symbolisiert oft die ‚glorreiche’ Ichfindung, Ichwerdung einer<br />
113 Polnisch: „Gdzie idziesz, naga? Po płaszcz z gwiaździstych zamieci.“<br />
114 Aus <strong>de</strong>m Zyklus „ Ze szlaków ducha“, „Chimera“ 1905, B. 9, H. 25.<br />
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303<br />
Figur, die nach einer Zeit <strong>de</strong>s Reifens und <strong>de</strong>r Suche erfolgt. Die Figur erstrahlt dann<br />
in ihrem vollen Glanz. In <strong>de</strong>r biblischen Vorstellungswelt symbolisiert das<br />
Überwerfen eines Mantels über die Schultern eines Propheten die „Inbesitznahme <strong>de</strong>s<br />
Menschen durch Gott“. (Kralkowska-Gątkowska 2002, 198) Die kosmische Semantik<br />
evoziert ebenfalls mystische Konnotationen. Ein Mantel be<strong>de</strong>utet darüber hinaus einen<br />
Schutz vor <strong>de</strong>n Blicken <strong>de</strong>r Neugierigen, er soll die Nacktheit <strong>de</strong>r Wan<strong>de</strong>rn<strong>de</strong>n, die sie<br />
schutzlos macht, ver<strong>de</strong>cken. Auch dieser Aspekt berührt sich mit <strong>de</strong>m realen<br />
Geschlechtswechsel Komornickas und ihrer männlichen ‚Verkleidung’. Die alte Welt,<br />
in die es kein Zurück mehr gibt, wird von <strong>de</strong>m weiblichen Ich auf metaphorischer<br />
Ebene entwertet, in<strong>de</strong>m sie mit Bil<strong>de</strong>rn wie „To<strong>de</strong>ssümpfe“, „Geier <strong>de</strong>r Begier<strong>de</strong>“, mit<br />
„Abgrün<strong>de</strong>n“ und „Wolfsgeheul“ in Verbindung gebracht wird. Das berühmte Fazit<br />
dieses faszinieren<strong>de</strong>n Textes, das die Autonomie, aber auch Einsamkeit <strong>de</strong>s<br />
weiblichen Subjekts in einer einprägsamen syntaktischen Konstruktion<br />
heraufbeschwört, lautet: „Du gehörst zu uns! – Einst. Heute bin ich frei, allein,<br />
nieman<strong>de</strong>m zugehörig.“ 115 (292)<br />
Ein königliches purpurrotes Gewand bekommt auch das erneuerte, möglicherweise für<br />
die Welt gestorbene, 116 männliche Ich <strong>de</strong>r 1901 publizierten lyrischen Prosa „W<br />
nieskończoności nocy zimowych...“. 117 (In <strong>de</strong>r Unendlichkeit <strong>de</strong>r Winternächte, 208)<br />
Noch <strong>de</strong>utlicher spaltet sich die hier entworfene Vision in dunkle Vergangenheit und<br />
glorreiche Zukunft. Für die Vergangenheit stehen Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>s verzweifelten<br />
Herumirrens, Wan<strong>de</strong>rns, Stürzens bzw. Liegens. Die zweite Texthälfte zeigt das sich<br />
erheben<strong>de</strong>, große und stolze Ich im neuen Gewand und einer Krone aus Lichtstrahlen:<br />
„die Sonne warf mir einen purpurroten Mantel auf die Schultern, eine glänzen<strong>de</strong><br />
115 Polnisch: „Tyś nasza! – Niegdyś. Dziś wolna, sama, niczyja.“<br />
116 Darauf <strong>de</strong>utet <strong>de</strong>r Einsatz <strong>de</strong>r Farbe schwarz im vorletzten Satz <strong>de</strong>s Textes hin: „Poszedłem czarny w<br />
promiennej chwale.“<br />
117 „Czarne płomienie“, „Chimera“ 1901, B. 4., H. 10-12.<br />
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Krone auf <strong>de</strong>n Kopf und Flammenbün<strong>de</strong>l unter die Füße.“ 118 Hier wird auf <strong>de</strong>n in<br />
vielen Religionen vorhan<strong>de</strong>nen Archetyp <strong>de</strong>s Königs als <strong>de</strong>s Wie<strong>de</strong>rgeborenen und<br />
Erleuchteten zurückgegriffen. Auf eine neue Taufe, eine Reinigung von <strong>de</strong>n Resten<br />
<strong>de</strong>r Vergangenheit, einen durch Regen ange<strong>de</strong>uteten Neubeginn wartet ebenfalls das<br />
Textsubjekt <strong>de</strong>s lyrischen Prosastücks „Czuwanie“ (Wachen, 205). 119 Auch dieses<br />
Ich, das sich als „Gefangener <strong>de</strong>s Gedächtnisses“ bezeichnet, versteckt sich vor <strong>de</strong>n<br />
menschlichen Blicken in einem dunklen Zwischenraum. Es will sich von <strong>de</strong>r<br />
„steinernen Last“ <strong>de</strong>r Vergangenheit befreien, seinen „alten Lebenspanzer“ abwerfen.<br />
Das Übergangsstadium wird mit Bil<strong>de</strong>rn aus mythologischen und Märchendiskursen<br />
symbolisiert. Es sind dies: ein Uhu im dunklen Baum, eine kranke Schlange, die –<br />
auch hier – auf eine neue Haut wartet:<br />
Ich wache in <strong>de</strong>r Dunkelheit wie ein Uhu auf <strong>de</strong>m Baum, in <strong>de</strong>r Dunkelheit <strong>de</strong>s Baumes, <strong>de</strong>r im<br />
Mai grün erblüht. / Der Gefangene <strong>de</strong>s Gedächtnisses wird nicht in das Gold <strong>de</strong>s Tages<br />
hinaustreten, bis Verwandlung und Taufe vollzogen sind. / In trockenen Blättern liegt die kranke<br />
Schlange und wartet auf eine neue Haut, um an die Sonne hinauszugehen. / Auf <strong>de</strong>m Strohlager<br />
<strong>de</strong>r Erinnerungen liegt ein verlorener Geist, wälzt sich ohnmächtig im alten Panzer <strong>de</strong>s Lebens. 120<br />
9.11. Getragen wer<strong>de</strong>n<br />
Im Kontext <strong>de</strong>r mystischen Motive <strong>de</strong>r Begegnung zwischen Mensch und<br />
Transzen<strong>de</strong>nz bzw. Natur taucht bereits 1902 in einigen wenigen Gedichten aus <strong>de</strong>m<br />
Zyklus „Maj“ (220-224) 121<br />
eine neue Stimme auf, die sich in „Xięga poezji<br />
idyllicznej“ zu einer dominieren<strong>de</strong>n entwickeln wird. Nach <strong>de</strong>n dramatischen<br />
Symbolisierungen <strong>de</strong>r inneren Kämpfe u.a. in „Czarne płomienie“ wirkt die Ästhetik<br />
118 Polnisch: „(…) słońce rzuciło mi na ramiona płaszcz purpurowy, na głowę koronę blasków, pod stopy<br />
więzie promieni.“<br />
119 Ebd.<br />
120 Polnisch: „Czuwam w ciemnościach jak sowa w drzewie, w ciemnościach drzewa zielonego majem. /<br />
Nie wyjdzie w złoto dnia więzień pamięci, aż się dokona przemiana i chrzest. / Leży w suchych liściach<br />
wąż chory, czeka na łuskę nową, <strong>by</strong> wyjść na słońce. / Na barłogu wspomnień leży duch zbłąkany, tarza<br />
się omdlały w starej skorupie życia.“<br />
121 „Chimera“ 1902, B. 6, H. 16.<br />
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305<br />
dieser Gedichte wie ein Angebot <strong>de</strong>r Beruhigung, eine Vision <strong>de</strong>r Welt nach <strong>de</strong>r<br />
Wie<strong>de</strong>rgeburt. Lexik und Syntax dieser Lyrik sind viel klarer und einfacher als die <strong>de</strong>r<br />
meisten Texte aus <strong>de</strong>r Zeit vor 1907, es dominiert <strong>de</strong>r freie Vers. Die Metaphorik ist<br />
stark reduziert und nicht mehr so verschachtelt. Der Abstand vom pathetischen Duktus<br />
<strong>de</strong>r jungpolnischen Diskurse, aber auch vom vor<strong>de</strong>rgründig moralisieren<strong>de</strong>n Gestus<br />
vieler früherer Gedichte erweist sich als richtungweisend für die polnische Lyrik <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit. In diesen mit ihrer ‚Einfachheit’ bestechen<strong>de</strong>n Gedichten wird <strong>de</strong>r<br />
Zustand <strong>de</strong>r mystischen Einheit mit Natur, Welt und Gott heraufbeschworen.<br />
Im ersten Gedicht <strong>de</strong>s Zyklus – „W tajniach ogrodu...“ (In <strong>de</strong>n Verstecken <strong>de</strong>s<br />
Gartens, 220) ist es <strong>de</strong>r Kuckuck, <strong>de</strong>r ein Ich in die Natur verführt und ihm einen<br />
süßen, sanften Tod verspricht. Der Tod erscheint im Bild einer warten<strong>de</strong>n Geliebten<br />
„mit einem Kranz auf <strong>de</strong>m Kopf.“ Er wird auch mit einem Traum parallelisiert: „Im<br />
verwehten, duften<strong>de</strong>n Licht / Grüner Blätter / Wird sich <strong>de</strong>in Traum erfüllen /<br />
Wun<strong>de</strong>rsam – / Er war-tet! War-tet! War- tet!“ 122 Der Verzicht auf die menschliche<br />
Sprache, ihre Verfremdung zur ‚Vogelkommunikation’ markiert <strong>de</strong>n Übergang von<br />
<strong>de</strong>r Sphäre <strong>de</strong>r Kultur, <strong>de</strong>s Individuellen, Getrennten, in die <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r Einheit<br />
mit <strong>de</strong>m Universum. Auch „Pokusa wiatru wiosennego“ (Die Versuchung <strong>de</strong>s<br />
Frühlingswin<strong>de</strong>s, 221 f.), das ähnlich wie das bereits analysierte aphoristische<br />
Prosastück „Mądrość“, jedoch ohne überhöhen<strong>de</strong> und moralisieren<strong>de</strong> biblische<br />
Stilisierung existenzielle Weisheit vermitteln will, entwirft ein magischbeschwören<strong>de</strong>s<br />
Bild einer meditativen Verschmelzung von Mensch und Natur. Hier<br />
wird das Ich zum Spinnennetz, das sich vom Wind tragen lässt:<br />
Lass dich tragen<br />
Wie ein Spinnennetz sich vom Südwind tragen lässt<br />
Und wie <strong>de</strong>r Staub,<br />
Der nicht weiß, wo er aufwirbeln und wohin er fallen wird.<br />
Schließe die Augen –<br />
Mögen sie unter <strong>de</strong>n Li<strong>de</strong>rn in die bewegte Weite blicken –<br />
122 Polnisch: „W rozwianym, pachnącym świetle / Zielonych liści / Sen ci się ziści/ Przedziwny – / Czeka!<br />
Cze-ka! cze-ka!“<br />
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Weisheit wirst du fin<strong>de</strong>n<br />
Nicht am Anfang <strong>de</strong>s Weges – son<strong>de</strong>rn am En<strong>de</strong>. (221) 123<br />
Aus <strong>de</strong>r mystischen Erfahrung soll, wie in „Mądrość“, Kraft für das aktive, mutige<br />
Leben geschöpft wer<strong>de</strong>n, für das Leben als „Jäger <strong>de</strong>s Lebens“ (myśliwy życia). Eine<br />
ähnliche Metapher tauchte auch in <strong>de</strong>m 1897 publizierten und hier bereits ausführlich<br />
diskutierten „Nastrój“ auf – „<strong>de</strong>r ewige Freiwillige <strong>de</strong>s Lebens“ (wieczny ochotnik<br />
życia). Im Unterschied aber zu <strong>de</strong>n frühen, <strong>de</strong>n ungehemmten Lebensdurst<br />
thematisieren<strong>de</strong>n Gedichten wird in „Pokusa…“ nicht nur Tapferkeit und<br />
Überwindung <strong>de</strong>r Angst durch einen (oft weiblichen) Heros, son<strong>de</strong>rn ein angstfreies<br />
Leben auf spiritueller Grundlage angestrebt, eine Befreiung von existenziellem<br />
Entsetzen: „Fürchte dich nicht / dass sie dich berauben und hintergehen könnten – /<br />
Wenn du / <strong>de</strong>r Jäger <strong>de</strong>s Lebens bist – wozu [brauchst du] alles An<strong>de</strong>re?“ 124 (221)<br />
Deutlich wer<strong>de</strong>n Umrisse <strong>de</strong>s Projekts eines erleuchteten Ichs, das sich vor irdischen<br />
Verlusten, vor Gewalt und Nie<strong>de</strong>rlagen nicht mehr zu fürchten braucht. Dies wird in<br />
<strong>de</strong>r paradoxen Rhetorik <strong>de</strong>r Mystik in Worte gefasst: „Mögen sie dir alles /<br />
wegnehmen – dann wird alles dir gehören.“ 125 (222) Auch in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren bei<strong>de</strong>n<br />
Gedichten wer<strong>de</strong>n die für das logische Denken charakteristischen Oppositionen, z.B.<br />
zwischen oben und unten, Himmel und Er<strong>de</strong>, Welt und Gott aufgehoben und von<br />
mystischer Verzückung abgelöst. Eine Bootsfahrt verwan<strong>de</strong>lt sich z.B. in eine Vision<br />
<strong>de</strong>s Fliegens, <strong>de</strong>r vollkommenen Loslösung von <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong>. Im letzten Gedicht <strong>de</strong>s<br />
Zyklus – „O zielono-płowa grzywo…“ (Oh, du grün-strohgelbe Mähne…, 224), das,<br />
nicht zum ersten Mal in dieser Lyrik, die Atmosphäre und die Natur <strong>de</strong>s Grabower<br />
Gutshofs (Obstgärten, Teiche) poetisch aufgreift und dabei mehrere Sinne anspricht,<br />
123 Polnisch: „Daj się nieść / Jak pajęczyna wichrom południowym / I jak pył, / Co nie wie, jak się wzbije<br />
i gdzie padnie. / Przymknij oczy – / Niech spod powiek patrzą w dal ruchomą – / Mądrość znajdziesz /<br />
Nie w początku drogi – lecz na końcu.“<br />
124 Polnisch: „Nie trwóż się / Że cię ograbią i omamią – / Jeśliś jest / Myśliwym życia – na co reszta?“<br />
125 Polnisch: „Niech ci wezmą / Wszystko – wtedy wszystko będzie twoim.“<br />
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wird das Ich enthumanisiert. Es verwan<strong>de</strong>lt sich wie in vielen Leśmian-Texten auch in<br />
Elemente <strong>de</strong>r Fauna, in kriechen<strong>de</strong> Tiere, Würmer, Käfer, Schmetterlinge:<br />
Es kriecht mein Gedanke, erinnernd,<br />
Zwischen <strong>de</strong>n Grashalmen,<br />
Kriecht zwischen <strong>de</strong>n Halmen saphirfarbenen Grases<br />
Ein Gedanke wie ein Wurm –<br />
Wie ein Maikäfer, <strong>de</strong>r frisch geschlüpft,<br />
Wie ein vom Tau durchnässter Schmetterling<br />
Weiß. 126<br />
9.12. Die Umherirren<strong>de</strong>n<br />
Verwun<strong>de</strong>t ihr Körper – und Herz. – Die Seele unberührt.<br />
Gesegnet? Vielleicht. O<strong>de</strong>r vielleicht verflucht? (227) 127<br />
In Anknüpfung an das bereits analysierte Gedicht „Na rozdrożu“ (Auf <strong>de</strong>m<br />
Schei<strong>de</strong>weg) wen<strong>de</strong> ich mich <strong>de</strong>n weiblichen Gestalten in <strong>de</strong>r Lyrik Komornickas vor<br />
1907 zu, die mitten in einem Zwischenstadium, in einem Schwebezustand, als<br />
herumirren<strong>de</strong> Vagabun<strong>de</strong>n und Außenseiterinnen porträtiert wer<strong>de</strong>n. Dazu gehören<br />
u.a. das Gedicht „Ahaswera“ und die lyrisch-narrative Prosa „Intermezzo“. Bei<strong>de</strong><br />
Texte führen – wie „Biesy“ – eine weibliche Existenz vor, die mit <strong>de</strong>r Welt im<br />
Konflikt steht, für die es keinen Platz in <strong>de</strong>r Kultur gibt. Der Titel „Ahaswera“ (226<br />
ff.) 128<br />
macht <strong>de</strong>utlich, dass hier <strong>de</strong>r Archetypus <strong>de</strong>s ewigen Ju<strong>de</strong>n auf eine Frau<br />
übertragen wird. Ahaswera ist „ein Mädchen königlichen Blutes“, das durch die Welt<br />
irrt und niemals zur Ruhe kommt, sich von nieman<strong>de</strong>m aufhalten lässt, nicht weiß, wer<br />
es ist, wohin sein Weg führt, und ob es sich dabei um eine Flucht o<strong>de</strong>r eine<br />
Verfolgungsjagd han<strong>de</strong>lt. Ihre Geschichte, die eigentlich – wie in „Krzyk“ – gar keine<br />
ist, wird von einer nicht näher i<strong>de</strong>ntifizierbaren Stimme erzählt. Ihre Fremdheit in <strong>de</strong>r<br />
126 Polnisch: „Pełza myśl moja, wspominająca, / Między źdźbłami, / Pełza po źdźbłach trawy szafirowych<br />
/ Myśl jak robak – / Jak majowy żuk, wylęgły świeżo, / Jak zmoczony rosą motyl / Biały.“<br />
127 Polnisch: „Ciało jej ranne – i serce. – Dusza nietknięta. / Błogosławiona? Może. A może przeklęta.“<br />
128 „Ze szlaków duszy“, „Chimera“ 1902, B. 6, H. 18.<br />
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Welt <strong>de</strong>s „Eisens, Blutes und Gel<strong>de</strong>s“ (226) wird durch die intertextuelle Allusion an<br />
die Balla<strong>de</strong> „Romantyczność“ von Mickiewicz unterstrichen („Ona nie słucha.“,<br />
„Dziewczyna gada.“). Der Erzähler sieht Ahaswera als einerseits rein und gesegnet,<br />
und an<strong>de</strong>rerseits sündhaft und verdammt: Verwun<strong>de</strong>t ihr Körper – und Herz. – Die<br />
Seele unberührt. / Gesegnet? Vielleicht. O<strong>de</strong>r vielleicht verflucht?“ 129 Diese, die<br />
Dualisierung <strong>de</strong>s abendländischen Frauenbil<strong>de</strong>s in Heilige und Hure, Engel und<br />
Dämon beispielhaft vorführen<strong>de</strong> Charakteristik setzt die Subjektlosigkeit <strong>de</strong>r Figur<br />
und ihren Status als Projektionsfläche von Ängsten und Phantasien <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
ins Bild und unterwan<strong>de</strong>rt gleichzeitig <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n Geschlechterdiskurs. Denn<br />
die Rhetorik <strong>de</strong>s Gedichtes kommt zwar über die Opposition ‚gesegnet – verdammt’<br />
nicht hinaus, hebt diese jedoch auf: „Und sie ist ganz ein Himmelsgespenst – und ganz<br />
Sün<strong>de</strong>.“ 130<br />
(228) Die Gleichsetzung <strong>de</strong>r antagonistischen Komponenten dieser<br />
Opposition wird auch durch einen Reim unterstrichen: ‚święta/przeklęto’<br />
(heilig/verflucht).<br />
Ahaswera lei<strong>de</strong>t, ihr Körper und ihr Herz sind „verwun<strong>de</strong>t“, die Seele aber<br />
„unberührt“ wie eine „reine Lilie“. (226) Diese Gegenüberstellung von unversehrter<br />
Seele und verwun<strong>de</strong>tem Körper ist für die Lyrik Komornickas sehr bezeichnend,<br />
ebenso wie die Spannung zwischen Sün<strong>de</strong>/Befleckung und Reinheit: „Zog das<br />
Höllenfeuer in ihren reinen Schoß ein, / dass sie mit ewig brennen<strong>de</strong>n Lippen aus <strong>de</strong>n<br />
Quellen trinkt?“ 131 Zwar will die Obdach- und Heimatlose leben: „das Leben lockt<br />
sie“, doch nicht in <strong>de</strong>r Welt, so, wie sie ist: „doch die wirkliche Welt stößt sie ab“.<br />
(226) Ahaswera glaubt nicht an Gott, sie ist Teil Gottes, Gott schaut aus ihren Augen<br />
die ‚Weisen’, die sie nach seiner Existenz fragen, geheimnisvoll an. Wie in „Biesy“<br />
gibt es für diese Frau keinen Tod, ihr Geist ist zum „ewigem Leben verdammt“: „Die<br />
129 Polnisch: siehe Motto von 9.12.<br />
130 Polnisch: „I cała jest widmem nieba – i cała grzechem.“<br />
131 Polnisch: „Czy ogień piekieł zamieszkał czyste jej łono, / Że z źró<strong>de</strong>ł pije wargą wieczyście<br />
spieczoną?“ Das Übel, mit <strong>de</strong>m Ahaswera auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> konfrontiert wird, heißt ‚Langeweile’ (nuda). Dies<br />
lässt sich als Entsprechung von Melancholie bzw. Depression interpretieren.<br />
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Er<strong>de</strong> will nichts von ihr wissen – und auch sie will von dieser Er<strong>de</strong> nichts – / Darum<br />
fliegt sie weiter – verachtend und verachtet.“ 132 (230) Mit diesem Gedicht<br />
überschreitet Komornicka – nicht unbedingt bewusst – das christlich-patriarchalische<br />
Paradigma einer in ‚Maria’ und ‚Eva’ polarisierten Weiblichkeit, einer von<br />
Körperlichkeit abgespaltenen Spiritualität, eines vom Eros distanzierten Ethos und<br />
entwirft die Vision einer ‚heiligen Hure’. 133 Unterschwellig vermittelt <strong>de</strong>r Text aber<br />
auch die Aussichtslosigkeit eines solchen Projektes. Es ist, so eine mögliche<br />
Interpretation, dieses Projekt, das heimatlos bleibt, das die Welt wie sie ist verachtet<br />
und von ihr verachtet wird.<br />
Auch die Hauptfigur <strong>de</strong>s 1907, <strong>de</strong>m Jahr <strong>de</strong>s Geschlechtswechsels Komornickas,<br />
erschienenen lyrisch-narrativen Prosastücks „Intermezzo“ (309 ff.), 134 das<br />
Komornickas „Chimera“-Veröffentlichungen abschließt, ist eine Außenseiterin, eine<br />
heimat- und ruhelose, von <strong>de</strong>r Welt verstoßene und die Welt nicht verstehen<strong>de</strong><br />
Zigeunerin. Wie die Heldin von „Sprzymierzeniec“ und „Odrodzenie“ macht sie sich<br />
auf eine einsame, nächtliche Wan<strong>de</strong>rung durch die Stadt. In <strong>de</strong>r magischen, von<br />
spirituellen Zeichen begleiteten Schicksalsnacht zur Sommersonnenwen<strong>de</strong> 135 will sie<br />
ihrem Leben eine neue Richtung geben:<br />
Heut’ ist die kürzeste Nacht. Alle Farne blühen, alle Johannisfeuer brennen, alle fürs Glück.<br />
Möge sie mit dieser Nacht tun, was ihr beliebt. Diese Nacht gibt ihr einen Stern ganz umsonst,<br />
ohne Feilschen. Sie kann das Alte verabschie<strong>de</strong>n, das Neue begrüßen, <strong>de</strong>n alten Weg erinnern,<br />
einen neuen bestimmen – erträumen, hervorrufen, erlösen – alles ist ihr erlaubt! (310) 136<br />
132 Polnisch: „Ziemia jej nie chce – i ziemi tej nie chce ona – / Więc leci dalej – gardząca i pogardzona.“<br />
133 Der ‚heiligen Hure’ (świętej ladacznicy) widmete <strong>de</strong>r von fernöstlichen Religionslehren inspirierte<br />
Psychologe Wojciech Eichelberger (1997) sein hier bereits zitiertes Buch „Kobieta bez winy i wstydu“<br />
(Weiblichkeit ohne Scham und Schuld).<br />
134 „Chimera“ 1907, B. 9, H. 28/9.<br />
135 In <strong>de</strong>r slawischen Märchenwelt ist dies eine Nacht <strong>de</strong>r Traumerfüllung, vorausgesetzt, man fin<strong>de</strong>t das<br />
blühen<strong>de</strong> Johanniskraut (kwiat paproci).<br />
136 Polnisch: „A dzisiaj noc najkrótsza, wszystkie paprocie kwitną, wszystkie sobótki się palą, wszystkie<br />
na szczęście. Niech z tą nocą robi, co żywnie zechce, tę noc Gwiazda jej daje na przepadłe bez targu.<br />
Może stare pożegnać, może nowe pozdrowić, daną drogę wspominać, nową sobie poznaczyć –<br />
wymarzyć, wywołać, wyzwolić – wszystko jej wolno!“<br />
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Die Straße, die die Zigeunerin entlang streicht, wird als Fluss (Styx) zwischen <strong>de</strong>m<br />
Diesseits und <strong>de</strong>m Totenreich metaphorisiert, die Stadt mit Elementen <strong>de</strong>r Pariser<br />
Landschaft ausgestattet. 137 Um eine geistige Vere<strong>de</strong>lung <strong>de</strong>r Landstreicherin<br />
(przybłęda) anzukündigen, setzt die <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Landstreicherin verpflichtete<br />
Erzählinstanz eine alchimistische Symbolik ein: „Sie nahm ihre letzten Handschellen<br />
ab, legte sie in die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r alten Frau. Lebt wohl. Wenn wir uns wie<strong>de</strong>r sehen,<br />
wer<strong>de</strong> ich ganz von Gold be<strong>de</strong>ckt – ganz gol<strong>de</strong>n sein.“ 138 (314) Die Figur muss immer<br />
weiter gehen, „schwanger mit einem unbekanntem Wort, wie eine Mutter ihre Frucht<br />
erratend“, 139 auch wenn <strong>de</strong>r Schlaf und <strong>de</strong>r Tod eine große Anziehungskraft auf sie<br />
ausüben:<br />
Ach, dass ich weg von <strong>de</strong>r Sonne in düstere Straßen gehen muss –<br />
Ach, dass man nicht vor Gottes leuchten<strong>de</strong>n Füßen einschlafen darf –<br />
Ach, dass ich so gehen muss, immer weitergehen, ewig gehen und an Pforten stehen bleiben, ohne<br />
die endgültigen Tore zu fin<strong>de</strong>n, ohne das Wort zu kennen, dass Du meiner Seele gabst. Das<br />
Zeichen in sich bergen und es erst erkennen, wenn es sich erfüllt! (315 f.) 140<br />
Schon scheint es, dass die Zigeunerin auf <strong>de</strong>m richtigen Wege ist: Sie wird von <strong>de</strong>r<br />
Erzählstimme als Königstochter angesprochen. Als ihr jedoch Farnkraut von<br />
Straßenverkäufern angeboten wird, ist sie nicht imstan<strong>de</strong>, sich für eines zu entschei<strong>de</strong>n<br />
und scheitert. Auf ihrem weiteren Weg fin<strong>de</strong>t sie einen Zaun, dahinter das Paradies<br />
(<strong>de</strong>n Garten E<strong>de</strong>n) und <strong>de</strong>n Weg zur Sonne (Osiris). Doch Bettler sind dort nicht gern<br />
gesehen. Sie muss umkehren, muss in die „dunklen Paläste <strong>de</strong>r verbrecherischen<br />
Vergangenheit“ zurück. (319 f.) Unterwegs, von Hunger und Durst geplagt, von<br />
137 Die mythologische Semiotisierung dieser Stadtlandschaft wur<strong>de</strong> von Kralkowska-Gątkowska (2002,<br />
94) <strong>de</strong>tailliert interpretiert.<br />
138 Polnisch: „Ostatnie zdjęła kajdanki, złożyła w starki dłonie. Żegnajcie. Gdy się znów obaczym, złoto<br />
mnie całą pokryje, będę już cała złota.“<br />
139 Polnisch: „ciężka nieznanym słowem, jak matka zgadująca swój płód“. Das vergebliche Bemühen<br />
eines Ichs, seine spirituelle Bestimmung, das ‚Wort’, das es erschaffen hat, das es in seinem Wesen<br />
erfasst, zu erahnen und eine authentische I<strong>de</strong>ntität zu erlangen, ist auch eines <strong>de</strong>r führen<strong>de</strong>n Motive von<br />
„Biesy“.<br />
140 Polnisch: „Och, że iść muszę od słońca w mroczne ulice – / och, że snem zasnąć nie wolno u boga stóp<br />
jaśniejących – / och, że tak muszę iść, zawsze iść, wiecznie iść, stać u bram, nie znać ostatecznych wrót,<br />
nie znać słowa, któreś dał memu duchowi, taić w sobie znak, poznawać go dopiero, gdy się spełni!“<br />
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Müllarbeitern ge<strong>de</strong>mütigt, schläft sie auf einer Bank ein, wird am frühen Morgen von<br />
<strong>de</strong>r Polizei für betrunken und obdachlos gehalten, auf <strong>de</strong>m Weg zur Haft von Kin<strong>de</strong>rn<br />
als Diebin und Hure verspottet, angefasst, mit Steinen beworfen. Den Höhepunkt <strong>de</strong>s<br />
Geschehens bil<strong>de</strong>t die gynäkologische Untersuchung <strong>de</strong>r Verdächtigen. Nach dieser<br />
Demütigung wird sie mit <strong>de</strong>r Beschimpfung ‚Hure’ (die im Text nur mit <strong>de</strong>m<br />
Anfangsbuchstaben markiert wird) und einem Schubs entlassen:<br />
Es empfängt sie ein Vampir (…). Seine dünnen Klauen betasten ihre Schultern. Er fragt:<br />
„Jungfrau?“. Er kneift sie in <strong>de</strong>n Schenkel und hebt das Kleid hoch: „Pantalons?“ Die<br />
Verdächtigte zuckt mit <strong>de</strong>n Schultern. (...) „Hinlegen“. Er wirft sie auf die Inquisitionsliege.<br />
Entblößt sie, untersucht sie. „Jetzt aufstehen.“ Sie erhebt sich mit purpurrotem Gesicht, zu Tränen<br />
o<strong>de</strong>r einem Lachen verzerrt – es ist nicht zu erkennen. (...) Der Schutzmann schubst sie auf die<br />
Strasse hinaus. „H...!“ – knirscht er zum Abschied. (324 f.) 141<br />
Der die ganze Zeit zurückgehaltene Schmerz kommt hoch und entlädt sich in einem<br />
verzweifelten Weinen: „Himmel und Er<strong>de</strong> hören zu – kalt, geduldig.“ 142 (325) Dies ist<br />
<strong>de</strong>r letzte Satz <strong>de</strong>r Geschichte, die u.a. durch die evi<strong>de</strong>nte biographische Allusion<br />
erschütternd wirkt – die Anspielung auf die <strong>de</strong>mütigen<strong>de</strong> Untersuchung, <strong>de</strong>r<br />
Komornicka mit siebzehn Jahren unterzogen wur<strong>de</strong>.<br />
„Intermezzo“ kreiert das Bild einer Frau in einer Kultur, die das ‚Weibliche’ verdrängt<br />
und ausklammert, in welcher Frauen, <strong>de</strong>ren Dasein nicht durch die Existenz eines<br />
Mannes an ihrer Seite legitimiert ist, obdachlos und heimatlos bleiben, immer <strong>de</strong>m<br />
Verdacht moralischer Anstößigkeit ausgesetzt. In die Paradiesgärten dieser Kultur<br />
bekommt die Zigeunerin letztendlich keinen Einlass. Selbst ihre spirituellen,<br />
mystischen Sehnsüchte und Ambitionen wer<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Welt missverstan<strong>de</strong>n und als<br />
reine Körperlichkeit und Obszönität ge<strong>de</strong>utet. In dieser Kultur kann die Obdachlose<br />
kein Subjekt wer<strong>de</strong>n, kein Heim fin<strong>de</strong>n. Metaphorisch könnte man auch sagen: Die<br />
Farnkräuter dieser Landschaft blühen nicht für sie. So wird die verspottete, erniedrigte<br />
141 Polnisch: „Przyjmuje ją strzyga (...). Cienkie szpony macają jej ramię. Pyta: ‚Dziewica?’. Szczypie ją<br />
w udo podnosząc suknię: ‚Pantalony?’ Po<strong>de</strong>jrzana wzrusza ramionami. (…)‚Położyć się’. Rzuca ją na<br />
łoże inkwizycyjne. Obnaża, bada. ‚Można wstać.’ Wstaje, twarz purpurowa, skrzywiona do łez czy do<br />
śmiechu – nie poznać. (...) Stójka wypycha ją na ulicę. ‚K…!’ – zgrzyta na pożegnanie.“<br />
142 Polnisch: „Niebo i ziemia słuchają zimne, cierpliwe.“<br />
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Zigeunerin in <strong>de</strong>r unmittelbar vor <strong>de</strong>r Geschlechtsverwandlung erschienenen Prosa<br />
Komornickas zum Archetyp <strong>de</strong>r Märtyrerin ihres Geschlechts. Wie in <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Texten <strong>de</strong>r Dichterin ist es nicht die Kultur, son<strong>de</strong>rn die Natur, die <strong>de</strong>r gescheiterten<br />
Figur am En<strong>de</strong> als Einzige Mitgefühl zollt.<br />
9.13. Komornicka und das Patriarchat<br />
In <strong>de</strong>n Aphorismen und kurzen moralisch-philosophischen Texten <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r<br />
Nietzscheanischen Rhetorik beeinflussten Sammlung „Z księgi mądrości<br />
tymczasowej“ (Aus <strong>de</strong>m Buch <strong>de</strong>r vorläufigen Weisheit, 250 ff.) 143<br />
setzt sich<br />
Komornicka – im Namen <strong>de</strong>r verloren gegangenen Werte <strong>de</strong>r patriarchalischen<br />
Familie, wie sie <strong>de</strong>r polnische A<strong>de</strong>l praktiziert hat – mit <strong>de</strong>m Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r bürgerlichen<br />
Familie auseinan<strong>de</strong>r. 144 Die Schuld für die Dekonstruktion <strong>de</strong>r Wertehierarchien und<br />
die fortschreiten<strong>de</strong> „Verwil<strong>de</strong>rung“ mo<strong>de</strong>rner Gesellschaften lastet Komornicka <strong>de</strong>r<br />
„Entpatriarchalisierung, <strong>de</strong>r Demokratisierung, <strong>de</strong>r Verbürgerlichung <strong>de</strong>r Familie“ an.<br />
(260) Die – immer groß geschriebene – Familie bil<strong>de</strong>t in „Z księgi…“ einen<br />
unanfechtbaren Wert. Ihr Verfall wird pathetisch beklagt: „Die Familie, einstiger<br />
Tempel weltlicher Einweihung, ist zu Fall gekommen und wur<strong>de</strong> zu einem ‚Bun<strong>de</strong><br />
solidarischer Interessen’ (...)“ 145<br />
(261) Dies äußere sich u.a. im Nie<strong>de</strong>rgang <strong>de</strong>r<br />
143 „Chimera“ 1904, B. 7, H. 20/21.<br />
144 Das Subjekt von „Z księgi…“ wird zu einem Weisen stilisiert, <strong>de</strong>m die Verführung zur Sün<strong>de</strong> kaum<br />
noch etwas anhaben kann. In einem die Sammlung abschließen<strong>de</strong>n moralischen Traktat breitet er vor<br />
einem mystischen A<strong>de</strong>pten unter Rückgriff auf alchimistische Metaphorik seine Lebensphilosophie aus.<br />
Auch hier geht es darum, <strong>de</strong>n Verführungen zum Bösen zu wi<strong>de</strong>rstehen, die Neigung zur Sün<strong>de</strong> zu<br />
überwin<strong>de</strong>n, sie in <strong>de</strong>n „höheren Laboren“ in Gold zu verwan<strong>de</strong>ln, als „Dampf für <strong>de</strong>n Kessel <strong>de</strong>r eigenen<br />
Lokomotive“ zu verwen<strong>de</strong>n. (271) Es taucht auch die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>r Zweigeschlechtlichkeit auf. Sie scheint die<br />
Fülle <strong>de</strong>s Menschen, die Erlangung seiner geistigen Reife durch eine harmonische Verbindung von<br />
‚weiblichen’ und ‚männlichen’ Persönlichkeitsanteilen zu symbolisieren. Der Adressat <strong>de</strong>s Textes, <strong>de</strong>r<br />
mystische A<strong>de</strong>pt (<strong>de</strong>r auch <strong>de</strong>n Weisen selbst symbolisieren kann) wird als „hermaphroditischer Don Juan<br />
<strong>de</strong>r Wahrheit“ bezeichnet. (272)<br />
145 Polnisch: „Rodzina, dawna świątynia świeckich wtajemniczeń, upadła aż do stania się ‚związkiem<br />
solidarnych interesów’ (…).“<br />
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313<br />
Autorität <strong>de</strong>r Eltern. Der Vater, das Haupt <strong>de</strong>r Familie, sei inzwischen zu ihrer ‚Faust’<br />
mutiert: Er setze sich nicht auf Grund seiner moralischen Wür<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn durch<br />
Gewaltanwendung durch. Die Verwandtschaftsban<strong>de</strong> zerfielen, die <strong>de</strong>moralisierte<br />
Sippe pervertiere zur Brutstätte <strong>de</strong>s Egoismus, <strong>de</strong>s Hasses, <strong>de</strong>r Brutalität, <strong>de</strong>r<br />
Primitivität. Die I<strong>de</strong>e falsch verstan<strong>de</strong>ner Gleichheit lasse Väter zu Rivalen ihrer<br />
Söhne wer<strong>de</strong>n – insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>r „Unzucht“. Die Demoralisierung mache auch vor<br />
<strong>de</strong>n Müttern nicht Halt. Ihre beinahe „priesterliche Wür<strong>de</strong>“ als Matronen und<br />
„Königinnen <strong>de</strong>s häuslichen Feuers“ wer<strong>de</strong> entweiht. Entwe<strong>de</strong>r erfüllten sie rein<br />
praktische Funktionen im Haus, o<strong>de</strong>r aber sie benei<strong>de</strong>ten ihre Töchter um das Flirten<br />
und versuchten sich ebenfalls in dieser Disziplin. Insgesamt drehe sich das Leben aller<br />
Familienmitglie<strong>de</strong>r nur um <strong>de</strong>n Genuss. Dies sei „Marasmus, Schan<strong>de</strong>, Entartung“ und<br />
„Denaturalisierung“. 146 (262)<br />
Dieser sehr emotionale Text scheint etwas anzusprechen, was für Komornickas<br />
Biographie von großer Be<strong>de</strong>utung ist. In ihrer Jugendzeit hat sie sich vehement<br />
geweigert, die Autorität <strong>de</strong>s Vaters anzuerkennen und sich in ihren literarischen<br />
Texten vor 1900 entschie<strong>de</strong>n gera<strong>de</strong> für die Demokratisierung <strong>de</strong>r Familie eingesetzt,<br />
u.a. aus <strong>de</strong>r feministischen Perspektive. Die Geschwister warfen ihr die Verachtung<br />
<strong>de</strong>r Familie, die Zerstörung <strong>de</strong>r Familienban<strong>de</strong> und nicht zuletzt die Herbeiführung <strong>de</strong>s<br />
verfrühten To<strong>de</strong>s <strong>de</strong>s Vaters vor. Da sie so früh und so entschie<strong>de</strong>n gegen die Familie<br />
rebellierte und mit Schuldgefühlen wegen ihrer Zerrüttung zu kämpfen hatte, wird<br />
Komornicka möglicherweise mit <strong>de</strong>r Zeit von großer Melancholie ergriffen, von einer<br />
Sehnsucht nach <strong>de</strong>m so schnell unwie<strong>de</strong>rbringlich Verlorenen. 147 Diese Sehnsucht –<br />
146 In diesem Zusammenhang wer<strong>de</strong>n auch Schwangerschaftsabbrüche genannt.<br />
147<br />
Sehr melancholische Gedichte been<strong>de</strong>n Komornickas Schaffen aus <strong>de</strong>r Zeit vor ihrer<br />
Geschlechtsumwandlung, vor allem aus <strong>de</strong>m „Cykl bez tytułu“ („Chimera“ 1905, B. 9, H. 27). Zentral ist<br />
hier das Motiv <strong>de</strong>s Abschieds und <strong>de</strong>r wehmütigen Erinnerung an das Vergangene, insbeson<strong>de</strong>re an das<br />
Zuhause. Dieser Abschied kann auf zwei Ebenen gelesen wer<strong>de</strong>n: zum einen als Sehnsucht nach <strong>de</strong>r<br />
unwie<strong>de</strong>rbringlichen Kindheit und Jugendzeit an <strong>de</strong>r Schwelle zu einer neuen Lebensstation, zum an<strong>de</strong>ren<br />
als ein von Orientierungslosigkeit, Schmerz und Nostalgie geprägter Zwischenzustand auf <strong>de</strong>m Weg zur<br />
mystischen Einweihung (das Haus bzw. die Hütte wären in diesem Fall als Metaphern <strong>de</strong>r Seele zu lesen).<br />
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begleitet von gewaltigen Gewissenskonflikten – veranlasst sie dazu, die Familie zu<br />
i<strong>de</strong>alisieren und zu überhöhen. Dieser in <strong>de</strong>n Aphorismen eingeleitete Trend wird sich<br />
in „Xięga poezji idyllicznej“ als tonangebend erweisen.<br />
Zur gesellschaftlichen Rolle <strong>de</strong>r Frau äußert sich Komornicka in <strong>de</strong>n Aphorismen<br />
wi<strong>de</strong>rsprüchlich. Einerseits beschwört sie eine neue, sich anbahnen<strong>de</strong> Harmonie<br />
zwischen <strong>de</strong>n Geschlechtern herauf, die darauf beruhen soll, dass die Frauen nun<br />
führen<strong>de</strong> Funktionen in <strong>de</strong>r Gesellschaft übernehmen: „Von <strong>de</strong>n geschwächten<br />
Hän<strong>de</strong>n <strong>de</strong>r Herren geht das Zepter über in die ausgeruhten <strong>de</strong>r Sklavinnen;<br />
‚unbewusste Lilien’ verwan<strong>de</strong>ln sich in ‚<strong>de</strong>nken<strong>de</strong> Rosen’“. 148 (267) Dann gibt es aber<br />
auch Äußerungen, die dieser so gern im feministischen Kontext zitierten Aussage zu<br />
wi<strong>de</strong>rsprechen scheinen und misogyne Töne anschlagen, die mitunter <strong>de</strong>nen<br />
Nietzsches und Weiningers zum Verwechseln ähnlich sind:<br />
Selbst in <strong>de</strong>r vornehmsten, stolzesten Frau ist so etwas wie die Gefälligkeit einer Kupplerin, eine<br />
gewisse wache Dienstfertigkeit, eine gewisse unterwürfige Übereiltheit, die beunruhigend ihre –<br />
nie<strong>de</strong>re – Herkunft aufleuchten lässt. (268) 149<br />
Hier wird das im Prozess <strong>de</strong>r Sozialisation gelernte Verhalten <strong>de</strong>r Frauen<br />
(Unsicherheit, Schwierigkeiten sich abzugrenzen, sich zu behaupten, ‚nein zu sagen’)<br />
naturalisiert bzw. sogar metaphysisch begrün<strong>de</strong>t. Dies scheint einer <strong>de</strong>r zentralen<br />
Beweggrün<strong>de</strong> für Komornickas Geschlechtswechsel zu sein. Wenn nämlich die<br />
Überzeugung von <strong>de</strong>r nie<strong>de</strong>ren Abstammung <strong>de</strong>r Frau ernst genommen wird, dann<br />
kann jemand, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Anspruch erhebt, Mystiker und Dichter zu sein, unmöglich<br />
gleichzeitig eine Frau sein. Dazu Maria Janion (1996, 229): „Schon immer wollte sie<br />
[Komornicka] Künstler, Dichter, Kritiker, Philosoph, Guru, Priester sein – dies<br />
erfor<strong>de</strong>rte allerdings die Aufgabe <strong>de</strong>r Kondition <strong>de</strong>r Frau, die all dies nicht sein konnte<br />
Bei<strong>de</strong> Lesarten können u.a. auf die Gedichte „Oto mi z oczu spływa kraina“ (303), „Zakołatałam do<br />
pustej chaty“ (305) o<strong>de</strong>r „Cienie“ (308) bezogen wer<strong>de</strong>n.<br />
148 Polnisch: „Z nadwątlonych rąk panów berło przechodzi do wypoczętych niewolnic; – ‚nieświadome<br />
lilie’ zmieniają się w ‚myślące róże’“.<br />
149 Polnisch: „W najwytworniej dumnej kobiecie nawet – jest pewna uprzejmość stręczycielska, pewna<br />
czujna usłużność, pewna pochopność służalcza, która niepokojąco rozświetla jej pochodzenie – niższe.“<br />
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bzw. nicht sein durfte.“ 150 Einerseits wünscht es Komornicka <strong>de</strong>n Frauen, sich zu<br />
souveränen Wesen zu entwickeln, an<strong>de</strong>rerseits kann sie sich selbst auf diese<br />
evolutionäre Wandlung nicht verlassen.<br />
9.14. Kann Dichten Sün<strong>de</strong> sein?<br />
In <strong>de</strong>m ausdrucksstarken Gedicht „Ból fatalny“ (Der fatale Schmerz, 287 ff.) 151 wird<br />
das literarische Schaffen als eine <strong>de</strong>r Konsequenzen <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nfalls, als Fluch ins<br />
Visier genommen. Das lyrische Ich dieses Textes ist zwar ein grammatisch<br />
weibliches, es i<strong>de</strong>ntifiziert sich aber mit Adam als „Vater <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n“ und ist ein<br />
Dichter. Der literarische Prozess wird als etwas äußerst Dramatisches und Intimes, als<br />
ewige Qual, vor allem aber als etwas, das einem Mangel entspringt, begriffen. Es ist<br />
die Seele <strong>de</strong>s Dichters, die – noch unfähig zur inneren Sammlung, noch nicht mit sich<br />
selbst und mit Gott i<strong>de</strong>ntisch – immer wie<strong>de</strong>r zum Zerfall, zur Streuung neigt und sich<br />
in Form von literarischen Werken, von Worten wie Lava o<strong>de</strong>r ein Wasserfall in die<br />
Welt ergießt: 152<br />
Die innere Kraft <strong>de</strong>r Sammlung bald nach außen<br />
Zerschlägt sich wie aufschäumen<strong>de</strong> Lava –<br />
Der Geist vermag es nicht, das Wun<strong>de</strong>r in sich zu behalten –<br />
Unter <strong>de</strong>m Wasserfall bro<strong>de</strong>lt die flache Schale –<br />
Zerstäubt mit Milliar<strong>de</strong>n von Funken in <strong>de</strong>n hohlen Abgrund<br />
Und hinterlässt einen trockenen Grund meinem Mund. (288) 153<br />
150 Polnisch: „[Komornicka] Zawsze chciała <strong>by</strong>ć Artystą, Poetą, Krytykiem, Filozofem, Guru, Kapłanem<br />
– wymagało to jednak porzucenia kondycji kobiety, która nie mogła – czy raczej nie powinna – <strong>by</strong>ć tym<br />
wszystkim.“<br />
151 Aus <strong>de</strong>m Zyklus „Ze szlaków ducha“, „Chimera“ 1905, B.9, H. 25.<br />
152 Die Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r aufschäumen<strong>de</strong>n Lava, aber auch <strong>de</strong>s Wasserfalls sind nicht frei von erotischen<br />
Konnotationen.<br />
153 Polnisch: „Wnętrzna moc skupienia wnet na zewnętrz / Jak wezbrana lawa się rozprasza – / Duch nie<br />
może zawrzeć w sobie cudu – / Wre pod wodospa<strong>de</strong>m płytka czasza – / Pryska skier miliar<strong>de</strong>m w otłchań<br />
pustą / I zostawia suche dno mym ustom.“<br />
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Sobald sich die Seele <strong>de</strong>s Dichters zum Flug in <strong>de</strong>n Himmel aufschwingt (ein Bild für<br />
mystische Einweihung bzw. spirituelle Entwicklung) stellt sich etwas dazwischen –<br />
eine „ewige Falle“ (wieczna pułapka). Es kommt zum Zusammenstoß <strong>de</strong>r Seele mit<br />
<strong>de</strong>r Sperre, die ihr <strong>de</strong>n Weg in <strong>de</strong>n Himmel verbietet. Dieser dramatische<br />
Zusammenstoß, diese sich immer wie<strong>de</strong>r öffnen<strong>de</strong> Wun<strong>de</strong> wird als Ursprung <strong>de</strong>s<br />
dichterischen Schaffens imaginiert. Das Schaffen ist in dieser Bildlichkeit ein blutiger<br />
Prozess, 154 <strong>de</strong>r in Bil<strong>de</strong>r aggressiver Erotik gebannt wird:<br />
Es fließt das Blut aus <strong>de</strong>r aufgerissenen Wun<strong>de</strong> –<br />
Es strömt die ewige Blutkaska<strong>de</strong> –<br />
Das Schwert <strong>de</strong>s Schaffens schlitzte die frische Narbe auf –<br />
Das Blut strömt – stürzt in <strong>de</strong>n schwarzen Abgrund –<br />
Es birst die geschwollene Brust – zerspringt die Schale –<br />
In Milliar<strong>de</strong>n von Funken, es höhnt im Wi<strong>de</strong>rhall <strong>de</strong>r Höllen –<br />
Welch Schmerzen! Welch Fluch! Welche Sün<strong>de</strong>! – – Ich schaffe! (288) 155<br />
Ein weiteres Bild für <strong>de</strong>n Schaffensprozess ist <strong>de</strong>r Blitz, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Schoß <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong><br />
einschlägt und so das „trübe Kristall“ – „das Wort menschlicher Wesen“ –<br />
hervorbringt. Es gibt noch weitere, äußerst dramatische Metaphorisierungen <strong>de</strong>s<br />
Schaffens in diesem Gedicht. Der Dichter steigt mit seiner brennen<strong>de</strong>n Seele als<br />
Nebel, Flamme und Rauch in <strong>de</strong>n Himmel. Doch plötzlich wird „<strong>de</strong>r Weihrauch seiner<br />
himmel fahren<strong>de</strong>n Seele“ 156<br />
von einer Eistafel aufgehalten. Die Seele wird<br />
zurückgehalten, auf die Er<strong>de</strong> nie<strong>de</strong>rgedrängt. Aus <strong>de</strong>m Nebel <strong>de</strong>r Seele entsteht dann<br />
<strong>de</strong>r „Hagel <strong>de</strong>r Worte“. Das Schaffen ist hier quasi ein Abfallprodukt einer nicht<br />
erfolgten mystischen Vereinigung mit Gott und wird als eine vertikale Bewegung nach<br />
unten, mehr noch, als ein Sturz (und kein Flug) verbildlicht. Die ‚Hüter <strong>de</strong>r Schwelle’<br />
lassen <strong>de</strong>n Dichter noch nicht hinein, er muss in die menschliche Welt zurück, in die<br />
Welt <strong>de</strong>r Sprache, <strong>de</strong>r symbolischen Ordnung und <strong>de</strong>s Zerfalls:<br />
154 Er stillt <strong>de</strong>n Durst <strong>de</strong>s Dichters (sein Verlangen nach Gott?) nicht.<br />
155 Polnisch: „Płynie krew z otwartej znowu rany – / Toczy się wieczysta krwi kaskada – / Miecz<br />
tworzenia rozdarł świeżą bliznę – / Krew się toczy – w czarną otchłań spada – / Pękła pierś wezbrana –<br />
pryska czasza – / Skier miliar<strong>de</strong>m, szy<strong>de</strong>m piekieł dzwoni – / O boleści! Klątwo! Grzechu! – – Tworzę!“<br />
156 Polnisch: „duszy mej kadzidło wniebowzięte“ (289)<br />
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Plötzlich fällt auf <strong>de</strong>n aufsteigen<strong>de</strong>n Rauch – auf meiner Seele<br />
himmelfahren<strong>de</strong>n Weihrauch<br />
Frost – schnei<strong>de</strong>t Nebel in Hagel – drängt ihn hinab – stürzt ihn um –<br />
Und ich falle – falle – falle – falle –<br />
Ich, eine stumme Wolke, ein Worthagel. 157<br />
Ein<strong>de</strong>utig wer<strong>de</strong>n Worte und damit literarisches Schaffen im Bereich <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> und<br />
<strong>de</strong>r fehlen<strong>de</strong>n Einheit (<strong>de</strong>r Teilung), 158 <strong>de</strong>r Welt nach <strong>de</strong>r Vertreibung aus <strong>de</strong>m<br />
Paradies angesie<strong>de</strong>lt. Dies wird u.a. in biblischer Symbolik ausgedrückt: „Ich ersticke<br />
die Wortschlangen.“ 159 Zur biblischen Semiotisierung gehört auch die Metapher <strong>de</strong>s<br />
mühsamen Ersteigens eines Berges (Golgatha-Bildlichkeit). 160<br />
Die christlichen<br />
Vorstellungen wer<strong>de</strong>n von Allusionen an an<strong>de</strong>re mythologische Traditionen<br />
überlagert: Der Dichter wird mit <strong>de</strong>m Nietzsche-Bild <strong>de</strong>s gequälten Prometheus, mit<br />
<strong>de</strong>m zerrissenen, entgrenzten Dionysos und Sisyphos parallelisiert.<br />
Das Dichten hin<strong>de</strong>rt das lyrische Ich daran, die Stufen <strong>de</strong>r himmlischen Leiter zu<br />
ersteigen: Es wird mit <strong>de</strong>m Gestus absoluter Verzweiflung in Szene gesetzt und<br />
erscheint letztlich als vergeu<strong>de</strong>te, vertane Zeit. Mit je<strong>de</strong>m Tag nähert sich <strong>de</strong>r Tod und<br />
das unglückselige, immer aus seinen Wun<strong>de</strong>n heraus schreiben<strong>de</strong>, wie das Subjekt von<br />
„Krzyk“ entgrenzte und todgeweihte Ich sinkt immer tiefer in die „Zügellosigkeit <strong>de</strong>r<br />
schöpferischen Qual“:<br />
Im Schaffen stirbt mir je<strong>de</strong>r Tag,<br />
Die Sprossen zur Ewigkeit zerfallen in Asche – (...)<br />
Unschätzbare Bücher liegen im Staub –<br />
157 Der Hagel <strong>de</strong>r Worte ist etwas Gefährliches, er schlägt in die Er<strong>de</strong> ein. Auch die an<strong>de</strong>ren Bil<strong>de</strong>r für das<br />
Schaffen, wie Lava o<strong>de</strong>r Wasserfall, sind von solchen Konnotationen geprägt. Polnisch: „Nagle na mój<br />
wzbity dym – na duszy / Mej kadzidło wniebowzięte – spada / Mróz – mgłę ścina w grad – w dół spycha<br />
– zwala – / I spadam – spadam – spadam – spadam – / Ja obłok niemy – gra<strong>de</strong>m słów!“<br />
158 Vgl.: „Zachwyt jedni płodzi ból rozpadu –“ (288) / Wyczerpać do dna mękę działu, / Której nic nigdy<br />
nie wyczerpie!“ (290)<br />
159 Polnisch: „Depczę słów węże“ (290). Ritz (2991, 150) interpretiert dies als ein Bild für <strong>de</strong>n Verlust <strong>de</strong>r<br />
„metaphorischen (signifikatorischen) Qualität“ <strong>de</strong>s Werks eines Dichters, <strong>de</strong>r nicht mehr ein<br />
„romantischer Prophet“ sein kann, <strong>de</strong>ssen Schaffensprozess nicht mehr zum „Selbstausdruck und<br />
Affirmation <strong>de</strong>s Ichs in <strong>de</strong>r eigenen Verspiegelung“ führt, son<strong>de</strong>rn von Verwischung <strong>de</strong>r Grenzen<br />
„zwischen Zeichenschaffen<strong>de</strong>m und Zeichen selbst“ gekennzeichnet ist.<br />
160 Der Dichter ersteigt <strong>de</strong>n Berg wie ein Kamel (wielbłąd). Das Wortspiel „o Wiel – błądzie“ lässt das<br />
Ersteigen <strong>de</strong>s Berges als Konsequenz eines großen Fehlers, einer großen Sün<strong>de</strong> erscheinen. (290)<br />
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Das Buch meiner Seele – Das Buch <strong>de</strong>r Welt –<br />
Die Zeit verschlingt einen Tag nach <strong>de</strong>m an<strong>de</strong>ren – verbrennt sie –<br />
In <strong>de</strong>n Tod strömt mein kurzes Leben –<br />
Und ich Wahnsinnige, ich Unselige<br />
Heule aus meiner ewigen Wun<strong>de</strong><br />
Versinke in <strong>de</strong>r Zügellosigkeit schöpferischer Qual –<br />
In <strong>de</strong>m schwarzen, bösen – verbotenen – Abgrund<br />
Win<strong>de</strong> mich – kämpfe – flehe – kreische –<br />
Würge die Wortschlangen – verschließe mein Gehör –<br />
Ich will nicht! Ich verfluche! – Habe keine Kraft mehr. (289, 290) 161<br />
Bezeichnend ist, dass hier das ‚Buch <strong>de</strong>r Seele’ und ‚das Buch <strong>de</strong>r Welt’ als<br />
unschätzbar bezeichnet und <strong>de</strong>m künstlerischen Schaffen, <strong>de</strong>n literarischen Büchern,<br />
gegenübergestellt wer<strong>de</strong>n. Um eine Aufhebung dieser hier so antagonistisch<br />
gestalteten Opposition wird sich Włast <strong>de</strong>r Verwan<strong>de</strong>lte (Odmieniec) in „Xięga poezji<br />
idyllicznej“ bemühen. Dieses ‚Buch’ wird als mystisches und prophetisches ‚Buch <strong>de</strong>r<br />
Seele’ und gleichzeitig Poesie konzipiert, eine Poesie, die nicht mehr <strong>de</strong>m<br />
traditionellen Kunstbegriff verpflichtet ist.<br />
Die in „Xięga poezji idyllicznej“ allgegenwärtige Hoffnung auf eine Erlösung vom<br />
Fluch <strong>de</strong>s trennen<strong>de</strong>n, aggressiven, <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> verhafteten literarischen Schaffens, auf<br />
die mystische Vereinigung mit Gott, Weltall und Natur, auf Weisheit und Ruhe wird<br />
im letzten Abschnitt von „Ból fatalny“ bereits vorweggenommen. Nach<strong>de</strong>m <strong>de</strong>r<br />
Dichter seine Strafe abgearbeitet und unter höchsten Schmerzen seine Worte in die<br />
Er<strong>de</strong> hineingepresst hat, wird ihm ein mystisches Erlebnis zuteil. Das Gedicht schließt<br />
mit <strong>de</strong>r Utopie einer Himmelfahrt und Subjektauflösung, 162 die auch eine Erlösung<br />
vom Schreiben und die Überwindung <strong>de</strong>r Trennung be<strong>de</strong>utet. Dabei lässt sich die<br />
Erlösung vom Schreiben als Befreiung von <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r Kultur, vom Bereich <strong>de</strong>s<br />
‚Symbolischen’ (Lacan, Kristeva), und die Überwindung <strong>de</strong>r Trennung als Rückkehr<br />
161 Polnisch: „Tworzeniem zmiera mi dzień każdy, / W proch lecą szczeble do wieczności – (...) /<br />
Bezcenne księgi leżą w pyle – / Księga mej duszy – księga świata – / Czas dzień za dniem pożera – spala<br />
– / W śmierć się toczy me krótkie życie – / A ja szalona, ja nieszczęsna, / Wyjąc swą wiekuistą raną /<br />
Grzęznę w rozpuście twórczej męki – / W otchłani czarnej, złej – wzbronionej – / Wiję się – walczę –<br />
błagam – zgrzytam – / Dławię słów węże – słuch zamykam – / Nie chcę! Przeklinam! – Sił już nie mam.“<br />
162 Vgl. Ritz 2001, 150: „Das Ich gibt in seiner utopischen Selbstprojektion nach außen am Schluss seinen<br />
Subjektcharakter auf. Es wird getragen.“<br />
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zur Einheit mit <strong>de</strong>m mütterlichen Körper, zum ‚Semiotischen’ bzw. zur Einheit mit<br />
Gott und Natur <strong>de</strong>uten:<br />
Dann wer<strong>de</strong>n dich einst missgünstige Wolken<br />
vor <strong>de</strong>m Auge <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> schützen –<br />
Berge wer<strong>de</strong>n <strong>de</strong>ine Brust umschließen – und von <strong>de</strong>n Gipfeln,<br />
Wohin we<strong>de</strong>r Vogel noch Nebel reichen,<br />
Fährt hernie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Feuerwagen <strong>de</strong>s Entzückens<br />
Und reißt <strong>de</strong>inen freien Geist zur Sonne. (291) 163<br />
9.15. Der sterben<strong>de</strong> Vogel<br />
Auf ähnliche Bil<strong>de</strong>r stoßen wir in „Duma“ (285 f.), 164<br />
einem fast ungereimten<br />
Gedicht, welches das mo<strong>de</strong>rnistische Motiv <strong>de</strong>s Albatros aufgreift. Auch <strong>de</strong>r Albatros<br />
ist verwun<strong>de</strong>t, entgrenzt und zwischen Himmel und Er<strong>de</strong> bzw. Himmel und Meer,<br />
man könnte auch interpretieren – zwischen Geist und Materie, Männlichkeit und<br />
Weiblichkeit zerrissen. Mit einem Flügel versucht er noch sich aus <strong>de</strong>m Wasser zu<br />
heben (eine <strong>de</strong>r häufigeren Visionen dieser Lyrik!), sich zum Himmel<br />
emporzustrecken, während <strong>de</strong>r an<strong>de</strong>re Flügel bereits versinkt. Dieses Bild wird mit<br />
<strong>de</strong>m Kreuzsymbol parallelisiert. Auch hier fließt das Blut ununterbrochen mit einem<br />
breiten, unaufhaltsamen Strom, und es gibt nieman<strong>de</strong>n, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Schwan erlösen,<br />
heilen, in seinem Herzen „ein Nest <strong>de</strong>r Ruhe“ bauen könnte. Das ‚Nest <strong>de</strong>r Ruhe’ kann<br />
mit <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>r heutigen Psychologie als das ‚Urvertrauen’ bezeichneten Phänomen in<br />
Verbindung gebracht wer<strong>de</strong>n – <strong>de</strong>r Bedingung <strong>de</strong>r seelischen Stabilität eines<br />
Individuums. Dieses Urvertrauen können einem Menschen nur seine nächsten<br />
Bezugspersonen in <strong>de</strong>r frühesten Kindheit vermitteln; es kann aber u.U. auch durch<br />
eigene Bemühungen bzw. positive Erfahrungen wie<strong>de</strong>r erlangt wer<strong>de</strong>n:<br />
163 Polnisch: „Wtedy zawistne niegdyś chmury / Przed ziemi cię zasłonią okiem – / Otoczą góry pierś – a<br />
z szczytu, / Kędy nie sięga ptak ni tuman, / Ognisty zstąpi wóz zachwytu / I duch twój wolny porwie w<br />
słońce.“<br />
164 „Ze szlaków ducha“. „Chimera“ 1905, B. 9, H. 25.<br />
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Wo sind die Hän<strong>de</strong>, die fähig, ihn aus gefährlichen Gewässern<br />
Zu erlösen – fließen<strong>de</strong>s Blut aufzuhalten –<br />
In seinem Herzen ein Nest <strong>de</strong>r Ruhe zu bauen –<br />
Wo gibt es ein <strong>de</strong>rart großes Herz – und solche Hän<strong>de</strong>? 165<br />
Das Problem <strong>de</strong>r <strong>de</strong>m irdischen Dasein anhaften<strong>de</strong>n Teilung ist auch hier vorhan<strong>de</strong>n.<br />
Ein Wan<strong>de</strong>rer wird zum Zeugen <strong>de</strong>s Lei<strong>de</strong>ns und bedauert, es nicht lin<strong>de</strong>rn zu können,<br />
da er sich sowohl von <strong>de</strong>m verletzten Vogel als auch vom Rest <strong>de</strong>r Welt durch einen<br />
unüberbrückbaren Abgrund getrennt erlebt. Dieser Abgrund wird in „Xięga poezji<br />
idyllicznej“, einem Buch, mit <strong>de</strong>m und in <strong>de</strong>m sich Piotr Odmieniec Włast selbst ‚ein<br />
Nest <strong>de</strong>r Ruhe’ baut, überbrückt. 166<br />
165 Polnisch: „Gdzie dłonie, co go z wód groźnych zdolne / Wybawić – wstrzymać płynącą krew – / W<br />
sercu mu gniazdo uwić spokoju – / Gdzie takie wielkie serce – i dłonie?“<br />
166 In einigen Gedichten aus <strong>de</strong>r Lyrik vor 1907, u.a. in „Pełnia“ (Die Fülle, 295), wird diese<br />
Überbrückung bereits vorweggenommen.<br />
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Resümee<br />
Ein unbändiges Lebensverlangen und die Furcht davor, sich als Subjekt nie<br />
konstituieren und selbst verwirklichen zu können, durchziehen als motivische<br />
Dominanten die frühen, kunstvoll, äußerst dynamisch und kontrastvoll gestalteten<br />
Gedichte und lyrischen Prosatexte Komornickas. Sie aktualisieren die Versmuster<br />
und die Metaphorik <strong>de</strong>s ‚Jungen Polen’, überschreiten jedoch die Ästhetik <strong>de</strong>r Epoche<br />
durch <strong>de</strong>ren Übersteigerung, Verfremdung und Intensivierung. Durchzogen von<br />
expressionistischen Visionen eines nicht gelebten, in <strong>de</strong>r Materie verhafteten, von<br />
Anfang an todgeweihten Lebens, eines entgrenzten, konturlosen Vegetierens ohne<br />
Geschichte und Biographie setzen diese Texte existenzielles Entsetzen („Krzyk“) in<br />
Szene. Der menschliche Körper, <strong>de</strong>r Leib <strong>de</strong>s sprechen<strong>de</strong>n Ichs wird als versehrt und<br />
<strong>de</strong>fizient wahrgenommen, mit einer ewig offenen, bluten<strong>de</strong>n Wun<strong>de</strong>.<br />
In einigen Gedichten imaginiert sich das lyrische Ich als maskuliner, mächtiger und<br />
mutiger „Jäger <strong>de</strong>s Lebens“, als abschussbereiter „Pfeil auf <strong>de</strong>m Bogen <strong>de</strong>s<br />
Verlangens“, <strong>de</strong>r – in Anknüpfung an Nietzsches Übermenschkonzept – gigantische<br />
Phantasien vom abenteuerlichen Leben entwickelt und bereit ist, mit Schmerzen für<br />
eine bewusste, wache, aktive Existenz zu bezahlen („Nastrój“). Diese <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s<br />
Heros verpflichteten Ichentwürfe sind von vornherein von <strong>de</strong>r Angst gebrochen, aus<br />
<strong>de</strong>m überschäumen<strong>de</strong>n Potential keinen Gebrauch machen zu können und im ‚Sumpf’,<br />
im ‚Tod’, in <strong>de</strong>n Schranken einer konventionellen weiblichen Existenz gefangen<br />
bleiben zu müssen („Drugie życie“). In <strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r frühen Prosa Komornickas<br />
gestellt lassen sich diese Bil<strong>de</strong>r als eine universalisieren<strong>de</strong> Darstellung weiblicher<br />
sozialer Erfahrung lesen.<br />
Die gewaltigen, unter Rückgriff auf militärische Metaphorik kreierten<br />
Subjektentwürfe, die die Transgression einer weiblichen Erfahrungswelt imaginieren<br />
(„Bunt anioła“), überschreiten bei weitem die Konventionen <strong>de</strong>r weiblichen Lyrik. Sie<br />
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sind von aggressiven Zerstörungs- und Selbstzerstörungsphantasien, von Rache- und<br />
Machtgelüsten geprägt und ‚leben’ von einer auch poetologisch bedingten<br />
<strong>de</strong>struktiven Dynamik. Mehrere von ihnen inszenieren in <strong>de</strong>n Schlussszenen dasselbe<br />
Phantasma – ein Wesen zieht ein an<strong>de</strong>res bzw. die gesamte Menschheit in <strong>de</strong>n Tod,<br />
welcher zunehmend eine mystische Färbung erhält („Bunt anioła“, „Miłość“, „Agni“,<br />
„Idylla“, „Czemu“).<br />
Einen interessanten intertextuellen Dialog mit <strong>de</strong>m herrschen<strong>de</strong>n Geschlechterdiskurs,<br />
wie er u.a. in <strong>de</strong>r Lyrik Mickiewiczs und Lemańskis aktualisiert wird, und einen dazu<br />
konträren Entwurf weiblicher Stärke und kultureller Kompetenz einerseits sowie<br />
männlicher Heteronomie und Naturnähe an<strong>de</strong>rerseits führt das Gedicht „Dumanie“.<br />
Auch hier birgt <strong>de</strong>r von unlösbaren moralischen Konflikten begleitete Wunsch <strong>de</strong>s<br />
weiblichen Subjekts nach <strong>de</strong>r Befreiung aus <strong>de</strong>r klammern<strong>de</strong>n männlichen Umarmung<br />
die Gefahr <strong>de</strong>r Tötung <strong>de</strong>s Geliebten. Der Text steht in engem Zusammenhang mit<br />
Komornickas Biographie und ihrer Beziehung zu Jan Lemański. Er reflektiert die von<br />
<strong>de</strong>r Dichterin veranlasste Trennung <strong>de</strong>s Paares, die Unterschie<strong>de</strong> in <strong>de</strong>r Wahrnehmung<br />
<strong>de</strong>s Weiblichen zwischen <strong>de</strong>n Ehepartnern, sowie die mit ‚Befreiung’ verbun<strong>de</strong>nen<br />
Gefühle <strong>de</strong>r Schuld.<br />
Das weibliche Subjekt <strong>de</strong>r lyrischen Texte Komornickas nimmt sich zwar das Recht<br />
zu männlichen Phantasien und Ichentwürfen, bleibt jedoch von einem starken<br />
Schuldkomplex belastet. In <strong>de</strong>r lyrischen Prosa „Miłość“, einem bizarren, aggressives<br />
Begehren inszenieren<strong>de</strong>n erotischen Text, ertönt die Stimme einer rasen<strong>de</strong>n,<br />
begehren<strong>de</strong>n, lieben<strong>de</strong>n und hassen<strong>de</strong>n Frau (vgl. „Biesy“). Das in <strong>de</strong>r<br />
abendländischen Kultur tabuisierte Aussprechen eines wil<strong>de</strong>n weiblichen Begehrens<br />
ist hier jedoch gleichbe<strong>de</strong>utend mit <strong>de</strong>m in dieser Lyrik obsessiv wie<strong>de</strong>rkehren<strong>de</strong>n<br />
Wunsch nach Bestrafen o<strong>de</strong>r Bestraftwer<strong>de</strong>n. Eros und Ethos, Körperlichkeit und<br />
Spiritualität bil<strong>de</strong>n bei Komornicka, an<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>r ähnliche Bil<strong>de</strong>r<br />
sadomasochistischen Begehrens entwerfen<strong>de</strong>n Lyrik von Leśmian, unvereinbare<br />
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Gegensätze und halten <strong>de</strong>r abendländischen Kultur einen Spiegel vor. Der männliche<br />
Geliebte steht, nicht nur in diesem Text, für tierische, geist- und seelenlose Lust.<br />
Visionen seines Auspeitschens und Vernichtens symbolisieren <strong>de</strong>n Drang nach <strong>de</strong>r<br />
Ausrottung <strong>de</strong>r Sexualität aus <strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>s sprechen<strong>de</strong>n Ichs. In vielen Texten<br />
spaltet dieses Ich seine Biographie in die sündhafte Vergangenheit einerseits und das<br />
Projekt einer Heilung an<strong>de</strong>rerseits. Der Eros wird zunehmend entleibt und in <strong>de</strong>n<br />
Bereich <strong>de</strong>r Mystik transponiert. In lyrischen Prosatexten wie „Idylla“ und „W<br />
górach“ dient <strong>de</strong>r erotische Diskurs <strong>de</strong>r Inszenierung <strong>de</strong>s Begehrens Gottes, <strong>de</strong>r<br />
Beziehung zwischen Mensch und – mit Bil<strong>de</strong>rn unterschiedlicher Mythologien<br />
imaginierten – Transzen<strong>de</strong>nz. Bei<strong>de</strong> Texte antizipieren einen mystischen,<br />
gewaltsamen Tod aus <strong>de</strong>r Hand Gottes. In „Idylla“ steht die Angst vor <strong>de</strong>r<br />
Verwandlung im Vor<strong>de</strong>rgrund, in „W górach“ wird <strong>de</strong>r Wunsch nach absoluter<br />
Erneuerung und Tilgung einer geheimnisvollen Schuld übermächtig. Das Bewusstsein<br />
einer solchen Schuld wird in diesen Texten zum Motor <strong>de</strong>s mystischen Begehrens.<br />
Das Phantasma <strong>de</strong>r vollkommenen Auslöschung und <strong>de</strong>r phönixartigen Wie<strong>de</strong>rgeburt<br />
<strong>de</strong>s Subjekts erfährt vor Komornickas Geschlechtswechsel eine immense Steigerung,<br />
so z.B. in „Z chłodów“ und „Pragnienie“. Die Texte sind von einem Hass<br />
ohnegleichen gegen die bisherige I<strong>de</strong>ntität und von einem ungehemmten Wunsch nach<br />
einem I<strong>de</strong>ntitätswechsel erfüllt. Dieser wird auch als soziale Wie<strong>de</strong>rgeburt anvisiert<br />
und mit <strong>de</strong>m Motiv <strong>de</strong>s Klei<strong>de</strong>rwechsels in Verbindung gebracht. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich<br />
wird dies im Gedicht „Na rozdrożu“, das ein weibliches Subjekt ‚nackt’ auf <strong>de</strong>m Weg<br />
zu einer neuen, von <strong>de</strong>n Zwängen <strong>de</strong>r Kulturwelt befreiten Existenz präsentiert. Diese<br />
neue Existenz wird mit <strong>de</strong>r Metapher <strong>de</strong>s Mantels aus Sternenstaub <strong>de</strong>m Ich in<br />
Aussicht gestellt. In einem an<strong>de</strong>ren Gedicht ist es ein purpurrotes königliches<br />
Gewand, das sich das wie<strong>de</strong>rgeborene Ich über die Schultern werfen darf („W<br />
nieskończoności…“). Der in einigen Texten auch auf grammatischer Ebene erfolgte<br />
Geschlechtswechsel erscheint hier nicht als die vor<strong>de</strong>rgründige Intention <strong>de</strong>r<br />
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Wandlung, son<strong>de</strong>rn als ein Mittel ihrer Dramatisierung und Zuspitzung. Aber auch<br />
zahlreiche an<strong>de</strong>re Texte porträtieren das Subjekt in einem Zwischenstadium, z.B. als<br />
Schlange, die auf eine neue Haut wartet (u.a. „Czuwanie“). Darunter befin<strong>de</strong>n sich<br />
Existenzen, die ausdrücklich für ein ‚weibliches’ Schicksal stehen, so die<br />
Protagonistinnen von „Ahasvera“ und „Intermezzo“. Bei<strong>de</strong> Frauen sind verwun<strong>de</strong>te,<br />
obdachlose, ausgestoßene Herumirren<strong>de</strong>, <strong>de</strong>ren Dasein nicht durch die Existenz eines<br />
Mannes an ihrer Seite legitimiert wird, die in <strong>de</strong>r Welt <strong>de</strong>r abendländischen Kultur<br />
keinen Platz für sich fin<strong>de</strong>n. Hier intendiert Komornicka die Aufhebung <strong>de</strong>r<br />
abendländischen Spaltung <strong>de</strong>r Frau in Engel und Dämon: Bei<strong>de</strong> Protagonistinnen sind<br />
als ‚heilig’ und ‚verdammt’ zugleich mo<strong>de</strong>lliert. In „Intermezzo“ wird auf eine<br />
folgenträchtige biographische Erfahrung Komornickas angespielt – auf ihre<br />
Demütigung durch die Sittenpolizei, die ihren lebenslangen Schuldkomplex und ihren<br />
Drang zur Distanzierung von <strong>de</strong>m mit <strong>de</strong>m Stigma <strong>de</strong>s Obszönen gebrandmarkten<br />
Geschlecht zu begrün<strong>de</strong>n scheint. Trotz ihrer literarischen Versuche <strong>de</strong>r<br />
Dekonstruktion dieses Frauenbil<strong>de</strong>s bleibt Komornicka zutiefst in seinem Bann<br />
verhaftet und damit gespalten. In ihren sowohl in formeller als auch in i<strong>de</strong>eller<br />
Hinsicht an Nietzsche anknüpfen<strong>de</strong>n Aphorismen („Z księgi…“) <strong>de</strong>nunziert sie<br />
Weiblichkeit als von Natur aus falsch, verlogen und moralisch unmündig.<br />
Männlichkeit steht hingegen, trotz <strong>de</strong>r Charakterisierung <strong>de</strong>r männlichen Figuren als<br />
schwach, geistlos und lüstern, für Mut und Tapferkeit und neues Leben. Auch diese<br />
Überzeugungen liefern <strong>de</strong>n i<strong>de</strong>ologischen Hintergrund für <strong>de</strong>n realen<br />
Geschlechtswechsel Komornickas.<br />
Ein neuer, für „Xięga poezji idylicznej“ richtungweisen<strong>de</strong>r Trend macht sich<br />
bemerkbar – die I<strong>de</strong>alisierung und Überhöhung <strong>de</strong>r Familie, die ebenfalls mit<br />
Komornickas biographischen Erfahrungen, ihrer frühen Rebellion, im Zusammenhang<br />
steht. In höchsten Tönen wird das patriarchalische, im Verfall begriffene Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r<br />
Familie gelobt. In diesem Mo<strong>de</strong>ll haben die Väter Macht und geistige Autorität, die<br />
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Mütter sind Wächterinnen <strong>de</strong>r Moral. An<strong>de</strong>rerseits gibt es aber auch Aphorismen, in<br />
<strong>de</strong>nen Komornicka die Machtübernahme durch die bisher versklavten Frauen<br />
ankündigt: Dies führt wie<strong>de</strong>rum die Linie ihrer frühen emanzipatorischen Texte fort.<br />
Neben <strong>de</strong>n Texten, die die tragische Wun<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Subjekts und seine Verbannung aus<br />
<strong>de</strong>m Paradies <strong>de</strong>r Einheit mit Gott, Mutter, Natur, seine schmerzhafte Verstrickung in<br />
Schuld sinnfällig machen (u.a. „Duma“), gibt es auch einige, die bereits die Utopie <strong>de</strong>r<br />
mystischen Einheit und Fülle, ein Leben ohne Angst und moralische Qualen<br />
antizipieren und das Bild eines Ichs, das sich von Gott tragen lässt, entwerfen (Zyklus<br />
„Maj“, „Pełnia“, „Mądrość“). Diese Gedichte experimentieren in einigen Fällen mit<br />
einer an<strong>de</strong>ren, vereinfachten, an die Sprache <strong>de</strong>r Prosa angenäherten, die<br />
jungpolnische Ornamentalisierung aufgeben<strong>de</strong>n Poetik, die die Umrisse einer neuen<br />
poetologischen I<strong>de</strong>e durchscheinen lässt. Die bisher vertretene ‚phallogozentrische’, in<br />
„Krzyk“ affirmierte ästhetische Konzeption gerät, insbeson<strong>de</strong>re in „Ból fatalny“, unter<br />
die Rä<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Kritik. Das Schaffen entspringt hier einem schmerzhaften Mangel, <strong>de</strong>m<br />
Gefühl <strong>de</strong>r Trennung, <strong>de</strong>r Ferne Gottes, <strong>de</strong>m ausfließen<strong>de</strong>n Blut <strong>de</strong>s Subjekts. Der<br />
Schaffensprozess wird in erotisierter Bildlichkeit vorgeführt und als sündhaft und<br />
todbringend mo<strong>de</strong>lliert, als ein Vorgang, <strong>de</strong>r sich nur in <strong>de</strong>r Welt nach <strong>de</strong>m<br />
Sün<strong>de</strong>nfall, nach <strong>de</strong>m Eingang in die symbolische Ordnung <strong>de</strong>r Kultur ereignen und<br />
etablieren konnte. Die innerhalb dieses Paradigmas produzierten Wortlawinen reißen,<br />
so die vorherrschen<strong>de</strong> Bildlichkeit, immer neue Wun<strong>de</strong>n in das <strong>de</strong>m Himmel entgegen<br />
streben<strong>de</strong> Subjekt und lassen seine Kräfte versiegen. Ein <strong>de</strong>m entgegengesetztes<br />
Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>s Dichtens wird Włast in „Xięga“ in die Tat umsetzen. Der Dichter wird in<br />
dieser Konzeption mit Gott, Natur und <strong>de</strong>r Welt eins sein, sein Wort wird nicht mehr<br />
als ein ästhetisches, narzisstisches, ‚schönes’, son<strong>de</strong>rn als ein prophetisches, ‚wahres’<br />
mo<strong>de</strong>lliert. Dieses Wort wird nicht etwas von <strong>de</strong>r Welt und vom Subjekt Getrenntes<br />
sein. Es wird nicht mehr die Subjektlosigkeit beklagen und die To<strong>de</strong>sangst<br />
herausschreien müssen. Denn in <strong>de</strong>r Welt dieser Dichtung wird es keinen Tod, keine<br />
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Schuld, keine Trennung und keine Literatur im überkommenen Sinne mehr geben.<br />
Komornicka, die Meisterin <strong>de</strong>s literarischen Diskurses ihrer Zeit wird als Włast ein<br />
‚Buch <strong>de</strong>r Seele’, ein ‚Buch <strong>de</strong>r Welt’ 167 schreiben, das nicht tötet und spaltet, son<strong>de</strong>rn<br />
leben und überleben lässt. Das ‚Schwert <strong>de</strong>s Schaffens’ wird zugunsten <strong>de</strong>s ‚Nestes<br />
<strong>de</strong>r Ruhe’ 168 abgelegt. Es ist paradox: Gera<strong>de</strong> als Mann lässt sich Piotr Odmieniec<br />
Włast in seinem opus magnum auf die abendländischen Phantasmen <strong>de</strong>r Weiblichkeit<br />
ein.<br />
167 Metaphorik aus „Ból fatalny“.<br />
168 Metaphorik aus „Duma“.<br />
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10. Die Sehnsucht eines ‚Narren’ –<br />
Xięga poezji idyllicznej<br />
(Das Buch <strong>de</strong>r idyllischen Poesie)<br />
1917-1928<br />
Diese kleine Welt lei<strong>de</strong>t unter <strong>de</strong>m schwarzen Zeichen <strong>de</strong>s<br />
Zweifels... Schweig, du Unseliger! Roll’ dich zusammen und<br />
erträume dir eine glücklichere. („Xięga…“288) 1<br />
10.1. Der ‚kleine Versemacher’ und Prophet<br />
Mit „Xięga poezji idyllicznej“, einem als Ganzes nie veröffentlichten, aber mit großer<br />
graphischer Sorgfalt gestalteten und gebun<strong>de</strong>nen, 500 Seiten umfassen<strong>de</strong>n<br />
Manuskript, 2 unternimmt Piotr Włast einen Versuch, die in „Ból fatalny“ inszenierte<br />
dramatische Trennung zwischen Literatur und Leben, Literatur und <strong>de</strong>m schreiben<strong>de</strong>n<br />
Ich, letztlich auch zwischen Kultur und Natur, Ich und Gott zu überwin<strong>de</strong>n. Das<br />
Schreiben <strong>de</strong>s verwan<strong>de</strong>lten, 3<br />
‚gestorbenen’ und ‚wie<strong>de</strong>rgeborenen’ Autors ist kein<br />
aggressiver Akt <strong>de</strong>s immer neuen Aufschnei<strong>de</strong>ns <strong>de</strong>r alten Wun<strong>de</strong> mehr. Ganz im<br />
Gegenteil, mit diesem Schreiben soll die Wun<strong>de</strong>, eines <strong>de</strong>r Hauptmotive <strong>de</strong>r Lyrik<br />
Komornickas, das Signum <strong>de</strong>r symbolischen Vertreibung aus <strong>de</strong>m Paradies,<br />
1 Alle Seitenangaben beziehen sich auf das Manuskript <strong>de</strong>r „Xięga…“, Literaturmuseum in Warschau,<br />
Signatur 364. Polnisch: „Pod czarnym znakiem wątpienia cierpi ten światek… / Milcz, nieszczęśliwy!<br />
Skul się i wymarz szczęśliwszy“.<br />
2 Bis zum heutigen Tag wur<strong>de</strong>n nur einige Texte <strong>de</strong>r von Pigoń (1964) als ‚traurige Ruinzeugnisse’<br />
abqualifizierten „Xięga“ veröffentlicht (vor allem in: Janion 1982, Podraza-Kwiatkowska 1996). Das<br />
Manuskript wur<strong>de</strong> noch in <strong>de</strong>r Zwischenkriegszeit vom Autor <strong>de</strong>m Pfarrer <strong>de</strong>r Grabower<br />
Kirchengemein<strong>de</strong> Władysław Kucharczuk übergeben - die Mutter, <strong>de</strong>r das Exemplar gehören sollte, lebte<br />
seit 1928 nicht mehr.<br />
3 Der vollständige männliche Name Komornickas lautet Piotr Odmieniec Włast. ‚Odmieniec’ lässt sich<br />
sowohl als ‚Son<strong>de</strong>rling’ wie auch als ‚<strong>de</strong>r Verwan<strong>de</strong>lte’ übersetzen.<br />
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verbun<strong>de</strong>n und geheilt wer<strong>de</strong>n. Deutlich wird dies bereits im ersten als „Vorwort“<br />
betitelten Gedicht <strong>de</strong>r „Xięga“: „Wenn sich <strong>de</strong>s Himmels Zauber öffnet / Fühle ich<br />
nicht die Wun<strong>de</strong>n meiner Füße; Auf <strong>de</strong>n Lippen schon <strong>de</strong>r Geschmack <strong>de</strong>r Devakhana<br />
(...)“. 4 Mit „Xięga poezji idyllicznej“ verabschie<strong>de</strong>t sich Włast von <strong>de</strong>n herrschen<strong>de</strong>n<br />
Kunstkonzeptionen. Sein „Buch“-Projekt nähert sich <strong>de</strong>n esoterischen, u.a.<br />
kabbalistischen Vorstellungen vom Buch <strong>de</strong>r Schöpfung und von <strong>de</strong>r Einheit zwischen<br />
<strong>de</strong>r (Heiligen) Schrift und <strong>de</strong>r Welt. 5 „Xięga“ ist als Offenbarungstext eines<br />
Propheten, als „Geschenk <strong>de</strong>r Götter“ (492) konzipiert. Insofern tritt hier die<br />
Jakobsonsche poetische Funktion <strong>de</strong>r Sprache, ein konstitutives Element <strong>de</strong>s<br />
bürgerlich-patriarchalischen Kunstbegriffs (Lindhoff 1995, 9), in <strong>de</strong>n Hintergrund.<br />
Die Nachricht soll nicht ‚narzisstisch’ auf sich selbst, son<strong>de</strong>rn auf die Transzen<strong>de</strong>nz<br />
verweisen, eine Realität magisch heraufbeschwören und damit eine referenzielle und<br />
performative Funktion zugleich erfüllen. Neben Gedichten von unterschiedlichstem<br />
Umfang und variantenreichen metrischen Strukturen (Sonette, Hymnen,<br />
Verserzählungen, Epigramme, kurze Scherzgedichte) beinhaltet „Xięga“ Psalmen,<br />
Gebete, Litaneien, meditative Prosa.<br />
Das „Buch…“ bekam zu Lebzeiten <strong>de</strong>s Autors keine Gelegenheit, gedruckt, rezipiert<br />
und Gegenstand einer literaturkritischen Auseinan<strong>de</strong>rsetzung zu wer<strong>de</strong>n. Dieser<br />
mediale Unterschied macht die Texte <strong>de</strong>r „Xięga“ mit Komornickas literarischer<br />
Produktion aus <strong>de</strong>r Zeit vor 1907 kaum vergleichbar. Zwar zeigte sich Włast sowohl<br />
in seinem bereits analysierten Brief an Pigoń als auch in seiner späteren<br />
Korrespon<strong>de</strong>nz mit <strong>de</strong>r Jugendfreundin Zofia Zahrtowa 6 einer Veröffentlichung nicht<br />
4 Polnisch: „Gdy nieba cud się otwiera / Nie czuję stóp swoich rany; W ustach już smak Devakhany<br />
(…).“ ‚Devakhana’ ist ein hinduistisches Paradies-Konzept (vgl. Kralkowska-Gątkowska 2002, 214 f.).<br />
5 Vgl. Bockenheim/Bednarek/Jastrzębski 1996, 177.<br />
6 Nach <strong>de</strong>m Krieg unternimmt Zofia Zahrtowa einen erfolglosen Versuch <strong>de</strong>r Publikation <strong>de</strong>r „Xięga“.<br />
Dazu Włast: „Meine liebe Zosia, ich wie<strong>de</strong>rhole es noch einmal, dass mir Worte und Publikationen eher<br />
gleichgültig sind: ich wünschte, <strong>de</strong>r Himmel könnte mich ohne Wi<strong>de</strong>rwillen lesen. Gleichwohl sage ich<br />
dir, dass ich vermute, so mancher Proletarier o<strong>de</strong>r armer Teufel wür<strong>de</strong> sogleich meine atemlosen und<br />
schlummern<strong>de</strong>n Strophen verstehen. Probier es aus, ruf ein paar edle Volksseelen zu Dir und lies ihnen<br />
vor – und ich <strong>de</strong>nke, dass sie mich besser verstehen wer<strong>de</strong>n als irgen<strong>de</strong>in Spezialist für Poesie und<br />
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abgeneigt. Das Publizieren war jedoch genauso wenig das Ziel seiner Bemühungen<br />
wie die – von <strong>de</strong>r jungen Komornicka so begehrte – Anerkennung durch die<br />
Institution <strong>de</strong>r Literaturkritik. Die Texte Własts sind <strong>de</strong>mentsprechend meist nicht so<br />
perfektionistisch wie die Komornickas. Ihre Konstruktion ist nicht so straff, sie wirken<br />
mitunter ‚geschwätzig’ und ‚nachlässig’. Weltanschaulich sind sie statischer und<br />
homogener, Wertkonflikte wer<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Textoberfläche meist geglättet. Diese<br />
Dichtung will nicht mit ihrer raffinierten und unhinterfragbaren Literarizität bestechen<br />
und hebt sich damit sowohl vom Ästhetizismus <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> als auch vom<br />
Konstruktivismus und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren avantgardistischen Strömungen <strong>de</strong>r polnischen<br />
Zwischenkriegslyrik ab. In einigen Fällen wirkt sie, durch <strong>de</strong>n Einsatz von stark<br />
konventionalisierten, abgegriffenen Vers-, Reim- und metrischen Formen, aber auch<br />
von bestimmten noch aufzuzeigen<strong>de</strong>n Motiven, die Äquivalenzen mit <strong>de</strong>m Weltbild<br />
<strong>de</strong>r Schizophrenen aufweisen (Kępiński 1992), banal, infantil, <strong>de</strong>fizient. 7<br />
Insofern<br />
hatte Pigoń (1964) mit seinem vernichten<strong>de</strong>n ästhetischen Verdikt über „Xięga“ 8 nicht<br />
ganz Unrecht – auch wenn es aus feministischer Sicht schwer fällt, <strong>de</strong>m zuzustimmen.<br />
Nimmt man als Literaturkritiker(in) die Perspektive <strong>de</strong>r im 19. und 20. Jahrhun<strong>de</strong>rt<br />
gelten<strong>de</strong>n ästhetischen Maßstäbe an, erscheint es tatsächlich möglich, über einen Teil<br />
dieser Texte ein Urteil zu fällen, wie es Lange (1992, 198) über <strong>de</strong>n späten Höl<strong>de</strong>rlin<br />
formulierte: „Höl<strong>de</strong>rlin, <strong>de</strong>r Dichter, schwieg, was blieb, war ein etwas verschrobener<br />
Verseschmied und Reimemacher.“ An<strong>de</strong>rerseits jedoch bestechen zahlreiche „Xięga“-<br />
Texte durch die Generierung eines bizarren, grotesken Weltbil<strong>de</strong>s, das an Leśmian,<br />
Gałczyński, Gombrowicz o<strong>de</strong>r Schulz <strong>de</strong>nken lässt, durch einen neuen, bei <strong>de</strong>r jungen<br />
Komornicka nicht vertretenen Diskurs, <strong>de</strong>r Erhabenes mit <strong>de</strong>m Trivialen verschränkt,<br />
gesellschaftliche Nachfrage.“ (Brief von Komornicka an Zahrtowa vom 08.10.1947. Korrespon<strong>de</strong>nz von<br />
Zofia Villaume-Zahrtowa in: Biblioteka Główna Uniwersytetu Marii Curie-Skłodowskiej in Lublin,<br />
Signatur 178.) Zur Aufnahme <strong>de</strong>r „Xięga“ durch Zofia Nałkowska vgl. Nałkowska 1975, 96.<br />
7 Vgl. Sosnowski 1993.<br />
8 Zimand (1984, 138) hingegen beurteilt die ästhetische Leistung <strong>de</strong>s „Buches…“ durchaus positiv: „Die<br />
Gedichte im ‚Buch <strong>de</strong>r idyllischen Poesie’ sind so wie sie sind nicht weil P.O.W. keine Gedichte<br />
schreiben konnte, son<strong>de</strong>rn gera<strong>de</strong> weil er es konnte, schrieb er sie eben so, wie er sie haben wollte.“<br />
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durch ‚<strong>de</strong>rben’ Humor, raffinierte Ironie, überraschen<strong>de</strong> metaphorische, metrische und<br />
Reim-Effekte. 9 Die Verwendung von ‚<strong>de</strong>ftiger’ Umgangssprache zum einen und die<br />
Berührung von sehr alltäglichen Themen und Motiven zum an<strong>de</strong>ren verbin<strong>de</strong>t die<br />
Texte Własts mit <strong>de</strong>n ästhetischen Ten<strong>de</strong>nzen <strong>de</strong>r polnischen Zwischenkriegslyrik.<br />
Włast geht in dieser Hinsicht sogar noch weiter als z.B. die „Skamandriten“: Seine<br />
Dichtung hat einen zum Teil sehr familiären, intimen Charakter und wird stellenweise<br />
zur privaten Chronik <strong>de</strong>s Lebens auf <strong>de</strong>m Landsitz Grabów. 10 We<strong>de</strong>r die Literarizität<br />
noch die Fiktivität gehören zur ästhetischen Konzeption <strong>de</strong>r „Xięga“. Włast betont die<br />
Nähe zur Realität: Sein realer Lebensort (Grabów) wird als Szenario <strong>de</strong>s Geschehens<br />
mehrmals erwähnt, es tauchen auch die unverän<strong>de</strong>rten Namen <strong>de</strong>r<br />
Familienangehörigen wie <strong>de</strong>r Mutter, <strong>de</strong>s Vaters, <strong>de</strong>r Geschwister Własts auf. Die<br />
junge Komornicka hat selbst in ihren stark autobiographischen Texten auf die<br />
Abweichung von realen Namen und Umstän<strong>de</strong>n großen Wert gelegt. ‚Weibliches’ im<br />
Sinne von ‚Literatur nicht streng genug vom Leben trennen<strong>de</strong>s Schreiben’ verurteilte<br />
sie in ihren „Chimera“-Rezensionen scharf. Nun kümmert sich Włast nicht mehr um<br />
die gesellschaftlich-kulturellen Anfor<strong>de</strong>rungen an ein literarisches Werk und scheint<br />
auch <strong>de</strong>n ‚Schutzwall’ einer artifiziellen Form nicht mehr zu benötigen. 11<br />
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Dies<br />
expliziert er in seinem Nachwortgedicht, einem siebzehnstrophigen Dreizehnsilbler „Z<br />
lotu Anioła“ (Aus <strong>de</strong>r Engelsperspektive): „Sing <strong>de</strong>in Lied, Dichter!... auch wenn du<br />
kein Publikum hast. / Schaffe so, als sängest du FÜR DICH, hättest Freu<strong>de</strong> daran und<br />
9 Zimand hat auf die Ähnlichkeit dieser Poetik mit <strong>de</strong>r Sprache <strong>de</strong>s Jesuiten und Spätbarockdichters Józef<br />
Baka hingewiesen. Włast selbst verweist in seinen Schlussbemerkungen („Uwagi do niniejszej Xięgi“)<br />
auf <strong>de</strong>n Einfluss von u.a. Laforgue und Poe.<br />
10 Eine solche Chronik führte nach Angaben <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rs Jan Komornicki (Pigoń 1964) bereits die<br />
siebenjährige Komornicka.<br />
11 Ich beziehe mich auf die Theorien zu psychologischen Funktionen formaler Eigenschaften eines<br />
literarischen Textes. Demnach können die formalen Eigenschaften eine Grenze darstellen, „welche die im<br />
Werk ausgedrückte Phantasie zum einen von <strong>de</strong>r sie umgeben<strong>de</strong>n Realität abgrenzt und diese damit vor<br />
ihr schützt“. (Pietzcker 1990). Sie wer<strong>de</strong>n auch als „Ausdruck narzisstischer Allmachtsphantasien“<br />
angesehen, „da sich in ihnen die absolute Herrschaft <strong>de</strong>s Autors über seinen Stoff ausdrückt.“ (Sachs<br />
1951, 49; ähnlich auch Adorno 1970, 21f.) Auch die Einschaltung <strong>de</strong>r zweitgenannten Funktion ist für<br />
Włast nicht erstrebenswert, da er sich zu einem <strong>de</strong>mütigen Sänger Gottes stilisiert.<br />
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einen Grund dafür. / Mögen dich die Geschmäcker und Bedürfnisse <strong>de</strong>r Gesellschaft<br />
nicht bekümmern (...)“. 12 (492) Dennoch drückt er in einer Metaphorik, die starke<br />
Assoziationen zum mystischen Słowacki weckt, zum Schluss seine Hoffnung aus, dass<br />
einige freundschaftliche, bereits beflügelte ‚Geister’ in diesem Buch ihren eigenen<br />
spirituellen Weg wie<strong>de</strong>r fin<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n. In <strong>de</strong>n Schlussbemerkungen weist er darauf<br />
hin, dass diese „asketische Poesie“ für reifere Menschen bestimmt ist, „die bereits die<br />
erste Phase menschlicher Existenz hinter sich haben, was sich ungefähr auf ein Alter<br />
von 50 Jahren festlegen lässt.“ (495)<br />
Trotz <strong>de</strong>s prophetischen Anspruchs und <strong>de</strong>r Ablehnung <strong>de</strong>s herrschen<strong>de</strong>n<br />
Kunstbegriffs kann Włast in seinem Ichentwurf auf die Dignität <strong>de</strong>s Dichters und <strong>de</strong>n<br />
Anspruch <strong>de</strong>r Autorschaft nicht ganz verzichten. Der Band ist eine wohldurchdachte<br />
Konstruktion, ausgestattet mit einem Vorwort, einem Nachwort 13<br />
und einem<br />
abschließen<strong>de</strong>n Kommentar <strong>de</strong>s Autors. 14 Die Texte wur<strong>de</strong>n von Włast in Schönschrift<br />
abgeschrieben und mit kleinen Verzierungen sowie (mehrfach) mit <strong>de</strong>r Autorsignatur<br />
versehen. Unter <strong>de</strong>m Autornamen auf <strong>de</strong>r Titelseite – Piotr Odmieniec Włast –<br />
erscheint in Klammern, quasi als Pseudonym ‚Marya Komornicka’. Die frühere<br />
I<strong>de</strong>ntität wird sowohl durch die Anführungsstriche als auch die Voranstellung <strong>de</strong>s<br />
männlichen Namens ‚geschützt’. In seinem Vorwortgedicht „Przedmowa“ entwirft<br />
Włast explizit die Konzeption seiner Autorschaft. Er grenzt sich dabei von Homer,<br />
Shakespeare und Byron ab, stellt sich mit ihnen aber – was seinen gesellschaftlichen<br />
Rang betrifft – in eine Reihe. Was ihn von diesen Größen <strong>de</strong>r abendländischen Kultur<br />
unterschei<strong>de</strong>, sei eine an<strong>de</strong>re „Quelle <strong>de</strong>r Inspiration“. Nicht die irdische Welt, nicht<br />
die „Hölle <strong>de</strong>r Kämpfe und Lei<strong>de</strong>nschaften“ will Włast besingen. Er <strong>de</strong>finiert sich als<br />
12 Polnisch: „Śpiewaj pieśń swą, Poeto!... choć nie masz słuchaczy. / Twórz tak, <strong>by</strong>ś SOBIE śpiewać miał<br />
i chęć, i po co. / Niech cię społeczny cel i gusta nie kłopocą (…)“.<br />
13 Das Nachwortgedicht ist mit ‚Włast’ unterschrieben und mit Datum versehen: 04.10.29. Unter <strong>de</strong>m<br />
Datum wird die ‚Eigentumsfrage’ geklärt: „Das vorliegen<strong>de</strong> Exemplar ist Mamas Eigentum.“<br />
14 In seinem Schlusskommentar „Uwagi…“ erklärt Włast das Prinzip <strong>de</strong>r Zusammenstellung <strong>de</strong>r Texte<br />
(keine Chronologie, gegenseitige ‚Beleuchtung’ <strong>de</strong>r benachbarten Texte).<br />
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Sänger <strong>de</strong>s Himmels: „Am Gesta<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Kummers und <strong>de</strong>r Tränen / bin ich ein in <strong>de</strong>n<br />
Himmel aufsteigen<strong>de</strong>r Ritter!“ 15 Das Bild <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Himmel gerichteten Augen <strong>de</strong>s<br />
Dichters symbolisiert die spirituelle Sehnsucht, <strong>de</strong>r seine Dichtung entspringen soll.<br />
Mit ‚Himmel’ verbin<strong>de</strong>t Włast nicht nur christliche Vorstellungen. In<br />
religionsphilosophischer Hinsicht hat <strong>de</strong>r Band einen synkretistischen Charakter. 16<br />
Włast verfasst das „Buch“ in seinem Elternhaus bei <strong>de</strong>r Familie <strong>de</strong>s ältesten Bru<strong>de</strong>rs<br />
Jan. (Die Mutter lebt einige Kilometer entfernt beim Sohn Franciszek.) Er lebt am<br />
Ran<strong>de</strong> dieser Familie und ist, laut <strong>de</strong>n im Biographie-Kapitel erläuterten schriftlichen<br />
und mündlichen Überlieferungen <strong>de</strong>r Angehörigen und Nachbarn, nicht in diese<br />
integriert. In <strong>de</strong>n ersten Jahren seines Schreibens tobt <strong>de</strong>r erste Weltkrieg, darauf<br />
verweisen <strong>de</strong>r Untertitel <strong>de</strong>s Buches „In Grabów während <strong>de</strong>s Krieges“ und einige<br />
wenige Kriegsmotive. Als ‚Krieg’ wird aber auch das gespannte Verhältnis zwischen<br />
Włast und seiner Umgebung metaphorisiert. In seinem „Buch“ erschafft bzw.<br />
verkün<strong>de</strong>t Włast eine zur Kriegsrealität alternative utopische Wirklichkeit – das<br />
Paradies <strong>de</strong>r Welt nach <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>s Sün<strong>de</strong>nfalls 17 .<br />
Das „Buch“ ist <strong>de</strong>n Schutzgeistern <strong>de</strong>r Familie als Opfergabe, das Manuskript selbst<br />
<strong>de</strong>r Mutter gewidmet. Wie noch zu zeigen sein wird, bleibt die Mutter die wichtigste<br />
Person sowohl im Leben als auch im Schreiben Własts. Mit seinen Versen kämpft er<br />
immer noch, anscheinend vergeblich, 18<br />
um ihre Anerkennung und Liebe. Seine<br />
Phantasien von mütterlichen ‚Streicheleinheiten’ fin<strong>de</strong>n bereits in das erste Gedicht<br />
15 Polnisch: „Nad zgryzot i łez wybrzeżem / Jam wniebowstępnym Rycerzem!“<br />
16 Als Inspirationsquellen nennt Włast neben <strong>de</strong>n z.T. bereits erwähnten literarischen Vorbil<strong>de</strong>rn<br />
(Laforgue, Poe, Parnassisten, Romantiker, Miriam) auch familiengeschichtliche Faktoren, philosophischreligiöses<br />
Gedankengut (Theosophie, Upanischa<strong>de</strong>n, Yoga, Evangelien und Katechismus), seine<br />
Lei<strong>de</strong>rfahrungen und seine Träume.<br />
17 Zu vergleichbaren utopischen Entwürfen in <strong>de</strong>r Literatur <strong>de</strong>s Jungen Polen (z.B. von Tetmajer, Staff<br />
und Miciński) und ihrer Bezugnahme auf Platons „Phaidros“ vgl. Podraza-Kwiatkowska 2000, 93-117.<br />
18 Dies legt wenigstens die biographische Prosa <strong>de</strong>r Großnichte Komornickas Maria Dernałowicz (1977)<br />
nahe.<br />
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<strong>de</strong>r „Xięga“ Eingang. Hier entwirft er sich als ein braves, gottgefälliges 19 ‚altes’ Kind<br />
(„kleiner Versemacher“), das mit seinen Gedichten die Herzen <strong>de</strong>r Eltern erfreut und<br />
Lob dafür erntet:<br />
Nach Deinem Abbil<strong>de</strong> hast du mich geschaffen, lieber Gott,<br />
Und ich mag es so sehr, mich ruhig nie<strong>de</strong>rzusetzen und zu kritzeln,<br />
Und ein fügsames, ruhiges, braves Kind zu sein,<br />
<strong>de</strong>m die Mutter, wenn sie durch die Zimmer geht,<br />
Mit sanfter Hand über das Köpfchen streicht (...). 20<br />
Die an<strong>de</strong>re Funktion <strong>de</strong>s „Buches“, wie sie Włast selbst in seinem Nachwortgedicht<br />
beschreibt, besteht darin, seinen geistigen Weg bis zur Affirmation <strong>de</strong>r gesamten<br />
Schöpfung zu dokumentieren und zu einer Legen<strong>de</strong> zu verklären: „Wie ich mit<br />
Gewittern kämpfte – wie ich [mein Schiff] zu <strong>de</strong>n Inseln <strong>de</strong>s Glücks lenkte – welche<br />
Mühsal / öffnete mir Blick und Herz für ÜBERMENSCHLICHE WUNDER!“ 21 (494)<br />
Es ist Własts ‚Eintrittskarte’ in <strong>de</strong>n Himmel, in die Welt <strong>de</strong>r Geister, Greise und<br />
Ahnen (dziady), die ihm die Überschreitung <strong>de</strong>r mystischen Schwelle ermöglichen<br />
soll: „Um mit ihr an die Höchsten Schwellen heranzutreten, / Und mit ihr dort<br />
aufgenommen zu wer<strong>de</strong>n (...)“. 22 (492)<br />
19 Gott wird, nicht nur in diesem Gedicht, als ‚Papa’ (tato) angesprochen. In Anspielung auf <strong>de</strong>n<br />
Archetypus <strong>de</strong>s göttlichen Kin<strong>de</strong>s sieht er sich selbst aber auch als einen kleinen Gott an.<br />
20 Polnisch: „Na obraz Swój stworzyłeś mnie, Boziu drogi, / A ja tak lubię siąść spokojnie i gryzmolić, / I<br />
<strong>by</strong>ć potulnem, cichem, dobrem dzieckiem, / Które Matka, idąc pokojami, / Łagodną ręką po głowinie<br />
gładzi (…).“<br />
21 Polnisch: „Jak walczyłem z burzami – jak skręciłem ptakiem / Ku Wyspom Szczęśliwości – i jakie mi<br />
trudy / Otwarły wzrok i serce na NADLUDZKIE CUDY!“<br />
22 Polnisch: „A<strong>by</strong>m mógł się z nią zjawić u Wysokich Progów, / I <strong>by</strong>ć z nią w nich przyjęty (...).“<br />
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10.2. Fratzen <strong>de</strong>r Weiblichkeit – die kastrieren<strong>de</strong> Mutter<br />
Oh, wo bist Du, die meiner Mutter,<br />
<strong>de</strong>r unerbittlichen Wächterin meiner Tugend,<br />
<strong>de</strong>n Kampf <strong>de</strong>r Göttinnen um mein Herz ansagt,<br />
um meiner Seele tiefste Sehnsüchte! (136) 23<br />
Ein äußerst ambivalentes Verhältnis zur Mutter inszeniert „Szeremere“ (131-136), ein<br />
mehrere Seiten umfassen<strong>de</strong>s, metrisch hybri<strong>de</strong>s Gedicht. Das männliche Ich ist in die<br />
Stimme eines kleinen Jungen und eines erwachsenen Mannes gespalten. Bei<strong>de</strong><br />
Stimmen richten sich an die Mutter. Liebe, Zärtlichkeit, Mitgefühl, Faszination <strong>de</strong>r<br />
Mutter gegenüber wer<strong>de</strong>n von heftigem Zorn und Ablösungswünschen unterminiert.<br />
Das entworfene Mutterbild ist sehr zwiespältig. Es ist um <strong>de</strong>n Vergleich mit <strong>de</strong>r<br />
Wolke zentriert, die ihr ‚Gesicht’ immer wie<strong>de</strong>r wechselt und, wie die in „Biesy“<br />
problematisierte Weiblichkeit, nicht fassbar ist. In Anspielung an die Ästhetik <strong>de</strong>r<br />
romantischen Balla<strong>de</strong> folgen weitere Muttervisionen <strong>de</strong>s fiebern<strong>de</strong>n Jungen. Die<br />
Mutter erhält zunächst einmal dieselben konventionalisierten Frauenbild-Attribute, die<br />
sie in Komornickas und Własts an<strong>de</strong>ren Texten und Briefen meist hat: Sie ist die<br />
Madonna, <strong>de</strong>r Engel. Der Kleine steigert sich in ein tiefes, auf vergangene Zeiten<br />
bezogenes, selbstzerstörerisches Mit- und Schuldgefühl <strong>de</strong>r Mutter gegenüber hinein:<br />
Du unterjochter Engel!<br />
Wer wagte es, diese Augen <strong>de</strong>r Madonna zu betrüben? (...)<br />
Oh, wie mein Herz schmerzt,<br />
Mutter!<br />
Für das Brechen <strong>de</strong>ines himmlischen Willens,<br />
Für <strong>de</strong>ine einstigen Lei<strong>de</strong>n! (...)<br />
O Mutter, Mutter, Mutter, wie schlecht es dir erging<br />
Auf <strong>de</strong>r Welt!<br />
O Mutter, noch heute<br />
sterbe ich daran!... (132) 24<br />
23 Polnisch: „O, gdzie jesteś Ty, która mej Matce, / Niezbłaganej Stróży mojej cnoty, / Wyda wojnę bogiń<br />
o me serce, / O najgłębsze duszy mej tęsknoty!“<br />
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Das nicht näher erläuterte, mit einer Aura <strong>de</strong>s Schweigens umgebene Elend <strong>de</strong>r Mutter<br />
wird vom lyrischen Ich quasi ihrem Körper abgelesen. Detailliert beschreibt <strong>de</strong>r Junge<br />
das Gesicht und die Hän<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Mutter (ähnlich wie es die junge Komornicka in ihren<br />
Briefen an die Mutter tut) und semiotisiert diese: „Du nimmst meine Hän<strong>de</strong> / Mit<br />
<strong>de</strong>inen armen, zarten, / Deinen alten Händchen, / Aus <strong>de</strong>nen das Blut entflohen ist /<br />
Durch herzliche Wun<strong>de</strong>n, / Händchen aus Knochen, A<strong>de</strong>rn und Haut“. 25 (132) Der<br />
Blick <strong>de</strong>r Mutter, <strong>de</strong>r das Herz <strong>de</strong>s Jungen „zerreißt“, ist „verängstigt“, ihre Augen<br />
„traurig“, ihre Hän<strong>de</strong> sind „zittern<strong>de</strong> Klagen“, die „nicht über die Lippen zu kommen<br />
wagen“. Die Mutter ist eine stumm Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>, ihre Körpersprache wird zum<br />
„wortlosen Lied eines unaussprechlichen, vor <strong>de</strong>r eigenen Unermesslichkeit<br />
erschrockenen Elends“. 26 (132) Dieses Mutterbild lässt sich als – wahrscheinlich nicht<br />
intendierte – Symbolisierung <strong>de</strong>r Sprachlosigkeit, <strong>de</strong>s Ausschlusses <strong>de</strong>r Frau aus <strong>de</strong>n<br />
Diskursen <strong>de</strong>r abendländischen Kultur lesen. Darüber hinaus entwirft <strong>de</strong>r Junge<br />
nostalgische Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r vergangenen Symbiose mit seiner göttlichen, geheimnisvollen,<br />
aber auch kalten Mutter und phantasiert von einem Liebesglück zwischen ihr und<br />
seinem Vater. 27 Doch die verklären<strong>de</strong>n Imaginierungen wer<strong>de</strong>n immer wie<strong>de</strong>r durch<br />
einen Gegendiskurs durchbrochen. Der Junge wehrt sich gegen mütterliche Gesichter,<br />
die ihm Schrecken einjagen, Gesichter voller „Argwohn, Hohn und Starrsinn“ (139),<br />
in <strong>de</strong>nen er u.a. Hochmut und Stolz, Distanz und Misstrauen ihm gegenüber erblickt. 28<br />
Die anfänglichen Engelsphantasien verwan<strong>de</strong>ln sich in eine Hexenfratze. Die<br />
Sehnsucht <strong>de</strong>s Jungen, einmal das wirkliche Gesicht <strong>de</strong>r Mutter anschauen zu können,<br />
24 Polnisch: „Aniele uciśniony! / Kto śmiał zasmucać te oczy Madonny? (...) / O, jak mnie serce boli, /<br />
Matko moja! / Za to łamanie twej niebiańskiej woli, / Za twoje dawne cierpienie! (…) / O Matko, Matko,<br />
Matko, jak źle ci <strong>by</strong>ło / Na świecie! / O Matko, ja dziś jeszcze od tego / Umieram!...“<br />
25 Polnisch: „Chwytasz me ręce / Swemi biednemi, drobnemi, / Swemi staremi raczynami, / Z których<br />
uciekła krew / Ser<strong>de</strong>cznemi ranami, / Rączkami z kostek, żył i skóry“.<br />
26 Polnisch: „Bezsłowną pieśnią / Niewymownej, / Własnym bezmiarem zalęknionej / Niedoli!“ (132)<br />
27 Solche Phantasien entwickelt Włast auch in <strong>de</strong>n Briefen aus <strong>de</strong>r Psychiatrie.<br />
28 Zitat: „Welch Hochmut!... Mama! Mama! Ich fürchte, / Dass <strong>de</strong>ine Seele tatsächlich so aussieht / Und<br />
dass <strong>de</strong>r Teufel sie genau so in die Hölle entführen wird!...“ (140)<br />
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bleibt ungestillt. 29 Die Verän<strong>de</strong>rbarkeit und Unberechenbarkeit <strong>de</strong>r Mutter wird<br />
explizit mit einem Begriff in Verbindung gebracht, mit <strong>de</strong>m in <strong>de</strong>n heutigen<br />
feministischen Theorien ‚Weiblichkeit’ beschrieben wird – <strong>de</strong>r Maskera<strong>de</strong>. (135)<br />
In <strong>de</strong>n letzten drei Strophen verschmelzen zwei Sprechinstanzen <strong>de</strong>s Textes zu einer<br />
Stimme, die die Mutter verschleiert anklagt (hier än<strong>de</strong>rt sich auch die metrische<br />
Struktur <strong>de</strong>s Gedichtes). Es wird <strong>de</strong>utlich, dass die Mutter, aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>s<br />
Sohnes betrachtet, für Weiblichkeit allgemein steht. Ihr Gesicht gleicht, so die<br />
Textmetaphorik, einer Leinwand, auf <strong>de</strong>r unterschiedliche Frauenbil<strong>de</strong>r präsentiert<br />
wer<strong>de</strong>n. 30 Dies kann be<strong>de</strong>uten, dass <strong>de</strong>r Sohn auf das Gesicht <strong>de</strong>r Mutter vollkommen<br />
fixiert und unablässig damit beschäftigt ist, ihre Masken zu <strong>de</strong>uten. Er lässt sich z.B.<br />
von ihrer Traurigkeit in eine tiefe Depression reißen, i<strong>de</strong>ntifiziert sich emotional<br />
vollkommen mit ihr. In <strong>de</strong>r nachfolgen<strong>de</strong>n, vorletzten Gedichtstrophe bricht heftig und<br />
unvermittelt eine offensive Rebellion in <strong>de</strong>n Text. Der Sohn wen<strong>de</strong>t sich nun betont<br />
sich selbst zu, spricht über die Konsequenzen, die die Omnipräsenz und die<br />
Unfassbarkeit, aber auch die Giftigkeit <strong>de</strong>r Mutter für sein Leben haben:<br />
Ich wer<strong>de</strong> es nicht wagen, mit irgen<strong>de</strong>iner zu flirten,<br />
Mich zu amüsieren o<strong>de</strong>r leichtfertig zu reizen<br />
Niemals wer<strong>de</strong> ich eine heiraten<br />
<strong>de</strong>nn je<strong>de</strong> hat auf irgen<strong>de</strong>ine Art <strong>de</strong>in Profil!<br />
... Es sei <strong>de</strong>nn, ich treffe die, <strong>de</strong>ren Antlitz<br />
In keinster Weise an Dich, Mutter, erinnert! (136) 31<br />
Der Sohn erkennt sich hier als durch das Mutterbild gefesselt und droht verzweifelt<br />
mit Ablösung. Er kann sich jedoch keiner an<strong>de</strong>ren Frau zuwen<strong>de</strong>n. In je<strong>de</strong>r sieht er<br />
eine Kopie <strong>de</strong>r Mutter, ist blockiert, wartet auf eine Erlösung durch eine Geliebte „mit<br />
einem geheimnisvoll jungfräulichen Gesicht“, die seiner Mutter in nichts ähneln<br />
29 Zitat: „Dass mich gar Furcht ergreift, ob <strong>de</strong>nn zumin<strong>de</strong>st eines, / Zumin<strong>de</strong>st dieses liebste, dieses<br />
alltägliche Gesicht, / Ein wahres Gesicht <strong>de</strong>iner Seele ist.“ (141)<br />
30 Zitat: „Warum Mama, zeichnest du mir alle Frauen / wie Schatten auf eine Wand? (...) stellst sie dar auf<br />
<strong>de</strong>m wohl bekannten / geliebten Hintergrund Deines mütterlichen Antlitzes!“ (136)<br />
31 Polnisch: „Ja nie będę śmiał flitrować z żadną, / Bawić się lub drażnić lekkomyślnie / Ja się nigdy nie<br />
ożenię z żadną / Skoro każda jakimś twym profilem! / ... Chyba, że tę spotkam, co obliczem / Ciebie,<br />
Mamo, nie przypomni w niczem!“<br />
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wür<strong>de</strong>. „Włast ist bereit, die Nabelschnur zu durchtrennen, er braucht aber<br />
Unterstützung“, kommentiert Filipiak (2000, 130). Die letzte Strophe ist eine<br />
emotionale Apostrophe an die unbekannte Geliebte, die es schafft, <strong>de</strong>r Mutter, <strong>de</strong>r<br />
„unerbittlichen Wächterin meiner Tugend“ einen „Kampf <strong>de</strong>r Göttinnen um mein<br />
Herz“ anzusagen. Diesen „offenen Kampf mit <strong>de</strong>r eigenen Mutter“ vergleicht das<br />
lyrische Ich mit einer Wie<strong>de</strong>rgeburt, die, so kann interpretiert wer<strong>de</strong>n, Erwachsensein<br />
und Autonomie be<strong>de</strong>uten wür<strong>de</strong>.<br />
Das hier entworfene Bild einer heterosexuellen Beziehung (<strong>de</strong>r Sohn und seine<br />
Erlöserin) kann aber auch an<strong>de</strong>rs gelesen wer<strong>de</strong>n. Wenn man vom ‚Sohn’ als Maske<br />
eines weiblichen Ichs ausgeht, dann ließe sich das Gedicht als vergebliche Suche einer<br />
Tochter nach einer weiblichen I<strong>de</strong>ntität und Authentizität jenseits <strong>de</strong>r von <strong>de</strong>r Mutter<br />
symbolisierten Muster lesen. Je<strong>de</strong> weibliche I<strong>de</strong>ntität wür<strong>de</strong> nämlich in Gefahr<br />
geraten, zum Abbild <strong>de</strong>r Mutter zu wer<strong>de</strong>n und die stark polarisierten Frauenbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r<br />
abendländischen Kultur, die diese repräsentiert, zu reproduzieren. Die junge<br />
Komornicka hat sowohl gegen <strong>de</strong>n realen als auch gegen <strong>de</strong>n symbolischen Vater<br />
rebelliert. Eine Ablösung von <strong>de</strong>r Mutter fand jedoch niemals statt und scheint<br />
innerhalb <strong>de</strong>r „Xięga“ ebenso wenig zu gelingen. 32<br />
Auch in ihrer Korrespon<strong>de</strong>nz<br />
i<strong>de</strong>alisiert, überhöht und mythologisiert Komornicka die Mutter grenzenlos – mit<br />
zärtlichsten Worten und in romantischer Manier. Sie legt <strong>de</strong>tailliert über ihr eigenes<br />
Leben Rechenschaft ab und lädt sich alle Probleme <strong>de</strong>r Mutter auf. In Własts Briefen<br />
bricht sich dann auch die Kehrseite dieser I<strong>de</strong>alisierung <strong>de</strong>n Bahn – die Mutter und<br />
die Familie insgesamt wer<strong>de</strong>n, was angesichts <strong>de</strong>r Vergeblichkeit aller Bitten um<br />
Befreiung auch nachvollziehbar ist, dämonisiert. 33<br />
Gleichzeitig aber erfährt die<br />
Glorifizierung noch eine weitere Steigerung. Bei<strong>de</strong> Eltern wer<strong>de</strong>n von Włast zu einem<br />
Königspaar erhoben, er selbst ernennt sich zum Königssohn.<br />
32 „Maria hat ihren Vater getötet, aber Piotr hat niemals seine Mutter umgebracht“ – meint metaphorisch<br />
Filipiak (2000, 129).<br />
33 Nach Kępiński (1992) entspricht diese Polarisierung einer allgemeinen Ten<strong>de</strong>nz <strong>de</strong>r Wahrnehmung <strong>de</strong>r<br />
familiären Umgebung durch Schizophrenie-Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>.<br />
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Zwei weitere Muttergedichte – „Dobry synek“ und „Mama“ – sind ästhetisch viel<br />
weniger aufwendig. Dieser Eindruck wird durch lautlich und semantisch banale Reime<br />
innerhalb eines simplen, regulären Musters vermittelt, aber auch durch ‚holprige’<br />
syntaktische Parallelismen, fehlen<strong>de</strong> artifizielle Bearbeitung jenseits abgegriffener<br />
Metaphorik und eine relativ infantil anmuten<strong>de</strong> ‚Geschichte’. Bei<strong>de</strong> Texte tragen<br />
keine Spuren <strong>de</strong>r Ambivalenz von „Szeremere“. Izabela Filipiak pointiert dies in<br />
ihrem Kommentar zu „Dobry synek“ (158 f.):<br />
(...) <strong>de</strong>r idiotische Optimismus und <strong>de</strong>r groteske Rhythmus übertönen nicht ganz die grausame<br />
Wahrheit – die Rechte <strong>de</strong>s Familienromans erwiesen sich als stärker, eine Befreiung von <strong>de</strong>r<br />
Mutter, im praktischen und psychologischen Sinne, als unmöglich. Nach diesem Gedicht<br />
erlöschen die Versuche, die Erlöserin aus <strong>de</strong>m utopischen Land <strong>de</strong>r Musen zu beschwören. Der<br />
Sohn wur<strong>de</strong> zum gehorsamen Idioten. (Filipiak 2000, 131) 34<br />
In „Dobry synek“, einem zehnstrophigen Achtsilbler mit einem betont regulären Vers-<br />
und Reimmuster, erfreut sich <strong>de</strong>r Sohn an <strong>de</strong>r Vorstellung, seiner Mutter mit einem<br />
tugendhaften, folgsamen Leben Freu<strong>de</strong> bereiten, sie mit Stolz erfüllen und selig<br />
machen zu können. Dabei wer<strong>de</strong>n sowohl in Bezug auf die Mutter als auch auf <strong>de</strong>n<br />
Sohn Diminutivformen angewandt, so z.B. ‚Flügelchen’ (skrzy<strong>de</strong>łka) o<strong>de</strong>r ‚kleiner<br />
Held’ (bohaterek). Dies klingt beinahe parodistisch, ist aber nicht als Parodie gedacht:<br />
Dass, seine Stirn segnend,<br />
Sie von Zuversicht erfüllt wur<strong>de</strong>,<br />
Und erfreut, dass er so gesund,<br />
sie Flügel an ihrem Haupt spürte.<br />
Dass – seine Stirn segnend,<br />
Sie sich dankbar und fröhlich erinnerte,<br />
<strong>de</strong>s Tages – an <strong>de</strong>m ihr kleines<br />
wun<strong>de</strong>rbares Heldchen geboren ward. (158) 35<br />
34 Polnisch: „(...) idiotyczny optymizm i grotestkowy rytm nie do końca zagłuszą okrutną prawdę – prawa<br />
romansu rodzinnego okazały się silniejsze, uwolnienie od matki – w sensie praktycznym i<br />
psychologicznym niemożliwe. Po tym wierszu pró<strong>by</strong> wywoływania Wybawicielki z utopijnej krainy Muz<br />
wygasną. Syn został posłusznym idiotą.“<br />
35 Polnisch: „Że, błogosławiąc mu czoło, / Sama nabrała otuchy, / I ciesząc się, że tak zdrowy, /<br />
Skrzy<strong>de</strong>łka czuje u głowy. // Że – błogosławiąc mu czoło, / Wspomina wdzięcznie, wesoło, / Dzień – w<br />
który zrodził się mały / Jej bohaterek wspaniały.“<br />
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Als Krönung <strong>de</strong>r Phantasie erlebt die Mutter, von ihrem Sohn erlöst, eine<br />
Himmelfahrt: „Und ihrem in <strong>de</strong>n Himmel steigen<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong> nach, / versetzte sie die<br />
Welt mit ihrer eigenen Himmelfahrt in Erstaunen.“ 36 In <strong>de</strong>r letzten Strophe wird<br />
jedoch ein wenig Distanz zu dieser optimistischen Narration hergestellt. Der Sohn<br />
macht sich die Schwierigkeit <strong>de</strong>r Erlösungsaufgabe bewusst: „Es ist sicher sehr<br />
schwer / Ein engelsgleicher Sohn zu sein. Ich versuche es... vielleicht komme ich<br />
durch.“ 37 Es gibt in diesem Text weitere Skurrilitäten – Formulierungen, die sich zwar<br />
nicht unbedingt als intendierte ironische Brechung <strong>de</strong>uten lassen, die jedoch<br />
unmotiviert und ‚abson<strong>de</strong>rlich’ erscheinen, z.B.: „Dass <strong>de</strong>r Mutter vor lauter Freu<strong>de</strong> /<br />
in <strong>de</strong>r Brust die Knochen wuchsen.“ 38 Vor <strong>de</strong>r Folie <strong>de</strong>r vorherrschen<strong>de</strong>n formalen<br />
Konventionalität und <strong>de</strong>r inhaltlichen ‚Infantilität’ <strong>de</strong>s Gedichtes lässt diese<br />
eigenartige Metapher <strong>de</strong>n Leser stutzig wer<strong>de</strong>n. Solche grotesken Signale (dazu gehört<br />
auch das Bild <strong>de</strong>r Mutter mit Flügelchen am Kopf) wecken im Leser eine<br />
Rezeptionserwartung, die <strong>de</strong>r Text im En<strong>de</strong>ffekt nicht einlöst. Sie bleiben<br />
bruchstückhaft, wer<strong>de</strong>n nicht zu En<strong>de</strong> geführt und laufen Gefahr, weniger als<br />
ästhetisches Verfahren <strong>de</strong>nn als Ausdruck <strong>de</strong>r Unfähigkeit <strong>de</strong>s Autors wahrgenommen<br />
zu wer<strong>de</strong>n – genauso wie das Angehen <strong>de</strong>s Problems an sich als Ausdruck <strong>de</strong>r<br />
‚Unreife’, <strong>de</strong>r ‚Krankheit’ bzw. <strong>de</strong>r ‚Idiotie’ <strong>de</strong>s Autors gelesen wer<strong>de</strong>n kann.<br />
An<strong>de</strong>rerseits be<strong>de</strong>utet die durch groteske Einschübe verfrem<strong>de</strong>te Banalität dieser<br />
Gedichte auch Provokation, Irritation und Revolte: Im Kontext <strong>de</strong>r meisterhaften<br />
Lyrik <strong>de</strong>r jungen Komornicka aber auch ihrer Biographie gelesen, reizen und for<strong>de</strong>rn<br />
sie unsere ästhetischen und weltanschaulichen Wahrnehmungs- und Wertungsraster<br />
heraus, wecken Belustigung, Mitgefühl, Staunen und Befrem<strong>de</strong>n.<br />
Nicht weniger irritierend ist das Gedicht „Mama“ (148), das die Biographie <strong>de</strong>r<br />
Mutter unter Zuhilfenahme von antiken Bil<strong>de</strong>rn (Amphitrite, Athene) bzw.<br />
36 Polnisch: „I za wniebowstępnem dziecięciem, / Zdumiała świat wniebowzięciem.“<br />
37 Polnisch: „Lecz pewnie trudno ogromnie / Być takim anielskim Synem? Spróbuję… może przepłynę.“<br />
38 Polnisch: „Że Matce, z wielkiej radości / Rozrosły się w piersiach kości.“<br />
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‚kitschigen’ Metaphern narrativiert und mythologisiert. Auch hier wer<strong>de</strong>n<br />
Diminutivformen in Bezug auf <strong>de</strong>n mütterlichen Körper angewandt: ‚Öhrchen’,<br />
‚Näschen’. Strophe für Strophe wer<strong>de</strong>n alle Lebensstationen <strong>de</strong>r Mutter retrospektiv<br />
und prospektiv entrollt. Das wie in <strong>de</strong>r Märchenerzählung „O ojcu i córce“<br />
verniedlichte Mutterbild <strong>de</strong>s Gedichtes korrespondiert sehr stark mit <strong>de</strong>m aus<br />
Komornickas Briefen. Die Mutter erscheint zunächst als eine wun<strong>de</strong>rschöne zarte<br />
Dame (‚Lilie’), dann als glückliche, von ihrem Ehemann vergötterte Ehefrau und<br />
Mutter: „Sie blühte für ihn mit <strong>de</strong>n Knospen <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r / Und über je<strong>de</strong>m von ihnen<br />
leuchtete ein Stern.“ 39 Es folgt die Phase <strong>de</strong>s Witwendaseins und <strong>de</strong>s Wachens über<br />
die Tugend <strong>de</strong>r ‚wil<strong>de</strong>n’ Kin<strong>de</strong>r (als Sirene mit Schwert) und schließlich das Alter.<br />
Die letzte Strophe gewährt mit ihren Bil<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>s Feuers und <strong>de</strong>r Wie<strong>de</strong>rgeburt einen<br />
metaphorischen Blick ins Jenseits. Der Schluss <strong>de</strong>s ansonsten sehr regelmäßigen und<br />
konventionellen Gedichts macht etwas stutzig. In einer einzeiligen Strophe mit einem<br />
an Volksdichtung anknüpfen<strong>de</strong>n Binnenreim spricht plötzlich ein zu einem<br />
mündlichen Erzähler stilisierter Sprecher: „Und was dann? Davon später.“ 40<br />
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Dies<br />
verfrem<strong>de</strong>t <strong>de</strong>n ansonsten spürbaren, zwar kaum ‚ernst zu nehmen<strong>de</strong>n’, aber<br />
intendierten Ernst dieses Textes und macht ihn dadurch für <strong>de</strong>n Leser erträglich.<br />
Mitunter hat man <strong>de</strong>n Eindruck, hier spricht entwe<strong>de</strong>r jemand, <strong>de</strong>r sein Handwerk<br />
nicht mehr gut beherrscht, o<strong>de</strong>r jemand, <strong>de</strong>r sich die Freiheit nimmt, unsere gesamten<br />
Vorstellungen von (auch avantgardistischer, experimenteller) Kunst und von<br />
Erwachsensein über Bord zu werfen – ein Prophet und Bajazzo zugleich. 41 Die These<br />
Maria Janions (1996), zwischen <strong>de</strong>m Schaffen Maria Komornickas und Piotr Własts<br />
gäbe es keine erwähnenswerte Differenz, scheint folglich nicht zuzutreffen. Die Frage,<br />
ob diese Differenz <strong>de</strong>m Wahnsinn o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Umwälzungen <strong>de</strong>r weltanschaulichen und<br />
ästhetischen Paradigmen <strong>de</strong>s Autors zuzuschreiben ist, muss allerdings offen bleiben.<br />
39 Polnisch: „Kwitła mu pączkami dzieci / A nad każ<strong>de</strong>m gwiazdka świeci.“<br />
40 Polnisch: „A co potem?... Później o tem“.<br />
41 Vgl. Komornickas Gedicht „Nastrój“ (Komornicka 1996, Erstveröffentlichung in: „Życie“ 1987, Nr. 4).<br />
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Auf eindrucksvolle, grotesk-ludistische und ästhetisch nicht so angreifbare 42 Art und<br />
Weise erzählt ein Sohn im Gedicht „Strzyż“ (Die Schur, 154) von seiner<br />
verhängnisvollen Abhängigkeit von einer als allmächtige Herrscherin und Hexe 43<br />
wahrgenommenen Mutter, die ihn (im Traum) einer Prozedur <strong>de</strong>s Haareschnei<strong>de</strong>ns<br />
unterzieht. Der Junge kniet dabei. Das Ritual <strong>de</strong>r Schur kann in <strong>de</strong>r abendländischen<br />
Kultur Einweihung und Kastration be<strong>de</strong>uten. 44 In seinen eigenen Augen sieht <strong>de</strong>r<br />
Junge nach <strong>de</strong>r Schur wie eine Gurke (Symbol <strong>de</strong>s <strong>de</strong>gradierten Phallus) aus und<br />
bedauert <strong>de</strong>n Verlust seiner Haare. Sie scheinen einen animalischen, wil<strong>de</strong>n,<br />
‚männlichen’ 45<br />
Anteil seiner Persönlichkeit zu symbolisieren – <strong>de</strong>r Junge selbst<br />
bezeichnet sie als ein halb menschliches, halb tierisches ‚Wun<strong>de</strong>r’, Flaum bzw.<br />
Fe<strong>de</strong>rkleid (pióra, pierze), vergleicht sie aber auch mit <strong>de</strong>m Fell von wil<strong>de</strong>n Tieren. 46<br />
An<strong>de</strong>rerseits können sie auch – wie Ritz (1999, 159) hervorhebt – als ein „homonymes<br />
Zeichen <strong>de</strong>s Phallischen und <strong>de</strong>r dichterischen Kreation“ stehen. Doch die Mutter<br />
bagatellisiert das Problem und versichert <strong>de</strong>m Jungen, dass ihm die Haare schon<br />
wie<strong>de</strong>r wachsen wer<strong>de</strong>n: „und vielleicht auch Bart und Schnurrbart“. Dies klingt nach<br />
Ironie, <strong>de</strong>nn die Mutter tut alles, damit <strong>de</strong>r Sohn kein erwachsener Mann wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Der glatzköpfige Junge vergleicht sich nun mit einem Brahmanen – es scheint ein<br />
Versuch einer positiven Semantisierung <strong>de</strong>r Kastration zu sein. Gleichzeitig<br />
bezeichnet er sich jedoch grotesk als einen „Verurteilten höheren Gra<strong>de</strong>s“ (skazaniec<br />
42 Gedichte, die sich wie „Strzyż“ bzw. „Dziwny sen“ (bei<strong>de</strong>s Initiationstexte) als Träume ausweisen,<br />
scheinen sowohl was ihre formalen Eigenschaften als auch was die entworfenen Bil<strong>de</strong>r betrifft, in<br />
ästhetischer Hinsicht anspruchsvoller zu sein – vermutlich durch einen konsequenteren Einbruch <strong>de</strong>s<br />
Absur<strong>de</strong>n.<br />
43 Aus <strong>de</strong>n abgeschnittenen Haaren <strong>de</strong>s Sohnes will die Mutter ‚Besen’ für die Töchter anfertigen:<br />
entwe<strong>de</strong>r, um diese auch in Hexen zu verwan<strong>de</strong>ln, o<strong>de</strong>r um sie zu bestrafen, also auch über sie Macht<br />
auszuüben.<br />
44 Das Phantasma einer die geistige und sexuelle I<strong>de</strong>ntität <strong>de</strong>s Mannes beschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Frau ist eine <strong>de</strong>r<br />
Weiblichkeitsimaginierungen <strong>de</strong>s Patriarchats. Bil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kastrieren<strong>de</strong>n Frau in <strong>de</strong>r polnischen<br />
Zwischenkriegsliteratur sind u.a. bei Bruno Schulz zu fin<strong>de</strong>n.<br />
45 Sie wer<strong>de</strong>n mit Männlichkeitsattributen wie Bart und Schnurrbart in Verbindung gebracht, quasi als<br />
Vorstufe zu diesen.<br />
46 „To ptasio-ludzkie dziwo“ (dieses vogelartig-menschliche Wun<strong>de</strong>r), „die Borste einer Wildkatze und<br />
eines Elchs“ (szczeć z żbika i łosia).<br />
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wyższego rzędu). Zum Abschied wühlt <strong>de</strong>r Junge in seinem ‚Gefie<strong>de</strong>r’, <strong>de</strong>n<br />
abgeschnittenen Haaren, und wun<strong>de</strong>rt sich über sein eigenes Ego, das offenbar doch<br />
als fremdbestimmt empfun<strong>de</strong>n wird. Auch in Własts an<strong>de</strong>ren Gedichten (z.B. in „Pani<br />
ze strefy umiarkowanej“) steht das Bild <strong>de</strong>s Haareschnei<strong>de</strong>ns, in Anspielung auf die<br />
biblische Delila, für die Gefahr <strong>de</strong>r Schwächung, die <strong>de</strong>m Mann seitens einer Frau<br />
droht. 47 Insgesamt kann <strong>de</strong>r „Strzyż“-Interpretation von Filipiak (2000, 131)<br />
zugestimmt wer<strong>de</strong>n:<br />
[Der Sohn] kehrt in das Land <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>alisierung zurück, wo die Schur zum Wohle <strong>de</strong>s<br />
Geschorenen vorgenommen wird, <strong>de</strong>m es erlaubt ist, zu spielen, sich zu wun<strong>de</strong>rn, kindisch zu<br />
wer<strong>de</strong>n und inmitten befrem<strong>de</strong>n<strong>de</strong>r Vergleiche ein S.O.S. zu sen<strong>de</strong>n – ein verschlüsseltes Signal<br />
<strong>de</strong>ssen, was wirklich geschehen ist (...). 48<br />
In <strong>de</strong>m abgeschnittenen Fe<strong>de</strong>rkleid, einem „Requisit <strong>de</strong>r Verkleidung schlechthin“<br />
sieht Ritz (1999, 159) eine Spur <strong>de</strong>s Transvestismus, einen Verweis auf <strong>de</strong>n<br />
Konstruktcharakter jeglicher I<strong>de</strong>ntität. Vom Subjekt selbst wird jedoch das Fe<strong>de</strong>rkleid<br />
nicht als Maskera<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn als etwas Authentisches bzw. wenigstens selbst<br />
Erschaffenes (śliczne żniwo mojej czaszki) wahrgenommen. Nach <strong>de</strong>r Schur<br />
empfin<strong>de</strong>t sich <strong>de</strong>r Sohn als nackt und schutzlos (gołogłowy). Seine Grenzen wer<strong>de</strong>n<br />
missachtet, er wird entblößt und entmündigt, sein Fe<strong>de</strong>rmantel wird ihm vom Leibe<br />
gerissen und dies ohne Konsequenzen, in <strong>de</strong>r verlogenen Atmosphäre einer<br />
beschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n mütterlichen Liebe. 49<br />
Noch radikaler, dafür aber auf die Relation zwischen Urgroßmutter und Urenkelin hin<br />
verschoben, wird die Grausamkeit einer Mutterfigur in „Irenka“ (Irenchen, 298-300)<br />
vorgeführt. Auch dieser Vorname verweist auf einen realen Familienangehörigen<br />
Własts, und zwar auf seine Nichte, mit <strong>de</strong>r er sich, wie aus <strong>de</strong>n Briefen an die Mutter<br />
47 Vgl. auch Własts Brief an die Mutter vom 27. 06. 1909.<br />
48 Polnisch: „[Syn] powrócił do krainy i<strong>de</strong>alizacji, gdzie obcinanie włosów czynione jest dla dobra<br />
postrzyżonego, któremu wolno bawić się, dziwić, dziecinnieć i wśród zaskakujących porównań wysyłać<br />
S.O.S. – zaszyfrowane sygnały o tym, co się naprawdę stało (...).“<br />
49 Nach Eichelberger (2003) ist ein solches, auf Entmündigung basieren<strong>de</strong>s Mo<strong>de</strong>ll <strong>de</strong>r Mutter-Sohn-<br />
Beziehung auch in <strong>de</strong>r heutigen polnischen Kultur das Gängigste.<br />
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hervorgeht, 50 seit langem beson<strong>de</strong>rs innig verbun<strong>de</strong>n fühlte. Sie ist auch die Enkelin<br />
von Własts Mutter. Das Gedicht ist in Dialogform verfasst. Die unglückliche Irenka<br />
beschwert sich bei ihrem Schutzengel über ihre Urgroßmutter, von <strong>de</strong>r sie sich nicht<br />
akzeptiert fühlt:<br />
Als Säugling unwissend und schwach,<br />
ausgeliefert <strong>de</strong>r Willkür <strong>de</strong>r Großen,<br />
Wie kann ich mich meiner Urgroßmutter erwehren,<br />
<strong>de</strong>m bedrohlichen Symbol meines Schicksals!<br />
Tausend Fehler nimmt sie in mir wahr<br />
Und hetzt mit <strong>de</strong>r Lehre Bitterkeit,<br />
Obwohl Alpha und Omega<br />
Des Himmels jungfräulicher Tau sind. (299) 51<br />
Dieses ‚unheimliche’ Gedicht ist von <strong>de</strong>r großen Wut <strong>de</strong>s Text-Subjekts auf die<br />
Mutter geprägt, die in <strong>de</strong>n Mutter-Sohn-Gedichten wegen größerer autobiographischer<br />
Nähe nicht so direkt zum Vorschein kommen konnte. Hier wird die Mutter <strong>de</strong>s To<strong>de</strong>s<br />
<strong>de</strong>r Urenkelin beschuldigt. Die Kleine lässt sich lieber vom Engel in <strong>de</strong>n Himmel<br />
holen, als dass sie die Erziehungsmaßnahmen <strong>de</strong>r Urgroßmutter erträgt. (Der<br />
unablässige Belehrungs- und Kontrolldrang seitens <strong>de</strong>r Mutter bestimmte auch das<br />
reale Mutter-Kind-Verhältnis im Leben von Komornicka/Włast.) Der Engel erhört das<br />
Kind und das Gedicht zieht das erschüttern<strong>de</strong> Fazit: Der Tod kann mitunter reizvoller<br />
sein als das Leben im Schoß <strong>de</strong>r Familie.<br />
Die Urgroßmutter mit <strong>de</strong>m Antlitz <strong>de</strong>r Niobe<br />
Verabschie<strong>de</strong>te die entschlafene Enkelin,<br />
Nicht wissend, dass Gräber süßer sind,<br />
als mancher Schoß <strong>de</strong>r Familie. (300) 52<br />
50 Vgl. <strong>de</strong>n Brief Komornickas an die Mutter vom 18.08.03.<br />
51 Polnisch: „Niemowlę bezwiedne, słabe, / Wydane dużych swawoli, / Cóż zrobię na mą Prababę, / Ten<br />
groźny symbol mej doli! // Tysiąc wad we mnie spostrzega / I spieszy z nauk goryczą, / Choć Alfa Wiedz<br />
i Omega / Są Niebios rosą dziewiczą.“<br />
52 Polnisch: „Prababka z twarzą Nio<strong>by</strong> / Żegnała wnuczkę uśpioną, / Nie wiedząc, że słodsze gro<strong>by</strong>, / Niż<br />
rodzin niejedno łono.“<br />
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Ein an die Metaphorik von „Strzyż“ anknüpfen<strong>de</strong>s und gleichzeitig von ihr<br />
abweichen<strong>de</strong>s Verhältnis zwischen Weiblichkeit und Männlichkeit konstruiert „Pani<br />
strefy umiarkowanej“ (Dame <strong>de</strong>r gemäßigten Sphäre, 142-145). Das Bild einer<br />
sanften Verführerin, die das nach <strong>de</strong>m Archetypus <strong>de</strong>s Hel<strong>de</strong>n gestaltete männliche<br />
Text-Subjekt von Hel<strong>de</strong>ntaten, Abenteuern und <strong>de</strong>r Erfüllung seiner Träume fernhält,<br />
korrespondiert mit <strong>de</strong>n Mutterbil<strong>de</strong>rn <strong>de</strong>r „Xięga“. Einen Bezug zu „Strzyż“ stellt die<br />
Warnung vor <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>r Schur dar. Das lyrische Ich wen<strong>de</strong>t sich mit einem etwas<br />
scherzhaft erhobenen Zeigefinger an seinesgleichen und mahnt zur Vorsicht:<br />
Ein Kreuz wird sie euch sein, wie <strong>de</strong>m Elefanten die Na<strong>de</strong>l,<br />
Ihr harten Hel<strong>de</strong>n!... diese zarte Dame,<br />
durch euer unerreichbares Boot beunruhigt,<br />
das verliebt ist in Meere ohne Hafen.<br />
Gebt Acht, dass sie euch die Locken nicht stutzt,<br />
Wenn ihr eure kühnen Träume ihr zum Opfer bringt (...). (143) 53<br />
Das entworfene Szenario knüpft an – in <strong>de</strong>r vorliegen<strong>de</strong>n Arbeit bereits thematisierte –<br />
antike Vorstellungen von Sirenen und an<strong>de</strong>ren weiblichen Mischwesen an, die das<br />
männliche Subjekt von seiner Mission, seinen öffentlichen Aufgaben abhalten. Von<br />
Horkheimer und Adorno (1970) wur<strong>de</strong>n diese als Schreck- und Wunschbil<strong>de</strong>r für das<br />
im Zivilisationsprozess und im Prozess <strong>de</strong>r Subjektbildung Ausgegrenzte und<br />
Verdrängte, das Gefürchtete und heimlich Begehrte, <strong>de</strong>n Körper, das Animalische,<br />
Naturhafte und Unbestimmte interpretiert. 54 Auch in „Pani…“ wird auf eine ähnliche<br />
Gefahr hingewiesen. An<strong>de</strong>rs jedoch als in <strong>de</strong>n Sirenenimaginierungen symbolisiert die<br />
Frau hier nicht das Körperliche, Tierhafte und Naturverbun<strong>de</strong>ne. Sie ist vielmehr ein<br />
zartes, engelhaftes, entleibtes Wesen, das <strong>de</strong>m Hel<strong>de</strong>n hilft, seinen animalischen<br />
Anteil zu überwin<strong>de</strong>n und ihn dadurch erlöst, an<strong>de</strong>rerseits aber auch das Vergessen<br />
und <strong>de</strong>n Tod lehrt. Die Warnungen vor ihr scheinen letztendlich nicht ernst gemeint zu<br />
53 Polnisch: „Krzyżem wam będzie, jak Słoniowi igła, / Twardzi Heroje!... ta subtelna pani, / Którą<br />
zniechęca wasza niedościgła / Łódź, rozkochana w morzach bez przystani. / Baczcie, <strong>by</strong> wam kędziorów<br />
nie ostrzygła, / Gdy sny swe śmiałe złożycie jej w dani (...).“<br />
54 Vgl. Stephan 1997, 125 ff.<br />
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sein. Es spricht nämlich jemand, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Dame bereits verfallen ist und ihren Einfluss<br />
affirmiert. Dennoch machen sich auch Aggressionen <strong>de</strong>s Textsubjekts bemerkbar – so<br />
z.B. im Bild <strong>de</strong>s verzweifelten Schlagens mit <strong>de</strong>m Kopf gegen die Wand. Weiblichkeit<br />
stellt auch hier wie<strong>de</strong>r ein Faszinosum und eine Gefahr zugleich dar. Wie in „Strzyż“<br />
wird ein Abhängigkeitsverhältnis zwischen Frau und Mann, ein weiteres Bild <strong>de</strong>r<br />
Versklavung und Entmündigung eines ‚Hel<strong>de</strong>n’ in Szene gesetzt.<br />
Auf eine Verzauberung durch eine wun<strong>de</strong>rschöne, ätherische, aber auch kühle Muse<br />
wartet auch das Subjekt <strong>de</strong>s Gedichtes „Muza“ (138). Dies ist auch einer <strong>de</strong>r Texte, in<br />
<strong>de</strong>nen Filipiak (2000, 134) eine Artikulierung <strong>de</strong>r sexuellen Sehnsüchte und<br />
Textspuren <strong>de</strong>r mutmaßlichen lesbischen Ausrichtung Komornickas diagnostiziert.<br />
(Ihrer Ansicht nach haben an<strong>de</strong>re Forscher wegen <strong>de</strong>r Diskrepanz „zwischen <strong>de</strong>m so<br />
ausgedrückten Begehren und <strong>de</strong>m, was <strong>de</strong>r reale Piotr Włast (…) in seiner Hose<br />
versteckte“ aus Verlegenheit zu diesem Thema geschwiegen.) Auch in einigen<br />
an<strong>de</strong>ren Texten lässt sich eine erotische Faszination für Frauen verfolgen, so z.B. im<br />
französischen Gedicht „Printemps“ (459). Junge Mädchen wer<strong>de</strong>n hier mit<br />
Naturbil<strong>de</strong>rn (Schneeflocken, Schwan, Blumen) metaphorisiert und in ihrer<br />
unbewussten Sinnlichkeit vom lyrischen Ich mit Genuss wahrgenommen und<br />
überhöht: «J’aime les gran<strong>de</strong>s fines jeunes filles, / Vêtues <strong>de</strong> soies limpi<strong>de</strong>s, soyeuses,<br />
/ Légères, paisibles et rieuses, / Qui sans savoir miroitent et brillent (…).» Insgesamt<br />
fühlt sich ‚Włast’ 55<br />
von einer zarten und unschuldigen, damenhaften Weiblichkeit<br />
angesprochen. Die Frage allerdings, ob diese stark konventionalisierten und in <strong>de</strong>r<br />
Kunst <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> durchaus populären Faszinationsbil<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Weiblichkeit<br />
als Zeichen eines lesbischen Begehrens ge<strong>de</strong>utet wer<strong>de</strong>n können, muss an dieser Stelle<br />
offen bleiben.<br />
Interessant ist, dass eine ‚aufdringliche’, körperbetonte Weiblichkeit ‚Włast’ eher<br />
abstößt. In „Niania“ (Die Amme, 140) verschafft sich eine möglicherweise<br />
55 Die Anführungsstriche bei ‚Włast’ signalisieren, dass ich von einer literarischen Kreation, <strong>de</strong>r lyrischen<br />
Ichfigur <strong>de</strong>s Autors, und nicht vom realen Piotr Włast spreche.<br />
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fehlgeleitete (d.h. eigentlich <strong>de</strong>r Mutter gelten<strong>de</strong>) Wut, die in <strong>de</strong>n i<strong>de</strong>alisierten Porträts<br />
<strong>de</strong>r ätherischen Frauen nur unterschwellig in <strong>de</strong>n Text einbricht, offensiv Platz. Die<br />
Verachtung <strong>de</strong>r Amme durch das Textsubjekt fin<strong>de</strong>t auf <strong>de</strong>r Signifikantenebene ihre<br />
Entsprechung – das Gedicht ist ein Beispiel fehlen<strong>de</strong>r formaler Sorgfalt. Mit beinahe<br />
ordinären, ‚unpoetischen’ Ausdrücken („Weibsbild“, „alter Fettwanst“), 56 die die<br />
starke emotionale Involviertheit <strong>de</strong>s lyrischen Ichs verraten, wird hier ein bestimmter<br />
Frauentypus angeprangert: Frauen, die ihre Grenzen nicht schützen können, die weich,<br />
sanft, passiv, hilflos sind, dadurch starke Aggressionen auf sich ziehen und in <strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>rerziehung versagen: „Ach, <strong>de</strong>r Frauen Molton, Filz, Sanftmütigkeit!... / Ihnen<br />
dafür gegeben, um alle / Kräfte, Träume, Energien wild zu machen!“ 57 Die Wut <strong>de</strong>s<br />
Textsubjekts scheint zum Gegenstand nicht adäquat zu sein. Sie bringt <strong>de</strong>n Leser, was<br />
<strong>de</strong>r intendierten Be<strong>de</strong>utungsstruktur offenbar zuwi<strong>de</strong>r läuft, zum Lachen.<br />
10.3. Die Rückkehr <strong>de</strong>s ‚Papas’<br />
Auch die Vater-Sohn-Beziehung nimmt in einigen Gedichten eine zentrale Stellung<br />
ein, insbeson<strong>de</strong>re in „Dziwny sen“ (Merkwürdiger Traum, 53). Dieses Gedicht weist<br />
sich, genauso wie „Strzyż“, als ein Traum aus und for<strong>de</strong>rt damit eine bestimmte, auf<br />
Dechiffrierung von Symbolen angelegte Rezeptionshaltung heraus. Wur<strong>de</strong> in „Strzyż“<br />
mit <strong>de</strong>r Mutter als Hauptakteurin eine Karikatur <strong>de</strong>s Initiationsrituals vorgeführt, so<br />
han<strong>de</strong>lt es sich in „Dziwny sen“ um die Inszenierung eines verfrühten und damit<br />
gescheiterten Versuchs einer Initiation. Auch in formaler Hinsicht unterschei<strong>de</strong>t sich<br />
das Gedicht diametral von <strong>de</strong>n Mutter-Gedichten: Es wer<strong>de</strong>n hier keine grotesken<br />
Verfahren angewandt, Reime und Rhythmen sind feierlich und durchdacht, durch<br />
Unregelmäßigkeiten und Assonanzen verfrem<strong>de</strong>t, nicht banal und ludistisch. Das<br />
56 Polnisch: „babsko“, „tłuścioch stary“.<br />
57 Polnisch: „O, kobiet molton, filc, łagodność!.. / Na to im dane, a<strong>by</strong> wszystkie / Roztętnić moce, sny,<br />
energie!“<br />
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Machtgefälle zwischen Vater und Sohn ist bei weitem nicht so gewaltig wie das<br />
zwischen Mutter und Sohn. Der Sohn, auch hier das Textsubjekt, wird nicht kastriert<br />
und ge<strong>de</strong>mütigt, son<strong>de</strong>rn durch einen Repräsentanten <strong>de</strong>r Ahnengeister (nicht durch<br />
<strong>de</strong>n Vater!) vom Kreis <strong>de</strong>r Eingeweihten sanft zurückgewiesen. Das Verhältnis<br />
zwischen Vater und Sohn ist friedlich und beinahe partnerschaftlich. Gemeinsam<br />
kehren bei<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>n Fel<strong>de</strong>rn nach Hause zurück, ihr Weg führt durch einen<br />
To<strong>de</strong>shügel – ein gängiger Topos vieler Mythologien und mystischer Lehren. Der<br />
To<strong>de</strong>sberg wird durch <strong>de</strong>n Einsatz von mystischen Symbolen (wie z.B. gol<strong>de</strong>ner<br />
Kreis) zu einem heiligen, göttlichen Ort erhoben. Hier halten sich die Geister <strong>de</strong>r<br />
Ahnen, „Patriarchen“, „königliche Gestalten“ (Dziadowie) auf, die im mystischen<br />
Diskurs für geistige Lehrer und Erleuchtete stehen. Einer von ihnen wird auch explizit<br />
zur „Gottheit“ (bóstwo) stilisiert. Auf diese Gestalten richtet sich die unbändige<br />
Sehnsucht <strong>de</strong>s Jungen: „Wo lebendige Statuen <strong>de</strong>r Vergangenheit und ihr Führer, <strong>de</strong>r<br />
Gott-Patriarch / Mit gewaltigem Zauber meinem Herzen Glück und Ehre<br />
versprachen.“ 58 Der Vater steht diesen Geistern näher als <strong>de</strong>r Junge, er „tauscht mit<br />
ihnen einen Blick“. Er steht aber auch seinem Sohn zur Seite, will ihm <strong>de</strong>n Kontakt zu<br />
<strong>de</strong>n Geistern ermöglichen, gibt ihm „scheinbar aus Versehen“ vielmehr jedoch als<br />
Vertrauensvorschuss, eine Goldmünze (suwerena), 59 obwohl ein weniger wertvolles<br />
Geldstück als Opfergabe ausreichen wür<strong>de</strong>. Schon macht es <strong>de</strong>n Eindruck, als ob <strong>de</strong>r<br />
junge A<strong>de</strong>pt mit dieser ‚Eintrittskarte’ und <strong>de</strong>r Unterstützung <strong>de</strong>s Vaters in <strong>de</strong>n Kreis<br />
<strong>de</strong>r Wür<strong>de</strong>nträger aufgenommen wer<strong>de</strong>n sollte. Die Gestalt <strong>de</strong>r Gottheit scheint<br />
greifbar nahe zu sein und wird nochmals <strong>de</strong>tailliert fokussiert (gol<strong>de</strong>ne Kuppel <strong>de</strong>r<br />
Stirn, kleines Käppchen wie bei Leonardo da Vinci, langer orientalischer Mantel!). 60<br />
58 Polnisch: „Gdzie żywe Posągi Przeszłości i wódz ich, bóg Patriarcha, / Potężnym czarem wzywały do<br />
szczęścia i chwały me serce.“<br />
59 Ritz (1999, 158) interpretiert <strong>de</strong>n ‚Souvereign’ als eine Figur <strong>de</strong>r Homonymie. Damit ist die<br />
Goldmünze nicht nur eine große Gabe, son<strong>de</strong>rn auch ein „Zeichen <strong>de</strong>r Souveränität, das <strong>de</strong>r Sohn aus <strong>de</strong>r<br />
unachtsamen Hand <strong>de</strong>s Vaters entnimmt und <strong>de</strong>m Übervater anvertrauen will.“<br />
60 An<strong>de</strong>rs als Ritz (2000, 157) sehe ich im Vergleich mit Leonardo da Vinci keine Ironisierung <strong>de</strong>r Gestalt<br />
<strong>de</strong>s Patriarchen. Ich stimme allerdings seiner Behauptung zu, dass Leonardo, eben von Freud als<br />
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In diesem Augenblick versperrt ein Wächter, im mystischen Diskurs <strong>de</strong>r ‚Hüter <strong>de</strong>r<br />
Schwelle’, <strong>de</strong>m Jungen schweigend <strong>de</strong>n Weg. Nun muss <strong>de</strong>r Sohn zurück zum Vater,<br />
doch seine Sehnsucht bleibt: „Also legte ich <strong>de</strong>m Wächter <strong>de</strong>n gol<strong>de</strong>nen Souvereign in<br />
die Hand / Und ging traurig, mich weiter umblickend, langsam zum Vater zurück.“ 61<br />
Dieses Gedicht erzählt keine Geschichte <strong>de</strong>r Entmündigung, son<strong>de</strong>rn zeigt eine Station<br />
auf <strong>de</strong>m Weg zur Mündigkeit und Wür<strong>de</strong>. Der Vater steht für eine mitfühlen<strong>de</strong>, weise,<br />
begleiten<strong>de</strong> Instanz. Hier ist we<strong>de</strong>r für Grausamkeit noch für Banalität Platz. Die Welt<br />
<strong>de</strong>r Väter und Großväter ist in Własts poetischem Universum in <strong>de</strong>n meisten Fällen<br />
nicht so ambivalent wie die <strong>de</strong>r Weiblichkeit. Zu dieser Welt möchten seine lyrischen<br />
Autoprojektionen gehören, diese Welt assoziieren sie mit Reife, Stärke, Weisheit,<br />
Partnerschaft, Geist.<br />
Das Interessante und Fragen Aufwerfen<strong>de</strong> an diesem Gedicht ist, dass seine vier<br />
Strophen von unterschiedlicher Länge durch einen einzeiligen Refrain voneinan<strong>de</strong>r<br />
getrennt wer<strong>de</strong>n, mit <strong>de</strong>m das Gedicht auch beginnt und schließt, und das sich<br />
semantisch nicht unmittelbar auf <strong>de</strong>n manifesten Textinhalt beziehen lässt. Dieser,<br />
nach Ansicht von Ritz <strong>de</strong>n Text <strong>de</strong>konstruieren<strong>de</strong> Refrain entwirft ein expressives<br />
Bild von Kin<strong>de</strong>rn, die in <strong>de</strong>n erblühten bzw. blühen<strong>de</strong>n Akaziengipfeln ‚wahnsinnig’<br />
(szalenie), mit überschäumen<strong>de</strong>r Lebensenergie schaukeln. Dies kann sowohl für das<br />
ekstatische Hochgefühl <strong>de</strong>r mystisch Eingeweihten, <strong>de</strong>r ‚göttlichen Kin<strong>de</strong>r’ stehen<br />
(darauf verweist die mystische Symbolik von blühen<strong>de</strong>n Bäumen und speziell Akazien<br />
im mystischen Diskurs und in <strong>de</strong>r ägyptischen Mythologie) als auch eine<br />
homosexuelle I<strong>de</strong>ntität beschrieben („Eine Kindheitserinnerung <strong>de</strong>s Leonardo da Vinci“, 1910) „kaum die<br />
Be<strong>de</strong>utung eines phallischen Vaters einnehmen kann.“ Es han<strong>de</strong>lt sich m.E. hier auch nicht unbedingt um<br />
einen Einweihungsakt in phallische d.h. geschlechtlich und sexuell markierte Männlichkeit. Männlichkeit<br />
symbolisiert hier Reife, Geist, Spiritualität. Die For<strong>de</strong>rung nach <strong>de</strong>r Einheit von Natur und Geist gilt aber<br />
als das schöpferische Grundgesetz <strong>de</strong>s Gesamtwerkes von Leonardo da Vinci.<br />
61 Polnisch: „Więc tylko w ręce Stróża złotego złożyłem suwerena, / I smętny wracałem do Ojca, wciąż<br />
odwracając się zwolna.“ Den Besuch eines beson<strong>de</strong>rs ehrwürdigen Ahnen, möglicherweise seines<br />
Namensgebers selbst, beschreibt Włast auch in „Twarz“ (Gesicht, 463). Das von Kralkowska-Gątkowska<br />
(2002) interpretierte und im Titel ihres Buches („Cień twarzy“) aktualisierte Motiv <strong>de</strong>s geheimnisvollen<br />
Gesichts taucht auch in „Tajemnica domu Han“ (445-448) in Bezug auf <strong>de</strong>n Geist <strong>de</strong>s Vaters auf.<br />
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metonymische Autoprojektion <strong>de</strong>s Jungen darstellen, die <strong>de</strong>r Hervorhebung seiner<br />
eigenen, auch an an<strong>de</strong>ren Textstellen inszenierten Kindlichkeit und Unreife dient. Ich<br />
tendiere eher zu <strong>de</strong>r ersten Interpretationsvariante, da <strong>de</strong>m Baummotiv in <strong>de</strong>r<br />
gesamten „Xięga“, wie ich im Folgen<strong>de</strong>n am Beispiel <strong>de</strong>s Gedichtes „Pierwsze<br />
dzieciństwo“ zeigen wer<strong>de</strong>, eine ganz beson<strong>de</strong>re Be<strong>de</strong>utung zukommt. Bäume sind in<br />
Własts Vorstellungswelt mit <strong>de</strong>n Sternen unmittelbar verbun<strong>de</strong>n und wecken das<br />
Verlangen, auf ihre Gipfel zu steigen, um sich von einer magischen Kraft zum<br />
Himmel tragen zu lassen. Stellt man das Bild <strong>de</strong>r schaukeln<strong>de</strong>n Kin<strong>de</strong>r in diesen<br />
Kontext, so lässt sich <strong>de</strong>r Refrain als eine Chiffre <strong>de</strong>r spirituellen Sehnsucht lesen.<br />
Nicht alle Gedichte entwerfen jedoch solch ein ungebrochenes Bild vom Vater. Von<br />
schwer fassbarer Ambivalenz ist z.B. das Gedicht „Żale parcelanta“ (Klagen eines<br />
Grundbesitzers, 14-16) gekennzeichnet. Das lyrische Ich spricht hier von seiner<br />
Nostalgie, seiner Sehnsucht nach <strong>de</strong>m verlorenen Paradies <strong>de</strong>r Kindheit. Zum<br />
Inbegriff dieses mythologisierten, mit Rückgriff auf romantische Ästhetik<br />
imaginierten Paradieses wer<strong>de</strong>n alte Wäl<strong>de</strong>r, die <strong>de</strong>r Sohn sich als Erbe vom Vater<br />
erhofft, jedoch nicht erhalten hat, die gero<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>n und nun „frem<strong>de</strong>n Leuten“<br />
gehören: „Ach, meine Wäl<strong>de</strong>r, meine heimatlichen Wäl<strong>de</strong>r, / Die gero<strong>de</strong>t, als ich<br />
krank umherirrte / Unter <strong>de</strong>m Zeichen dunkler, stürmischer Zeiten.“ 62<br />
(14) Das<br />
Gedicht wird zum Trauergesang über diesen Verlust. Nun kann <strong>de</strong>r Sohn aus <strong>de</strong>r<br />
geistigen Energie <strong>de</strong>r Ahnen, von <strong>de</strong>r die Wäl<strong>de</strong>r erfüllt waren, nicht mehr schöpfen.<br />
Insofern fühlt er sich vom Vater um etwas Wichtiges betrogen und kann seine Wut<br />
darüber nicht verbergen. Der Vater – „Pflüger, Sänger und Jäger“ <strong>de</strong>r Wäl<strong>de</strong>r – wird<br />
als Freund und Feind mo<strong>de</strong>lliert, als <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r die Seele <strong>de</strong>s Sohnes zwar<br />
hervorbrachte, ihn zur Arbeit an sich selbst und seiner männlichen Autonomie<br />
anspornte, zugleich aber Wi<strong>de</strong>rstand leistete:<br />
62 Polnisch: „O, moje bory, rodzinne bory, / Wycięte, gdy się tułałem chory / Pod znakiem ciemnej,<br />
burzliwej pory.“<br />
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Erzieher meiner polaren Seele,<br />
Elementarer Freund und Feind<br />
Vater, Rächer, Henker, Wächter, Schöpfer,<br />
Verleum<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Träume und Werke<br />
seines jungen Narren. (25) 63<br />
Das Gedicht schafft einen expliziten Bezug zur Biographie Własts: Der Vater fungiert<br />
als Herr von Grabów, wobei Grabów zum Synonym <strong>de</strong>r Welt und <strong>de</strong>r väterlichen<br />
Allmacht wird – „Wszechgrabów“ (Allgrabów). Das Gedicht en<strong>de</strong>t mit <strong>de</strong>m Aufruf an<br />
<strong>de</strong>n Vater, <strong>de</strong>m Sohn das Verlorene zurückzugeben: „Bei IHM sind meine Wäl<strong>de</strong>r! /<br />
Bei Ihm sind die alten Zeiten! / Vater! Gib mir meine Wäl<strong>de</strong>r zurück!“ 64<br />
Es ist<br />
unschwer zu bemerken, dass das ‚Leben’ in diese und nicht nur in diese Strophe <strong>de</strong>s<br />
Gedichtes sehr stark involviert ist. Die Sorgfalt um die ästhetische Seite <strong>de</strong>r Nachricht<br />
lässt nach, neben <strong>de</strong>n grammatischen tauchen z.B. auch i<strong>de</strong>ntische Reime auf<br />
(lasy/lasy). Über die Briefe Komornickas an die Mutter lassen sich auch weitere<br />
biographische Bezüge herstellen: Nach <strong>de</strong>m Tod Augustyns wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r zu Grabów<br />
gehören<strong>de</strong> Wald tatsächlich verkauft. In <strong>de</strong>r Literatur restituiert Włast imaginär etwas,<br />
worum er sich betrogen fühlt. Mit <strong>de</strong>r Biographie wird hier aber auch noch auf eine<br />
an<strong>de</strong>re Art gearbeitet: in Form <strong>de</strong>r Erschaffung <strong>de</strong>r eigenen Lebenslegen<strong>de</strong>. Als<br />
Stationen dieser Legen<strong>de</strong> gelten: (1) paradiesische Kindheit, (2) Verirrungen <strong>de</strong>r<br />
Jugendzeit 65 (gdy się błąkałem ślepy, / Na wszystkie świata lecący lepy!), (3)<br />
Verbannung und Herumirren (gdy się tułałem chory), (4) Übergang in ein neues<br />
Leben (z niedołęstwa powstawszy biedy).<br />
In „Nowy duch“ (Neuer Geist, 414 f.) kündigt das Textsubjekt ‚Włast’ teilweise in<br />
Kin<strong>de</strong>r- bzw. Umgangssprache 66<br />
und in einfachen Versen seinen Geschwistern<br />
drohend die Rückkehr <strong>de</strong>s verstorbenen ‚Papas’ an, <strong>de</strong>r nun über die<br />
63 Polnisch: „Piastun duszy mej polarnej / Wróg i druh elementarny / Rodzic, mściciel, Kat, Stróż,<br />
Twórca, / Młodocianych swego Durca / Snów i dzieł obrazoburca.“<br />
64 Polnisch: „To u NIEGO są me lasy! / To u Niego dawne czasy! / Ojcze! Zwróć mi moje lasy!“<br />
65 Diese Phase wird in „Nostalgia“ (17) auch positiv konnotiert – als begeisterte Lebendigkeit voller<br />
Sinnlichkeit und Begehren.<br />
66 Beispiele: duszka, Bozia, Papa, malec, cenzurka, bla, przegrzmoci.<br />
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Rechtschaffenheit seiner Kin<strong>de</strong>r Franio, Kryś (Jan), Ela und Piotr Gericht halten wird.<br />
Die Geschwister wer<strong>de</strong>n von ‚Włast’ in einem ermahnend-ironischen, selbstgerechten<br />
Duktus angesprochen: Sie müssen mit einem strengen Urteil <strong>de</strong>s Vaters rechnen. Piotr<br />
selbst hingegen erwartet eine Rehabilitierung. Er, <strong>de</strong>r im realen Leben an <strong>de</strong>n Rand<br />
<strong>de</strong>r Familie Gedrängte, ist <strong>de</strong>r einzige, <strong>de</strong>r einen Grund hat, sich über die Rückkehr<br />
<strong>de</strong>s Vaters zu freuen:<br />
Und du Piotr, lach und freu dich<br />
über Papas Rückkehr!<br />
Weil er dir – glaub <strong>de</strong>inem Herzen! –<br />
Die Tränen <strong>de</strong>r Verbannung trocknen,<br />
Und dich auf hun<strong>de</strong>rt Türme heben wird. (415) 67<br />
Auf eine Nobilitierung durch <strong>de</strong>n Vater und das Antreten seines Erbes wartet das<br />
männliche Ich auch im Gedicht „Ahnung“ (Titel im Original Deutsch, 66-67), einem<br />
Dreizehnsilbler mit einem regulären Kreuzreimmuster. Der Sohn phantasiert von<br />
einem Haus, einem „unbekannten Nest“, das eigens für ihn sorgfältig vom Vater<br />
vorbereitet wird: „Der Vater sammelt hier all das, wovon ich träume.“ 68 Es ist dies ein<br />
‚Lorbeer’, mit <strong>de</strong>m <strong>de</strong>r Sohn für einen wichtigen Entwicklungsschritt, für sein<br />
Erwachen, belohnt wird. 69 Um das Haus zu bekommen, muss <strong>de</strong>r Sohn – und dies ist<br />
nicht die einzige Analogie zu Märchen- und mythologischen Narrationen – einen<br />
schweren Weg zurücklegen, <strong>de</strong>nn unterwegs lauern „versteckte Räuber“. Er wird von<br />
einer ganzen Schar von Freun<strong>de</strong>n, vor allem aber – wie <strong>de</strong>r verlorene Sohn – vom<br />
Vater sehnsüchtig erwartet: „Die lieben Hausbewohner wer<strong>de</strong>n mich mit einem<br />
donnern<strong>de</strong>n ‚Hurra!’ empfangen / Und <strong>de</strong>r Vater wird hinaustreten und mich mit<br />
einem Kuchen und einem Krug begrüßen.“ 70 Doch nicht nur von einer Belohnung <strong>de</strong>s<br />
67 Polnisch: „A ty się śmiej i ciesz / Z powrotu Papy, Piotrze! / Bo On ci – sercu wierz! / Twe łzy<br />
wygnańcze otrze, / Wzniesie cię na sto wież.“<br />
68 Polnisch: „Ojciec mi w nim gromadzi wszystko, o czem marzę“.<br />
69 In „Dziadowskie żarty“ (44-46) bereitet ein ‚Greis’ einem seiner Nachkommen eine Krone, um ihn<br />
damit eines Tages für seine Tugend würdigen zu können.<br />
70 Polnisch: „Przyjmą mnie gromkiem ‚Hurra!’ domownicy mili / A Ojciec wyjdzie witać z kołaczem i<br />
dzbanem.“<br />
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Sohnes ist in diesem Gedicht die Re<strong>de</strong>, son<strong>de</strong>rn auch, ähnlich wie in „Dobry synek“ in<br />
Bezug auf die Mutter, von <strong>de</strong>r Erlösung <strong>de</strong>s Vaters durch <strong>de</strong>n Sohn:<br />
Und mein wun<strong>de</strong>rbarer Vater wird in meinem Haus bleiben,<br />
Weil ich ihm half, zu wachsen, bevor ich selbst reifte,<br />
Weil ich ihn im Wahn <strong>de</strong>r Sehnsucht aus <strong>de</strong>m Abgrund herausrief –<br />
Weil ich sein Kern und sein Erlöser bin – und Glanz seines Ruhmes. (67) 71<br />
10.4. Własts ‚Ahnenfeier’ (Dziady) 72<br />
In „Zachcianki“ (Gelüste, 60-65), einem umfangreichen, in mehrere unterschiedlich<br />
strukturierte Abschnitte aufgeteilten Gedicht, geht Włast noch weiter: Er beschreibt<br />
das Beschenktwer<strong>de</strong>n mit einem üppig ausgestatteten Schloss und – vor allem – die<br />
Erlösung aus seiner gegenwärtigen Misere. Hier ist es nicht <strong>de</strong>r Vater, <strong>de</strong>r ihn aus <strong>de</strong>m<br />
elen<strong>de</strong>n Alltag <strong>de</strong>r Abhängigkeit von feindseligen Menschen 73 herausführen soll. Es<br />
ist im ersten Teil eine Vaterfigur – <strong>de</strong>r Greis (‚dziad’ – das wohl am stärksten<br />
vertretene Phantasma <strong>de</strong>r „Xięga“), 74 und im zweiten eine Urgroßmutter (prababka).<br />
Bei<strong>de</strong> können als symbolische Eltern interpretiert wer<strong>de</strong>n. Wie Kralkowska-<br />
Gątkowska (2002, 205) zutreffend bemerkt, spaltet sich das Subjekt zahlreicher<br />
„Xięga“-Texte in ‚puer’ und ‚senex’ – einen lernwilligen, manchmal infantilen<br />
Jungen, und einen weisen, erleuchteten „Titanen-Greis“ (Mocarz-Dziad). Auch in<br />
„Zachcianki“ kann <strong>de</strong>r Greis zum einen als utopischer Ichentwurf, zum an<strong>de</strong>ren als<br />
das Bild <strong>de</strong>r Sehnsucht nach einem begleiten<strong>de</strong>n, unterstützen<strong>de</strong>n Vater bzw.<br />
Großvater interpretiert wer<strong>de</strong>n. Von einem solchen Greis erhofft sich ‚Włast’, in<br />
71 Polnisch: „I zostanie w mym domu mój Rodzic wspaniały, / Bo mu pomogłem wzrastać, zanim sam<br />
dojrzałem, / Bom z otchłani wywołał go tęsknoty szałem – / Bom rdzeń jego i zbawca – i blask jego<br />
chwały.“<br />
72 Dieser Untertitel ist eine Anspielung auf Mickiewiczs „Dziady“ (Ahnenfeier).<br />
73 Zitat: „In einem hässlichen Land, inmitten von Menschen, die ohne Gefühl sind für mein Glück /<br />
Inmitten von Trugbil<strong>de</strong>rn, Schweigen, Zorn und unversöhnlicher Wi<strong>de</strong>rspenstigkeit!“ (60)<br />
74 Dieser Greis ist in „Zachcianki“ Ritter, Maler und Dichter, Abenteurer und liebevoller Großvater<br />
zugleich, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Geist seines Geschlechts an die Enkel weitergibt.<br />
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seiner geistigen Entwicklung geför<strong>de</strong>rt und als Persönlichkeit anerkannt zu wer<strong>de</strong>n. 75<br />
Diesen fleht er an, ihn aus <strong>de</strong>n Nie<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r „Zerrissenheit, Mängel und Sorgen“<br />
herauszureißen und in die „Sternensphären“ <strong>de</strong>s Glücks und <strong>de</strong>r Tugend zu führen.<br />
(61) Der Greis soll ihn auch in seinem – mit mythologischen Requisiten ausgestatteten<br />
– Schloss mit einem dazu gehörigen Urwald bewirten. Eine Steigerung <strong>de</strong>s Wunsches,<br />
Gast und tapferer Ritter im Schloss <strong>de</strong>s Greises zu sein, sich im Wald als Eremit o<strong>de</strong>r<br />
Jäger zu prüfen, ist die im dritten Teil <strong>de</strong>s Gedichtes entworfene Phantasie <strong>de</strong>s<br />
eigenen, von einer unbekannten Urgroßmutter geerbten Schlosses, eines „überaus<br />
herrlichen Nests“ aus <strong>de</strong>m Besitz seines Geschlechts. Dieses Schloss hat „bo<strong>de</strong>nlose<br />
Keller“ und „unbeschrittene Bö<strong>de</strong>n“, ist voller „antiken Gerümpels, das seit Jahren für<br />
<strong>de</strong>n Enkel verwahrt wird“, ein „Familiensesam“ und ein Archiv, ein „lebendiges<br />
Buch“ <strong>de</strong>r Geschichte. Das lyrische Ich stellt sich vor, wie es diese geheimnisvolle<br />
Schatzkammer mit Erinnerungsstücken aus mehreren Jahrhun<strong>de</strong>rten Stück für Stück<br />
erkun<strong>de</strong>t, alte Schriften liest, Ritterrüstungen anprobiert, in die Spiegel schaut usw.<br />
Dies sind archetypische, in Märchen und Mythen oft vertretene Bil<strong>de</strong>r und Motive, die<br />
<strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>r seelischen Entwicklung bzw. Initiation symbolisieren können. In <strong>de</strong>n<br />
letzten Strophen <strong>de</strong>s Gedichtes entwirft Włast in einer Aneinan<strong>de</strong>rreihung von<br />
Konjunktivformen und beschwören<strong>de</strong>n Anaphern eine gewaltige, <strong>de</strong>taillierte Vision<br />
unzähliger Räumlichkeiten <strong>de</strong>s Schlosses und <strong>de</strong>s ihn umgeben<strong>de</strong>n Garten E<strong>de</strong>ns,<br />
wie<strong>de</strong>rum mit Hilfe von mythologischen Motiven. Wichtig sind in diesem Entwurf<br />
aber auch liebevolle Menschen, die das Subjekt dort umgeben wür<strong>de</strong>n. ‚Włast’ ist sich<br />
sicher, <strong>de</strong>n Mitmenschen für ihre Großzügigkeit eine Gegenleistung anbieten zu<br />
können – z.B. die „Flamme seiner Phantasie“. (65) Der dritte, <strong>de</strong>r Großmutter<br />
gewidmete Teil <strong>de</strong>s Gedichts, beginnt und schließt jedoch kreisförmig mit einem<br />
resignierten Rückgriff auf die von Heteronomie geprägte Realität:<br />
75 Zitat: „Oh, du alter, glücklicher Greis! Warum nimmst du mich nicht mit? / Vermagst du nicht, mich<br />
mit Konfekt zu besänftigen? Mit Kaffee und Likören zu feiern? / (...) / Ich wür<strong>de</strong> so herrlich auf <strong>de</strong>inem<br />
klugen Festmahle erblühen (...).“ (60)<br />
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Ich lebe immerfort von frem<strong>de</strong>n Speisekammern und Häusern,<br />
Bringe das Universum meiner Gedanken in einem engen Stübchen unter (...). (63)<br />
Oh, welch ein Jammer, dass ich nicht weiß, wo das Schloss steht,<br />
Dass keiner Urgroßmutter Brief mich in die unbekannte Welt ruft,<br />
Dass ich immerfort von frem<strong>de</strong>n Speisekammern, Banken und Häusern lebe,<br />
Und in ein enges Stübchen das Universum meiner Gedanken dränge! (65) 76<br />
Die Greis-Figur spielt auch in zahlreichen an<strong>de</strong>ren Gedichten eine herausragen<strong>de</strong><br />
Rolle. Um das Wahrgenommen- und Nobilitiertwer<strong>de</strong>n durch einen pilgern<strong>de</strong>n<br />
„ewigen Greis“ kreist auch die Imagination <strong>de</strong>s lyrischen Ichs im Gedicht „Dziad śpi<br />
na górze“ (Der Greis schläft oben, 54-55). Den semantischen Brennpunkt <strong>de</strong>s<br />
Gedichtes bil<strong>de</strong>t auch hier die Sehnsucht ‚Własts’, von diesem Greis persönlich zu<br />
sich (nach oben) ‚gerufen’, in seinem Wesen erkannt und – wie interpretiert wer<strong>de</strong>n<br />
kann – wi<strong>de</strong>rgespiegelt zu wer<strong>de</strong>n. Dies äußert sich u.a. in ‚Własts’ Wunsch, sich vom<br />
Greis seine eigenen (Własts) Kin<strong>de</strong>rbil<strong>de</strong>r und auch die seiner Geschwister zeigen zu<br />
lassen: „Und Photographien von mir und von Lili, Ela, Kryś.../ Vom ersten Traum in<br />
<strong>de</strong>r Wiege bis zu <strong>de</strong>n Krisen späterer Tage.“ 77 Gestillt wird seine Sehnsucht nicht – die<br />
Distanz zwischen <strong>de</strong>m Ich und <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren Hausbewohnern einerseits und <strong>de</strong>m Greis<br />
an<strong>de</strong>rerseits, <strong>de</strong>r das Haus als Gast aufsucht, bleibt bestehen: Er „schläft oben“ und<br />
die an<strong>de</strong>ren „warten unten“. 78 Im ersten Stockwerk <strong>de</strong>s Hauses in Grabów schläft<br />
auch, um die biographische Ebene miteinzubeziehen, ‚Opa Piotr’ – <strong>de</strong>r empirische<br />
Autor <strong>de</strong>s Textes, und auch er versteht sich als <strong>de</strong>r spirituelle Hüter <strong>de</strong>s Hauses und<br />
<strong>de</strong>r Familie. (Boniecki 2000) Dies ist ein weiteres Indiz dafür, dass <strong>de</strong>r Greis nicht nur<br />
für die von Włast inständig erwartete Würdigung steht, son<strong>de</strong>rn auch als sein ‚double’<br />
76 Polnisch: „Ja co ciągle wiszę u cudzych śpiżarń i domów / W jednej ciasnej iz<strong>de</strong>bce mieszcząc<br />
wszechświat swych myśli (...). // O jaka szkoda, że – gdzie ten zamek stoi – nic nie wiem, / Że żadnej<br />
Prababki list nie wzywa mię w świat nieznany, / Że ciągle wiszę u cudzych spiżarń, banków i domów, / I<br />
w jednej ciasnej iz<strong>de</strong>bce tłoczę wszechświat swych myśli!“<br />
77 Polnisch: „I moje fotografijki, i Lili, Eli, Krysia… / Od snu pierwszego w kołysce, przez wszystkich<br />
dni przełomy.“<br />
78 Mit <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s einsam ‚nach oben’ gehen<strong>de</strong>n, undurchschaubaren, aber alles durchschauen<strong>de</strong>n<br />
Greises, <strong>de</strong>s Hüters und Vertrauten <strong>de</strong>s Hauses, en<strong>de</strong>t auch das Gedicht „Dziad na pieńku“ (Der Greis auf<br />
<strong>de</strong>m Baumstumpf, 56-59).<br />
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fungiert – als das Projekt seiner selbst. Gleichzeitig symbolisiert er eine sanfte,<br />
liebevoll begleitete Individuation bzw. Subjektkonstitution. Es ist nicht so, dass sich<br />
‚Własts’ Sehnsucht in „Xięga“ lediglich auf die Rückkehr zum symbiotischen Zustand<br />
vor je<strong>de</strong>r Ichwerdung, Differenzierung, Kultur und symbolischer Ordnung richtet.<br />
Seine Utopie geht vielmehr dahin, die Kluft zwischen <strong>de</strong>m paradiesischen Gefühl <strong>de</strong>r<br />
Einheit und <strong>de</strong>r mit Trennung verbun<strong>de</strong>nen Individuation zu überwin<strong>de</strong>n, damit das<br />
Ichwer<strong>de</strong>n nicht im Wi<strong>de</strong>rspruch zur Geborgenheit und zum Aufgehobensein stehen<br />
muss. 79<br />
10.5. Die Lebenslegen<strong>de</strong> und die Schuld<br />
Figuren <strong>de</strong>s Vaters und <strong>de</strong>r Mutter spielen auch bei <strong>de</strong>r Überhöhung und<br />
Mythologisierung <strong>de</strong>r Kindheit in „Xięga“ eine fundamentale Rolle. Die Sehnsucht<br />
nach <strong>de</strong>m Zustand <strong>de</strong>s Aufgehobenseins im Schoß <strong>de</strong>r Familie ist das Thema <strong>de</strong>r<br />
Gedichte „Tajemnica domu Han“ (Das Geheimnis <strong>de</strong>s Hauses Han, 445-448) und<br />
„Pierwsze dzieciństwo“ (Die erste Kindheit, 448-451). Die Beziehung <strong>de</strong>r Eltern<br />
wird zu einer Idylle, sie selbst zu Heiligen, die Kindheit ‚Własts’ zum Paradies<br />
stilisiert, in welchem Engel über die Träume <strong>de</strong>r Kin<strong>de</strong>r wachen und die Natur blüht.<br />
Der Darstellung <strong>de</strong>r Kindheit dient auch das Bild <strong>de</strong>s Vogelnests: „Ich fühlte mich so<br />
geborgen wie im Ei / Im Nest <strong>de</strong>r Nachtigall im Hain <strong>de</strong>s Monats Mai.“ 80 (448) Betont<br />
wird die Frömmigkeit <strong>de</strong>r Mutter und die liebevolle Strenge <strong>de</strong>s Vaters. In „Pierwsze<br />
dzieciństwo“ <strong>de</strong>utet ‚Włast’ aber auch einen Bruch <strong>de</strong>r Idylle an, z.B. durch die<br />
Anspielung auf seine Rebellion als Jugendlicher (hulał jak opryszek) und auf das<br />
Unrecht, das ihm wi<strong>de</strong>rfahren ist: „Jedoch protestierte er / Als er dann, erwachsen, /<br />
79 Vgl. die For<strong>de</strong>rung Schillers, das Idyllische als Darstellung einer mündigen, mit <strong>de</strong>r Kultur wie mit <strong>de</strong>r<br />
Natur versöhnten zukünftigen Menschheit zu gestalten („Das I<strong>de</strong>al und das Leben“, 1795).<br />
80 Polnisch: „Tak mi zacisznie <strong>by</strong>ło jak jaju / Gniazda słowików w majowym gaju.“<br />
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am Pranger stand. Und ich glaube ihm am ehesten.“ 81 (449) Die heutige Zeit wird im<br />
zweiten Gedichtteil <strong>de</strong>n nostalgischen Erinnerungen diametral entgegengesetzt. Der<br />
Zauber ist endgültig weg, die Welt um ‚Włast’ herum ist kalt gewor<strong>de</strong>n. Das lange,<br />
vierteilige Gedicht en<strong>de</strong>t jedoch nicht mit dieser pessimistischen Aussage, son<strong>de</strong>rn mit<br />
<strong>de</strong>r Aktivierung eines seit <strong>de</strong>r Kindheit <strong>de</strong>s lyrischen Ichs immer wie<strong>de</strong>r<br />
zurückkehren<strong>de</strong>n Traums vom Fliegen zu <strong>de</strong>n Sternen. 82 In ‚Własts’ Weltbild ist, wie<br />
bereits ange<strong>de</strong>utet, je<strong>de</strong>r Baum mit seinem Stern, einer Art persönlichem Gott, durch<br />
einen magnetischen Strahl verbun<strong>de</strong>n. Auf diesem Strahl möchte er sich zum Himmel<br />
tragen lassen. Rückwärtsgewandte Kindheitsnostalgie verwan<strong>de</strong>lt sich in eine<br />
Sehnsucht nach <strong>de</strong>m spirituellen Aufgehobensein, nach einer engelhaften Existenz auf<br />
einem „mütterlichen Stern“: 83<br />
Seit meiner Kindheit packt mich die Lust,<br />
Auf einen Baum zu klettern, auf <strong>de</strong>n höchsten,<br />
Auf <strong>de</strong>n am stärksten duften<strong>de</strong>n und gottesfürchtig rauschen<strong>de</strong>n Baum,<br />
Dann zu seinem Stern zu blicken – und von einem magnetischen Strahl hingezogen<br />
Meine Arme, meine nostalgischen Flügel, wie die Vögel auszubreiten,<br />
Um in Richtung <strong>de</strong>s diamant-weißen,<br />
mütterlichen Sterns zu eilen... (451) 84<br />
An <strong>de</strong>r eigenen Lebenslegen<strong>de</strong> bzw. Erlösungsgeschichte schreibt Włast u.a. auch in<br />
einem kurzen und prägnanten, in <strong>de</strong>r Alltagssprache geschriebenen Gedicht<br />
„Kołowrotek“ (Spinnrädchen, 160). Die eigene Geschichte wird, auch hier in<br />
81 Polnisch: „Lecz się nie zgodził na to, / kiedy pod pręgierzem, / Dorósłszy, stanął. A ja jemu raczej<br />
wierzę.“<br />
82 Motive <strong>de</strong>s Fliegens, <strong>de</strong>r Flügel und <strong>de</strong>r Engelwerdung gehören zum festen Repertoire <strong>de</strong>r „Xięga“. Die<br />
Zusammenhänge dieser Motive mit <strong>de</strong>r Ästhetik <strong>de</strong>s mystischen Słowacki erläutern Janion (1996) und<br />
Boniecki (1998).<br />
83 Den engen Zusammenhang zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Arten von Sehnsucht erläutert Jaco<strong>by</strong> (1980, 18):<br />
„Tiefenpsychologisch bringt man Vorstellungen vom Paradies, <strong>de</strong>m gol<strong>de</strong>nen Zeitalter o<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r heilen<br />
Welt, mit <strong>de</strong>m vorbewussten Zustand <strong>de</strong>r Säuglingszeit in Zusammenhang, in <strong>de</strong>m das ‚Ich’ als Zentrum<br />
menschlichen Bewusstseins noch nicht wirksam ist. E. Neumann bezeichnete diese früheste, vor-ichhafte<br />
Zeit <strong>de</strong>r Urbeziehung auch als ‚Sein in <strong>de</strong>r Einheitswirklichkeit’, weil es in <strong>de</strong>r Erfahrung <strong>de</strong>s Säuglings<br />
noch keine Polarisierung gibt in Innen und Außen, Subjekt-Ich und Objekt, Ich und Selbst.“<br />
84 Polnisch: „I od dziecka bierze mnie ochota / Wejść na drzewo, na najwyższe drzewo, / Najwonniejsze,<br />
najpobożniej szumne, – / W gwiazdę jego spojrzeć – i strumieniem / Magnetycznym – tak jak ptaki,<br />
szerząc / Swoich ramion nostalgiczne skrzydła, – / Pomknąć ku dyamentowo-białej, / Macierzystej<br />
Gwieździe... “<br />
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Anspielung auf das Muster <strong>de</strong>s verlorenen Sohnes, in drei Phasen eingeteilt (1)<br />
Kindheit, <strong>de</strong>ren Wert das Text-Subjekt nicht zu schätzen wusste, (2) Verwirrungen <strong>de</strong>r<br />
Jugendzeit, (3) Rückkehr nach Hause und das Erlangen <strong>de</strong>r Fähigkeit, <strong>de</strong>n Wert <strong>de</strong>s<br />
‚Heimathafens’ zu schätzen. 85<br />
Eine dramatische Rückschau auf die eigene Vergangenheit und einen Versuch ihrer<br />
Semiotisierung stellt auch das sich über mehrere Seiten hinziehen<strong>de</strong> Gedicht „Spleen“<br />
(175-179) dar. Den Kulminationspunkt <strong>de</strong>s Textes bil<strong>de</strong>t eine Erinnerung an einen<br />
signifikanten Einschnitt im Leben <strong>de</strong>s lyrischen Ichs. Ab hier tauchen verstärkt<br />
intertextuelle Bezüge zur Lyrik Komornickas aus <strong>de</strong>r Zeit vor 1907 auf. Das Ich, das<br />
sich als <strong>de</strong>r „Freiwillige“ bzw. <strong>de</strong>r „Jäger <strong>de</strong>r Abenteuer“ (ochotnik przygód)<br />
bezeichnet, wur<strong>de</strong> von etwas nur Ange<strong>de</strong>utetem in seinen Grundfesten erschüttert: „Es<br />
hat mir <strong>de</strong>rart <strong>de</strong>n Kopf zerschmettert, / Mir <strong>de</strong>rart das Herz zerrissen / dass ich bis<br />
heute die Fetzen / nicht zusammenzufügen vermag.“ 86 (177) Durch die Anspielung auf<br />
das in <strong>de</strong>r „Chimera“-Lyrik Komornickas mehrmals auftreten<strong>de</strong> Motiv <strong>de</strong>s „ewigen<br />
Freiwilligen <strong>de</strong>s Lebens“ (wieczny ochotnik życia) stellt sich das lyrische Ich in<br />
Opposition zu damals, zu seinem ehemaligen Abenteuerdrang und ungestümen<br />
Lebensbegehren. Es entwirft sein gegenwärtiges Porträt als das eines Zerrissenen,<br />
Zersprengten, <strong>de</strong>r seine Ganzheit noch nicht wie<strong>de</strong>rerlangt hat. Die nächste Station ist<br />
die Erlangung <strong>de</strong>r Demut und <strong>de</strong>r Wunsch einer Wie<strong>de</strong>rgeburt. In diesem<br />
Zusammenhang wird das „Chimera“-Gedicht „Inkantacja“ 87 leicht abgewan<strong>de</strong>lt zitiert:<br />
„Ich rief: Ich will sterben! / Das alte ICH will sterben. Lasst das neue zur Welt<br />
kommen!“ 88 (193) Als Fazit fungiert die Apologie eines kindlichen Vertrauens auf die<br />
bevorstehen<strong>de</strong> Offenbarung: „Bis an einem einzigartigen Heiligen Abend / am<br />
85 Dieses Motiv (das Nachholen <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Kindheit versäumten Würdigung <strong>de</strong>r Eltern und <strong>de</strong>s Zuhauses)<br />
wird auch in „Zmierzch xiężycowy“ aufgegriffen.<br />
86 Polnisch: „Tak mi spiorunowała głowę, / Tak mi rozerwała serce / Że dotąd ich szczątków / Zebrać na<br />
nowo nie mogę.“ Das ‚Phantom’ eines erschüttern<strong>de</strong>n Erlebnisses – ein zerschmetterter bzw.<br />
zerschnittener Kopf <strong>de</strong>s lyrischen Ich – taucht auch in an<strong>de</strong>ren Gedichten <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s auf.<br />
87 Komornicka 1996, 326 („Chimera“ 1907, B. 9).<br />
88 Polnisch: „Wołałem: „Chcę umrzeć! / Stare JA chce umrzeć, Dajcie narodzić się nowemu!“<br />
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Himmel aufleuchtet / Der Stern von Bethlehem / So dass mein betrübtes Herz /<br />
Erblüht.“ 89 (179) Der Text erscheint, zum Teil durch die eindimensionale semantische<br />
Ausrichtung auf Hoffnung und die Ausschaltung aller Zweifel, etwas naiv. Auf<br />
existenzielle Fragen gibt sich ‚Włast’ Antworten, die ihn leben und hoffen lassen. Dies<br />
ist ihm auch hier wichtiger als <strong>de</strong>r artifizielle Aspekt <strong>de</strong>s Textes.<br />
An<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>r Lyrik vor 1907 tauchen in <strong>de</strong>r „Xięga“ nur selten Motive <strong>de</strong>r<br />
erotischen Liebe und <strong>de</strong>s damit verbun<strong>de</strong>nen Schuldkomplexes auf. Eine Ausnahme<br />
bil<strong>de</strong>t die Verserzählung „Czartołania i Seni. Romans anemiczny“ (Das<br />
Teufelsmädchen und <strong>de</strong>r Seni. Eine anämische Romanze, 310-329), welche – laut<br />
Aniela Komornicka (1964) – einen stark autobiographischen Charakter aufweist. Im<br />
Zentrum dieses Poems steht eine von sexuellen Kontakten ‚unbefleckte’<br />
Liebesbeziehung zwischen <strong>de</strong>m jungen, noch unerfahrenen Mann Seni und <strong>de</strong>r etwas<br />
älteren Czartołania, die sich selbst als sündhaft ansieht – darauf weist bereits ihr Name<br />
hin. Von seiner Reinheit fasziniert lehnt sie eine körperliche Liebe mit ihm ab, um ihn<br />
nicht zu ‚ver<strong>de</strong>rben’:<br />
Wir wer<strong>de</strong>n uns nicht in das Land <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> begeben,<br />
O, du mein entzücken<strong>de</strong>r Elf!<br />
Dein Lächeln genügt mir!<br />
– Singen ihre Augen ohne Worte. (315)<br />
Die Liebe ist nur etwas wert<br />
Bis zur ersten, kaum merklichen<br />
Berührung <strong>de</strong>r Augen aus <strong>de</strong>r Ferne.<br />
Der Rest... befleckt.<br />
Der Rest... ist <strong>de</strong>s Teufels Werk. (325) 90<br />
Auch möchte sie seine Illusion von ihrer Reinheit und Göttlichkeit nicht zerstören.<br />
Die Sün<strong>de</strong>n ihres Lebens, die sie wie ‚Blei’ bedrücken, beichtet sie ihm zum Teil in<br />
89 Polnisch: „Aż w przejedyny, wigilijny wieczór, / Aż zamigoce na Niebie / Betlejemska Gwiazda / Aż<br />
zasmucone serce me / Zakwitnie.“<br />
90 Polnisch: „Nie pójdziem w krainy grzechu, / O, ty mój Elfie uroczy! / Dość mi twojego uśmiechu! /<br />
Śpiewają bez słów jej oczy.“ // „Miłość coś warta / do pierwszego ledwie z dala / Oczu zetknięcia. /<br />
Reszta... kala. / Reszta… pomysły czarta.“<br />
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Gedanken und zum Teil in einem nie abgeschickten Brief. Frappierend, dass auch hier<br />
das Motiv <strong>de</strong>s Sternenmantels aus <strong>de</strong>m „Chimera“-Gedicht „Na rozdrożu“ auftaucht.<br />
Czartołania versteckt sich darunter, um <strong>de</strong>n ‚Schmutz’ ihrer Seele zu verbergen:<br />
Oh, Seni, wenn du wüsstest,<br />
Wie viel Abscheulichkeit<br />
In <strong>de</strong>r Tiefe meiner reinsten Wun<strong>de</strong>r wohnt!<br />
Wie viele Schatten meine Flammen zeichnen!<br />
Oh! Oh! Wie viel Schmutz<br />
In <strong>de</strong>r Tiefe kristallener Bo<strong>de</strong>nlosigkeit<br />
Die dich so reizt... Wie viele Wun<strong>de</strong>n in meiner Erinnerung bluten! (...)<br />
Bleib in <strong>de</strong>r unbefleckten Macht <strong>de</strong>r Täuschung!...<br />
Die Geister wer<strong>de</strong>n mich nicht verraten,<br />
Und ich wer<strong>de</strong> schweigen! (321)<br />
Dies ist eine Flamme aus <strong>de</strong>m Kamin: ich sen<strong>de</strong> diese Buchstaben in <strong>de</strong>n Himmel –<br />
Nie wird die Nachricht zu dir dringen,<br />
Dass sich eine Bettlerin im Sternenmantel <strong>de</strong>r Chimäre verbarg,<br />
Die du unter <strong>de</strong>in Dach –<br />
In <strong>de</strong>ine sonnigen Sphären führen wolltest. (324) 91<br />
„Chimera“ kann hier sowohl als Phantasiegebil<strong>de</strong> als auch als Anspielung auf die Zeit<br />
<strong>de</strong>r Zusammenarbeit mit <strong>de</strong>r Zeitschrift „Chimera“ interpretiert wer<strong>de</strong>n – die<br />
Zugehörigkeit zu dieser war eine große ‚Ehre’ für die Dichter(innen).<br />
Die Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit Schuld und Geschlecht entwickelt sich zum semantischen<br />
Kern <strong>de</strong>r Verserzählung. In einem Gespräch mit Seni beginnt Czartołania<br />
überraschend, mit einer aus <strong>de</strong>r Perspektive <strong>de</strong>r Textlogik unmotivierten Heftigkeit<br />
über ‚Frauen’ und ‚Männer’ zu sprechen. Erstaunlicherweise wird <strong>de</strong>r unschuldige<br />
und als prototypischer Männervertreter <strong>de</strong>nkbar ungeeignete Seni unvermittelt zum<br />
Adressaten einer feurigen Anklage <strong>de</strong>s männlichen Geschlechts, formuliert durch die<br />
Ichfigur <strong>de</strong>r jungen Maria Komornicka. Die ‚Romanze’ knüpft nämlich an eine reale<br />
Liebesbeziehung <strong>de</strong>r Dichterin zu <strong>de</strong>m verstorbenen Freund ihres jüngeren Bru<strong>de</strong>rs<br />
91 Polnisch: „O, gdy<strong>by</strong>ś wiedział, Seni! / Ile szkarady / Na dnie mych najczystszych cudów! / Ile w mych<br />
promieniach cieni! / Oh! oh! ile brudów / Na dnie tej kryształowej bezdni / Która tak cię nęci... Ile ran<br />
krwawi w mej pamięci! (...) / Zostań pod złudzeń nieskalaną władzą!... / Duchy mnie nie wydadzą, / A ja<br />
nie powiem! // Oto płomień z kominka: w Niebo ślę te litery – / Nie dojdzie cię nigdy wieść, / Że<br />
nędzarka się kryła w gwiezdnym płaszczu Chimery / Którąś pod swój dach chciał wwieść – / W twe<br />
słoneczne sfery.“<br />
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Gucio Walewski im Jahre 1902 (nach <strong>de</strong>r Trennung von Lemański) an. 92 Włast wird<br />
hier – was in <strong>de</strong>r „Xięga“ eine absolute Ausnahme darstellt – quasi wie<strong>de</strong>r zur Frau,<br />
versetzt sich in seine frühere weibliche I<strong>de</strong>ntität zurück. Sein Schmerz über das, was<br />
ihm in seinem ‚Frauenleben’ wi<strong>de</strong>rfahren ist, bricht in <strong>de</strong>n Text in einer äußerst<br />
affektierten Passage ein. Voller Wut entlarvt Czartołania die patriarchalischen<br />
Weiblichkeitsimaginationen. Eine Abweichung von diesen kann für eine Frau<br />
be<strong>de</strong>uten, an <strong>de</strong>n Rand <strong>de</strong>r Gesellschaft abgeschoben zu wer<strong>de</strong>n: „Euch Männer<br />
langweilt es, wenn eine Frau / Wirklich schwach ist... Schließlich gibt es dafür<br />
Krankenhäuser / Sanatorien...“ 93 (323) ‚Sanatorien’ (domy zdrowia) ist ein auf <strong>de</strong>n<br />
Zusammenhang zwischen Leben und Schreiben Komornickas hin<strong>de</strong>uten<strong>de</strong>s<br />
Referenzsignal – so wur<strong>de</strong>n von <strong>de</strong>r Familie euphemistisch die psychiatrischen<br />
Anstalten bezeichnet, in <strong>de</strong>nen Włast gefangen gehalten wur<strong>de</strong>.<br />
Die Diffamierung <strong>de</strong>s Patriarchats geht noch weiter und erinnert stark an Texte <strong>de</strong>r<br />
achtzehnjährigen Komornicka, auch wenn Czartołania nach ihrer feurigen Re<strong>de</strong><br />
vorsorglich einräumt: „Nein, Seni! Denk nicht, ich wäre eine Feministin!“ 94<br />
Weil alles, was ihr bisher über uns geschwätzt habt,<br />
(Grausamkeiten, Unwahrheiten und leichtfertiger Verrat)<br />
Offensichtlich die unbewusste Beichte<br />
Der eigenen Abscheulichkeit war!<br />
Heute fegen die reineren Geister die Spreu zusammen,<br />
Und die männliche Statue, ganz vom Grünspan<br />
Zerfressen, offenbart <strong>de</strong>r Welt ihr furchtbares Elend... (323) 95<br />
92 Aniela Komornicka (1964, 322) beschreibt diese Erfahrung ihrer älteren Schwester folgen<strong>de</strong>rmaßen:<br />
„In dieser Atmosphäre gab es zwischen Marynia und Gucio Walewski eine kurze, platonische<br />
Liebesepiso<strong>de</strong>, die 1902 im gegenseitigen Einvernehmen sowie durch <strong>de</strong>n wenig später plötzlich<br />
eingetretenen Tod <strong>de</strong>s jungen, an Lungenentzündung erkrankten Mannes, <strong>de</strong>r 1903 beim Karneval noch<br />
ausgelassen gefeiert hatte, been<strong>de</strong>t wur<strong>de</strong>. Dieses scheinbar flüchtige Erlebnis, das Maria selbst als<br />
‚anämische Romanze’ bezeichnet hat, fand in <strong>de</strong>m Poem ‚Czartołania i Seni’ seinen Ausdruck.“<br />
93 Polnisch: „Was mężczyzn nudzi, gdy kobieta / Naprawdę słaba... Przecież od tego są szpitale, / Domy<br />
zdrowia...“<br />
94 Polnisch: „Nie, Seni! Nie myśl, żem jest feministka!“.<br />
95 Polnisch: „Bo wszystko, coście dotąd o nas pletli, / (Okrucieństwa, fałsze, płoche zdrady) /<br />
Mimowiedną <strong>by</strong>ło snadź spowiedzią / Własnej szkarady! / Dziś Duchowie czystsi plewę zmietli, / I<br />
mężczyzny posąg, cały śniedzią / Zżarty, nędzę swą okropną zjawił światu…“<br />
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Es wird <strong>de</strong>utlich, dass Włast als Autor keineswegs bedingungslos auf <strong>de</strong>r Seite <strong>de</strong>s<br />
Patriarchats steht, wie es in <strong>de</strong>r Forschung behauptet wor<strong>de</strong>n ist (Zimand 1984, Janion<br />
1996). 96<br />
Worin <strong>de</strong>r Schuldkomplex besteht, mit <strong>de</strong>m sich Czartołania zerfleischt, kann <strong>de</strong>r<br />
Leser nur ahnen. In ihrem Brief an Seni <strong>de</strong>utet sie einige Stationen ihres sündhaften<br />
Weges an, die sich folgen<strong>de</strong>rmaßen rekonstruieren lassen: (1) Sie ist nicht als Göttin<br />
geboren wor<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn war ein aufmüpfiges Kind, das <strong>de</strong>r Vater öfter bestrafen<br />
musste. 97 (2) Die Jungfräulichkeit wur<strong>de</strong> ihr von einem ‚alten Lüstling’ genommen. 98<br />
Kralkowska-Gątkowska (2002) liest dies als eine Anspielung auf einen möglichen<br />
sexuellen Missbrauch <strong>de</strong>r realen, noch sehr jungen Komornicka durch einen älteren<br />
Mann. (3) Von einem „elen<strong>de</strong>n Liebhaber“ wur<strong>de</strong> sie gewaltsam 99 ins Krankenhaus<br />
gebracht:<br />
Der erbärmliche Liebhaber brachte mich dann ins Spital,<br />
Von Scham be<strong>de</strong>ckt... die Lanzetten<br />
Schnitten Körper und Herz...<br />
Doch ihre Klinge war gut, weil sie nicht besu<strong>de</strong>lte –<br />
Ich aber bin besu<strong>de</strong>lt, lei<strong>de</strong>r...<br />
Oh, du blutige! Oh, du unvergessliche Woge <strong>de</strong>r Erinnerungen! (325) 100<br />
96 In die Perspektive <strong>de</strong>r (schreiben<strong>de</strong>n) Frauen versetzt sich Włast auch in seinem französischen Gedicht<br />
„Place aux Dames!“. Die Botschaft dieses Textes lässt sich folgen<strong>de</strong>rmaßen auf <strong>de</strong>n Punkt bringen: Es ist<br />
Zeit, dass Frauen anfangen, sich selbst zu artikulieren, <strong>de</strong>nn „die Männer schreiben nur Unsinn über sie“.<br />
Sie wer<strong>de</strong>n sich jedoch erst öffnen, wenn ihnen seitens <strong>de</strong>r Männer bzw. <strong>de</strong>r Gesellschaft mehr Freiheit,<br />
Achtung und Wür<strong>de</strong> entgegengebracht, und mehr „väterliche Zärtlichkeit“ zuteil wird. Wenn sie dann<br />
anfangen zu „singen“, wer<strong>de</strong>n alle staunen. Seine Solidarität mit Frauen, insbeson<strong>de</strong>re mit <strong>de</strong>n<br />
Mitpatientinnen <strong>de</strong>r Irrenanstalten, bekun<strong>de</strong>t Włast auch in „Panie i ja“.<br />
97 Zitat: „Der armselige Vater eilte <strong>de</strong>r geplagten Mutter zu Hilfe / und peitschte das trotzige Kind…“<br />
(324)<br />
98 Zitat: „Die erste Knospe [ihrer Jugend] riss <strong>de</strong>r alte Priapos an, lüsternd nach <strong>de</strong>r unreifen Ernte.“ (324)<br />
‚Priapos’ ist ein kleinasiatischer Fruchtbarkeitsgott, <strong>de</strong>r meist mit überdimensionalem Penis dargestellt<br />
wird. (Fink, 265)<br />
99 Zu beachten ist die Formulierung „wtrącił do szpitala“. ‚Wtrącić’ wird im normalen Sprachgebrauch<br />
nur im Zusammenhang mit Gefängnis gebraucht.<br />
100 Polnisch: „Kochanek marny wtrącił potem do szpitala, / Okrytą wsty<strong>de</strong>m... Lancety / Krajały z ciałem<br />
serce... Lecz ostrz ich dobra, bo nie kala – / A jam skalana, niestety…/ O, krwawa! O niezapomniana<br />
wspomnień fala!“<br />
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Das Messer <strong>de</strong>s Chirurgen sei, so die Metaphorik <strong>de</strong>s Gedichts, nichts im Vergleich<br />
mit <strong>de</strong>m Lei<strong>de</strong>n, ‚befleckt’ wor<strong>de</strong>n zu sein. Die Erinnerungen, die hier aufgerufen<br />
wer<strong>de</strong>n, sind extrem schmerzhaft und ‚blutig’. Sie korrespondieren mit <strong>de</strong>m Motiv <strong>de</strong>r<br />
offenen Wun<strong>de</strong> aus <strong>de</strong>r Lyrik Komornickas vor 1907. Kralkowska-Gątkowska (2002)<br />
vermutet auch in diesen Bil<strong>de</strong>rn eine Reminiszenz an eine weitere traumatische<br />
Erfahrung <strong>de</strong>r realen Komornicka – eine Abtreibung. Dafür spricht ihrer Ansicht nach<br />
auch das obsessive Motiv <strong>de</strong>s Embryos in <strong>de</strong>r gesamten „Xięga“, welches in einem<br />
an<strong>de</strong>ren Zusammenhang bereits 1904 in Komornickas aphoristischer Prosa „Z księgi<br />
mądrości tymczasowej“ auftauchte. 101 (4) Czartołania wur<strong>de</strong> zur ‚Hure’. 102 Ihre<br />
engelhafte Seite konnte sie <strong>de</strong>nnoch nicht ganz unterdrücken, <strong>de</strong>r ‚innere Engel’<br />
mel<strong>de</strong>t sich manchmal zu Wort. 103 Dies passierte z.B. bei ihrer ersten Begegnung mit<br />
Seni, <strong>de</strong>r das unstillbare Verlangen nach <strong>de</strong>m Guten, nach einer geistigen Katharsis<br />
(przebóstwienie) in ihrer Seele wie<strong>de</strong>r aufleben ließ.<br />
Seni wird, wie Komornickas Gucio, in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Karnevals schwer krank und stirbt.<br />
In einem spektakulären Akt folgt ihm Czartołania in <strong>de</strong>n Tod – sie wirft sich in sein<br />
offenes Grab. Damit scheint sie ihre Schuld getilgt zu haben bzw. <strong>de</strong>r<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit ihrer Schuld ausgewichen zu sein. Es ist eine Korrektur im<br />
Verhältnis zur Biographie Komornickas. Mit ihrem Tod erringt Czartołania Wür<strong>de</strong><br />
und Achtung seitens <strong>de</strong>r patriarchalischen Gesellschaft („Meine Herren! Für diesen<br />
Tod... / Bitte ich um SCHWEIGEN ihr zu Ehren!“, 329) 104 – etwas, was Piotr Włast<br />
mit <strong>de</strong>m symbolischen Mord an seinem Geschlecht nicht erreichte.<br />
101 Ihre Kritik an <strong>de</strong>r bürgerlichen Familie been<strong>de</strong>t Komornicka hier mit folgen<strong>de</strong>n Worten: „‚Die Alten’<br />
– zerschmetterte Despoten. – Die ‚Jungen’ – zügellose, frei gelassene Sklaven. – ‚Die Jüngsten’...<br />
abgetriebene Embryos! (...) Abgetriebene Embryos, die von verwaisten, erniedrigten Königinnen <strong>de</strong>s<br />
häuslichen Feuers beweint wer<strong>de</strong>n, (...) von Madonnen-Verwalterinnen!“ (Komornicka 1996, 262,<br />
Erstveröffentlichung in: „Chimera“ 1904, B. 7).<br />
102 Zitat: „Später als triumphieren<strong>de</strong>, gefährliche Courtisane, / Fing ich die Welt ins Netz.“ (325)<br />
103 Zitat: „Die unerbittliche Erinnerung brach in mir in engelsgleiche Tränen aus.“ (325)<br />
104 Polnisch: „Panowie! Za ten zgon… / Proszę o MILCZENIE dla niej!“<br />
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Komornickas Leben als Frau vor 1907 wird aber mitunter auch zum Gegenstand von<br />
durchaus positiv konnotierten Sehnsuchtsbil<strong>de</strong>rn, so z.B. in „Noc xiężycowa“<br />
(Mondnacht, 287-289). 105 In <strong>de</strong>m Ausbruch eines verzweifelten Verlangens <strong>de</strong>s in<br />
Grabów eingesperrten ‚Włast’ nach einem aktiven Leben in <strong>de</strong>r Außenwelt, z.B. nach<br />
geselligen Aben<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n Kaffeehäusern, erhält ‚Kaffee’ einen beinahe sakralen<br />
Wert:<br />
Ach, hier in Grabów gibt es keine Konditorei,<br />
Wo man sich in Illuminationen <strong>de</strong>s Kaffees ausruhen könnte,<br />
Wo es sich mit Freun<strong>de</strong>n lange, gemütlich und wun<strong>de</strong>rbar plau<strong>de</strong>rn ließe... (...)<br />
In Grabów gibt es keine Konditorei, keine festlichen Umzüge, keine Brücke,<br />
Es gibt nichts und nieman<strong>de</strong>n, wo man hingehen könnte, alles ist so traurig...<br />
Des jungfräulichen Auges Furcht hält hier alles umschlossen,<br />
Diese kleine Welt lei<strong>de</strong>t unter <strong>de</strong>m schwarzen Zeichen <strong>de</strong>s Zweifels...<br />
Schweig, du Unseliger! Roll’ dich zusammen und erträume dir eine glücklichere. (288) 106<br />
‚Włast’ verbietet es sich, in Melancholie und Verzweiflung aufzugehen. Nach <strong>de</strong>m<br />
kurzen Aufschrei folgt die Zurechtweisung: Der Himmelssänger verordnet sich<br />
entwe<strong>de</strong>r das Schweigen o<strong>de</strong>r das Erträumen einer Idylle, in „Noc xiężycowa“ als<br />
„gol<strong>de</strong>ner Hain auf <strong>de</strong>m Mond“ konkretisiert. Um an diesen Ort zu gelangen, braucht<br />
die menschliche Seele, die sich ‚Włast’ als einen Embryo vorstellt, jedoch Flügel bzw.<br />
einen Engelsmantel: „Roll dich zusammen und krümm dich in <strong>de</strong>inem Loch, du<br />
elen<strong>de</strong>r Embryo! / Bis <strong>de</strong>ine flachen Schulterblätter zu einem Engelsmantel<br />
wer<strong>de</strong>n.“ 107 (288)<br />
105 Ein an<strong>de</strong>res Beispiel dafür ist „Woskresenie“ („Sonntag“/„Auferstehung“, Titel im Original Russisch).<br />
106 Polnisch: „Ach, tu w Grabowie żadnej nie ma cukierni, / Gdzie w illuminacjach kawy można<br />
odpocząć, / Z druhami pogawędzić długo, zwolna, fantastycznie... (...) // W Grabowie nie ma cukierni,<br />
Corsa, ni mostu, / Nie ma gdzie pójść, ni do kogo, wszystko tak smętne… / Strach dziewooki wszystko tu<br />
trzyma w uścisku, / Pod czarnym znakiem wątpienia cierpi ten światek… / Milcz, nieszczęśliwy! Skul się<br />
i wymarz szczęśliwszy.“<br />
107 Polnisch: „Zwiń się i skul w swej norze, marny zarodku! / Aż ci anielskim płaszczem nabrzmieją<br />
płaskie łopatki.“<br />
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10.6. Je<strong>de</strong>m seinen Stern<br />
Das in „Noc xiężycowa“ formulierte Postulat realisiert Włast in <strong>de</strong>n siebenunddreißig<br />
Seiten umfassen<strong>de</strong>n „Hymny nadziei“ (Hymnen <strong>de</strong>r Hoffnung, 186-223) – einer<br />
visionär-spirituellen, Mythologeme verschie<strong>de</strong>ner religiöser Traditionen<br />
aufgreifen<strong>de</strong>n, meist reimlosen, prosanahen Dichtung ohne feste metrische<br />
Versmuster. Das Subjekt <strong>de</strong>r „Hymny“ <strong>de</strong>finiert sich als Künstler 108 (188) aber auch<br />
als Hellseher und Verkün<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Wahrheit, (206) als archaischer, von Gott gesalbter<br />
und von <strong>de</strong>n Ahnen unterstützter Sänger. Wie ein Refrain zieht sich <strong>de</strong>r Imperativ<br />
‚Radujmy się’ (Freuen wir uns) und ‚Alleluja’ (Halleluja) durch <strong>de</strong>n Text. Die in<br />
leicht verständlicher Sprache vermittelte Botschaft lautet: Die Menschen sind, als<br />
Gottes Kin<strong>de</strong>r und Brü<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Engel, zum Glücklichsein berufen. Je<strong>de</strong>r ist mit einem<br />
Gna<strong>de</strong>nstrahl persönlich mit Gott verbun<strong>de</strong>n. Die irdische Existenz ist nur <strong>de</strong>r<br />
Anfangspunkt eines langen Prozesses <strong>de</strong>r Reifung: Die Menschen sind „Embryonen<br />
<strong>de</strong>r Ewigkeit“ im Schoß Gottes und <strong>de</strong>r Mutter Natur, bzw. „frisch gelegte Eier“. In<br />
ihrem Er<strong>de</strong>nleben sind sie wie Mona<strong>de</strong>n voneinan<strong>de</strong>r getrennt, sie benei<strong>de</strong>n und<br />
begehren sich gegenseitig. Doch wenn sie eines Tages aus <strong>de</strong>m Ei schlüpfen, bricht<br />
die Zeit <strong>de</strong>r wun<strong>de</strong>rbaren Erkenntnis <strong>de</strong>r spirituellen Zusammenhänge und <strong>de</strong>r<br />
Erlösung an, die Zeit <strong>de</strong>r Tilgung von Konflikten und <strong>de</strong>s liebevollen Austauschs<br />
zwischen <strong>de</strong>n Seelen. Alle Menschen wer<strong>de</strong>n dann eine große Familie sein. Diese<br />
utopische Vision wird „auf dieser Er<strong>de</strong> o<strong>de</strong>r auf einer an<strong>de</strong>ren Er<strong>de</strong>, auf <strong>de</strong>m Mond,<br />
auf <strong>de</strong>r Sonne o<strong>de</strong>r im Himmel“ 109 verortet. (191) An<strong>de</strong>rerseits weist ‚Włast’ je<strong>de</strong>m<br />
Menschen ein eigenes Königreich, einen eigenen Stern, ja einen eigenen Kosmos zu,<br />
in <strong>de</strong>m er Patriarch und Gott sein und seine Träume realisieren kann. Das<br />
108 Sein irdisches Leben sieht ‚Włast’ als einen für eine Künstlerexistenz charakteristischen Lei<strong>de</strong>nsweg<br />
<strong>de</strong>s Unverstan<strong>de</strong>nen und Verachteten: „Oh, Künstlerleben! Gebrechlich, launisch, träge, mit Verachtung<br />
gebrandmarkt, von bequemeren Menschen verfolgt! Auch über dich kommt die Wahrheit! Aber Deine<br />
Wahrheit wird strahlen<strong>de</strong>r sein als die <strong>de</strong>r Heiligenscheine.“ (225 f.)<br />
109 Polnisch: „na Ziemi lub na innej Ziemi, na Xiężycu, na Słońcu, lub w Niebie“.<br />
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Angefangene, nicht Realisierte, durch die Missgunst <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>ren Zerstörte wird<br />
aufgehoben im „unzerstörbaren Gedächtnis“ <strong>de</strong>r Welt und in <strong>de</strong>r Zukunft vollen<strong>de</strong>t.<br />
Je<strong>de</strong>r habe einen ewigen Wesenskern und sei „ein an<strong>de</strong>res, unentbehrliches Antlitz<br />
Gottes“, „einzigartig, UNENTBEHRLICH, (...) ein außergewöhnliches und<br />
einmaliges Meisterstück (…).“ 110 (201) Mit dieser Erkenntnis begrün<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r<br />
entrechtete Włast seinen Aufruf zum Öffnen <strong>de</strong>s Herzens, zur Faszination für die Aura<br />
<strong>de</strong>r An<strong>de</strong>ren, zum gegenseitigen ‚Sich Lesen’ und sich selbst in <strong>de</strong>m An<strong>de</strong>ren Fin<strong>de</strong>n,<br />
ohne jedoch in Abhängigkeit und Sklaverei zu verfallen.<br />
In dieser Weltkonzeption ist nichts vergebens, nichts sinnlos und nicht wirklich<br />
vergänglich, das Versäumte wird nachgeholt, Schuld und Verbrechen wer<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r<br />
gut gemacht. Zu <strong>de</strong>m Versäumten zählt Włast auch hier die seinerzeit nicht<br />
gewürdigten, in „Xięga“ jedoch immer wie<strong>de</strong>r besungenen Vorzüge seiner Kindheit,<br />
aber auch die verlorenen, vergessenen „Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Freundschaft, die das Schicksal<br />
missachtete.“ (211) Auch in „Hymny nadziei“ arbeitet Włast an <strong>de</strong>r Erschaffung<br />
seiner Lebenslegen<strong>de</strong>:<br />
Derjenige, <strong>de</strong>r über seine Kindheit weinte, dass sie elend und stumpfsinnig, und er sich seines<br />
Glücks nicht bewusst, taub für die Freu<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Nestes war...<br />
Der wird sich wie<strong>de</strong>r als Kind bei seinen Eltern erblicken und wenn er will, die vergeu<strong>de</strong>te<br />
Vergangenheit nachholen.<br />
Und <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r über seine Jugend weint, dass er, nach Glück jagend, in <strong>de</strong>n Sumpf gefallen ist<br />
und die Lilie seiner Seele befleckte…<br />
Der wird sich wie<strong>de</strong>r als Jugendlicher erblicken – in einer makellosen Ritterrüstung... und wird<br />
einen siegreichen Kampf mit <strong>de</strong>n Verführungen schlagen. (212) 111<br />
Im Mittelpunkt dieser Lebenslegen<strong>de</strong> 112 steht die Schuld. Im zitierten Fragment <strong>de</strong>r<br />
„Hymny“ ist es die Schuld eines undankbaren Kin<strong>de</strong>s <strong>de</strong>n Eltern gegenüber, die in<br />
Beziehung zu Komornickas früher Rebellion gegen die elterliche Macht in Beziehung<br />
110 Polnisch: „jedyny w swoim rodzaju, NIEZBĘDNY, (…) wyłączne i niepowtarzalne Arcydzieło (...).“<br />
111 Polnisch: „Wszystko nam się stanie jak, pragniemy, wszystko zrealizujemy! / Kto płakał nad swem<br />
dzieciństwem, że nędzne <strong>by</strong>ło i tępe, swych szczęśliwości nieświadome, na radości gniazda głuche... /<br />
Ten się znów dzieckiem u Rodziców zobaczy i odrobi, gdy zechce, przeszłość zmarnowaną. / I kto płacze<br />
nad młodością swoją, że goniąc szczęście, wpadł w bagno i zszargał lilię swej duszy... / Ten młodzieńcem<br />
znowu się ujrzy w nieskazitelnej rycerza zbroi... i stoczy bój zwycięski z pokusami.“<br />
112 Von ‚Legen<strong>de</strong>’ spricht Włast auch explizit. (208)<br />
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gesetzt wer<strong>de</strong>n kann. Es geht aber auch noch um eine an<strong>de</strong>re Schuld, die anscheinend<br />
nichts mehr mit <strong>de</strong>n Eltern zu tun hat. Motive wie ‚Sumpf’ (bagno), aber auch ‚Lilie’<br />
(lilia) und ‚Verführungen’ (pokusy) <strong>de</strong>uten – insbeson<strong>de</strong>re im Kontext <strong>de</strong>r Lyrik<br />
Komornickas vor 1907 – einen sexuellen Bereich an. Von beson<strong>de</strong>rer Relevanz ist<br />
hier auch das Motiv <strong>de</strong>r ‚unbefleckten Ritterrüstung’. Eine Ritterrüstung kann,<br />
genauso wie ein Engelsmantel, <strong>de</strong>n Körper vor Übergriffen schützen. Zur<br />
Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit <strong>de</strong>r Schuld gehört in „Hymny…“ auch die Imaginierung <strong>de</strong>s<br />
Gerichts, das über je<strong>de</strong>n Menschen irgendwann gehalten wird. An<strong>de</strong>rs als in <strong>de</strong>r<br />
christlichen Eschatologie wird in <strong>de</strong>r Konzeption ‚Własts’ das göttliche Urteil auf<br />
je<strong>de</strong>n Fall mil<strong>de</strong> ausfallen: Alle Menschen wer<strong>de</strong>n von ihren Sün<strong>de</strong>n freigesprochen.<br />
Berücksichtigt wird nämlich auch <strong>de</strong>r Erkenntnisstand <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>r: „Die<br />
SCHLIMMSTE Tat wird im Urteilsspruch für einen IRRTUM... DER EMBRYONEN<br />
erklärt.“ 113 (209)<br />
10.7. Der ‚transzen<strong>de</strong>ntale Narr’<br />
In <strong>de</strong>n visionären, erhabenen Diskurs wer<strong>de</strong>n in „Hymny…“ bezeichnen<strong>de</strong>rweise<br />
Bruchstücke <strong>de</strong>r Alltagsre<strong>de</strong> aber auch humorvolle Formulierungen und<br />
Kolloquialismen eingeflochten: „latajmy do siebie w odwiedziny!“, „krecia robota“,<br />
„waryacyja ze szczęścia“, „dobroć rycząca“. Dieses stilistische Merkmal gilt auch für<br />
zahlreiche an<strong>de</strong>re Dichtungen <strong>de</strong>r „Xięga“. Gera<strong>de</strong> in Bezug auf die Selbstkreation <strong>de</strong>s<br />
Dichters und Propheten taucht immer wie<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r autoironische Ton auf. Von einer<br />
solchen ironischen Distanz <strong>de</strong>s Subjekts zu sich selbst ist z.B. die episch-dramatische<br />
Dichtung „Układy o raj“ (Verhandlungen um das Paradies, 18-35) geprägt.<br />
Motivisch schöpft sie aus hinduistischen Vorstellungen über Wan<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
erlösten Seelen unter göttlicher Begleitung durch verschie<strong>de</strong>ne Arten von „vorläufigen<br />
113 Polnisch: „NAJGORSZE zwie się w Wyroku OMYŁKĄ… EMBRIONÓW“.<br />
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Paradiesen“ (Devakhana). 114 Es han<strong>de</strong>lt sich um ein scherzhaftes Lehrgespräch<br />
zwischen einer „erlösten Seele“ und ihrem göttlichen Begleiter, einem Demiurgen.<br />
Auch hier taucht das Motiv einer paradiesischen Insel auf, die <strong>de</strong>r Seele als Belohnung<br />
für ihre Tugen<strong>de</strong>n in Aussicht gestellt wird. Die Seele wird mit ‚Söhnchen’, <strong>de</strong>r<br />
Demiurg mit ‚Papa’ angesprochen. Der Text liefert zahlreiche Beispiele für <strong>de</strong>n<br />
spezifischen Humor <strong>de</strong>r „Xięga“:<br />
Nicht dazu hat <strong>de</strong>r Zug seinen Dampf,<br />
Damit <strong>de</strong>r sich durch einen Spalt davonstehlen kann,<br />
Und <strong>de</strong>r Zug sich schleppen muss wie ein altes Vieh!<br />
Du aber, wie Phönix auf seinem Scheiterhaufen,<br />
Schmorst kühn in <strong>de</strong>inem eigenen Saft<br />
Und singst stets in erhabenem Pathos,<br />
Und statt zu fluchen – machst Metaphysik<br />
Aus <strong>de</strong>iner plagenhaften Katzenmusik.<br />
Gera<strong>de</strong>zu impertinent <strong>de</strong>utlich<br />
Beutest du <strong>de</strong>ine Qualen aus,<br />
Du transzen<strong>de</strong>ntaler Narr! (25) 115<br />
Ein Beispiel für die Autoironie in Bezug auf <strong>de</strong>n dichterischen Selbstentwurf ist das<br />
Gedicht „Odpowiedź poety“ (Antwort <strong>de</strong>s Dichters, 125 f.). Angesprochen wird hier<br />
das Vaterland Polen, in <strong>de</strong>ssen Dienste sich Włast, <strong>de</strong>r spirituelle Themen bevorzugt,<br />
nicht stellen möchte: 116 „Folglich wer<strong>de</strong> ich nicht auf die Deutschen schießen, / Noch<br />
vor Dir auf ‚die Knie’ fallen / Du hältst mich auch so bereits für einen Schafskopf!“ 117<br />
In diesem sarkastischen Gedicht wird, entgegen <strong>de</strong>r polnischen Tradition aus <strong>de</strong>r 127-<br />
jährigen Teilungszeit, <strong>de</strong>m individuellen Lei<strong>de</strong>nsweg mehr Gewicht als <strong>de</strong>m<br />
114 Dies erläutert <strong>de</strong>r Autor selbst im Anschluss an <strong>de</strong>n Text.<br />
115 Polnisch: „Nie na to pociąg ma swą parę, / By wymykała się przez szparę, / A on się wlókł jak <strong>by</strong>dlę<br />
stare! // Ty zaś, jak Fenix na swym stosie, / Śmiało się smażysz w własnym sosie / I w górnym śpiewasz<br />
wciąż patosie, / A zamiast kląć – w Metafizykę / Przetwarzasz kocią plag muzykę / Impertynencko<br />
wprost wyraźnie / Exploatujesz swoją kaźnię, / Ty transcen<strong>de</strong>ntalny błaźnie!“ (27)<br />
116 In dieser Haltung ähnelt Włast <strong>de</strong>n ‚neuen’ Dichtern <strong>de</strong>s 1918 wie<strong>de</strong>r errichteten polnischen Staates<br />
(<strong>de</strong>n „Skamandriten“ und <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong>). Własts Grün<strong>de</strong> für die Ablehnung <strong>de</strong>s gesellschaftlichpolitischen<br />
Auftrags <strong>de</strong>r Literatur sind allerdings ‚untypisch’. Der Beitrag <strong>de</strong>r Literatur zur geistigen und<br />
moralischen Entwicklung <strong>de</strong>r Menschen hat in seinem Verständnis Priorität vor <strong>de</strong>m politischen<br />
Engagement.<br />
117 Polnisch: „Nie wytoczę więc na Niemców dział, / Ni przed Tobą padnę ‚na kolana’ / Wszak i tak już<br />
masz mię za barana!“<br />
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kollektiven Märtyrertum zugesprochen. Entsprechend kommentierte Schreckensbil<strong>de</strong>r<br />
aus ‚Własts’ Vergangenheit suggerieren die Erhebung seiner Biographie zum<br />
Gegenstand einer mythologischen Verklärung durch einen Dante o<strong>de</strong>r Goethe:<br />
Soll doch <strong>de</strong>r trockene Dante sagen, wo ich weilte,<br />
Soll es Goethe mit einem zweiten „Faust“ erklären.<br />
Ich bin dort gewesen, wo <strong>de</strong>r ganze Krieg<br />
Lediglich ein klägliches Rufen<br />
Einer Mutter ist, die in Sorge um ihr Kind,<br />
im Garten nach ihm Ausschau hält. (125) 118<br />
10.8. Die stille Front<br />
Ironie wird auch eingesetzt, wenn es darum geht, die Unangemessenheit <strong>de</strong>r<br />
Lebensumstän<strong>de</strong>, unter <strong>de</strong>nen Włast als Dichter lebt, u.a. <strong>de</strong>n Mangel an Tee, Kaffee<br />
und warmer Bekleidung, sowie die unwürdige Behandlung durch die Umwelt zu<br />
thematisieren, so z.B. in „Klimat i jego Atlas“ 119 und „Świt wrześniowy“. 120 Dies ist<br />
insbeson<strong>de</strong>re in Gedichten <strong>de</strong>r Fall, in <strong>de</strong>nen sich Włast auf sein Verhältnis zur<br />
Familie <strong>de</strong>s Bru<strong>de</strong>rs bezieht, bei <strong>de</strong>r er lebt. 121 Im Vor<strong>de</strong>rgrund steht hierbei die in<br />
einem <strong>de</strong>r Texte als ‚Tyrann’ bezeichnete Hausfrau – die Textspur <strong>de</strong>r realen<br />
Schwägerin Wanda. Ange<strong>de</strong>utete Aggressionen (u.a. durch die militaristische<br />
Metaphorik) wer<strong>de</strong>n durch <strong>de</strong>n Einsatz von Humor ‚gezähmt’: „Begreife, Frau, dass<br />
<strong>de</strong>r ‚Gast im HAUS’ ein Bündnis mit <strong>de</strong>m Himmel be<strong>de</strong>utet / Und halte die Bestie<br />
118 Polnisch: „Dant niech suchy powie, gdzie <strong>by</strong>wałem, / Faustem drugim niech tłomaczy Goethe. (...) /<br />
Tam ja <strong>by</strong>łem, skąd ta cała wojna / Wiotkiem jeno zdaje się wołaniem / Matki, co o dziecko niespokojna,<br />
/ Po ogródku ogląda się za niem.“<br />
119 Zitat: „Doch die Füße sind nackt... es naht <strong>de</strong>r Winter, / Und <strong>de</strong>r Dichter hat keine vernünftigen<br />
Schuhe.“ (272)<br />
120 Zitat: „(...) ach, wie groß und blass die aufgegangene Sonne ist! / (...) / Gewiss muss sie wie ich, statt<br />
etwas Besserem, Milch trinken.“ (294)<br />
121 Dazu gehören: „Na cichym froncie“ (397-417), „Nałóg pracowity“ (399-400), „Jeniec przy rodzinie“<br />
(401), „Smutna niedziela“ (401-403).<br />
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<strong>de</strong>ines Zorns an <strong>de</strong>r Kette <strong>de</strong>r heiligen Furcht zurück.“ 122 (398) In diesem Konfliktfeld<br />
geht es hauptsächlich um das leibliche Wohl <strong>de</strong>r Ichfiguren Własts. In „Na cichym<br />
froncie“ (Auf <strong>de</strong>r leisen Front, 397-417) bekommt eine solche Ichfigur als<br />
Kriegsgefangener und Dichter von <strong>de</strong>r Hausfrau nur schlechtes Essen und Trinken.<br />
‚Włast’ ist hier jemand, <strong>de</strong>m absolut nichts gehört, <strong>de</strong>r seinen Gastgebern keine<br />
Gegenleistung versprechen bzw. diese scherzhaft in eine utopische Zukunft verlagern<br />
muss: „Auf Marmela<strong>de</strong> verzichte ich, dagegen bitte ich um Tee. / Ich wer<strong>de</strong> es dir<br />
danken, wenn ich einst mächtig und reich bin.“ 123<br />
(399) ‚Włast’ sieht sich als<br />
Außenseiter in <strong>de</strong>r Familie. Er zieht die an<strong>de</strong>ren an und stößt sie gleichzeitig ab, so<br />
z.B. in „Smutna niedziela“ (Trauriger Sonntag, 419 ff.). Hier wird er zum Objekt <strong>de</strong>r<br />
Intrigen, <strong>de</strong>s Misstrauens und Spotts, aber auch einer gewissen Neugier.<br />
„Merkwürdige Wesen“ (dziwne istotki) locken ihn zu sich, um ihn dann auszustoßen:<br />
„Ziel erreicht: <strong>de</strong>r Trottel ist erschienen! / Das neue Ziel: Er soll wie<strong>de</strong>r<br />
verschwin<strong>de</strong>n.“ 124 (421) Dieses Gedicht gipfelt in einem ermuntern<strong>de</strong>n Aufruf <strong>de</strong>s<br />
erzählen<strong>de</strong>n an <strong>de</strong>n erleben<strong>de</strong>n Włast, sich weiterhin <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r Tugen<strong>de</strong>n,<br />
<strong>de</strong>r eigenen Vergöttlichung und Beflügelung zu widmen und das eigene Ziel nicht aus<br />
<strong>de</strong>n Augen zu verlieren: „Und du – hüte das Steuer im Kahn <strong>de</strong>iner Gedanken /<br />
Schmie<strong>de</strong> ein Schwert, verstärke <strong>de</strong>n Helm und beflügele die Fersen.“ 125 (421) Das<br />
Gefühl <strong>de</strong>r Umzingelung (osaczenie), <strong>de</strong>s Gejagtwer<strong>de</strong>ns, aber auch <strong>de</strong>r sexuellen<br />
Nötigung ist in vielen Gedichten präsent. Immer wie<strong>de</strong>r rekonstruiert ‚Włast’ <strong>de</strong>n<br />
mutmaßlichen Blick <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>ren auf sich selbst und die Irritation, die sich daraus<br />
ergibt. In manchen Fällen bekommen solche Interaktionen einen phantastischen,<br />
geheimnisvoll-mystischen Charakter. Das Szenario und die Figuren (böse Geister)<br />
122 Polnisch: „Pomnij, Białogłowo, że ‚gość w DOM’ to z Niebiosami przymierze. / I na łańcuchu świętej<br />
bojaźni trzymaj swych gniewów zwierzę.“<br />
123 Polnisch: „Lecz marmolady zrzekam się, natomiast prosił<strong>by</strong>m herbaty. / Odpłacę ci za to kiedyś, gdy<br />
będę potężny, bogaty.“<br />
124 Polnisch: „Cel osiągnięty: du<strong>de</strong>k się pojawił! / Teraz cel nowy: <strong>by</strong>ś je znów zostawił.“<br />
125 Polnisch: „Ty – pilnuj steru w swych rozmyślań barce / Kuj miecz, hełm wzmacniaj i uskrzydlaj<br />
pięty.“<br />
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erinnern mitunter an romantische, volkstümlich stilisierte Dichtung wie z.B.<br />
„Deszczobajka-bałałajka“ (415-418), „Jeńsze ludzie są jeńsze“ (429). Es gibt aber<br />
auch Gedichte, in <strong>de</strong>nen Włast die scharfe Opposition ‚Ich-Welt’ <strong>de</strong>konstruiert, als<br />
Täuschung entlarvt, z.B. „Złudzenia“ (Illusionen, 424 f.). 126 Hier ironisiert ‚Włast’<br />
sowohl über die eigene als auch die frem<strong>de</strong> Besessenheit von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e, sich<br />
gegenseitig erlösen zu wollen, die er als eine gewaltige Selbstüberschätzung<br />
‚<strong>de</strong>nunziert’:<br />
Vielleicht erzählen wir uns gegenseitig<br />
Phantastische Märchen<br />
... Die Welt und ich.<br />
Wie zwei sich gegenüberstehen<strong>de</strong> Spiegel.<br />
Die Wahrheit jedoch – nieman<strong>de</strong>m gehörend –<br />
Wartet in <strong>de</strong>r Mitte, damit die Menschheit sie erraten möge. (424) 127<br />
Ein friedlicheres Bild <strong>de</strong>s Zusammenlebens im „Haus <strong>de</strong>r Urahnen“ in Grabów<br />
zeichnet eins <strong>de</strong>r letzten Gedichte <strong>de</strong>r „Xięga“– „Wielkanoc“ (Ostern, 460-465). Die<br />
alte Generation <strong>de</strong>r Verwandten, die Überleben<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s ersten Weltkrieges und Zeugen<br />
<strong>de</strong>r Restituierung <strong>de</strong>s polnischen Staates (Weteranów, Inwalidów, Starców garstka,<br />
szpetne dziady, niewypierzeni Anieli) befin<strong>de</strong>n sich in einem son<strong>de</strong>rbaren<br />
Zwischenzustand: „Jenseits <strong>de</strong>r ersten und zweiten Jugend, / Jenseits <strong>de</strong>s weiblichen<br />
und männlichen Geschlechts.“ 128 (461) In diesem Gedicht zeigt sich ‚Włast’ als <strong>de</strong>r<br />
Familie zugehörig, schreibt in Wir-Form, ohne zwischen sich selbst und <strong>de</strong>n An<strong>de</strong>ren<br />
zu differenzieren. Der Duktus <strong>de</strong>s Gedichtes ist vom tiefen Mitgefühl und <strong>de</strong>r<br />
Solidarität geprägt. Auch Konflikte, <strong>de</strong>nen das Textsubjekt nachspürt, wer<strong>de</strong>n von<br />
diesem Mitgefühl begleitet und für spirituell überwindbar erklärt. In Opposition zu<br />
126 Dieses Gedicht bleibt keine Ausnahme, <strong>de</strong>nn auch in „Jeńsze ludzie…“ (401) treffen wir auf <strong>de</strong>n<br />
Gedanken, dass es größenwahnsinnig und sinnlos ist, an<strong>de</strong>re gegen ihren Willen erlösen und glücklich<br />
machen zu wollen: „Vielleicht alsdann <strong>de</strong>r Erlösung <strong>de</strong>r Nächsten Ruhe geben, / Und zu Beginn <strong>de</strong>m<br />
eigenen EGO Glück bescheren.“<br />
127 Polnisch: „Może sobie nawzajem / Nadfantastyczną baję / Odsyłamy… świat i ja. / Jak dwa wprost<br />
siebie zwierciadła. / A zaś prawda – niczyja – / Czeka w środku, <strong>by</strong> ją Ludzkość odgadła.“<br />
128 Polnisch: „Poza pierwszą i drugą młodością, / Poza płcią żeńską i męską.“<br />
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<strong>de</strong>n Alten stellt ‚Włast’ die neue Generation, die von ihm ebenfalls liebe- und<br />
humorvoll mit Nachsicht für ihre unreifen Verhaltensweisen angenommen wird.<br />
10.9. Natur und Eros<br />
Naturbil<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n in „Xięga“ zu Metaphern <strong>de</strong>s geistigen Entwicklungsweges, <strong>de</strong>r<br />
Wie<strong>de</strong>rgeburt, <strong>de</strong>r Engelwerdung (przeanielenie), 129 so z.B. in „Śnieg“ (Schnee, 262).<br />
In diesem mit sehr einfachen Worten geschriebenen, die reguläre Versstruktur eines<br />
Volkslie<strong>de</strong>s aufweisen<strong>de</strong>n Gedicht wird die Vergöttlichung <strong>de</strong>s Menschen mit <strong>de</strong>m<br />
Bild <strong>de</strong>r Verwandlung von Wassertropfen in Schneeflocken 130<br />
analogisiert. Am<br />
Anfang dieses Weges steht die Liebe, das spirituelle Begehren: „Das Wasser verliebte<br />
sich / In <strong>de</strong>n Sternenhimmel – / Wie eine junge Menschenseele / In einen reinen<br />
Engel.“ 131 (278) Der Weg geht durch <strong>de</strong>n Schmerz – durch die Eiseskälte, die die<br />
Seele oben antrifft. Das hier entworfene Bild weist eine verblüffen<strong>de</strong> Analogie mit<br />
<strong>de</strong>m ausführlich analysierten „Ból fatalny“ aus <strong>de</strong>r Zeit vor 1907 auf. Während aber in<br />
„Ból fatalny“ die <strong>de</strong>m Himmel entgegenstreben<strong>de</strong> Seele durch eine Eiswand<br />
aufgehalten wird und als „Hagel <strong>de</strong>r Worte“ auf die Er<strong>de</strong> zurückprallt, ist es hier<br />
gera<strong>de</strong> die Kälte, mit <strong>de</strong>ren Hilfe eine „unbekannte Kraft“ <strong>de</strong>r verängstigten und gegen<br />
die Versuchung, auf die Er<strong>de</strong> zurück zu fliehen, kämpfen<strong>de</strong>n Seele eine neue Gestalt<br />
gibt. Und so verwan<strong>de</strong>lt sich das Wassertröpfchen plötzlich in einen weißen Stern. Die<br />
Strophe, in welcher die Metamorphose ins Bild gesetzt wird, hebt sich von <strong>de</strong>n<br />
an<strong>de</strong>ren stark ab, vor allem durch ihre vom vorherrschen<strong>de</strong>n, regulären Reim- und<br />
metrischen Muster abweichen<strong>de</strong> Struktur. Ihre formale ‚Nachlässigkeit’ scheint zu <strong>de</strong>r<br />
auf <strong>de</strong>r Inhaltsebene heraufbeschworenen Vollkommenheit nach <strong>de</strong>r Wandlung in<br />
129 Wie in zahlreichen an<strong>de</strong>ren Gedichten wird hier die Natur sakralisiert und die Spiritualität<br />
‚materialisiert’.<br />
130 Im Polnischen: ‚Schneesternchen’ (gwiazdki śniegowe).<br />
131 Polnisch: „Zakochała się Woda / W Niebie gwiaździstem – / Jak ludzka Dusza młoda / W Anielstwie<br />
czystem.“<br />
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Opposition zu stehen: „Je<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r kleinen Tropfen / Wur<strong>de</strong> zu einem weißen Stern – /<br />
Er spürt nicht mehr sein Gewicht – – – / Und wiegt sich auf <strong>de</strong>n luftigen Wellen <strong>de</strong>r<br />
Unermesslichkeit.“ 132 (263) Hier wird das bereits erläuterte schöpferische Konzept<br />
einer Dichtung <strong>de</strong>monstriert, die – an<strong>de</strong>rs als in „Ból fatalny“ – nicht in Qualen<br />
geboren wird, in <strong>de</strong>r spirituelle Inhalte eine größere Relevanz haben als die ästhetische<br />
Perfektion. Darüber hinaus ist es eine Dichtung, die einen didaktischen Anspruch<br />
erhebt. In <strong>de</strong>r letzten Strophe richtet sich ‚Włast’ an die ‚Jungen’ mit einem Aufruf zur<br />
Faszination für die Engel, die in ihnen die Sehnsucht nach <strong>de</strong>m Göttlichen wach<br />
halten. 133<br />
Der Schnee aber auch <strong>de</strong>r Engel, ein Phantasma <strong>de</strong>r abendländischen Lyrik <strong>de</strong>r<br />
Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>, 134 wer<strong>de</strong>n in „Xięga“ zu Signifikanten einer mystisch-erotischen<br />
Sinnlichkeit und Sehnsucht, so z.B. in „Linia“ (Linie, 265). 135 Auf mehreren Ebenen<br />
und in mehreren semantischen Kontexten wer<strong>de</strong>n hier vor <strong>de</strong>m landschaftlichen<br />
Hintergrund <strong>de</strong>s Grabower Parks Berührungen inszeniert. Es ist die Stun<strong>de</strong> <strong>de</strong>r<br />
Dämmerung (godzina five o’clocku), <strong>de</strong>r Tag berührt die Nacht. Die Äste <strong>de</strong>r Bäume<br />
greifen nach <strong>de</strong>n Sternen. Die schwarze Er<strong>de</strong> wird von <strong>de</strong>n weißen Schneestreifen<br />
berührt und in eine schwarz-weiße Landschaft verwan<strong>de</strong>lt. Der Fuß berührt <strong>de</strong>n<br />
frischen Schnee, <strong>de</strong>r Schnee knackt unter <strong>de</strong>m Fuß wie – und an dieser Stelle wird<br />
metaphorisch ein neues semantisches Feld aufgebrochen – Kekse, die eine „schlanke,<br />
junge, duften<strong>de</strong> Dame“ verspeist. Ihre Zähne berühren die Kekse, ihr Mund <strong>de</strong>n Tee.<br />
Die Sinnlichkeit dieser Szene wird durch die Instrumentalisierung <strong>de</strong>r lautlichen<br />
Ebene (u.a. durch Rekurrenzen <strong>de</strong>s Phonems ‚w’) unterstrichen. Diese Strophe, die die<br />
Dame beim Teetrinken präsentiert, erinnert insbeson<strong>de</strong>re in syntaktisch-rhythmischer<br />
132 Polnisch: „Każda jej kropla mała / Białą gwiazdą się stała – / Nie czuje swego ciężaru – – – / Kołysze<br />
się na falach powietrznego bezmiaru“.<br />
133 Das Verhältnis zwischen Mensch und Engel beruht in dieser Lyrik auf bei<strong>de</strong>rseitigem Geben und<br />
Nehmen. Dies wird in <strong>de</strong>n Gedichten „Harmonia“ (259 f.), „Protest Anioła“ (257 f.) und „Radość<br />
aniołów“ (258) sinnfällig.<br />
134 z.B. bei Rilke und Leśmian.<br />
135 An<strong>de</strong>re Beispiele: „Ta najmilsza“, „Szkice zimowe“ (264).<br />
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Hinsicht, in ihrer unregelmäßigen Reimstruktur und in <strong>de</strong>r Art <strong>de</strong>r Metaphorisierung<br />
an die so genannte ‚Peipersche Strophe’, 136 wie sie für Ta<strong>de</strong>usz Peiper (1891-1969),<br />
<strong>de</strong>n Theoretiker und Dichter <strong>de</strong>r ‚Krakauer Avantgar<strong>de</strong>’, charakteristisch ist:<br />
Unter <strong>de</strong>n Füßen knirschte frischer Schnee wie Kekse.<br />
Wie vorzügliche Kekse, die eine<br />
Vornehme dünne junge Dame knabbert,<br />
Die, duftend wie die Knospe einer Teerose,<br />
Duften<strong>de</strong>n Tee trinkt,<br />
In einem vornehmen Marmorsalon. 137<br />
Mit diesem Bezug zur führen<strong>de</strong>n Strömung <strong>de</strong>r polnischen Lyrik <strong>de</strong>r<br />
Zwischenkriegszeit korrespondiert auch <strong>de</strong>r Titel <strong>de</strong>s Gedichts, <strong>de</strong>r – anscheinend<br />
nicht zufällig – <strong>de</strong>m Namen <strong>de</strong>r zwischen 1931 und 1933 erscheinen<strong>de</strong>n Avantgar<strong>de</strong>-<br />
Zeitschrift „Linia“ (Nachfolge <strong>de</strong>r „Zwrotnica“) gleicht. Włast, <strong>de</strong>r immer um Zugang<br />
zu <strong>de</strong>n literarischen Zeitschriften seiner Zeit bemüht war und im Rahmen seiner<br />
begrenzten Möglichkeiten die literarischen Entwicklungen mitverfolgte, hat sich<br />
anscheinend mitunter von ihnen inspirieren lassen. Hier übernimmt er u.a. die für die<br />
„Linia“-Poetik charakteristische „Einheit <strong>de</strong>r poetischen Vision“ (Jaworski 1992,<br />
112), aber auch die bevorzugte Verwendung <strong>de</strong>r Poetik <strong>de</strong>r Äquivalente<br />
(metaphorische Bil<strong>de</strong>r als Analogien zu Gefühlen). Ohne dass Erotik das Thema <strong>de</strong>s<br />
Gedichtes wäre, wird hier Sinnlichkeit synästhetisch inszeniert. Auch in dieser<br />
Hinsicht drängt sich eine Analogie zur Lyrik <strong>de</strong>r ‚Krakauer Avantgar<strong>de</strong>’ auf, <strong>de</strong>ren<br />
subversive Lei<strong>de</strong>nschaftlichkeit von Jaworski (1992, 107) folgen<strong>de</strong>rmaßen<br />
beschrieben wird: „Die erotische Faszination stellt sich trotz <strong>de</strong>s Wi<strong>de</strong>rspruchs seitens<br />
136 Vgl. Olschowsky 1979, 49: „Peipers Erfindung, die ‚aufblühen<strong>de</strong> Komposition’ [bestand darin], ein<br />
Element <strong>de</strong>s eingangs gegebenen Satzes wie<strong>de</strong>rholend aufzugreifen und um weitere Bestimmungen zu<br />
ergänzen, woraus sich dann eine Kette von Periphrasen ergab.“ Vgl. auch Jaworski 1992, 109 und<br />
Fleischer 1992, 205.<br />
137 Polnisch: „Pod stopą chrupał świeży śnieg jak ciastka. / Jak wyśmienite ciastka które chrupie /<br />
Wykwintnie chuda młoda dama, / Wonna jak herbacianej pąk róży, / I wonną pijąca herbatę, / W<br />
wykwintnej marmurowej Sali.“<br />
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<strong>de</strong>s Subjekts ein. (…) Alle Gedichte, die von <strong>de</strong>r sinnlichen Seite <strong>de</strong>r Welt han<strong>de</strong>ln,<br />
sind voller Erotik.“<br />
Ein Pendant zu <strong>de</strong>r Dame bil<strong>de</strong>t <strong>de</strong>r Herr, <strong>de</strong>ssen Anwesenheit in <strong>de</strong>r ersten Strophe<br />
metonymisch suggeriert wird (das Schwarz <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> wird semantisch mit eleganten<br />
Fracks in Verbindung gebracht). Die dritte Strophe preist die schlichte und<br />
unkomplizierte, zurückhalten<strong>de</strong> Schönheit <strong>de</strong>r Dame. Dieses Schönheitsi<strong>de</strong>al bringt<br />
das lyrische Ich mit <strong>de</strong>r Ästhetik <strong>de</strong>r mo<strong>de</strong>rnen technischen Zivilisation (einem<br />
charakteristischen Motiv <strong>de</strong>r Avantgar<strong>de</strong>-Strömungen) in Zusammenhang. An<strong>de</strong>rs<br />
jedoch als in <strong>de</strong>r Lyrik <strong>de</strong>r polnischen Avantgar<strong>de</strong> wer<strong>de</strong>n hier die Elemente <strong>de</strong>r<br />
Kultur und Zivilisation ‚naturalisiert’, d.h. mit Hilfe <strong>de</strong>r Naturmetaphorik ins Bild<br />
gesetzt:<br />
Lauf weg, du üppiger Rubens,<br />
Und auch ihr, üppig wuchern<strong>de</strong> Landschaften,<br />
Vor dieser neuen, zurückhalten<strong>de</strong>n Schönheit,<br />
Vor <strong>de</strong>r Muse <strong>de</strong>r Telegraphen, <strong>de</strong>s Eiffelturms, (…)<br />
Der Bahnhöfe aus Glas und Stahl,<br />
Der Nerven, die angespannt durch das wachsame Fühlen,<br />
Der energisch zarten Möwen,<br />
Der alten Bäume, <strong>de</strong>ren nackte Geflechte<br />
Sich am Abend mit Sternendiamanten schmücken. 138<br />
Die Bereiche <strong>de</strong>r Kultur (Teetrinken, Frack, Rubens), <strong>de</strong>r Zivilisation (Telegraph,<br />
Eiffelturm usw.) und <strong>de</strong>r Natur gehen hier ineinan<strong>de</strong>r über. Die Dame selbst wird<br />
metaphorisch sowohl mit Natur als auch mit Kultur und Zivilisation in Verbindung<br />
gebracht. Diese enge harmonische Verbindung von allen drei Bereichen ist für das in<br />
„Xięga“ kreierte Weltbild allgemein charakteristisch. Explizit thematisiert wird dies in<br />
„Sztuka i natura“ (Kunst und Natur, 260 f.): 139<br />
Des Menschen KUNST IST DIE NATUR DES MENSCHEN.<br />
138 Polnisch: „Uciekaj, Rubensie obfity, / I wy nawet, bujnolistne pejzaże, / Przed tą pięknością nową,<br />
wstrzemięźliwą, / Przed Muzą telegrafów, wieży Eifel, (...) / Dworców kolejowych z szkła i stali, /<br />
Nerwów wytężonych czuciem czujnem, / Mew, energicznie <strong>de</strong>likatnych, / Starodrzewów, których nagie<br />
sploty / W gwiazd dyamenty stroją się wieczorem.“<br />
139 Vgl. auch das Gedicht „Wieczór czerwcowy“ (391).<br />
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Eure „Zivilisation“ – ist in GÖTTLICHER Be<strong>de</strong>utung<br />
Wie <strong>de</strong>r Vögel Nester, wie <strong>de</strong>r Bienen Bienenstand –<br />
Sie zählt zu <strong>de</strong>n... natürlichen Mächten.<br />
Wie die Raupe in die Sei<strong>de</strong> – so wickelt sich <strong>de</strong>r Mensch<br />
In <strong>de</strong>n Kokon <strong>de</strong>r Kultur ein, um – wie diese – morgen<br />
Den fürsorglichen Pelz <strong>de</strong>r Wandlungen abzustreifen<br />
Und als Engel die Chöre <strong>de</strong>s Paradieses zu vergrößern. (261) 140<br />
Das Wun<strong>de</strong>r <strong>de</strong>r Berührung <strong>de</strong>r „feuchten schwarzen Er<strong>de</strong>“ mit <strong>de</strong>m weißen Schnee<br />
ist es auch, die <strong>de</strong>n ‚Wahn’ <strong>de</strong>r Pflaumenbäume in <strong>de</strong>m von Podraza-Kwiatkowska<br />
(1996) beson<strong>de</strong>rs hervorgehobenen, ‚energiegela<strong>de</strong>nen’ Gedicht „Radość śliw“<br />
(Freu<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Pflaumenbäume, 266) hervorruft. Bezeichnen<strong>de</strong>rweise stilisiert sich Włast<br />
hier zu jeman<strong>de</strong>m, <strong>de</strong>r die Sprache <strong>de</strong>r Natur und somit auch „das geheimnisvolle<br />
Flüstern“ <strong>de</strong>r Obstbäume versteht und für seine Leser ‚übersetzt’. Bäume wer<strong>de</strong>n bei<br />
Włast oft antropomorphisiert. Wie bei Leśmian gilt auch hier die christliche<br />
Hierarchie <strong>de</strong>r Daseinsformen nicht, in spiritueller Hinsicht können Bäume <strong>de</strong>n<br />
Menschen überlegen sein. 141 Wie in „Śnieg“ wird auch in „Radość śliw“ <strong>de</strong>r Schnee<br />
über die Semantik <strong>de</strong>s Sterns (Schneeflocke) mit <strong>de</strong>m spirituellen Bereich (Engel,<br />
Licht) gekoppelt. Berührungen und Begegnungen spielen sich wie<strong>de</strong>rum auf mehreren<br />
Ebenen ab. Während an<strong>de</strong>re noch schlafen, beobachtet das lyrische Ich das sinnliche<br />
Geschehen in <strong>de</strong>r Natur. Dies schafft eine Analogie zu <strong>de</strong>m Leśmianschen Hel<strong>de</strong>n.<br />
Allerdings imaginiert das Subjekt <strong>de</strong>r Włast-Gedichte nicht <strong>de</strong>n Zustand <strong>de</strong>r<br />
vollkommenen Verschmelzung mit <strong>de</strong>r Natur, wie dies in <strong>de</strong>r Lyrik Leśmians mitunter<br />
<strong>de</strong>r Fall ist – es verharrt vielmehr im erregen<strong>de</strong>n Augenblick <strong>de</strong>r Sehnsucht.<br />
Eine Liebesbeziehung zwischen Mensch und sakralisierter Natur inszeniert Włast<br />
auch in <strong>de</strong>m nachfolgen<strong>de</strong>n Gedicht „Odwilż“ (Tauwetter, 266). Die Semantik <strong>de</strong>s<br />
140 Polnisch: „Człowieka SZTUKA JEST NATURĄ CZŁEKA. / ‚Cywilizacja’ wasza – w BOSKIEJ<br />
wadze, / Jak ptaków gniazda, jak pszczoły pasieka – / Liczy się między... naturalne władze. // Jak linka w<br />
jedwab – tak człowiek w Kultury / Kokon się mota – <strong>by</strong>, jak ona – jutro, / Zrzuciwszy Przemian<br />
opiekuńcze futro, / Skrzydlatym cu<strong>de</strong>m zwiększyć Raju chóry.“<br />
141 Was ‚Włast’ an <strong>de</strong>r Allee in „Odwilż“ (266) interessiert, ist wie<strong>de</strong>rum ihr merkwürdiger<br />
Zwischenzustand, <strong>de</strong>r ‚Halbschlaf’, in <strong>de</strong>n sie vom Tauwetter versetzt wird, <strong>de</strong>r ihr eine Ahnung vom<br />
bevorstehen<strong>de</strong>n Erwachen vermittelt.<br />
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Textes ist unverhüllt erotisch, die Liebespartner sind eine Parkallee, „errötet“ und mit<br />
„zerzaustem Haar“, und ‚Włast’, <strong>de</strong>r sie „erwischt“: 142<br />
Wie freute sich heut im Dämmerlicht die Allee<br />
In <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>s Tauwetters!...<br />
Ich ertappte sie – die vor Freu<strong>de</strong> ganz zersaust,<br />
Im Duft und Zauber unfassbaren Glücksgefühls!<br />
Ganz und gar beansprucht von ihrem großen Glück!<br />
Bis sie dunkel anlief entzückt vor Verlegenheit,<br />
Dass sie einen Menschen an sich herantreten ließ,<br />
Dass er sie lebend erblicke! 143<br />
10.10. Das Mitgefühl<br />
Das Verhältnis ‚Własts’ zur Natur, aber auch zu <strong>de</strong>n Mitmenschen ist in <strong>de</strong>n meisten<br />
Texten von Mitgefühl geprägt. Es tritt z.B. als Anteilnahme für das Pferd auf, das <strong>de</strong>n<br />
Menschen tragen muss („Koń i człowiek“, 256), o<strong>de</strong>r als Zorn über die Zerstörung <strong>de</strong>r<br />
Lupinenblüten durch unbedachtes Pflügen („Łubin zaorany“, 294-296). In „Młody<br />
organista“ (Der junge Organist, 275 f.), einem Gedicht mit Volkslie<strong>de</strong>rmetrum,<br />
Kreuzreimmuster und stark konventionalisierten Reimen, versetzt sich ‚Włast’ in<br />
einen „blassen Organisten“, in <strong>de</strong>ssen Gesang er einen Sehnsuchtsschrei nach <strong>de</strong>r<br />
spirituellen Verwandlung und Tilgung einer großen Schuld, eines „Fleckens“ erblickt.<br />
Hier kommt mit beson<strong>de</strong>rer Eindringlichkeit das aus <strong>de</strong>r Lyrik vor 1907, vor allem aus<br />
<strong>de</strong>m Gedicht „Pragnienie“ bekannte Motiv <strong>de</strong>s Verlangens nach <strong>de</strong>r Auslöschung <strong>de</strong>r<br />
sündhaften Vergangenheit wie<strong>de</strong>r. Es wird <strong>de</strong>utlich, dass die Figur <strong>de</strong>s Organisten<br />
gleichzeitig auch für Własts eigene Lebenslegen<strong>de</strong> steht. Beachtenswert sind<br />
wie<strong>de</strong>rum Motive <strong>de</strong>s Engelskleidchens, <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s, <strong>de</strong>r Lilie – alles Symbole <strong>de</strong>r<br />
142 Poln. ‚zdybać’. Unberührte, jungfräuliche Natur ent<strong>de</strong>ckt Włast auch in „Na wagarach“ (283-286),<br />
„Świt wrześniowy“ (293), „Przeczucia“ (321).<br />
143 Polnisch: „Jak cieszyła się dziś w zmierzchu Aleja / W odwilży czas!.. / Zdybałem ją, całą<br />
rozczochraną z radości, / W woni i czarze niepojetego szczęścia! / Całą zaaferowaną swojem wielkiem<br />
szczęściem! / Aż pociemniała z zachwyconego kłopotu / Że dała się po<strong>de</strong>jść człowiekowi, / Że ją<br />
zobaczył żywą!“<br />
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jungfräulichen Reinheit, nach <strong>de</strong>r sich ‚Włast’ zurücksehnt und die er in seiner<br />
Dichtung wie<strong>de</strong>rherstellen will:<br />
Ich hatte ein reines Seelchen<br />
Im Kleid aus hellen Nebeln<br />
Und erträumte strahlend<br />
Die Erfüllung großer Werke.<br />
Jung erlosch <strong>de</strong>r Morgenstern<br />
Wolken überfluteten die Welt –<br />
Und <strong>de</strong>r Erinnerung bitteres Wasser<br />
Zerrt an <strong>de</strong>r Blume meiner Brust. (...)<br />
Kehr zurück, Christus!<br />
Führe das Weiß meiner Seele<br />
Auf <strong>de</strong>n Weg <strong>de</strong>s Kin<strong>de</strong>s zurück!<br />
Denn ich kann die schmutzigen Qualen,<br />
Diese Gedanken nicht ertragen.<br />
Du bist allmächtig, also verwandle<br />
Nicht das was ist, son<strong>de</strong>rn was gewesen! (...)<br />
Du bist allmächtig, GOTT!...<br />
Also spül die Vergangenheit aus meiner Seele;<br />
Weil sie we<strong>de</strong>r vermag, mit <strong>de</strong>m Makel zu leben –<br />
Noch die Folterqualen loszuwer<strong>de</strong>n. (275 f.) 144<br />
In „Xiądz zmęczony“ (Der mü<strong>de</strong> Pfarrer, 276-279) fühlt sich ‚Włast’ in einen<br />
innerlich verwun<strong>de</strong>ten, mü<strong>de</strong>n, von Migräne geplagten Pfarrer ein, <strong>de</strong>r aus <strong>de</strong>r<br />
Tretmühle <strong>de</strong>r frommen Floskeln heraustreten, kein „Beamter“ mehr sein, son<strong>de</strong>rn<br />
Gott mit eigenen Worten und <strong>de</strong>r „Glut <strong>de</strong>s heiligen Begehrens“ loben will und – wie<br />
viele an<strong>de</strong>re Figuren <strong>de</strong>r „Xięga“ – verwan<strong>de</strong>lt wer<strong>de</strong>n möchte. Auch an dieser Figur<br />
erarbeitet sich ‚Włast’ eine zuversichtliche Haltung gegenüber seinen gegenwärtigen<br />
Lei<strong>de</strong>n: „Möge <strong>de</strong>r Verzückte erkennen, dass Fesseln / Man ihn tragen ließ – damit er<br />
144 Polnisch: „Duszyczkę miałem czystą / W sukience z jasnych mgieł / Marzyłem promienisto /<br />
Spełnienia wielkich dzieł. // Jutrzenka zgasła młoda / Zalały chmury świat – / Wspomnienia gorzka woda<br />
/ Mej piersi targa kwiat. (...) // Wróć, Chryste! Biel mej duszy / Sprowadź na dziecka drogę! / Ja brudnej<br />
tej katuszy, / Tych myśli znieść nie mogę. // Wszechmocnyś jest, więc przemień / Nie to co jest, lecz<br />
<strong>by</strong>ło! (...) // Wszechmocnyś jesteś, BOŻE!... / Więc przeszłość zmyj z mej duszy; / Bo z plamą żyć nie<br />
może – / Ni poz<strong>by</strong>ć się katuszy.“<br />
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an geistiger Stärke gewinne (...).“ 145 (279) Weitere vom Leid gezeichnete<br />
Ichprojektionen Własts sind von <strong>de</strong>r Gemeinschaft verstoßene Außenseiter, z.B. <strong>de</strong>r<br />
Landstreicher und <strong>de</strong>r Storch („Dziad i bocian“, 296 f.), die nach langem Umherirren<br />
die „Krone <strong>de</strong>r Freiheit“ und eine „paradiesische Wohnung“ zu erlangen hoffen. In<br />
„Pogrzeb chłopski“ (279 f.) fühlt sich ‚Włast’ auch in einen Bauernjungen auf einer<br />
Beerdigung ein:<br />
Er schluchzte aus <strong>de</strong>r Tiefe seines Herzensabgrunds<br />
Mit voller Knabenstimme.<br />
Dies Schluchzen spürte ich in meinem Kehlkopf,<br />
Die Augen voller Tau. (279) 146<br />
10.11. Die Särge öffnen sich<br />
In <strong>de</strong>n Motivkomplex <strong>de</strong>r Bildung einer Lebenslegen<strong>de</strong> gehört auch <strong>de</strong>r Aufenthalt<br />
Własts in <strong>de</strong>n Irrenanstalten, <strong>de</strong>r in einigen Gedichten einer grotesken Verarbeitung<br />
unterzogen wird, vor allem in „Mansarda xiążęca“ (Fürstliche Mansar<strong>de</strong>, 345-347)<br />
und „Wizyta doktorska“ (Arztvisite, 348-354). Im ersten von ihnen, einem<br />
feierlichen, syllabischen Dreizehnsilbler, mythologisiert ‚Włast’ sein<br />
Dachbo<strong>de</strong>nzimmer in einem <strong>de</strong>r Irrenhäuser. Dieses Zimmer mit undichtem Dach, von<br />
<strong>de</strong>m es dauernd tropft, wird – nicht ohne Humor – zum „geheimen Nest“ <strong>de</strong>s<br />
Propheten, <strong>de</strong>r ein „gigantisches Programm“ zu erfüllen hat, stilisiert und mit Kultur-<br />
Requisiten imaginär ausgestattet (freski, plafony, kolumnada grecka). Hervorgehoben<br />
wird die steile Treppe, die zu diesem Domizil führt – es ist nicht die erste Anspielung<br />
auf die biblische Jakobs- bzw. Himmelsleiter in diesem Band. 147 Sich selbst stellt<br />
‚Włast’ mit sehnsuchtsvoll in <strong>de</strong>n Himmel erhobenen Hän<strong>de</strong>n im metaphysischen,<br />
145 Polnisch: „Niech, zachwycony, pozna – że kajdany / Dźwigać mu dano – <strong>by</strong> spotężniał duchem (…).“<br />
146 Polnisch: „Łkał z dna ser<strong>de</strong>cznych otchłani / Na cały chłopięcy głos. / To łkanie czułem w swej krtani,<br />
/ I oczy pełne ros.“<br />
147 Vgl. 1. Buch Mose, 28, 12: „Da hatte er einen Traum: Er sah eine Treppe, die auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> stand und<br />
bis zum Himmel reichte. Auf ihr stiegen Engel Gottes auf und nie<strong>de</strong>r.“<br />
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hellseherischen Wahn dar. Der Fußbo<strong>de</strong>n <strong>de</strong>s Zimmers wird mit einem Trampolin<br />
verglichen: Er lässt die Imagination bis zu <strong>de</strong>n Sternen springen und <strong>de</strong>n Geist bis zum<br />
Himmel emporfliegen. ‚Własts’ Paradies ist allerdings von <strong>de</strong>r Gefahr einer<br />
Vertreibung überschattet, die ihm seitens unbekannter, teuflischer Mächte droht. 148<br />
Seinem prophetischen Wahn, seinen innigen Gebeten stellt ‚Włast’ mit sanfter Ironie<br />
die <strong>de</strong>mütigen<strong>de</strong>n materiellen Lebensbedingungen gegenüber. Die Kontrastierung <strong>de</strong>s<br />
prophetischen Diskurses mit <strong>de</strong>m Bild <strong>de</strong>s löchrigen Dachs und <strong>de</strong>s geduckten, mit<br />
<strong>de</strong>m Eimer am Bo<strong>de</strong>n wie ein „versteiftes Würmchen“ kriechen<strong>de</strong>n Własts zeitigt<br />
auch hier groteske, tragikomische Effekte, ähnlich wie die metaphorische<br />
Verschränkung von Wasserrohren mit einem griechischen Säulengang:<br />
Oh, welch engelsgleiche Ziehharmonikas an meinem Lager<br />
Spielten in <strong>de</strong>n Wasserrohren, <strong>de</strong>n griechischen Säulen gleich,<br />
Wie <strong>de</strong>r verräterische Wind im Ofen <strong>de</strong>r Dachkammer tobte<br />
Und trieb Regen auf meine metaphysischen Träume!<br />
Wie finster nach <strong>de</strong>n Gebeten in <strong>de</strong>r Morgenröte die Nächte erschienen!<br />
Als durch das ungeflickte Dach sich <strong>de</strong>r Regen wie durch ein Sieb ergoss,<br />
Und ich zitterte, dass man in <strong>de</strong>r Hölle mein Glück ent<strong>de</strong>ckte<br />
Und dass mich teuflische Mächte durch <strong>de</strong>n Regen aus <strong>de</strong>m Paradies vertreiben wollen.<br />
Zusammengekrümmt sammelte ich das sich ergießen<strong>de</strong> Wasser, (...)<br />
O<strong>de</strong>r beschwörte im gymnastischen Wahn gutes Wetter. (346 f.) 149<br />
Ein für diese Lyrik bezeichnen<strong>de</strong>s Bild run<strong>de</strong>t das Gedicht ab: ‚Włast’ setzt sich<br />
vertrauensvoll <strong>de</strong>r Sonne aus, nimmt ihre warmen Strahlen in sich auf, erfährt<br />
Geborgenheit, Einheit, Trost. 150<br />
148 Dass es sich bei diesen Mächten um das medizinische Personal han<strong>de</strong>lt, wird im Kontext von „Wizyta<br />
doktorska“ sinnfällig.<br />
149 Polnisch: „O, jakież w rur – od wody – kolumnadzie greckiej, / Przy barłogu, harmonie grały<br />
seraficzne! / Jak na poddaszu w piecu, huczał wiatr zdradziecki, / Pędzący <strong>de</strong>szcz na moje sny<br />
metafizyczne! // Po zorzach rozmodlonych jak posępne noce! / Gdy przez dach niełatany <strong>de</strong>szcz lał jak<br />
przez sito, / A jam drżał, że gdzieś w piekle me szczęście odkryto / I wygnać mnie chcą z Raju słotą<br />
czarcie moce! // Zgięty w kabłąk, zbierałem lejącą się wodę, (...) / Lub szałem gimnastycznym wzywałem<br />
Pogodę.“<br />
150 In „Głód i słońce“ (372) und „Kąpiel słoneczna“ (372) wird das Sonnenbad zum mystischen Erlebnis.<br />
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In <strong>de</strong>n bei<strong>de</strong>n Irrenhaus-Gedichten sieht sich ‚Włast’ auch als das Objekt <strong>de</strong>s<br />
Begehrens von Mitpatientinnen, die <strong>de</strong>m ‚Propheten’ mitunter auf <strong>de</strong>r Treppe<br />
auflauern können. Neben <strong>de</strong>m Doktor ist er <strong>de</strong>r einzige Mann in ihrer Umgebung. Nur<br />
in seinem Zimmer fühlt er sich vor ihren Blicken sicher: „Hier bezauberte dich die<br />
Ruhe – wenn <strong>de</strong>r Harem hinter dir blieb, / In <strong>de</strong>m ein Schwarm von Gespenstern laut<br />
fluchte und still weinte.“ 151 (345) Der Blick <strong>de</strong>r Mitpatientinnen auf ‚Włast’ ist<br />
ambivalent, sie segnen und verfluchen ihn zugleich. Er ist ein Rätsel per se, ein<br />
Signifikant ohne Signifikat, eine Projektionsfläche für die bizarrsten Phantasien, 152 ein<br />
Objekt <strong>de</strong>r Sehnsucht und ein Feind zugleich. Er könnte genauso gut – so ein<br />
‚absur<strong>de</strong>r’ Witz <strong>de</strong>s Text-Subjekts – ein Hund sein: „Aber vielleicht... weiß <strong>de</strong>r<br />
Teufel... war er eine Art Dogge.“ 153<br />
In „Wizyta doktorska“, einem noch intensiver mit <strong>de</strong>r Groteske arbeiten<strong>de</strong>n Gedicht<br />
bzw. Dramenfragment, erteilt sich ‚Włast’ das Re<strong>de</strong>recht gegenüber <strong>de</strong>m Arzt, <strong>de</strong>r<br />
über das Diskursmonopol und die Macht über die Patienten verfügt. Hier erfüllt <strong>de</strong>r<br />
literarische Text die Funktion <strong>de</strong>r imaginären Wie<strong>de</strong>rerlangung <strong>de</strong>r Autonomie – er ist<br />
Genugtuung und Rache zugleich. Der real entautorisierte, ge<strong>de</strong>mütigte Włast gibt sich<br />
die Gelegenheit, das über Jahre aus strategischen Grün<strong>de</strong>n Verschwiegene<br />
auszusprechen. Er entwirft folgen<strong>de</strong> Phantasie: Seine Ichfigur, <strong>de</strong>r männliche Patient,<br />
<strong>de</strong>r sich als entrechteter Sklave <strong>de</strong>finiert, liegt neben <strong>de</strong>m Doktor im Garten und<br />
versucht, diesen zu durchschauen. Es verschafft ihm Genugtuung, in Gedanken eine<br />
Karikatur <strong>de</strong>s Arztes zu zeichnen, sich über seine „Eleganz, sein Schielen und seine<br />
Gesundheit“, seinen „Pfauenschwanz“ lustig zu machen, um ihn dann einer<br />
verräterischen Hinterlist zu bezichtigen. Der Patient misstraut <strong>de</strong>m Arzt, er weiß, dass<br />
sich dieser in sein Vertrauen einschleichen möchte, um ihn dann zu verraten und ihm<br />
151 Polnisch: „Urzekał cię tu spokój – gdy minąłeś harem, / W którym rój widm klął głośno, płakał po<br />
cichutku.“<br />
152 Własts Briefe aus <strong>de</strong>n Irrenhäusern beinhalten ähnliche Motive.<br />
153 Polnisch: „A może… licho wie… <strong>by</strong>ł czemś w rodzaju doga.“<br />
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das letzte Signum seiner Autonomie zu entreißen – seine Mansar<strong>de</strong>. Die einzige<br />
Waffe, die er gegen die medizinische Obrigkeit einsetzen kann, ist das Schweigen:<br />
Jedoch wer<strong>de</strong> ich nicht zugeben, dass ich dich nicht benei<strong>de</strong>,<br />
Weil ich am eigenen Leibe erfahren, dass du ein verräterischer Teufel bist;<br />
Dass du dich leise in <strong>de</strong>s Patienten Vertrauen schleichst<br />
Und dann mit harter Hand nie<strong>de</strong>rträchtig peitschst.<br />
Ich, <strong>de</strong>r Verlierer, wehre mich mit <strong>de</strong>m bisschen Stolz, <strong>de</strong>n ich mir bewahrte<br />
Gegen das Aufsetzen einer verlogenen Maske...<br />
Folglich blicke ich gleichgültig in <strong>de</strong>n gol<strong>de</strong>nen Glanz<br />
Der Sonne – und umgehe weit die Möglichkeit <strong>de</strong>s Streits. (349) 154<br />
Den Rest seiner menschlichen Wür<strong>de</strong> rettet ‚Włast’ durch Akte <strong>de</strong>s passiven<br />
Wi<strong>de</strong>rstands, in<strong>de</strong>m er es verweigert, seine Privatsphäre vollends an <strong>de</strong>n Doktor<br />
auszuliefern. Deutlich wird auch, dass er sich als Objekt einer erotisieren<strong>de</strong>n<br />
Wahrnehmung auch seitens <strong>de</strong>s Doktors begreift. Dieser unterstellt ihm z.B.<br />
Verführungsabsichten in Bezug auf die Mitpatientinnen:<br />
Auf <strong>de</strong>n Gartenwegen, ringsumher,<br />
Wan<strong>de</strong>lt nicht nur eine erniedrigte Königin<br />
Weinend, und du willst mir von <strong>de</strong>r Stirn<br />
Ablesen, welche von ihnen meine singen<strong>de</strong> Lyra ist.<br />
Nein, keine von <strong>de</strong>nen hier ist meine Muse,<br />
Aber das wer<strong>de</strong> ich dir nicht verraten, Doktor;<br />
Sollen <strong>de</strong>ine Vermutungen ruhig auf kleiner Flamme köcheln...<br />
Umso sicherer wirst du mir in meinem Bau Ruhe geben. (...)<br />
Denn ich, obwohl ich auf DEINE Kranken blicke<br />
– Sogar auf diese grünhaarige Kamee –<br />
Wünsche mir vor allem, du wür<strong>de</strong>st meinen Bau mir lassen<br />
Und hoffe, dieses von Dir zu erlisten. (349) 155<br />
154 Polnisch: „Lecz nie zdradzam, że ci nie zazdroszczę: / Bom doznał, że zdradzieckie jesteś Licho; / Że<br />
w Pacyenta ufność wkradasz się cicho, / A potem twarda dłoń bezecnie chłoszcze. // Ja, Bankrut, ocalałą<br />
krztą honoru / Bronię sobie nakładania kłamnej maski... / Obojętnie więc spoglądam w złote blaski /<br />
Słońca – i omijam z dala możność sporu.“<br />
155 Polnisch: „Po ogrodu ścieżkach, dookoła, / Poniżona, niejedna królewna / Chodzi płacząc, a ty <strong>by</strong>ś mi<br />
z czoła / Chciał odczytać, która z nich ma lira śpiewna. // Nie, tu żadna z nich nie jest mą Muzą; / Ale nie<br />
powiem ci tego, Doktorze; / Niech cię twe po<strong>de</strong>jrzenia trochę poduszą... / Tem pewniej dasz mi spokój w<br />
mojej norze. (...) // A ja, choć patrzę na TWE Chore / – Nawet na zielonowłosą tę Kameę / Chciał<strong>by</strong>m,<br />
<strong>by</strong>ś zostawił mi mą norę / I wyhytrzeć ją u Ciebie mam nadzieję.“<br />
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Dem Patienten ist es durchaus bewusst, dass <strong>de</strong>r Doktor die Patientinnen als sein<br />
Eigentum betrachtet. Er selbst betont, keinerlei Ansprüche an diese armen „bleichen“<br />
Frauen zu erheben, außer vielleicht sie mit <strong>de</strong>n „Gipfeln seiner Visionen“ und seinen<br />
„Hymnen“ trösten zu wollen. In „Wizyta doktorska“ antizipiert Włast, worauf bereits<br />
Filipiak (2000, 125) zu Recht hingewiesen hat, <strong>de</strong>n antipsychiatrischen Diskurs. Die<br />
Psychiatrie wird mit Mitteln <strong>de</strong>r Groteske in einem beeindruckend ‚bissigen’ Text als<br />
eine repressive und krankmachen<strong>de</strong> Instanz <strong>de</strong>nunziert, die Begriffe von geistiger<br />
Gesundheit und Krankheit in grausigen Bil<strong>de</strong>rn und in zum Teil sehr<br />
umgangssprachlichen Tönen relativiert. Sobald <strong>de</strong>r Doktor verschwin<strong>de</strong>t öffnen sich<br />
die ‚Särge’ <strong>de</strong>r halbtoten Frauen und die Kranken wer<strong>de</strong>n wie<strong>de</strong>r gesund. Sie nehmen<br />
ihren Raum und sich selbst in Besitz, setzen zum Tanz an:<br />
Denn du weißt nicht, du schräger Herr Doktor,<br />
Was hier passiert, wenn du weit weg bist:<br />
Die Deckel lebendiger Särge öffnen sich,<br />
Und sogleich gesund und fröhlich wer<strong>de</strong>n Kranke.<br />
Denn du weißt nicht, unser Herr Doktor!<br />
Dass du selbst unsere schwerste Krankheit bist<br />
An <strong>de</strong>r wir in <strong>de</strong>inem Refektorium erkranken,<br />
Und die wir verlieren, wenn du gehst. (350) 156<br />
Denn <strong>de</strong>m Arzt ‚gehört’ die Gesundheit <strong>de</strong>r Patientinnen (twoim cudze zdrowie), er<br />
hat das Recht, Krankheit und Gesundheit zu verkün<strong>de</strong>n, auch wenn er in Wirklichkeit<br />
ein „großer Spieler“ ist und „nicht viel kann“. In seinem Monolog tritt ‚Włast’<br />
heimlich in ein Konkurrenzverhältnis zu <strong>de</strong>m Arzt: Er selbst ist <strong>de</strong>rjenige, <strong>de</strong>r wirklich<br />
in <strong>de</strong>r Lage ist, zu heilen: „Ich sage es dir zwar nicht, Herr Doktor! / Aber du spürst,<br />
wer von uns hier heilt.“ 157 In seinen Irrenhaus-Gedichten aktiviert Włast noch einen<br />
an<strong>de</strong>ren semantischen Bereich – die tabuisierte, in <strong>de</strong>r Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>- und<br />
156 Polnisch: „Bo ty nie wiesz, kosy nasz Doktorze, / Co się dzieje tu, gdyś jest daleko: / Żywych trumien<br />
się odmyka wieko, / I wnet zdrów i wesół, kto <strong>by</strong>ł gorzej. // Bo ty nie wiesz tego, nasz Lekarzu! / Żeś sam<br />
naszą najcięższą chorobą / Że dostajemy jej w twym refektarzu, / A gubimy, gdy drzwi zamkną się za<br />
tobą.“<br />
157 Polnisch: „Ja ci tego nie mówię, Doktorku! / Lecz ty czujesz, kto z nas tu uzdrawia.“ Dieses Motiv<br />
taucht auch in <strong>de</strong>n Briefen Własts an die Mutter mehrmals auf.<br />
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Zwischenkriegslyrik jedoch u.a. von Jaworski, Leśmian, Pik-Mirandola und L.M.<br />
Staff durchaus thematisierte Sphäre <strong>de</strong>r unvollkommenen, kranken, behin<strong>de</strong>rten<br />
Daseinsformen. Dies ist z.B. in <strong>de</strong>n Gedichten „Modlitwa za Żenię“ (Ein Gebet für<br />
Żenia, 358 f.) und „Sfinx“ (Sphinx, 360-362) <strong>de</strong>r Fall. In „Modlitwa…“ wird die<br />
mongoloi<strong>de</strong>, <strong>de</strong>mütige, „nicht fertig geschaffene“ (niedotworzona) Żenia aufgewertet.<br />
Sie erweist sich als spirituell weiter entwickelt als ihre Umgebung. Angesichts <strong>de</strong>s<br />
Krieges zeigt sie mehr Gelassenheit und Vertrauen als die Nonnen. Ihr dreieckig<br />
erscheinen<strong>de</strong>r, zum Himmel zeigen<strong>de</strong>r Kopf wird zur „Krone <strong>de</strong>r Tugen<strong>de</strong>n“. In<br />
„Sfinx“ ist das Verhältnis zwischen Krankheit und geistiger Entwicklung<br />
komplizierter. ‚Włast’ erzählt hier, wie er zufällig an einen ‚verbotenen’ Wohnort <strong>de</strong>r<br />
noch stärker Ausgegrenzten und Tabuisierten als er selbst kommt, in eine abgelegene,<br />
zur Irrenanstalt gehören<strong>de</strong> Ruine, in welcher Kranke, Verkrüppelte, Sterben<strong>de</strong> und<br />
Mittellose untergebracht wer<strong>de</strong>n. Hier bekommt er die Gelegenheit, mit einem noch<br />
schrecklicheren Elend als seinem eigenen konfrontiert zu wer<strong>de</strong>n. Wie gelähmt, vom<br />
„Grauen mitten ins Herz getroffen“, aber auch „zitternd vor Mitgefühl und<br />
Verlegenheit“ sieht er das Gesicht einer elen<strong>de</strong>n Frau, die nach <strong>de</strong>m Gehirnschlag<br />
nicht mehr sprechen kann und ihr Leid herausschreit. Am nächsten Tag traut er sich,<br />
die Kranke voller Anteilnahme, aber auch Ratlosigkeit zu berühren, ihr zuzuhören, sie<br />
zu trösten: „Ich berührte ihre halb erstarrte Körperhülle, / Und warme Tränen tropften<br />
auf meine Hän<strong>de</strong>, / Und aus ihrer Brust ertönten Säuglingsschreie.“ 158<br />
(361) Der<br />
Prophet nimmt in diesem Gedicht seine Grenzen wahr und spricht das in <strong>de</strong>r letzten<br />
Strophe auch explizit an. Es gibt unerklärliche Phänomene und Wi<strong>de</strong>rsprüche in<br />
seinem Weltbild, die er – zurzeit – nicht aufzulösen vermag. Auch die Idylle ist nicht<br />
perfekt.<br />
158 Polnisch: „Tknąłem półdrętwej powłoki cielesnej, / A łzy kapały ciepłe na me ręce, / A z piersi krzyki<br />
biegły niemowlęce.“<br />
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Resümee<br />
Wenn man vom Abstraktum <strong>de</strong>s biologischen Geschlechts, 159 aber auch vom<br />
ansozialisierten ‚Genus’ und von <strong>de</strong>r Wahrnehmung durch die Umwelt ausgeht, so<br />
wur<strong>de</strong> „Xięga poezji idyllicznej“ von einer zierlichen, möglicherweise zahnlosen, von<br />
leidvollen Erfahrungen gezeichneten Frau in <strong>de</strong>n Vierzigern geschrieben, die sich nur<br />
in einem dunklen Anzug sehen und als Piotr ansprechen lässt, zurückgezogen in ihrem<br />
Zimmer voller trockener Blumen lebt und speist, abends auf ihrer Terrasse Pfeife<br />
raucht, bis tief in die Nacht schreibt, meditiert, Kontakt mit verstorbenen Ahnen<br />
pflegt, erfolglos um die Liebe ihrer alten, enttäuschten Mutter wirbt, das Haus und<br />
seine Bewohner zu bewachen und beschützen glaubt; von einer Frau, die bei ihren<br />
Sühnepraktiken Abführmittel einnimmt, um Körper und Geist vom Schmutz zu<br />
befreien, die das ‚Zölibat’ einhält, im Grabower Park lange Spaziergänge macht, Natur<br />
beobachtet und Gymnastik betreibt, die sie zum Fliegen befähigen soll, und immer<br />
wie<strong>de</strong>r im Gebet die Hän<strong>de</strong> in <strong>de</strong>n Himmel hebt; von einer Frau, die ihren Bru<strong>de</strong>r um<br />
Geld, Zeitschriften, Bücher, Tabak, Tee anflehen muss, die von Dorfkin<strong>de</strong>rn<br />
verspottet wird und die Familienangehörigen mit ihrem Missionsbewusstsein,<br />
moralischem Pathos und hartnäckiger Lebensfremdheit irritiert. 160 Und doch ist es<br />
159 Seit Judith Butlers (1991) „Gen<strong>de</strong>r Trouble“ (Das Unbehagen <strong>de</strong>r Geschlechter) wird in <strong>de</strong>r Gen<strong>de</strong>r-<br />
Forschung meist davon ausgegangen, dass die Sex-Gen<strong>de</strong>r-Dualisierung als Gegenüberstellung von<br />
‚biologischem’ und ‚sozialem’ Geschlecht nicht haltbar ist. Selbst das ‚biologische’ Geschlecht sei<br />
<strong>de</strong>mnach nicht etwas Natürliches und Gegebenes, Vorkulturelles, son<strong>de</strong>rn von vornherein mit unseren<br />
kulturbedingten Vorstellungen und Phantasmen ‚beschrieben’. Gegen diese These ist nichts einzuwen<strong>de</strong>n.<br />
Dennoch beharre ich auf <strong>de</strong>r Aufrechterhaltung <strong>de</strong>r Sex-Gen<strong>de</strong>r-Opposition, da sie die Spannung<br />
zwischen und die unlösbare Verschränkung von Körper (in seinen real unterschiedlichen<br />
‚Ausprägungen’) und Kultur begreifbar macht. Es ist ein abstraktes Hilfskonstrukt, das, genauso wie die<br />
Gegenüberstellung von ‚Natur’ und ‚Kultur’ bestimmte Denkoperationen und Differenzierungen<br />
überhaupt erst möglich macht, und nicht als erneute ‚Naturalisierung’ <strong>de</strong>s Geschlechterdualismus<br />
missverstan<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n sollte.<br />
160 Diese biographischen Informationen stammen aus: Boniecki 1998, Podraza-Kwiatkowska 1996 und<br />
<strong>de</strong>r Gesamtheit <strong>de</strong>r im Biographie-Kapitel angegebenen Quellen.<br />
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dieselbe Komornicka, die Wacław Nałkowski 161 1895 als „einen <strong>de</strong>r fortschrittlichsten<br />
Evolutionstypen“ bezeichnete. Ihr handschriftliches Werk ist das Produkt einer<br />
gewaltigen existenziellen Anstrengung, die darauf hinzielt, die eigene Biographie zu<br />
reinterpretieren, sich als ‚Mann’ und ‚Mystiker’ zu konstituieren, einen Lebensmythos<br />
zu kreieren, <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Isolierung und Entwürdigung vor Selbstzerstörung<br />
rettet und wahrscheinlich hilft, ein schweres psychisches Lei<strong>de</strong>n zu zähmen. „Xięga“<br />
legitimiert Własts als ‚parasitär’ stigmatisierte Existenz, autorisiert <strong>de</strong>n Enteigneten<br />
und Entmündigten. Wenn es ihm nicht Autorität verleiht, so rettet es zumin<strong>de</strong>st seine<br />
Wür<strong>de</strong>. Es entschädigt ihn für das von ihm erlittene und bereinigt das von ihm (in<br />
seinem Empfin<strong>de</strong>n) verübte Unrecht.<br />
Die von Włast erschaffene Lebenslegen<strong>de</strong> hat das narrative Muster einer<br />
Wandlungsgeschichte, wie es sie in allen Religionen und Mythologien gibt – in <strong>de</strong>r<br />
biblischen Tradition z.B. als Verwandlung <strong>de</strong>s Jakob in Israel, <strong>de</strong>s Saulus in Paulus,<br />
und in <strong>de</strong>r polnischen Literaturgeschichte <strong>de</strong>s Gustaws in Konrad 162 gut bekannt. Viele<br />
dieser Wandlungsgeschichten gehen mit einer Än<strong>de</strong>rung <strong>de</strong>s Namens einher, um die<br />
Dimension <strong>de</strong>r vollzogenen Metamorphose auch nach außen sichtbar zu machen – <strong>de</strong>r<br />
Fall Komornicka ist insofern noch radikaler, als hier auch das Geschlecht ‚gewechselt’<br />
wird. Den Brennpunkt dieser Lebenslegen<strong>de</strong> bil<strong>de</strong>t die Schuld und das Verlangen, von<br />
ihrer Last befreit zu wer<strong>de</strong>n. Diesem Ziel dient zum einen die rückwärtsgewandte<br />
Überhöhung <strong>de</strong>r Kindheit, <strong>de</strong>ren Vorzüge in <strong>de</strong>r Vergangenheit nicht wahrgenommen<br />
wur<strong>de</strong>n (Nostalgie), und zum an<strong>de</strong>ren <strong>de</strong>r Entwurf einer jenseitigen Welt ohne<br />
moralische Zweifel und Konflikte sowie <strong>de</strong>r Vision von Freisprechung bzw.<br />
Wie<strong>de</strong>rgutmachung <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong>n (Utopie). In zahlreichen Gedichten beschwört Włast<br />
161 Nałkowski/Komornicka/Jellenta 1985, 49.<br />
162 In „Dziady“ (Ahnenfeier) von Mickiewicz. Anscheinend ließ sich Komornicka von <strong>de</strong>r „Ahnenfeier“<br />
inspirieren, sowohl was ihre ‚Wie<strong>de</strong>rgeburt’ als Włast als auch die Relevanz <strong>de</strong>s Ahnenmotivs in ihrem<br />
Leben und Schreiben anbelangt. In allen Schaffensphasen hat sich die Dichterin explizit und implizit,<br />
sowohl in ihrer Ästhetik, z.B. in <strong>de</strong>n metrischen Strukturen ihrer Lyrik, als auch in ihrer Weltsicht, auf die<br />
Romantiker Mickiewicz, Słowacki, Krasicki und Norwid berufen.<br />
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die Geborgenheit <strong>de</strong>r Kindheit und die von <strong>de</strong>n Eltern erfahrene Liebe herauf. Damit<br />
scheint er seine frühe Rebellion gegen die Familie quasi ungeschehen machen zu<br />
wollen. Es wer<strong>de</strong>n auch Bil<strong>de</strong>r einer tiefen Verbun<strong>de</strong>nheit und Liebe zwischen <strong>de</strong>n<br />
Eltern entworfen (dies ist auch in <strong>de</strong>n Briefen Własts an die Mutter <strong>de</strong>r Fall) –<br />
offensichtlich als Versuch einer Korrektur <strong>de</strong>r Realität, die von Ablehnung und Kälte,<br />
zumin<strong>de</strong>st seitens <strong>de</strong>r Mutter, geprägt gewesen zu sein scheint. ‚Włast’ in <strong>de</strong>r Rolle<br />
<strong>de</strong>s lyrischen Ich übernimmt in einigen Texten die Aufgabe, seine Eltern zu erfreuen<br />
und zu erlösen, so, als ob diese in <strong>de</strong>r Realität unglücklich und in schwere Konflikte<br />
verwickelt gewesen wären. Das Phantasma, die Eltern wie<strong>de</strong>r zueinan<strong>de</strong>r zu bringen<br />
und von ihrer gegenseitigen Liebe zu überzeugen, gehört auch zu Własts ‚Wahnwelt’,<br />
wie er sie in <strong>de</strong>n Briefen aus <strong>de</strong>n Irrenanstalten verbalisierte. Die Figur <strong>de</strong>r Mutter<br />
spielt in „Xięga“ eine ganz beson<strong>de</strong>re Rolle. Ihr ist das Werk gewidmet, und sie wird<br />
in <strong>de</strong>r Widmung als ‚Mama’ angesprochen. Ihre „Xięga“-Bil<strong>de</strong>r sind von tief<br />
greifen<strong>de</strong>n Kontrasten bestimmt. Einerseits wird sie als Engel <strong>de</strong>r Kindheit und heilige<br />
Matrone i<strong>de</strong>alisiert und mit überschwänglicher Zärtlichkeit porträtiert, an<strong>de</strong>rerseits<br />
kreisen starke Aggressionen <strong>de</strong>s lyrischen Ich (vor allem Zorn und Wut) um ihre<br />
Person, die mitunter als völlig unberechenbar und vor allem als kastrierend in<br />
Erscheinung tritt. Einige Texte lassen sich als verschleierte Anklage und Karikatur <strong>de</strong>r<br />
Mutter interpretieren. Sie ist diejenige, die <strong>de</strong>n Sohn nicht erwachsen wer<strong>de</strong>n lässt und<br />
in ein starkes Abhängigkeitsverhältnis verwickelt. Eine Rebellion ist nicht möglich,<br />
<strong>de</strong>nn <strong>de</strong>r Sohn ist von diffusen Schuldgefühlen gegenüber <strong>de</strong>r Mutter wie gelähmt und<br />
i<strong>de</strong>ntifiziert sich ungewöhnlich stark mit all ihren Gemütsregungen. Diese Gedichte, in<br />
<strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Sohn einen sehr infantilen Eindruck macht, sind auch in formaler Hinsicht<br />
nicht beson<strong>de</strong>rs anspruchsvoll, frappieren aber durch ihre grotesken und absur<strong>de</strong>n<br />
‚Versatzstücke’. Die Herausbildung einer eigenen I<strong>de</strong>ntität jenseits <strong>de</strong>r Mutterbil<strong>de</strong>r,<br />
ob als Sohn o<strong>de</strong>r Tochter, erweist sich als genauso unmöglich wie die offene<br />
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Rebellion. Eine Ablösung von <strong>de</strong>r abweisen<strong>de</strong>n Mutter scheint sich Włast we<strong>de</strong>r im<br />
Leben erkämpfen noch in seinem „Buch“ erschreiben zu können.<br />
Das Verhältnis zwischen Vater und Sohn ist nicht von einem solchen Machtgefälle<br />
bestimmt. In einigen Gedichten entwirft Włast das Bild eines liebevollen, begleiten<strong>de</strong>n<br />
und gleichzeitig eine Autorität darstellen<strong>de</strong>n Vaters. Während die Mutter mitunter die<br />
Gestalt einer hysterischen Tyrannin annimmt, wird <strong>de</strong>r Vater meist zu einem Weisen<br />
stilisiert. Auch dies kann als ein Reflex <strong>de</strong>r realen biographischen Erfahrungen<br />
angesehen wer<strong>de</strong>n. Möglicherweise konnte sich Komornicka gegen die offene<br />
väterliche Gewalt besser wehren, <strong>de</strong>nn diese war fassbarer, manifester, und damit<br />
etwas, womit man sich auseinan<strong>de</strong>rsetzen konnte, ohne dass man vor Mitgefühl für<br />
<strong>de</strong>n Aggressor handlungsunfähig wur<strong>de</strong>. Auch hat die Dichterin in <strong>de</strong>r Realität ihr<br />
Verhältnis zum Vater in einem klären<strong>de</strong>n Gespräch vor seinem To<strong>de</strong> bereinigt<br />
(Komornicka, A. 1964). Das Verhältnis zur Mutter blieb hingegen bis zum Schluss<br />
von unterschwelligen gegenseitigen Vorwürfen und uneingelösten Ansprüchen<br />
bestimmt. Dennoch gibt es Texte, in <strong>de</strong>nen ‚Włast’ eine Zwiespältigkeit gegenüber<br />
<strong>de</strong>m Vater zur Sprache bringt – er fühlt sich um sein Erbe betrogen und träumt von<br />
einer Rehabilitierung. Auch hier entsteht ein schlüssiger Zusammenhang mit <strong>de</strong>r<br />
Biographie. Bei <strong>de</strong>r Verteilung <strong>de</strong>s väterlichen Erbes wur<strong>de</strong> Komornicka tatsächlich,<br />
anscheinend wegen vermeintlicher Unzurechnungsfähigkeit – noch vor ihrem<br />
Geschlechtswechsel – übergangen (Filipiak 2000). Die Phantasien von Rehabilitierung<br />
und Würdigung bil<strong>de</strong>n, was angesichts <strong>de</strong>r realen Lebenslage <strong>de</strong>s Autors auch nicht<br />
verwun<strong>de</strong>rt, <strong>de</strong>n Schwerpunkt <strong>de</strong>r „Xięga“. Nicht nur vom Vater, son<strong>de</strong>rn auch von<br />
Vaterfiguren, <strong>de</strong>n Ahnen und Patriarchen, erwartet ‚Piotr’ eine Ehrung in Form eines<br />
prächtigen Schlosses. In einem solchen, jahrhun<strong>de</strong>rtealten „Nest <strong>de</strong>s Geschlechts“<br />
(gniazdo rodu) könnte er als eigenmächtiger Herr, aus <strong>de</strong>r Familientradition<br />
schöpfend, seine eigene Welt kreieren. Eine Steigerung dieser Vision bil<strong>de</strong>t in<br />
„Hymny nadziei“ das Besingen <strong>de</strong>r Hoffnung, dass je<strong>de</strong>r Mensch nach seinem To<strong>de</strong><br />
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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />
eine eigene Insel bzw. einen eigenen Stern zuerkannt bekomme, auf <strong>de</strong>m er König und<br />
Gott sein, <strong>de</strong>n er adäquat zu seiner Persönlichkeit gestalten könne. Włast, <strong>de</strong>r sich in<br />
vielen Gedichten zwar in die Rolle eines infantilen Jungen begibt, stilisiert sich jedoch<br />
überwiegend zum Propheten, <strong>de</strong>r <strong>de</strong>n Menschen von gegenseitiger Liebe und von<br />
Mitgefühl predigt und eine glückliche Zukunft verheißt, in welcher je<strong>de</strong>r einzelne<br />
Mensch in seiner Eigenart gewürdigt wird. 163 Dies wird, so die Vision, eine Welt sein,<br />
in <strong>de</strong>r wir das in unserem irdischen Leben Misslungene korrigieren können. Diese<br />
‚Korrektur’ führt Włast auch in seinen Dichtungen durch. In einigen Texten entwickelt<br />
er aber auch ein ironisches Verhältnis zu sich selbst und eine Distanz zu seinen<br />
Erlösungsprojekten und präsentiert seine prophetischen Ambitionen im Zerrspiegel<br />
<strong>de</strong>s Närrischen und Naiven.<br />
Mitunter versetzt sich Włast auch in die weibliche Perspektive, wird quasi wie<strong>de</strong>r zur<br />
Frau. Dies ist insbeson<strong>de</strong>re in <strong>de</strong>r Verserzählung „Czartołania i Seni“ <strong>de</strong>r Fall, die eine<br />
Liebesbeziehung aus <strong>de</strong>m Leben <strong>de</strong>r jungen Komornicka reaktiviert und das in <strong>de</strong>r<br />
Lyrik vor 1907 vielfach aufgegriffene Phantasma <strong>de</strong>r erotisch gefärbten Schuld wie<strong>de</strong>r<br />
zur Obsession <strong>de</strong>s Textes macht. Czartołania als Komornickas Ichfigur begreift sich<br />
als ‚befleckt’. Die Stationen ihres Lebens, die sie als sündhaft erlebt, <strong>de</strong>uten auf<br />
<strong>de</strong>nkbare traumatische Erfahrungen im realen Leben <strong>de</strong>r Komornicka hin – einen<br />
sexuellen Missbrauch, eine auf ein erotisches Abenteuer folgen<strong>de</strong> Abtreibung.<br />
Czartołania verzichtet lieber ganz auf Erotik in ihrer Beziehung zu Seni als dass sie<br />
sich wie<strong>de</strong>r ‚beschmutzen’ lässt. Vor <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Ächtung und einem Leben<br />
mit <strong>de</strong>r Schuld flüchtet sie in <strong>de</strong>n Tod. 164 In „Czartołania i Seni“ legt Włast seiner<br />
Ichfigur eine feurige, <strong>de</strong>n beschnei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n gesellschaftlichen Umgang mit Frauen und<br />
Weiblichkeit anprangern<strong>de</strong> Re<strong>de</strong> – eine an Texte <strong>de</strong>r jungen Komornicka anknüpfen<strong>de</strong><br />
Anklage <strong>de</strong>s Patriarchats – in <strong>de</strong>n Mund. Als Mentor <strong>de</strong>r Frauen tritt er u.a. im<br />
163 Bei<strong>de</strong> Rollen sind als geschlechtslos konzipiert.<br />
164 Ein ‚herzzerreißen<strong>de</strong>s’ Verlangen nach <strong>de</strong>r Schuldtilgung ist u.a. auch das Thema <strong>de</strong>s Gedichtes<br />
„Biedny organista“.<br />
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französischen Gedicht „Place aux Dames!“ auf, in <strong>de</strong>m er Partei dafür ergreift, dass<br />
Frauen zur Fe<strong>de</strong>r greifen und selbst ihre Erfahrungen verschriftlichen, anstatt sich von<br />
Männern fremdbestimmen und beschreiben zu lassen. Einige Gedichte preisen die<br />
Sinnlichkeit und Schönheit <strong>de</strong>r Frauen, lassen sich aber nicht ein<strong>de</strong>utig als<br />
Signifikanten lesbischen Begehrens <strong>de</strong>uten. Es wird auch immer wie<strong>de</strong>r auf die von<br />
<strong>de</strong>r ‚Weiblichkeit’ ausgehen<strong>de</strong>n Gefahren hingewiesen – vor allem die Gefahr <strong>de</strong>s<br />
Rauschs, <strong>de</strong>r Zähmung, <strong>de</strong>r Entmündigung, <strong>de</strong>r Grenzverwischung. Ansonsten wird<br />
Sinnlichkeit und Erotik in enger Verbindung mit fernöstlicher und christlicher Mystik<br />
auf Naturerlebnisse projiziert. Włast stilisiert sich zum Vertrauten, Liebhaber und<br />
Fürsprecher nicht nur <strong>de</strong>r lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Mitmenschen, son<strong>de</strong>rn auch <strong>de</strong>r Natur, <strong>de</strong>r Tiere<br />
und Pflanzen, die er abweichend von dogmatisch-christlichen Vorstellungen als <strong>de</strong>m<br />
Menschen in spiritueller Hinsicht zumin<strong>de</strong>st ebenbürtig betrachtet. Natur und Kultur<br />
bil<strong>de</strong>n aus Własts Sicht in <strong>de</strong>r menschlichen Existenz eine Einheit. Sie sind, wie im<br />
Gedicht „Sztuka i natura“ expliziert, <strong>de</strong>r Kokon, in <strong>de</strong>ssen Geborgenheit ein<br />
menschlicher ‚Embryo’ am besten heranreifen und sich auf eine neue Geburt auf einer<br />
höheren Entwicklungsstufe vorbereiten kann. In dieser Konzeption bil<strong>de</strong>n das<br />
Aufgehobensein und die Einheitsgefühle einerseits und Individuation und<br />
Persönlichkeitsbildung an<strong>de</strong>rerseits keine Gegensätze. „Xięga“ ist voller chiffrierter<br />
Bil<strong>de</strong>r spiritueller Sehnsucht – dazu gehören Natur- und Kosmoselemente,<br />
mythologische Gestalten und Motive, Figuren <strong>de</strong>r Engel und <strong>de</strong>r Greise.<br />
Diese Seligkeit und Hoffnung vermitteln<strong>de</strong>n Bil<strong>de</strong>r wer<strong>de</strong>n mitunter durch <strong>de</strong>n<br />
Einbruch <strong>de</strong>s Schreckens gestört. Hin und wie<strong>de</strong>r gewährt Włast <strong>de</strong>m Leser einen<br />
Einblick in sein konfliktreiches Leben in Grabów und öffnet, um sich <strong>de</strong>r Metaphorik<br />
<strong>de</strong>s Gedichtes „Wizyta doktorska“ zu bedienen, die ‚Särge <strong>de</strong>r Vergangenheit’: Es<br />
tauchen literarische Reminiszenzen aus <strong>de</strong>n Irrenhausaufenthalten auf, die Własts<br />
früheres Leben ‚zersprengt’ haben. In grotesk verfrem<strong>de</strong>ten Bil<strong>de</strong>rn erteilt sich <strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>n Kliniken jeglicher Selbstbestimmung Beraubte das Wort. Er erhebt sich zu einem<br />
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kompetenten Konkurrenten <strong>de</strong>s Arztes und polemisiert – nicht ohne Humor – gegen<br />
<strong>de</strong>n psychiatrischen Diskurs, prangert die medizinischen Repressionen an. Nicht nur in<br />
diesen Zusammenhang flicht er Bil<strong>de</strong>r menschlichen Lei<strong>de</strong>ns ein, die ihn die<br />
Brüchigkeit seiner Idylle und die Grenzen seines prophetischen Optimismus<br />
schmerzhaft spüren lassen. Und <strong>de</strong>nnoch wehrt er sich in Anlehnung an die<br />
Romantiker dagegen, auf seine Wahrheit, die ihn leben lässt, zu verzichten, ‚nur’, weil<br />
sie vielleicht nicht stimmt: „Mich kümmert es wenig, dass jemand lauthals / Etwas für<br />
wahr erklärt, das Hun<strong>de</strong>rte von ‚Aber’ in sich birgt, / Vor allem das eine ‚Aber’ – dass<br />
es mein Herz nicht erfreut!“ 165 (482)<br />
165 Polnisch: „Mnie nie wzrusza, że ktoś w głos okrzyknie / Coś za prawdę, co ma setne ‚Ale’, /<br />
Zwłaszcza to, że serca mi nie cieszy!“<br />
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Fazit und Ausblick<br />
Da das Geschlecht eine Phase in <strong>de</strong>r Entwicklung <strong>de</strong>r<br />
Menschheit ist, kann es sich verän<strong>de</strong>rn, aber auch<br />
vollständig verschwin<strong>de</strong>n, und damit an<strong>de</strong>ren, weniger<br />
bekannten, aber himmlischeren Phasen weichen.<br />
(M. Komornicka) 1<br />
Kleidung ist eines <strong>de</strong>r wichtigsten Mittel zur gesellschaftlichen ‚Produktion’ von<br />
Geschlecht. Sie hat einen hochsymbolischen Wert. Angemessene Kleidung ist ein<br />
Garant <strong>de</strong>r gesellschaftlichen Ordnung: Dies zeigen auch religiöse Verbote sehr<br />
<strong>de</strong>utlich: „Eine Frau soll nicht Männersachen tragen, und ein Mann soll nicht<br />
Frauenklei<strong>de</strong>r anziehen, <strong>de</strong>nn wer das tut, ist <strong>de</strong>m Herrn, Deinem Gott, ein Gräuel.“ 2<br />
Wer sich an dieses Diktum nicht hält und ‚konträrgeschlechtliche’ Kleidung usurpiert,<br />
muss mit Konsequenzen und gesellschaftlichen Maßnahmen rechnen, die vor hun<strong>de</strong>rt<br />
Jahren zweifellos eine ganz an<strong>de</strong>re Dimension erreichen konnten als heutzutage. In<br />
allen historischen Epochen gab es Frauen, die sich als Männer verklei<strong>de</strong>ten. Sie taten<br />
dies meist nicht, um ihr Geschlecht willentlich zu konstruieren, <strong>de</strong>nn die Auffassung<br />
vom Geschlecht als diskursives Konstrukt ist eine sehr mo<strong>de</strong>rne Einstellung. Sie taten<br />
dies, um sich bestimmte Freiräume und <strong>de</strong>n Männern vorbehaltene Betätigungsfel<strong>de</strong>r,<br />
Selbstbestimmungsrechte und Machtbereiche zu erkämpfen, ihren Lebensunterhalt zu<br />
verdienen, ihre Abenteuerlust zu stillen, einer Verfolgung zu entgehen, mit einer<br />
an<strong>de</strong>ren Frau zusammen zu sein, sich vor sexuellen Übergriffen zu schützen, <strong>de</strong>r<br />
Alternative ‚Kloster – Heirat’ zu entgehen, o<strong>de</strong>r, ganz im Gegenteil – als Prostituierte<br />
1 Komornicka, M.: Notatki krytyczno-refleksyjne na różne tematy. Literaturmuseum in Warschau,<br />
Signatur 369. Polnisch: „Ponieważ płeć jest fazą w człowieczeństwie, płeć może się zmieniać... i może<br />
znikać całkowicie, ustępując fazom mniej znanym, a bardziej niebiańskim.“<br />
2 In: 5. Mose 22, 5; vgl. auch Lehnert 1997, 14.<br />
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– um ihre Kun<strong>de</strong>n dadurch noch mehr zu erregen. Sie taten dies überwiegend in <strong>de</strong>m<br />
Bewusstsein, ihr ‚authentisches’ Geschlecht zu verschleiern, an<strong>de</strong>re zu täuschen bzw.<br />
ihren Emanzipationswillen zu <strong>de</strong>monstrieren und bewegten sich damit zwischen <strong>de</strong>n<br />
Polen <strong>de</strong>r Maskierung und <strong>de</strong>r Maskera<strong>de</strong>. Die männliche Kleidung, und insbeson<strong>de</strong>re<br />
die Hose, ist in <strong>de</strong>r abendländischen Kultur ein Symbol <strong>de</strong>r Macht und <strong>de</strong>r Freiheit.<br />
Bis heute spricht man, wie Lehnert (1997, 31) in diesem Zusammenhang zu Recht<br />
betont, noch davon, dass jemand in einer Beziehung ‚die Hosen anhat’. Erst seit <strong>de</strong>n<br />
20er Jahren <strong>de</strong>s zwanzigsten Jahrhun<strong>de</strong>rts avancierte die Hose zum Kleidungsstück<br />
<strong>de</strong>r Frauen. Bis vor hun<strong>de</strong>rt Jahren galt sie bei Frauen als Symptom sexueller<br />
Abartigkeit und damit als anrüchig und lasterhaft.<br />
Maria Komornicka war nicht <strong>de</strong>r Ansicht, mit ihrer männlichen Kleidung ihr „wahres“<br />
Geschlecht zu verschleiern, son<strong>de</strong>rn – ganz im Gegenteil – ihr authentisches<br />
Geschlecht damit nach außen sichtbar zu machen. Bei oberflächlicher Betrachtung<br />
nähert sie sich damit <strong>de</strong>m Selbstverständnis <strong>de</strong>r Transsexuellen (Dekker, van <strong>de</strong> Pol<br />
1989, 83 ff.). Was ihren Fall allerdings zu einer kaum klassifizierbaren Kuriosität<br />
macht, ist die Betonung <strong>de</strong>r geistigen Dimension <strong>de</strong>r angestrebten Männlichkeit, ihre<br />
Verbindung mit <strong>de</strong>m Lebensentwurf <strong>de</strong>s Mystikers, Dichters und Propheten, die<br />
Überzeugung, eine Reinkarnation eines Vorfahren zu sein, vor allem aber <strong>de</strong>r<br />
übermächtige Wunsch nach <strong>de</strong>r vollkommenen Auslöschung <strong>de</strong>r gesamten alten<br />
I<strong>de</strong>ntität (nicht nur ihres geschlechtlichen Aspekts). Zu <strong>de</strong>n Beson<strong>de</strong>rheiten dieses<br />
Geschlechtswechsels, die ihn sowohl von <strong>de</strong>n prototypischen Fällen von<br />
Transsexualismus als auch von Transvestismus unterschei<strong>de</strong>n, gehört auch die<br />
Einbindung <strong>de</strong>s Geschlechts in ein metaphysisches System, innerhalb <strong>de</strong>ssen es nur<br />
eine bestimmte Entwicklungsstufe in <strong>de</strong>r menschlichen Existenz markiert und mit <strong>de</strong>r<br />
mentalen Kraft verän<strong>de</strong>rt bzw. gar gänzlich überwun<strong>de</strong>n wer<strong>de</strong>n kann (vgl. das Motto<br />
<strong>de</strong>s Schlusswortes). An eine operative Korrektur war zu Komornickas Lebzeiten<br />
sicherlich nicht zu <strong>de</strong>nken – mit ihrem Glauben an die Kraft <strong>de</strong>s Geistes hätte sie diese<br />
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auch wohl kaum in Anspruch genommen. Die Dichterin scheint jedoch tatsächlich<br />
daran geglaubt zu haben, durch intensive Sühnepraktiken und eine entsprechen<strong>de</strong><br />
Gymnastik ihren Körper formen zu können, bis dieser die an<strong>de</strong>rsgeschlechtlichen<br />
Züge entwickelt, um sich anschließend an die körper- und geschlechtslose, dafür aber<br />
‚beflügelte’ Existenzweise <strong>de</strong>r Engel anzunähern. Damit scheint die selbstgewählte<br />
Männlichkeit 3 für Komornicka eine Station auf <strong>de</strong>m Weg zur Entkörperlichung und<br />
Vergeistigung, eine Stufe auf <strong>de</strong>r biblischen Himmelsleiter gewesen zu sein. So<br />
schreibt Piotr am 27.06.1909 aus <strong>de</strong>r Irrenanstalt in Opawa (Troppau) an die Mutter:<br />
Erlaubt mir, mich in Ruhe zu entwickeln. Ich versichere, dass keine Diät, keine Folter o<strong>de</strong>r<br />
irgen<strong>de</strong>ine Quälerei dafür nötig sind, son<strong>de</strong>rn sich bremsend auswirken. Diesem Körper wür<strong>de</strong><br />
nur helfen, wenn ich mich auch geistig ‚ausbreiten’ und arbeiten könnte. Das Geschlecht ist ein<br />
folgsames Tier – wenn <strong>de</strong>r Kopf gesund ist und seinen Beitrag zum Wohlstand <strong>de</strong>s restlichen<br />
Organismus leistet. 4<br />
In ihren ersten literarischen Texten, die sie als Jugendliche und junge Frau verfasste,<br />
zeigt Komornicka jedoch zunächst ein ausgeprägtes feministisch-emanzipatorisches<br />
Bewusstsein und einen starken Drang zu einer, in keiner Weise metaphysisch<br />
gedachten, Überschreitung <strong>de</strong>r geschlechtsspezifischen Stereotype. Sie entwirft<br />
mehrere – an ihrer eigenen Person orientierte – Figuren von jungen Rebellinnen gegen<br />
patriarchale Unterdrückung und Fremdbestimmung. All diesen gegen die<br />
Einschränkungen einer traditionellen weiblichen Existenz aufbegehren<strong>de</strong>n, nach<br />
Selbstverwirklichung streben<strong>de</strong>n, Männer um Zugänge zu Machtdiskursen,<br />
öffentlichen Räumen und zur Autorschaft benei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n, hochintelligenten und<br />
lebenshungrigen weiblichen Figuren (Helena, Staszka, Halszka, Wanda) ist<br />
gemeinsam, dass sie für ihre Revolte mit lähmen<strong>de</strong>n Schuldgefühlen bezahlen. Die<br />
3 In ihren Schriften entwickelt Komornicka zwei Konzepte von Männlichkeit. Zum einen verbin<strong>de</strong>t sie<br />
diese mit animalischen Trieben, zügelloser Sexualität und <strong>de</strong>r Orientierung am Körper, zum an<strong>de</strong>ren mit<br />
hohen geistigen und intellektuellen Fähigkeiten, die die philosophischen Diskurse <strong>de</strong>r Zeit Frauen<br />
absprachen. Sie selbst i<strong>de</strong>ntifiziert sich ausschließlich mit dieser zweiten Konzeption <strong>de</strong>r Männlichkeit.<br />
4 Polnisch: „Dajcież mi się w spokoju rozwinąć. Zaręczam bowiem, że ani dyeta, ani dręczenie, ani<br />
szarpanie, ani jakiekolwiek nękanie potrzebne do tego nie są, a są hamulcem. Przy tem ciału <strong>by</strong> tylko<br />
pomogło, gdy<strong>by</strong>m się i duchowo mógł rozpostrzec i pracować. Wszakże płeć to zwierzę pokorne, gdy<br />
dobrą jest głowa, i udział ma swój w dobro<strong>by</strong>cie reszty organizmu.“<br />
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Autorin verweigert ihnen positive, zukunftsweisen<strong>de</strong> Lebensentwürfe und<br />
Genussfähigkeit, lässt sie einen Selbstzerstörungsdrang und eine überaus starke<br />
Selbstauflösungs- und To<strong>de</strong>ssehnsucht entwickeln und an ihrem Protest zerbrechen.<br />
Auch wenn sich die Autorin an <strong>de</strong>r Textoberfläche gegen die Weiblichkeitsstereotype<br />
wen<strong>de</strong>t, reproduziert sie unterschwellig die Geschlechterdiskurse <strong>de</strong>r Zeit, in<strong>de</strong>m sie<br />
Frauen mit Wahnsinn, Natur und Tod in eine enge Verbindung bringt und sie mit<br />
Vorliebe in die stereotype Rolle <strong>de</strong>r ‚femme fatale’ drängt. Dieses Involviertsein in die<br />
kritisierten Meisterdiskurse <strong>de</strong>r Kultur <strong>de</strong>monstriert Komornicka auf symbolischer<br />
Ebene in „Biesy“ – in <strong>de</strong>r Metaphorik <strong>de</strong>r Verfolgung <strong>de</strong>r Sklavin und <strong>de</strong>r Hexe durch<br />
das Textsubjekt. An <strong>de</strong>r Überwindung <strong>de</strong>r abendländischen Spaltung <strong>de</strong>r Frau in Engel<br />
und Dämon, Heilige und Hure arbeitet Komornicka in ihren „Chimera“-Texten<br />
„Ahasvera“ und „Intermezzo“ – durch Imaginationen weiblicher Figuren, die als<br />
‚verdammt’ und ‚heilig’ zugleich gelten könnten. Doch bezeichnen<strong>de</strong>rweise sind auch<br />
dies tragische Schicksale.<br />
Fast alle Ichfiguren <strong>de</strong>r frühen narrativen und dramatischen Texte von Komornicka<br />
steuern einer Selbstbestrafung entwe<strong>de</strong>r durch einen realen o<strong>de</strong>r einen symbolischen<br />
Selbstmord zu. Sie spalten sich in ‚böse’ Rebellin und ‚gute’ Tochter bzw. Ehefrau,<br />
die ihr eigenes Vergehen nicht erträgt. Auffällig ist auch, dass es ihnen verwehrt<br />
bleibt, sexuelles Begehren zu empfin<strong>de</strong>n. Sinnlichkeit und Erotik wer<strong>de</strong>n bereits in<br />
diesen frühen Texten an die Bereiche <strong>de</strong>r Natur und <strong>de</strong>r Mystik <strong>de</strong>legiert und<br />
entwickeln sich auf dieser Ebene mitunter zum Motor überschwänglicher stilistischer<br />
‚Orgien’. Die Situierung <strong>de</strong>r Ichfiguren so weit weg wie nur möglich von erotischen<br />
Bedürfnissen scheint sowohl mit Komornickas biographischen Erfahrungen<br />
zusammen zu hängen, auf die ich noch zu sprechen komme, als auch mit <strong>de</strong>r Gefahr,<br />
als Literatin <strong>de</strong>r moralischen Zügellosigkeit bezichtigt zu wer<strong>de</strong>n. Davon, dass diese<br />
Gefahr kein Phantom war, son<strong>de</strong>rn sehr schnell Realität wer<strong>de</strong>n konnte, zeugen u.a.<br />
die männlichen Rezensionen <strong>de</strong>s Ban<strong>de</strong>s „Baśnie i psalmodie“.<br />
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In <strong>de</strong>n vorgestellten Analysen wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>utlich, wie Maria Komornicka innerhalb dieser<br />
textuellen Entwürfe, <strong>de</strong>nen eine starke performative Antriebskraft inhärent ist, ihre<br />
eigene Biographie antizipiert und ‚vorprogrammiert’. Ereignisse wie Rebellion, frühe<br />
Scheidung, Belastung mit einer großen Schuld, aber auch selbstzerstörerische<br />
Ten<strong>de</strong>nzen, Selbstverleugnung, Eingesperrtsein, Wahnsinn 5 und Selbstmord (<strong>de</strong>r in<br />
<strong>de</strong>r Realität ‚nur’ symbolisch erfolgte) wer<strong>de</strong>n in <strong>de</strong>n literarischen Texten vorbereitet. 6<br />
Den so vorkonstruierten Mustern folgt dann die eigene Biographie. Mit <strong>de</strong>r Biographie<br />
wird allerdings nicht nur prospektiv, son<strong>de</strong>rn auch retrospektiv gearbeitet. In <strong>de</strong>r<br />
Literatur unterliegt das ‚Leben’ einer – Zusammenhänge und Sinn stiften<strong>de</strong>n –<br />
Interpretation bzw. gar einer Ergänzung und Korrektur. Diese Bezüge lassen sich in<br />
einigen Fällen erst durch ein aufmerksames Verfolgen von Leerstellen, Wi<strong>de</strong>rsprüchen<br />
und verborgenen, nicht intendierten Textbotschaften wahrnehmen. Beson<strong>de</strong>rs <strong>de</strong>utlich<br />
wird dies in <strong>de</strong>n Märchenerzählungen „O ojcu i córce“ sowie „Andronice“. Im<br />
Zentrum <strong>de</strong>r ersten stehen Figuren <strong>de</strong>r Eltern, <strong>de</strong>ren Mo<strong>de</strong>llierung zahlreiche<br />
Anknüpfungspunkte an die eigene Lebensgeschichte erkennen lässt. Der<br />
besitzergreifen<strong>de</strong>, dämonische Vater überschreitet und missachtet die Grenzen seiner<br />
Tochter, <strong>de</strong>utet ein inzestuöses Interesse an ihr an und macht eine Bindung an einen<br />
an<strong>de</strong>ren Mann unmöglich. Der infantile Charakter <strong>de</strong>r gescheiterten Bindung Allas an<br />
<strong>de</strong>n Bräutigam lässt sich auch auf die in Komornickas Briefen an die Mutter aus <strong>de</strong>r<br />
Zeit 1898-1900 diskursiv stark präsente Beziehung zu ihrem Ehemann Jan Lemański<br />
beziehen. Das patriarchale Weltbild wur<strong>de</strong> <strong>de</strong>r Hauptfigur Alla so stark eingeimpft,<br />
dass es sie letztendlich in <strong>de</strong>n Tod treibt. Die verniedlichte Mutter ist nicht imstan<strong>de</strong>,<br />
die Tochter davor zu schützen. Wegen <strong>de</strong>r vermeintlichen Schwäche und Güte <strong>de</strong>r<br />
5 Der Wahnsinn und die Irrenhausaufenthalte wer<strong>de</strong>n in „Staszka“ und „Forpoczty“ vorkonstruiert. In<br />
bei<strong>de</strong>n Texten wird Wahnsinn als <strong>de</strong>r Preis einer hoher Sensibilität und <strong>de</strong>s Nonkonformismus überhöht<br />
und romantisiert.<br />
6 Eine ähnliche „Verstrickung einer Schreiben<strong>de</strong>n in die Strukturen <strong>de</strong>r Einbildungskraft“ (Weigel 1990,<br />
113) wird in <strong>de</strong>r germanistischen Forschung für die Korrelation zwischen Leben und Schreiben <strong>de</strong>r<br />
<strong>de</strong>utschen Autorin Unica Zürn postuliert, die ebenfalls ihre Erfahrungen mit psychiatrischen Anstalten<br />
gemacht hatte und sich 1970 das Leben nahm – auf diesen Freitod bewegen sich ihre Texte quasi zu.<br />
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Mutterfiguren ist eine offene Auseinan<strong>de</strong>rsetzung mit diesen we<strong>de</strong>r hier noch in <strong>de</strong>n<br />
viel späteren Texten Własts möglich. Das Wutpotential macht sich vielmehr auf<br />
subversivem Wege Luft – z.B. in <strong>de</strong>n vom Zorn <strong>de</strong>s lyrischen Ich verzerrten Mutterund<br />
Weiblichkeitsimaginationen <strong>de</strong>r „Xięga“. Dabei wird <strong>de</strong>r Zorn mitunter vom<br />
lyrischen Ich abgespalten und auf an<strong>de</strong>re Figuren projiziert, beispielsweise im Gedicht<br />
„Irenka“.<br />
Die Märchenerzählung „Andronice“ erzählt von Rache und von symbolischer Tötung<br />
eines Vertreters <strong>de</strong>r patriarchalen Macht. Allerdings bleibt diese Tötung äußerst<br />
fragwürdig, <strong>de</strong>nn das Einsaugen <strong>de</strong>r Seele Gynajkofilos’ durch Andronice be<strong>de</strong>utet<br />
auch die Einverleibung <strong>de</strong>s Männlichen, also wie<strong>de</strong>r Verinnerlichung. Exemplarisch<br />
kann an diesem Text die für Komornicka charakteristische I<strong>de</strong>ntifizierung <strong>de</strong>r<br />
Männlichkeit mit tierischen Gelüsten <strong>de</strong>monstriert wer<strong>de</strong>n. Sowohl Andronice als<br />
auch an<strong>de</strong>re weibliche Figuren <strong>de</strong>r vor 1907 von Komornicka geschriebenen Texte<br />
wie „Biesy“ o<strong>de</strong>r „Miłość“ sind von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e besessen, dieses Begehren ihren<br />
männlichen Liebespartnern ‚auszupeitschen’ und ‚auszutreiben’. Sie verstricken sich<br />
in ein verworrenes Bün<strong>de</strong>l von emotionalen Wi<strong>de</strong>rsprüchen, in eine Hassliebe, wie sie<br />
Ruppert (2002) bei vielen Schizophrenie-Lei<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n diagnostiziert. In <strong>de</strong>n sich an die<br />
Märchenerzählungen anschließen<strong>de</strong>n „Gesängen“ wird das Begehren umgelenkt und<br />
auf Gott gerichtet. Von <strong>de</strong>r I<strong>de</strong>e einer an Männern vorgenommenen ‚Lustaustreibung’<br />
ist auch ein großer Teil <strong>de</strong>r „Chimera“-Lyrik Komornickas bestimmt. Die erotischen<br />
Texte <strong>de</strong>r Dichterin gehören zu <strong>de</strong>n bizarrsten im Jungen Polen. Die Dichterin<br />
inszeniert meist lei<strong>de</strong>nschaftliche, sadomasochistische Beziehungen. Ihre weiblichen<br />
Ichfiguren stattet sie einerseits mit Verlangen, an<strong>de</strong>rerseits mit Mordphantasien in<br />
Bezug auf ihre Liebespartner aus. Für die Einweihung <strong>de</strong>r Frau in die Sexualität muss<br />
<strong>de</strong>r Partner mit <strong>de</strong>m Tod büßen. Nur so kann die begehren<strong>de</strong> Frau ihre Selbstachtung<br />
aufrechterhalten, <strong>de</strong>nn Körperlichkeit ist in ihrem Weltbild untrennbar mit <strong>de</strong>m<br />
Stigma <strong>de</strong>r Sün<strong>de</strong> behaftet. Das romantische Motiv <strong>de</strong>s gemeinsamen Liebesto<strong>de</strong>s –<br />
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als Vorbeugung ihrer Entweihung – war auch bereits in „Szkice“ vorhan<strong>de</strong>n und kehrt<br />
in einer abgewan<strong>de</strong>lten Form in Własts Verserzählung „Czartołania i Seni“ zurück.<br />
Eros und Ethos, Sexualität und Spiritualität bil<strong>de</strong>n im Leben und Schreiben<br />
Komornickas, wie in <strong>de</strong>r abendländischen Kultur überhaupt, unvereinbare Gegensätze.<br />
Die Schärfe dieser Opposition vermochte Komornicka in ihren ersten literarischen und<br />
biographischen Rollen nicht zu entkräften – und auch in „Xięga“ wird ihr das nur<br />
an<strong>de</strong>utungsweise gelingen.<br />
Die zwischen 1903 und 1907 erschienenen „Chimera“-Texte Komornickas sind auch<br />
von einem Verlangen nach Selbstauslöschung und einem vollkommenen<br />
I<strong>de</strong>ntitätswechsel geprägt. Der in <strong>de</strong>n ersten Prosanarrationen bereits mehrfach<br />
anvisierte Selbstmord wird in <strong>de</strong>r expressionistischen Prosa „Biesy“ von einer<br />
unangepassten, gegen die Dressur <strong>de</strong>r Sozialisierung aufbegehren<strong>de</strong>n und vor <strong>de</strong>r<br />
eigenen Kontur- und Subjektlosigkeit zurückschrecken<strong>de</strong>n Ichfigur 7<br />
nochmals<br />
herbeiphantasiert, aber als Lösungsalternative abgelehnt. Nichts<strong>de</strong>stotrotz bleiben<br />
obsessive To<strong>de</strong>swünsche ein unerlässlicher Bestandteil <strong>de</strong>r Gefühlswelt <strong>de</strong>r<br />
Protagonistinnen und lyrischer Stimmen, erfahren jedoch zunehmend eine<br />
symbolische und mystische Färbung. Immer enger wer<strong>de</strong>n sie mit <strong>de</strong>m Wunsch nach<br />
einer restlosen Ausmerzung <strong>de</strong>r alten I<strong>de</strong>ntität, Tilgung <strong>de</strong>r Schuld und Wie<strong>de</strong>rgeburt<br />
als neuer Mensch korreliert („Pragnienie“, „W górach“). Doch die Lyrik vor 1907<br />
verfolgt auch noch an<strong>de</strong>re Richtungen. Es tauchen gewaltige, die ornamentale und<br />
affektierte mo<strong>de</strong>rnistische Ästhetik zur Meisterschaft bringen<strong>de</strong>, ‚männliche’<br />
Subjektentwürfe nach romantischem Muster auf, u.a. als apokalyptische, mit Engeln<br />
und Dämonen bevölkerte Zerstörungsphantasien, wie sie m.E. bisher von keiner Frau<br />
in <strong>de</strong>r polnischen Literaturgeschichte überliefert wor<strong>de</strong>n sind. Sie wer<strong>de</strong>n begleitet<br />
von einer harmonisieren<strong>de</strong>n, die bevorstehen<strong>de</strong> Beruhigung antizipieren<strong>de</strong>n<br />
7 Dies ist auch ein wichtiges Motiv <strong>de</strong>r Lyrik Komornickas aus dieser Zeit. Immer wie<strong>de</strong>r wird hier die<br />
Angst vorgeführt, sich als Individuum nie konstituieren zu können, ‚im Sumpf’ zu versinken, konturlos<br />
und nur ein Stück Materie zu bleiben.<br />
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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />
Metaphorik, die das geheimnisumwobene, vorbereiten<strong>de</strong> Zwischenstadium vor <strong>de</strong>r<br />
Metamorphose an<strong>de</strong>utet und die Geborgenheit und Leichtigkeit <strong>de</strong>s darauf folgen<strong>de</strong>n<br />
Zustands ahnen lässt. Diese Texte lassen das neue, erst heranreifen<strong>de</strong> poetologische<br />
Konzept Komornickas ahnen – Dichten nicht mehr aus <strong>de</strong>m Mangel, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>m<br />
Gefühl <strong>de</strong>r Einheit und Fülle heraus, dichtend nicht mehr neue Wun<strong>de</strong>n aufreißen,<br />
son<strong>de</strong>rn sich ein ‚Nest <strong>de</strong>r Ruhe’ erschreiben.<br />
Die Wie<strong>de</strong>rgeburtsphantasien treten oft im Kontext von Imaginierungen einer neuen<br />
Bekleidung auf. In „W nieskończoności…“ sehnt das lyrische Ich eine Ehrung mit<br />
einem ‚königlichen Gewand’ herbei, das es sich nach <strong>de</strong>r Verwandlung über die<br />
Schultern werfen darf. Im Gedicht „Na rozdrożu“, welches ich dieser Arbeit als Motto<br />
vorangestellt habe, <strong>de</strong>klariert die Stimme einer ‚nackten’, einem neuen Leben<br />
entgegenstreben<strong>de</strong>n einsamen Frau das Verlangen nach einem ‚Mantel aus<br />
Sternenstaub’ (płaszcz z gwiaździstych zamieci). Es scheint mir durchaus sinnvoll,<br />
diese Bekleidungsmotive mit <strong>de</strong>r männlichen Kleidung in Zusammenhang zu bringen,<br />
die zum Signifikant <strong>de</strong>r realen Geschlechts- und I<strong>de</strong>ntitätsverwandlung Komornickas<br />
wur<strong>de</strong>. Das „königliche Gewand“ ist ein Symbol einer reifen, wür<strong>de</strong>vollen<br />
Persönlichkeit. Der Mantel aus Sternenstaub verweist auf mystisch-metaphysische<br />
Aspekte <strong>de</strong>r Metamorphose. (Wörtlich übersetzt müsste man vom ‚Mantel aus<br />
Sternengestöber’ sprechen – von etwas beinahe Substanzlosem.) Er weckt<br />
Assoziationen mit <strong>de</strong>n Mänteln <strong>de</strong>r biblischen Propheten, kann aber auch als Schutz<br />
angesehen wer<strong>de</strong>n. Ein Mantel verhüllt <strong>de</strong>n Körper so gut, dass u.U. keine<br />
Geschlechtsmerkmale zu erkennen sind.<br />
Vergleichbare Motive sind auch in <strong>de</strong>n Texten <strong>de</strong>s verwan<strong>de</strong>lten Piotr Włast zu<br />
fin<strong>de</strong>n. Zum einen wird <strong>de</strong>r ‚Sternenmantel’ (gwiaździsty płaszcz „Chimery“) in<br />
„Czartołania i Seni“ als Maske dargestellt, die das Elend und die Sündhaftigkeit <strong>de</strong>r<br />
weiblichen Protagonistin verhüllen soll. Zum an<strong>de</strong>ren steht <strong>de</strong>r ‚Engelsmantel’<br />
(płaszcz anielski) in „Arcykłopot poufny“ für die Wür<strong>de</strong>, die Włast in seinem<br />
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nächsten Leben erwartet. In „Hymny nadziei“ taucht noch eine an<strong>de</strong>re Art von<br />
‚Bekleidung’ auf. Es ist die ‚makellose Ritterrüstung’ (nieskazitelna zbroja rycerza),<br />
die sich je<strong>de</strong>r, <strong>de</strong>r auf <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> schutzlos und gefähr<strong>de</strong>t war, im Himmel anlegen darf.<br />
Auch dieses Motiv hat eine biographische Relevanz. Der Vorfahre, mit <strong>de</strong>m sich<br />
Komornicka i<strong>de</strong>ntifiziert, war ein berühmter mittelalterlicher Ritter, <strong>de</strong>r schwer<br />
gesündigt und dafür gebührend Buße getan hat. Sein sprechen<strong>de</strong>r Name hat die<br />
Be<strong>de</strong>utung ‚Herrschaft’ und ‚Macht’. In einem noch vor <strong>de</strong>m Geschlechtswechsel<br />
geschriebenen Brief an die Mutter verkün<strong>de</strong>t Maria ihren Beschluss, Piotr Włast sein<br />
zu wollen, nur „ohne Makel“. 8<br />
Komornickas Geschlechtsmetamorphose ist von <strong>de</strong>m Wunsch nach Sühne und nach<br />
einem neuen Leben bestimmt. Ihre männliche Kleidung begreift sie als Station auf<br />
<strong>de</strong>m Wege zur Erlangung eines verklärten, unantastbaren und unangreifbaren,<br />
makellosen Körpers im Jenseits, <strong>de</strong>n die Metaphorik <strong>de</strong>r Sternen- und Engelsmäntel<br />
ins Bild setzt. Komornickas Hose und Anzug lassen sich in diesem Kontext als<br />
materielle Träger mehrerer Signifikate begreifen. Sie sind Symbole einer neuen<br />
Wür<strong>de</strong> <strong>de</strong>s Dichters und Propheten und seines (imaginären) Zugangs zur Macht und<br />
Freiheit; 9<br />
Zeichen einer Hinwendung zum Spirituellen und Abwendung vom<br />
Körperlichen und Irdischen (wie ein Nonnenhabit); Garant <strong>de</strong>s Schutzes vor<br />
grenzüberschreiten<strong>de</strong>m frem<strong>de</strong>n Zugriff auf <strong>de</strong>n Körper, vor Gewaltanwendung und<br />
erotisieren<strong>de</strong>r Wahrnehmung (wie Ritterrüstung o<strong>de</strong>r Keuschheitsgürtel) – einer<br />
8 Brief vom 18.08.1903: „Die Tragweite dieser Tatsache, die Be<strong>de</strong>utsamkeit dieser Wahl kannst du<br />
vielleicht noch nicht ermessen. Du hast dies mit so einer Einfachheit gesagt, aber aus <strong>de</strong>inem Mund<br />
sprach vielleicht <strong>de</strong>r Wille unseres ganzen Geschlechts. Und ich nahm diesen Namen auf mich und in<br />
mich aus Deinen Hän<strong>de</strong>n und wer<strong>de</strong> ihn bis zum To<strong>de</strong> tragen – und vielleicht noch nach <strong>de</strong>m To<strong>de</strong> – aber<br />
ohne Makel.“<br />
9 Filipiak (2000) spricht auch von einem Zugang zur freien Artikulation <strong>de</strong>s erotischen, auch weibliche<br />
Liebesobjekte einschließen<strong>de</strong>n Begehrens. Dieser Aspekt scheint mir jedoch sehr schwach (bzw. in<br />
einigen Gedichten <strong>de</strong>r „Xięga“ nur an<strong>de</strong>utungsweise) ausgeprägt zu sein.<br />
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Wahrnehmung, die für die traumatisierte Komornicka eine Horrorvorstellung<br />
be<strong>de</strong>utet. 10<br />
Die Berechtigung einer solchen Interpretation wer<strong>de</strong> ich im Folgen<strong>de</strong>n, in einer<br />
resümieren<strong>de</strong>n Neuinterpretation <strong>de</strong>r gesamten Biographie Komornickas auf <strong>de</strong>r<br />
Grundlage <strong>de</strong>r erfolgten Analysen und unter Einbeziehung <strong>de</strong>r Korrespon<strong>de</strong>nz mit <strong>de</strong>r<br />
Mutter begrün<strong>de</strong>n. Sowohl anhand <strong>de</strong>r Zeugnisse <strong>de</strong>r Verwandten als auch <strong>de</strong>r Briefe<br />
und <strong>de</strong>r literarischen Texte Komornickas lässt sich die Hypothese aufstellen, dass<br />
Maria Komornicka in ihrem Leben mehrere traumatische Erfahrungen gemacht hat. 11<br />
Den Erinnerungen ihrer Schwester (Komornicka, A. 1964) zufolge, soll sie bereits als<br />
Zweijährige von ihrem Vater körperlich misshan<strong>de</strong>lt, d.h. ‚verprügelt’ wor<strong>de</strong>n sein.<br />
Anscheinend hat sie im Laufe ihrer Entwicklung gravieren<strong>de</strong> Grenzverletzungen<br />
seitens ihres Vaters erfahren und genoss keinen mütterlichen Schutz. Die Mütter von<br />
Komornickas Ichfiguren sind schwach, abwesend bzw. abweisend o<strong>de</strong>r tot; die<br />
Erinnerungen <strong>de</strong>r Schwester Aniela zeigen die Mutter als ‚kalte’ und ‚skeptische’<br />
Schönheit. Mit Hinweis auf die Märchenerzählung „O ojcu i córce“ und in<br />
Anknüpfung an Różewiczs „Białe małżeństwo“, 12 aber auch an das Schicksal Virginia<br />
Woolfs 13<br />
suggerieren Czabanowska-Wróbel (2000) und Kralkowska-Gątkowska<br />
(2002), dass ein sexueller Missbrauch <strong>de</strong>r jungen Komornicka durch <strong>de</strong>n Vater nicht<br />
ausgeschlossen sei. Diese Hypothese kann aufgrund <strong>de</strong>r Textanalysen allein we<strong>de</strong>r<br />
wi<strong>de</strong>rlegt noch zuverlässig belegt wer<strong>de</strong>n. In autobiographischen Passagen von<br />
„Czartołania i Seni“ („Xięga“) ist ebenfalls von einem sexuellen Missbrauch <strong>de</strong>r<br />
Hauptfigur die Re<strong>de</strong> – und zwar durch einen älteren Mann, von <strong>de</strong>m wir nichts weiter<br />
10 In seinen Briefen aus <strong>de</strong>n Irrenanstalten bittet Włast um lange Blusen bzw. Anzugoberteile, um<br />
‚zwei<strong>de</strong>utigen’ Blicken vorzubeugen.<br />
11 Auf einige von ihnen haben bereits Podraza-Kwiatkowska (1995) und vor allem Kralkowska-<br />
Gątkowska (2002) hingewiesen.<br />
12 Różewiczs Drama ist ein literarischer Text und erhebt nicht <strong>de</strong>n Anspruch, eine Biographie <strong>de</strong>r realen<br />
Komornicka abzubil<strong>de</strong>n.<br />
13 Virginia Woolf ist als Mädchen von ihrem Stiefbru<strong>de</strong>r misshan<strong>de</strong>lt wor<strong>de</strong>n, litt später an schweren<br />
Depressionen und beging Selbstmord durch Ertrinken.<br />
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erfahren, als dass er ein Lüstling war. In „Halszka“ wie<strong>de</strong>rum entwickelt ein<br />
hässlicher, aber liebenswürdiger Onkel einen ‚großen Appetit’ auf die min<strong>de</strong>rjährige<br />
Nichte. Diese kann sich gegen seine Ansprüche kaum wehren, da er gleichzeitig <strong>de</strong>r<br />
einzige ist, <strong>de</strong>r sie in ihrer Persönlichkeitsentwicklung und in ihrem Freiheitsdrang<br />
unterstützen möchte. Der seelische Zugang zu <strong>de</strong>n Eltern ist ihr versperrt.<br />
Alle drei weiblichen Figuren, die in diesen Texten mit <strong>de</strong>m Missbrauch in Berührung<br />
kommen (auch wenn dieser in zwei <strong>de</strong>r Fälle nur als Möglichkeit und Bedrohung,<br />
nicht jedoch als Realität in Erscheinung tritt), können aufgrund zahlreicher<br />
Übereinstimmungen zwischen <strong>de</strong>n textuellen und <strong>de</strong>n biographischen Motiven als<br />
Autoprojektionen Komornickas gelesen wer<strong>de</strong>n. Dies berechtigt jedoch nicht dazu,<br />
konkrete Schlüsse auf einen sexuellen Missbrauch <strong>de</strong>r Autorin durch <strong>de</strong>n Vater zu<br />
schließen. M.E. genügt in diesem Zusammenhang die Feststellung, dass die Motive<br />
<strong>de</strong>r Missachtung <strong>de</strong>r physischen und psychischen Grenzen <strong>de</strong>r weiblichen<br />
Protagonistinnen durch ihnen nahe stehen<strong>de</strong> Personen zu <strong>de</strong>n Obsessionen <strong>de</strong>r<br />
literarischen Texte Komornickas gehören und auch im Zentrum ihres Lebenstextes<br />
stehen. Es ist we<strong>de</strong>r notwendig noch vertretbar, aufgrund von Literaturanalysen<br />
konkrete ‚Täter’ aufspüren zu wollen.<br />
Stichhaltigere außerliterarische Anhaltspunkte gibt es allerdings für die Hypothese,<br />
dass es zur Beschimpfung <strong>de</strong>r sechzehnjährigen Komornicka als ‚Hure’ und eventuell<br />
einem Missbrauch auf einer Station <strong>de</strong>r Sittenpolizei gekommen ist. Wie bereits im<br />
Biographie-Kapitel dargelegt, berichtet Aniela Komornicka (1964) in ihren<br />
Erinnerungen von einem auf diese Weise been<strong>de</strong>ten einsamen nächtlichen<br />
Spaziergang ihrer Schwester. Einen sehr dicht an die Realität anknüpfen<strong>de</strong>n Versuch<br />
<strong>de</strong>r Verarbeitung dieses Erlebnisses stellt Komornickas 1907 – also kurz vor ihrer<br />
Mannwerdung – publizierte Erzählung „Intermezzo“ dar, in <strong>de</strong>r sich die Dichterin als<br />
herumirren<strong>de</strong>, verspottete und ge<strong>de</strong>mütigte Zigeunerin imaginiert. Dabei scheint die<br />
mutmaßliche Demütigung durch die Sittenpolizei einem an<strong>de</strong>ren Trauma unmittelbar<br />
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gefolgt zu sein. Beiläufig erwähnt Aniela Komornicka, dass ihre Schwester an diesem<br />
Abend mit Selbstmordabsicht aus <strong>de</strong>m Haus ging. Die Grün<strong>de</strong> dafür wer<strong>de</strong>n zwar<br />
nicht genannt, es kann jedoch geschlussfolgert wer<strong>de</strong>n, dass es sich um<br />
Liebesprobleme gehan<strong>de</strong>lt hat. In dieser Zeit ist Maria in <strong>de</strong>n Cousin Bolesław<br />
Lutomski verliebt, <strong>de</strong>r sie in die literarische Welt eingeführt hat und zum Auslöser<br />
ihres Schaffens wur<strong>de</strong> (Komornicka, A. 1964, 305). Auf <strong>de</strong>n Zusammenhang<br />
zwischen dieser Liebe und <strong>de</strong>r Selbstmordabsicht Komornickas <strong>de</strong>utet die Bemerkung<br />
Anielas hin, ihre Schwester hätte die mit dieser Liebe verbun<strong>de</strong>ne „Glut <strong>de</strong>r<br />
Erlebnisse“ in die Erzählung „Staszka“ miteinfließen lassen. Komornickas Ichfigur<br />
Staszka begeht aber tatsächlich Selbstmord – aus Liebeskummer.<br />
Die psychologische Forschung geht davon aus, dass traumatische Kindheits- bzw.<br />
Jugendzeiterlebnisse oft für Jahre aus <strong>de</strong>m Gedächtnis ausgeklammert wer<strong>de</strong>n und<br />
ihre Wirkung mitunter erst viel später, im Erwachsenenalter entfalten. Dies scheint bei<br />
Komornicka <strong>de</strong>r Fall gewesen zu sein. Die Dichterin hat eine äußerst rasante<br />
Entwicklung durchgemacht, sowohl als Persönlichkeit als auch in künstlerischer<br />
Hinsicht. Sehr früh und mit ungewöhnlicher Heftigkeit lehnte sie sich gegen die Eltern<br />
auf und zeichnete in ihren Texten bereits mit fünfzehn Jahren trotzige Lebensentwürfe<br />
erwachsener Frauen. Die Schwester wirft ihr in <strong>de</strong>n Erinnerungen vor, die Familie zur<br />
damaligen Zeit verachtet und für Entfremdung zwischen ihren Mitglie<strong>de</strong>rn gesorgt zu<br />
haben. Tatsächlich i<strong>de</strong>ntifizierte sich die junge Komornicka stärker mit ihrem<br />
literarischen Freun<strong>de</strong>skreis, in welchem sie bereits als Achtzehnjährige von<br />
angesehenen männlichen Autoren als ebenbürtige Partnerin behan<strong>de</strong>lt wur<strong>de</strong>, die<br />
weltanschaulich ihrer Familie sehr fern stan<strong>de</strong>n (Sozialismus, Atheismus).<br />
Da Komornicka jedoch an ihrer Familie und an <strong>de</strong>n ihr eingeprägten Werten, wie<br />
später <strong>de</strong>utlich gewor<strong>de</strong>n ist, immer noch sehr hing, begann sie sich, wie ihre<br />
Ichfiguren, in die ‚böse’ und die ‚brave’, reumütige Tochter zu spalten. Die Rebellin<br />
entschied sich für Cambridge, um nicht in Grabów bleiben zu müssen. Genauso<br />
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schnell und eigenwillig verließ sie England und kehrte, ohne die Familie davon in<br />
Kenntnis zu setzen, nach Warschau zurück. Dies hat <strong>de</strong>n Vater Komornickas<br />
erschüttert, und die Familie war und ist bis heute noch 14 anscheinend <strong>de</strong>r Meinung,<br />
dass ihn diese Aufregung das Leben gekostet hat. Auf je<strong>de</strong>n Fall wur<strong>de</strong> Komornicka<br />
die Schuld für <strong>de</strong>n Tod <strong>de</strong>s Vaters aufgebür<strong>de</strong>t, und die ‚gute Tochter’ hat diese<br />
Schuld auf sich genommen. Welche vorwurfsvollen Worte sie in diesem<br />
Zusammenhang von ihrer Familie zu hören bekam, kann nicht mehr rekonstruiert,<br />
lediglich – aufgrund <strong>de</strong>r Zeugnisse Aniela Komornickas und Maria Dernałowiczs –<br />
geahnt wer<strong>de</strong>n. In Własts brieflich ‚dokumentierten’ Wahnvorstellungen aus <strong>de</strong>r Zeit<br />
<strong>de</strong>r Irrenanstalten, aber auch in „Xięga“ wird <strong>de</strong>r Vater allerdings eine<br />
Wie<strong>de</strong>rgutmachung und grenzenlose Überhöhung erfahren. Seine ehemals so heftig<br />
angezweifelte Macht als Familienoberhaupt und Patriarch wird zutiefst anerkannt und<br />
gewürdigt. Die Mutter wird ermahnt, sich dieser Macht zu beugen.<br />
Nach <strong>de</strong>m Tod <strong>de</strong>s Vaters heiratet Maria <strong>de</strong>n zehn Jahre älteren Dichter Jan Lemański.<br />
Dieser stellt wenigstens auf <strong>de</strong>n ersten Blick einen Gegensatz zu ihrem Vater dar. 15<br />
Folgt man <strong>de</strong>r Lemański-Biographie von Lorentowicz (…), so entzieht sich Maria mit<br />
ihrer Beziehung zu Lemański einer Ehe mit einem von <strong>de</strong>n Eltern ausgesuchten<br />
Nachbarn. 16 Auch diese Ehe bringt ein erschüttern<strong>de</strong>s Erlebnis mit sich. Der Ehemann<br />
schießt Maria und ihren Cousin aus Eifersucht an. Zwar machen sie daraufhin noch<br />
eine längere Auslandsreise, in <strong>de</strong>r sie sich während seiner schweren Krankheit um ihn<br />
kümmert, doch danach entschei<strong>de</strong>t sie sich sofort zur literarisch bereits präfigurierten<br />
Trennung. Wahrscheinlich schreckt Komornicka davor zurück, in <strong>de</strong>r Rolle <strong>de</strong>r<br />
aufopfern<strong>de</strong>n Ehefrau aufzugehen bzw. von Lemański in ihrem Freiheitsdrang<br />
eingeschränkt zu wer<strong>de</strong>n und in <strong>de</strong>r Umklammerung seiner vereinnahmen<strong>de</strong>n Liebe zu<br />
ersticken. Die Briefe aus <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r Auslandsreise zeugen davon, dass es nicht<br />
14 Vgl. Kralkowska-Gątkowska 2002. Vgl. auch die biographische Erzählung von Maria Dernałowicz<br />
(1977).<br />
15 Ein solches Bild von Lemański vermittelt auch sein Biograph Jan Lorentowicz (1957).<br />
16 Dies bestreitet Aniela Komornicka (1964) auffällig in ihren Erinnerungen.<br />
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Lemański ist, zu <strong>de</strong>m Komornicka die größte und heftigste emotionale Bindung, eine<br />
Hassliebe, entwickelt: Es ist ihre Mutter. Die Briefanalyse macht <strong>de</strong>utlich, wie stark<br />
Komornicka an <strong>de</strong>m von ihrer Mutter repräsentierten Weiblichkeitsi<strong>de</strong>al <strong>de</strong>r ‚Mutter-<br />
Polin’ (Matka Polka) hängt, <strong>de</strong>m I<strong>de</strong>al einer ehrwürdigen Matrone, <strong>de</strong>ren<br />
Lebensaufgabe darin besteht, über das Wohlergehen und die Tugendhaftigkeit <strong>de</strong>r<br />
Kin<strong>de</strong>r zu wachen. Dieses Mutter- und Weiblichkeitsbild verehrt Komornicka, trotz<br />
gegenteiliger literarischer Entwürfe, zutiefst. Das Problem besteht darin, dass sie es<br />
mit ihrer eigenen Person nicht in Einklang zu bringen vermag. Komornicka wen<strong>de</strong>t<br />
sich lieber gegen sich selbst und zweifelt die eigene Weiblichkeit an, als dass sie das<br />
von ihrer Mutter verkörperte bzw. zu verkörpern<strong>de</strong> Weiblichkeitsmo<strong>de</strong>ll in Frage<br />
stellt. Mehr noch, sie versucht, ihre Mutter gemäß <strong>de</strong>n Konturen dieses Phantombil<strong>de</strong>s<br />
durch entsprechen<strong>de</strong> Ermahnungen und Erwartungshaltungen ‚zurechtzustutzen’. Ihre<br />
Briefe an die Mutter 17 haben einen auch für damalige Zeiten ungewöhnlich intimen<br />
Charakter, es sind ‚lettres d’amour’ voller Liebesbeteuerungen, For<strong>de</strong>rungen <strong>de</strong>r<br />
Liebesbeweise, eifersüchtiger Zornesausbrüche. 18 Komornicka erhebt <strong>de</strong>n Anspruch<br />
auf Ausschließlichkeit <strong>de</strong>r Mutterliebe und verwickelt sich in ein aggressives<br />
Konkurrenzverhältnis zu ihren Geschwistern. Deutlich wird in dieser zwischen<br />
emotionalen Extremen pen<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n Korrespon<strong>de</strong>nz auch, wie viel ihr an <strong>de</strong>r<br />
mütterlichen Anerkennung liegt (auch in literarischer Hinsicht). Unschwer zu<br />
erkennen, dass es sich um eine symbiotische Beziehung han<strong>de</strong>lt, in welcher bei<strong>de</strong><br />
Seiten sich gegenseitig vereinnahmen, kontrollieren, emotional erpressen und<br />
erbitterte Machtkämpfe führen. Bei diesen Auseinan<strong>de</strong>rsetzungen geht es meist ums<br />
Geld. In dieser Hinsicht scheint Maria die mütterliche Liebe, aber auch die Geduld<br />
ihrer Geschwister auf eine harte Probe zu stellen. Sie führt im Ausland ein sehr<br />
kostspieliges Leben. Es treibt sie buchstäblich in <strong>de</strong>n Wahnsinn, dass sie über ihr Geld<br />
noch nicht frei verfügen kann und ihre uneinsichtige Familie, insbeson<strong>de</strong>re die Mutter<br />
17 Die Briefe <strong>de</strong>r Mutter an die Tochter sind nicht überliefert.<br />
18 Brief vom 17.05.1901.<br />
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und <strong>de</strong>n ältesten Bru<strong>de</strong>r, dauernd um Geldsendungen anflehen muss. 19 Ansatzweise<br />
entwickelt sie bereits die I<strong>de</strong>e, eine Auserwählte ihres Geschlechts zu sein, die für<br />
<strong>de</strong>ssen geistige Entwicklung und Vere<strong>de</strong>lung Sorge zu tragen hat:<br />
Sorg dich also nicht, Mama, anspruchsvollere Wesen müssen mehr riskieren – und sie gewinnen<br />
mehr. Kryś tut also das Richtige, wenn er so lebt, wie er lebt, wenn er so verfährt, wie ihm das<br />
seine Berufung zum Vater künftiger – und wer weiß, was für welcher – Wesen gebietet. Ich bin<br />
<strong>de</strong>r Gipfel meines Stammbaumes. Und mein Geschlecht kommt nicht aus <strong>de</strong>m Königreich <strong>de</strong>s<br />
Körpers, son<strong>de</strong>rn aus <strong>de</strong>m Königreich <strong>de</strong>s Geistes. Deshalb muss ich diesen Geist bil<strong>de</strong>n, damit er<br />
seiner Bestimmung würdig wird. (01.01.1900) 20<br />
In einigen Briefpassagen aus dieser Zeit (1898-1900) entrollt die junge Komornicka<br />
vor ihrer Mutter ihren Traum vom großen Ruhm. 21<br />
Nach <strong>de</strong>r Trennung von Lemański nähert sich die vierundzwanzigjährige Komornicka<br />
<strong>de</strong>r Mutter noch mehr, nun haben bei<strong>de</strong> keinen Ehemann mehr. In ihren Briefen aus<br />
<strong>de</strong>r Zeit 1900-1902 entwickelt sie aber auch zunehmend eine beinahe missionarische<br />
Mentorhaltung gegenüber <strong>de</strong>r <strong>de</strong>pressiven Mutter. Das Gefühl einer beson<strong>de</strong>ren<br />
Verantwortung <strong>de</strong>r Mutter gegenüber lässt sich u.a. auf Komornickas Schuldgefühle<br />
wegen <strong>de</strong>s verfrühten To<strong>de</strong>s ihres Vaters zurückführen. Wenig später wird Maria diese<br />
Haltung auch auf ihre zwei Schwestern aus<strong>de</strong>hnen. 22<br />
19 Brief vom 26.08.1899.<br />
20 Polnisch: „Wobec tego Mamo nie martw się, szersze natury muszą więcej ryzykować – i wygrywają<br />
więcej. Zatem, gdy Kryś żyje, jak żyje – robi dobrze – postępując, jak mu przykazuje jego powołanie ojca<br />
przyszłych – kto wie jakich? – istot. Ja jestem punktem szczytowym gałęzi swojej. I ród mój nie z<br />
królestwa ciała, lecz z królestwa ducha. Przeto ducha tego muszę kształcić – <strong>by</strong> godnym się stał swych<br />
przeznaczeń.“<br />
21 Brief vom 13.11.1899: „Bitte nieman<strong>de</strong>n um Kritiken, Mama. Ich glaube auch so an meine Zukunft wie<br />
vielleicht an nichts an<strong>de</strong>res – nur dass mein Ruhm keiner Reklame bedarf, son<strong>de</strong>rn sich <strong>de</strong>n Menschen<br />
von selbst aufdrängen wird. Diese Heftchen bereiten mir <strong>de</strong>n Weg zum großen Durchbruch. Es scheint<br />
mir, dass das Morgen mir gehören wird, und das in nicht weiter Ferne.“ Brief vom 01.01.1900: „Ich bin<br />
zutiefst überzeugt, dass es noch zwei kleine Broschüren wie die „Baśnie“ braucht, und ich wer<strong>de</strong><br />
unbestritten ein anerkannter ‚Star’ unserer Literatur sein.“<br />
22 Vgl. Briefe vom 22.12.1902 und vom 16.05.1903. Mutter und Schwestern wer<strong>de</strong>n hier als ‚moje<br />
niewiasty’ (meine Weibchen) und ‚moje kobiecięta’ (meine kleinen Frauen) bezeichnet.<br />
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Zwischen 1900 und 1903 entwickelt sich Komornicka zu einer erfolgreichen Dichterin<br />
und macht sich große Hoffnungen auf diesem Gebiet. 23 Für die Signierung ihrer<br />
Rezensionen in „Chimera“ schlägt ihr die Mutter das Pseudonym Piotr Włast vor, und<br />
Maria beginnt, sich für <strong>de</strong>n Vorfahren zu interessieren. Trotz <strong>de</strong>r engen Beziehung zur<br />
Mutter verliebt sie sich noch einmal und erlebt ein weiteres Drama, <strong>de</strong>nn ihre, wie<br />
Aniela betont, platonische Beziehung zu einem Freund ihres jüngeren Bru<strong>de</strong>r Franio<br />
en<strong>de</strong>t tragisch: Gucio Walewski stirbt. Bereits vor ihrer Faszination für Gucio kann<br />
sich Maria, wenn man Własts autobiographische Verserzählung „Czartołania i Seni“<br />
als das Textkorrelat dieser realen Beziehungsgeschichte auffasst, als befleckt und<br />
unwürdig erlebt haben. 24 Unter Rückgriff auf einige, im Zusammenhang mit „Xięga“<br />
bereits besprochene literarische Motive legt Kralkowska-Gątkowska (2002) nahe, dass<br />
Komornicka möglicherweise eine Abtreibung hinter sich hat. Die literarischen<br />
‚Belege’ sind zwar überzeugend, doch kann ihnen auch hier <strong>de</strong>r ein<strong>de</strong>utige<br />
Beweischarakter nicht zuerkannt wer<strong>de</strong>n.<br />
In <strong>de</strong>n Briefen aus diesem Zeitraum manifestiert sich eine wachsen<strong>de</strong> Distanz<br />
gegenüber <strong>de</strong>m weiblichen Geschlecht mit seiner vermeintlichen Verlogenheit und<br />
Neigung zu Flirts. In einem von ihnen äußert Komornicka sogar <strong>de</strong>n Wunsch, sich von<br />
ihrem Geschlecht zu distanzieren, für etwas ‚dazwischen Liegen<strong>de</strong>s’ zu gelten, we<strong>de</strong>r<br />
Mann noch Frau zu sein. In einem an<strong>de</strong>ren bezeichnet sie sich als Tochter und Sohn<br />
zugleich:<br />
(...) es wimmelt hier von Menschen o<strong>de</strong>r vielmehr von Frauen – es ist zum Verzweifeln. Man<br />
stößt auf Gruppen von neun o<strong>de</strong>r zwölf Weibern, inmitten <strong>de</strong>rer mit halb beschämter und halb<br />
stolzer Miene eine abgezehrte [männliche] Gestalt im Gehrock eilt. Ich tue, was ich kann, um<br />
zumin<strong>de</strong>st für etwas dazwischen Liegen<strong>de</strong>s zu gelten. Dennoch hat dies bisher noch niemand<br />
durchschaut. [Hervorh. B. H.-M.] (29.08.02) 25<br />
23 Ihre literarischen Texte schreibt sie zum Teil für die Mutter – so z.B. die Märchenerzählung „O ojcu i<br />
córce“, mit <strong>de</strong>m i<strong>de</strong>alisierten Porträt Anna Komornickas, aber auch <strong>de</strong>n unvollen<strong>de</strong>ten Roman „Halszka“.<br />
24 In <strong>de</strong>m noch vor <strong>de</strong>r Beziehung mit Gucio geschriebenen Prosastück „Biesy“ wer<strong>de</strong>n lei<strong>de</strong>nschaftliche<br />
Beziehungen <strong>de</strong>s Textsubjekts zu Männern als äußerst enttäuschend dargestellt und mit ‚Schmutz’ bzw.<br />
‚Müllhaufen’ in Verbindung gebracht.<br />
25 Polnisch: „(...) namnożyło się ludzi, a raczej kobiet, których liczba jest rozpaczliwa. Spotyka się<br />
gromady po dziewięć i dwanaście bab, wśród których z miną na poły zawstydzoną, na poły dumną mknie<br />
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Aber einstweilen küsse ich Deine Hän<strong>de</strong>, Gesicht und Knie, (...) und möge Mama <strong>de</strong>r Fe<strong>de</strong>r<br />
‚freien Lauf lassen’– weil ich doch Dein Sohn und Deine Tochter bin – und mich auch wirklich<br />
lieben, so wie ich Dich liebe. [Hervorh. B.H.-M.] (24.06.1903) 26<br />
1901 lernt Komornicka <strong>de</strong>n „Chimera“-Redakteur Zenon Przesmycki näher kennen.<br />
Diese Bekanntschaft ist <strong>de</strong>r Beginn einer neuen, schöpferischen Lebensphase. Ihr<br />
Verhältnis zu Przesmycki scheint sehr eng zu sein. Bis zu ihrem Lebensen<strong>de</strong> wird sie<br />
ihren ‚Zauberer’ (mag) vergöttern, auch nach<strong>de</strong>m er sie verrät. 27 Er ‚erschaut’ ihr<br />
Potential und för<strong>de</strong>rt sie, ihm verdankt sie ihre rasante literarische Entwicklung, ihren<br />
Aufstieg zur Meisterin <strong>de</strong>r herrschen<strong>de</strong>n ästhetischen Diskurse, ihre Kontakte und<br />
Freundschaften. Möglicherweise ist sie auch verliebt, ohne ihrerseits geliebt zu<br />
wer<strong>de</strong>n. Ihre Schwester erzählt von einem „weiblichen Bedürfnis nach grenzenloser<br />
Verehrung“, das sich in <strong>de</strong>n „geistigen Höhen“ <strong>de</strong>r Begeisterung Marias für<br />
Przesmycki manifestiert haben soll. (Komornicka, A. 1964, 326) Sie <strong>de</strong>utet<br />
Komornickas große Enttäuschung wegen seiner baldigen Heirat mit <strong>de</strong>r Besitzerin<br />
einer Mädchenschule Aniela Hoehne-Wrońska an. Nicht ohne Be<strong>de</strong>utung für<br />
Komornickas Geschlechtswechsel scheint die Tatsache zu sein, dass sich ihr För<strong>de</strong>rer<br />
selbst ein weibliches Pseudonym zugelegt hat – Mirjam. 28<br />
Nach <strong>de</strong>r Hochzeit Przesmyckis (1903) reist Komornicka für ca. zwei Jahre allein<br />
nach Paris und schreibt wie<strong>de</strong>r Briefe an die Mutter. Es ist die Zeit einer einsamen<br />
schöpferischen Arbeit, aber auch einer intensiven Beschäftigung mit <strong>de</strong>r großen<br />
Emigrationsliteratur <strong>de</strong>r polnischen Romantik in <strong>de</strong>n Pariser Bibliotheken. Auf<br />
Mickiewicz und Słowacki wird stilistisch und inhaltlich sowohl in <strong>de</strong>n Briefen als<br />
auch in <strong>de</strong>n literarischen Texten aus dieser Zeit stark rekurriert. Der Einfluss <strong>de</strong>r<br />
jakaś mizerna sylweta tużurkowa. Robię co mogę, <strong>by</strong> uchodzić za coś przynajmniej pośredniego, nikt<br />
jednak dotąd nie poznał się na tem.“<br />
26 Polnisch: „A tymczasem całuję ręce, twarz, kolana, (...) i niech Mama rozpuści pióro, bom ja przecie<br />
syn i córka i kocha mnie naprawdę, jak ja kocham.“<br />
27 Davon zeugen ihre handschriftlichen Notizen (Notatki refleksyjne na różne tematy), Literaturmuseum<br />
in Warschau.<br />
28 Polnisch: Miriam.<br />
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mystischen und metaphysischen I<strong>de</strong>en <strong>de</strong>r Romantiker auf Komornicka, <strong>de</strong>r sich auch<br />
in ihren zu dieser Zeit heranreifen<strong>de</strong>n Wahni<strong>de</strong>en verfolgen lässt, stellt ein<br />
interessantes Forschungsfeld dar. Die Briefe <strong>de</strong>r Dichterin beginnen ihre Familie zu<br />
beunruhigen, da sie <strong>de</strong>r Realität immer entrückter wer<strong>de</strong>n, beispielsweise in<strong>de</strong>m sie<br />
Engel und Dämonen auf eine Ebene mit <strong>de</strong>r empirischen Realität stellen. 29 Immer<br />
eigenartiger wirkt auch Komornickas I<strong>de</strong>ntifizierung mit Włast:<br />
Ich bin Dein, ich bin Euer Włast. Ich liebe unser Geschlecht – und als seine Erbin for<strong>de</strong>re ich dich<br />
auf, teure Mutter, dass du so gütig sein mögest, alles für mich zu notieren, was du weißt, woran<br />
du dich erinnerst über all unsere Väter aus Vaters sowie <strong>de</strong>iner Familie. Gib mir mein Erbe –<br />
möge ich jene kennen, die mich hervorgebracht haben. (18.08.1903) 30<br />
Die I<strong>de</strong>e <strong>de</strong>s Geschlechts und <strong>de</strong>r geheimen Verbindungen zwischen <strong>de</strong>n leben<strong>de</strong>n und<br />
verstorbenen Familienmitglie<strong>de</strong>rn interessierte Komornicka bereits viel früher. So<br />
beschreibt sie in „Staszka“ ihre Ichfigur als beson<strong>de</strong>rs für <strong>de</strong>n Wahnsinn anfällig, weil<br />
erblich damit vorbelastet. In diesem Text taucht auch das Motiv eines unheilvollen<br />
Familiengeheimnisses auf. Staszka wächst als Halbwaise auf, in <strong>de</strong>r bedrücken<strong>de</strong>n<br />
Atmosphäre eines die Person <strong>de</strong>r verstorbenen Mutter umgeben<strong>de</strong>n Schweigens. Nur<br />
zufällig erfährt sie, dass ihre Mutter nicht eines natürlichen To<strong>de</strong>s gestorben ist,<br />
son<strong>de</strong>rn Selbstmord beging – und folgt ihr in <strong>de</strong>n Tod. Auch in „Biesy“ spielt das<br />
Motiv <strong>de</strong>r Belastung durch negative seelische Energien verstorbener Ahnen eine<br />
herausragen<strong>de</strong> Rolle. Das hier ebenfalls <strong>de</strong>m Selbstmord zustreben<strong>de</strong> Textsubjekt trägt<br />
auf <strong>de</strong>n eigenen Schultern die Sün<strong>de</strong>n seines Geschlechts. In Paris steigert sich<br />
Komornicka noch mehr in diese Vorstellungen hinein. Sie beginnt immer religiöser zu<br />
wer<strong>de</strong>n, ist von <strong>de</strong>r Notwendigkeit persönlicher und kollektiver Buße überzeugt, betet<br />
29 Exemplarisch für ihren allmählichen Realitätsverlust ist <strong>de</strong>r von Janion (1995) ausführlich analysierte<br />
Brief vom 29.09.1903.<br />
30 Den Brief unterschreibt Komornicka mit ‚Marja-Włast’. Polnisch: „Jam Twój, jam Wasz Włast.<br />
Kocham nasz ród – i jako jego dziedziczka, wzywam Cię, matko droga, <strong>by</strong>ś zechciała zanotować dla<br />
mnie wszystko co wiesz, pamiętasz, mówiono – o wszystkich naszych ojcach – z Ojca linii jak z Twojej.<br />
Daj mi moje dziedzictwo – niech znam tych, co mnie wydali.“<br />
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öffentlich in <strong>de</strong>r Bibliothek, ‚bestraft’ <strong>de</strong>n Bibliothekar dafür, 31 dass er sich weigert,<br />
die geistige Verbindung zwischen Adam und Władysław Mickiewicz sprachlich<br />
transparent zu machen. Komornicka gibt <strong>de</strong>m Sog nach, wird langsam ‚verrückt’. 32<br />
Verrückt zu wer<strong>de</strong>n entspricht auch <strong>de</strong>m in ihren literarischen Texten vorgezeichneten<br />
Lebensweg, ihrem Weltbild, das sie sich als junges Mädchen zusammen mit<br />
Nałkowski und Jellenta erarbeitet hat:<br />
So ist es auch im Krieg: die Vorhut, die To<strong>de</strong>smutigen kommen um, machen aber mit ihrem Tod<br />
<strong>de</strong>n Weg frei und ziehen die Hauptmasse <strong>de</strong>r Armee hinter sich. Nur dass im Krieg die hinter <strong>de</strong>r<br />
Vorhut schreiten<strong>de</strong> Armee <strong>de</strong>n an <strong>de</strong>r Spitze Gefallenen ihre Ehre erweist. Im Leben heult die<br />
Meute gemästeter Philister und Schurken über ihren Gräbern (...). (Nałkowski, Jellenta,<br />
Komornicka 1985, 13) 33<br />
Komornicka wird in ein Sanatorium gebracht, kämpft noch gegen <strong>de</strong>n Wahnsinn, wird<br />
aber von ihrer Familie nicht mehr für zurechnungsfähig gehalten. Das negative<br />
Verhältnis zwischen ihr und ihren Geschwistern spitzt sich zu. Wie aus einem Brief<br />
aus <strong>de</strong>r Irrenanstalt in Opawa vom 21.12.1908 hervorgeht, und von Filipiak (2000,<br />
126 f.) bereits ausführlich analysiert wur<strong>de</strong>, kam es in Radom im Februar 1907, also<br />
noch vor <strong>de</strong>r ‚offiziellen’ Geschlechtsumwandlung, zu <strong>de</strong>r endgültigen Verteilung <strong>de</strong>s<br />
väterlichen Erbes und einem schweren Geschwisterkonflikt. Es wird <strong>de</strong>utlich, dass<br />
sich Komornicka bei diesem Familientreffen gegen die Beschlüsse ihrer „allzu<br />
geschäftstüchtigen“ Brü<strong>de</strong>r gestellt hat: 34<br />
31 So je<strong>de</strong>nfalls die literarisch verfrem<strong>de</strong>te Erinnerung ihrer Großnichte Maria Dernałowicz (1977).<br />
32 Vgl. dazu Ruppert 2002, 283: „In die Verrücktheit zu gehen, in die Verwirrung zu fliehen, scheint also<br />
bei manchen auch eine bewusste Entscheidung zu sein, ein Sog, <strong>de</strong>m man nachgeben o<strong>de</strong>r wi<strong>de</strong>rstehen<br />
kann. In <strong>de</strong>n Wahn zu flüchten, die Grenzen <strong>de</strong>r Normalität hinter sich zu lassen, hat eine Faszination.“<br />
33 Polnisch: „Tak i na wojnie: forpoczty, straceńcy giną, lecz śmiercią swoją otwierają drogę i pociągają<br />
główną masę armii; tylko, że na wojnie postępująca za forpocztami armia oddaje cześć poległym na<br />
przodzie; w życiu zgraja spasionych filistrów i łotrów wyje nad ich grobami (...).“<br />
34 Scheinbar hat Komornicka bereits in Radom, und nicht erst in Posen geäußert, dass sie sich nicht als<br />
Tochter, son<strong>de</strong>rn als Sohn <strong>de</strong>finiert, um damit ihre schwin<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Autorität zu untermauern. Doch je mehr<br />
sie versucht, ihre Position in <strong>de</strong>r Familie auf diese Weise zu retten, <strong>de</strong>sto mehr Befrem<strong>de</strong>n ruft sie hervor.<br />
Jemand, <strong>de</strong>r mit <strong>de</strong>m Stigma <strong>de</strong>s Wahnsinns bereits gebrandmarkt ist – und das war Komornicka nach<br />
<strong>de</strong>n Pariser Ereignissen – kann die Achtung und <strong>de</strong>n Respekt <strong>de</strong>r An<strong>de</strong>ren nicht mehr wie<strong>de</strong>rerlangen.<br />
(Vgl. dazu auch Schlichter 2000).<br />
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Ich wünsche mir von ganzem Herzen, dass Du, teure Mutter, aufhören wür<strong>de</strong>st, Dich mir<br />
gegenüber als Megäre aufzuspielen, was nun seit 22 Monaten <strong>de</strong>r Fall ist, d.h. seit<strong>de</strong>m ich mich in<br />
Radom (zwar usurpatorisch, aber aus <strong>de</strong>m tiefsten Gefühl <strong>de</strong>r Verpflichtung eines Sohnes heraus)<br />
<strong>de</strong>n allzu bequemen Projekten meiner allzu geschäftstüchtigen Brü<strong>de</strong>r in die Quere stellte.<br />
Seit<strong>de</strong>m bin ich – nie<strong>de</strong>rgeschmettert – zu einem hilflosen Opfer eurer Familienkoalition<br />
gewor<strong>de</strong>n und krepiere vor Verzweiflung in <strong>de</strong>n abscheulichsten Anstalten unter geborenen<br />
Kriminellen und irrsinnigen Verbrechern. [Hervorh. B.H.-M.] (21.12.1908) 35<br />
Bei einem an<strong>de</strong>ren Familientreffen, in Warschau, wur<strong>de</strong> Komornicka, wie die Briefe<br />
offen legen, mit einer Beruhigungsspritze behan<strong>de</strong>lt. Bereits vor ihrem<br />
Geschlechtswechsel wur<strong>de</strong> sie als Unmündige und auch ‚sexuell Verdächtige’ von<br />
ihrer Familie wahrgenommen. 36 In Radom hat ihr <strong>de</strong>r Familienrat anscheinend die<br />
freie Verfügung über ihr Erbe verweigert. Die Anklänge an diese Ungerechtigkeit<br />
lassen sich im Gedicht „Żale parcelanta“ („Xięga“) verfolgen. Doch es gibt etwas, das<br />
Komornicka noch mehr erschüttert: Auch Miriam scheint sie nicht mehr ernst zu<br />
nehmen. Sie wird zum Objekt von Unterredungen und Verhandlungen zwischen ihrer<br />
Familie und Przesmycki, aus welchen sie selbst ausgeschlossen ist. In <strong>de</strong>n<br />
Irrenhausbriefen manifestiert sich das Gefühl, dass sich die ihr am nächsten stehen<strong>de</strong>n<br />
Personen gegen sie verschworen haben. 37<br />
Eine aufmerksame Lektüre <strong>de</strong>s bereits<br />
zitierten Briefes vom 21.12.1908 lässt erkennen, dass Maria in Poznań, in <strong>de</strong>m für <strong>de</strong>n<br />
Ort <strong>de</strong>r Transformation erklärten Hotel „Bazar“, 38<br />
Gespräch mit Miriam gewartet hat.<br />
vergeblich auf ein klären<strong>de</strong>s<br />
Es gibt ein bizarres Gedicht in „Xięga“ – das Sonett „Poznań“, das diesen<br />
folgenträchtigen Aufenthalt aufzugreifen scheint. Allerdings verschweigt dieser Text<br />
35 Polnisch: „Pragnę z całego serca, a<strong>by</strong>ś droga Matko przestała bawić się wzglę<strong>de</strong>m mnie w jędzę, czego<br />
doświadczam już od 22 miesięcy, t. j. odkąd w Radomiu (samozwańczo co prawda, ale z najgłębszego<br />
poczucia obowiązku synowskiego) stanąłem w poprzek z<strong>by</strong>t wygodnym projektom moich z<strong>by</strong>t<br />
geszefciarskich braci. Odtąd z nóg zwalony stałem się bezbronną ofiarą waszej rodzinnej koalicyi i po<br />
najohydniejszych zakładach zdycham z rozpaczy śród urodzonych kryminalistów i obłąkanych<br />
zbrodniarzy.“<br />
36 Brief vom 27.06.1909.<br />
37 Vgl. die auf Miriam bezogene ironische Bemerkung im Brief vom 21. 12. 1908.<br />
38 In diesem Brief wird <strong>de</strong>r Hotelname als ‚Bas-Arts’ von Komornicka selbst interpretiert. In Anschluss<br />
an Filipiak (2000) und Dernałowicz (1977) verstehe ich dies als Ausdruck <strong>de</strong>r Erkenntnis Komornickas,<br />
dass die von ihr bislang praktizierte Literatur zu <strong>de</strong>n ‚niedrigen Künsten’ gezählt wer<strong>de</strong>n muss.<br />
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mehr als er preisgibt. Bislang konnten ihm die Interpretieren<strong>de</strong>n 39 nicht viele<br />
biographische Allusionen ‚entreißen’. Das Sonett besteht aus einer ursächlich<br />
scheinbar unverknüpften, ironisch-distanzierten Aneinan<strong>de</strong>rreihung von<br />
Erinnerungsbruchstücken. Chiffriert scheint es von einer schmerzhaften Enttäuschung<br />
zu erzählen. Ihr Ausmaß wird durch <strong>de</strong>n unvermittelten, für die „Xięga“-Poetik jedoch<br />
charakteristischen Einbruch eines Vulgarismus (małej dostałem cholery) unterstrichen.<br />
Dramatische bzw. düstere Motive wie Schlachthaus und Friedhof bil<strong>de</strong>n die Kulisse<br />
einer großen Verärgerung <strong>de</strong>s lyrischen Ich. Es könnte sich um vergebliches Warten<br />
han<strong>de</strong>ln, <strong>de</strong>nn das lyrische Ich bekommt seinen Wutanfall beim „hel<strong>de</strong>nhaften<br />
Frieren“ (bohatersko drżąc z zimna). Vor <strong>de</strong>m Hintergrund einer feierlichen Para<strong>de</strong><br />
auf <strong>de</strong>r Straße, die genauso ironisch wie die kunstvolle Sonettform wirkt, erscheint ein<br />
Mediziner – eine Reminiszenz an <strong>de</strong>n realen Arzt, <strong>de</strong>r zu Maria gerufen wur<strong>de</strong>? Eine<br />
son<strong>de</strong>rbare Verflechtung erfahren die Motive ‚Kirche’ und ‚Teufelswerk’. Die<br />
Handwerker, die das lyrische Ich bei einer Kirchenrenovierung beobachtet, wer<strong>de</strong>n<br />
mit Jongleuren (Betrügern) und Teufeln 40 in Zusammenhang gebracht. Es sind fünf<br />
Arbeiter – die Zahl <strong>de</strong>r Geschwister Komornickas. Diese ‚Teufel’ sind in <strong>de</strong>r Lage, so<br />
eine Nebenbemerkung <strong>de</strong>s lyrischen Ich, „im Nu“ (w mig) ein Haus zu bauen. Das<br />
Kirchenmotiv kann für das Mäntelchen edler Motive stehen, mit <strong>de</strong>m die Betrüger ihr<br />
Teufelswerk verschleiern. Das Haus lässt sich als argumentatives Gebäu<strong>de</strong><br />
interpretieren, in welches das lyrische Ich von <strong>de</strong>n ‚Teufeln’ eingesperrt wer<strong>de</strong>n soll.<br />
Wie Filipiak (2000) postuliert, ist es <strong>de</strong>nkbar, dass Komornicka in Poznań erfährt, sich<br />
auf <strong>de</strong>m Weg in eine Irrenanstalt, und nicht in ein Sanatorium zu befin<strong>de</strong>n. Doch auch<br />
wenn es ‚nur’ um Miriam gehen sollte: Komornicka fühlt sich von <strong>de</strong>n ihr am<br />
nächsten stehen<strong>de</strong>n Menschen betrogen und verraten, befin<strong>de</strong>t sich in einer Sackgasse.<br />
Eine Flucht in <strong>de</strong>n Wahn erscheint ihr möglicherweise erträglicher als die Realität. In<br />
39 Filipiak (2000), Sosnowski (1993).<br />
40 Sie wer<strong>de</strong>n mit <strong>de</strong>r faustischen Teufelsfigur aus Mickiewiczs „Pani Twardowska“ explizit in<br />
Verbindung gebracht.<br />
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<strong>de</strong>n Augen <strong>de</strong>r Familie hat sie ihr Gesicht ohnehin bereits endgültig verloren. Ihre<br />
Geschlechtsverwandlung erscheint vor diesem Hintergrund als ein Verzweiflungsakt,<br />
<strong>de</strong>r ihre Autorität – als Mann und Sohn – wenigstens imaginär wie<strong>de</strong>rherstellen soll.<br />
Die für Geschlechterproblematik äußerst sensibilisierte Komornicka kann <strong>de</strong>n<br />
Eindruck gehabt haben, dass ihre Entmündigung etwas mit ihrer Weiblichkeit zu tun<br />
hat.<br />
Verhaltensweisen und I<strong>de</strong>en, die Maria nun entwickelt, zeugen von einer sich<br />
anbahnen<strong>de</strong>n Schizophrenie, 41 die sich durch die Reaktionen <strong>de</strong>r Umwelt verstärkt.<br />
Komornickas Weg führt endgültig in die Psychiatrie. In <strong>de</strong>n Briefen aus <strong>de</strong>n<br />
Irrenanstalten fleht Piotr die Mutter um Befreiung an, beklagt sich über die<br />
unerträglichen Lebensbedingungen, das Fehlen von Büchern und Zeitschriften, die<br />
Behandlung durch das Personal, sexuelle Belästigung. 42 Er hält sich nicht für krank,<br />
son<strong>de</strong>rn für geschlechtlich noch ‚unterentwickelt’:<br />
Was ich möchte? – Ich möchte meine angeborenen Fähigkeiten auf allen Gebieten menschlichen<br />
Wirkens weiter entwickeln. Im Namen dieses Rechtes verlange ich das Verlassen dieses<br />
erbärmlichen Platzes eines Idioten in dieser Anstalt. Meine geschlechtliche Unterentwicklung<br />
kann kein Grund dafür sein, meine Seele zu quälen, die gesund ist und ein Betätigungsfeld<br />
braucht. Hier wer<strong>de</strong> ich in je<strong>de</strong>r Hinsicht <strong>de</strong>rart gebremst, dass mir außer verzweifelter Meditation<br />
nichts bleibt. Selbst um Zeitungen bitte ich vergeblich. (17.06.09) 43<br />
Vor allem aber lei<strong>de</strong>t Piotr an <strong>de</strong>m Gefühl, dass die Familie – und beson<strong>de</strong>rs die<br />
Mutter – seit <strong>de</strong>r Kindheit etwas ganz wichtiges vor ihm verheimlichen, etwas, was<br />
die Familiengeschichte betrifft. Dieses Geheimnis steht im Zentrum seiner<br />
Wahni<strong>de</strong>en, auf die ich im Folgen<strong>de</strong>n nur ansatzweise aufmerksam machen kann. (Sie<br />
41 Die in <strong>de</strong>r neueren Komornicka-Forschung zunächst unpopuläre, weil <strong>de</strong>r Gefahr <strong>de</strong>r Pathologisierung<br />
<strong>de</strong>r Autorin und <strong>de</strong>r Entwertung ihres Schreibens (<strong>de</strong>r ich zu entgehen versuche) laufen<strong>de</strong> Hypothese von<br />
<strong>de</strong>r Schizophrenie Komornickas wur<strong>de</strong> auch in <strong>de</strong>r neuesten Komornicka-Arbeit von Kralkowska-<br />
Gątkowska (2002, 51-69) überzeugend begrün<strong>de</strong>t.<br />
42 Auffällig ist, dass er sich vor allem von <strong>de</strong>n ‚unmoralischen Frauen’ abgrenzt und diese äußerst scharf<br />
verurteilt.<br />
43 Polnisch: „Czego chcę? – chcę móc rozwijać swe przyrodzone zdolności na wszystkich polach<br />
działanlości ludzkiej. To jest moja wola i prawo. W imię tego prawa żądam opuszczenia nędznego<br />
miejsca waryata w tym zakładzie. – Mój niedorozwój płciowy nie jest powo<strong>de</strong>m dręczenia mego ducha,<br />
który jest zdrowy i potrzebuje pola działania. Tu w każdym kierunku jestem tak kontrowany, że poza<br />
rozpaczliwą medytacyą nic mi nie pozostaje. Nawet gazety nie mogę się dowołać.“<br />
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bieten einen spannen<strong>de</strong>n Stoff für weitere Untersuchungen.) An dieser Stelle erscheint<br />
mir <strong>de</strong>r Anschluss an Rupperts (2002) Schizophrenie-Konzept sinnvoll. Demnach<br />
können über Generationen sorgfältig gehütete, dunkle Geheimnisse, die sich auf stark<br />
schuldbehaftete Ereignisse bzw. Taten eines Familienmitglieds beziehen können, zum<br />
Auslöser <strong>de</strong>r Schizophrenie eines an<strong>de</strong>ren Familienangehörigen, oft eines Nachfahren,<br />
wer<strong>de</strong>n. Dies passiert vorzugsweise dann, wenn <strong>de</strong>r ‚Täter’ die Verantwortung für<br />
seine Schuld nicht übernimmt und die Familie ihn ebenfalls schont, oft auch<br />
i<strong>de</strong>alisiert. Kin<strong>de</strong>r und Enkelkin<strong>de</strong>r wachsen dann in <strong>de</strong>r Atmosphäre eines<br />
unfassbaren, unbenennbaren und un<strong>de</strong>nkbaren Geheimnisses auf. Sind sie dazu noch<br />
selber traumatisiert, wur<strong>de</strong>n ihre Grenzen in <strong>de</strong>r Kindheit missachtet, entwickeln sie<br />
oft eine Übersensibilität, die sie sowohl zu beson<strong>de</strong>ren künstlerischen Leistungen als<br />
auch zu psychischem Lei<strong>de</strong>n prä<strong>de</strong>stiniert. Jemand, <strong>de</strong>r die Aura eines solchen<br />
Familiengeheimnisses stark verinnerlicht hat, tendiert dazu, die Schuld seiner<br />
Vorfahren auf sich zu nehmen, um sie zu sühnen, und wird u.U. ‚wahnsinnig’:<br />
Die Betroffenen versteigen sich u.U. dann so weit in ihren Wahn, dass sie Erfahrungen machen,<br />
die bei ihnen ein hohes Evi<strong>de</strong>nzgefühl erzeugen. Bei schwerer Schuld im Familiensystem steigern<br />
sie sich z.B. leicht in Sühnevorstellungen hinein, von <strong>de</strong>nen sie kaum noch abzubringen sind.<br />
(Ruppert 2002, 283)<br />
Oft versuchen Betroffene das Familiengeheimnis zu lüften, müssen aber dann in<br />
vielen Familien mit <strong>de</strong>n strengsten Sanktionen rechnen, zu <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Ausschluss aus<br />
<strong>de</strong>r Familiengemeinschaft, aber auch die Einweisung in die Psychiatrie gehören<br />
können.<br />
Włast nimmt <strong>de</strong>n Namen eines Vorfahren an, <strong>de</strong>r schwere Schuld auf sich gela<strong>de</strong>n, für<br />
diese Schuld aber selbst gebüßt hat. Piotr Odmieniec Włast i<strong>de</strong>ntifiziert sich nicht mit<br />
<strong>de</strong>m sündigen<strong>de</strong>n, son<strong>de</strong>rn mit <strong>de</strong>m verwan<strong>de</strong>lten, sühnen<strong>de</strong>n Włast. Im Mittelpunkt<br />
seiner Verwandlung steht das Phänomen <strong>de</strong>r Schuld. Es ist zum einen <strong>de</strong>r von mir<br />
bereits ausführlich erläuterte Komplex persönlicher Schuld, <strong>de</strong>r mit Komornickas<br />
eigener Lebensgeschichte zusammenhängt. Es scheint aber auch in <strong>de</strong>r<br />
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Familiengeschichte Komornickas viele klärungsbedürftige Momente gegeben zu<br />
haben, die ihr keine Ruhe ließen. Ihre im Leben und Schreiben obsessiv betonte<br />
I<strong>de</strong>ntifizierung mit <strong>de</strong>m Geschlecht ist kein Zufall. Sowohl in <strong>de</strong>n Irrenanstalten als<br />
auch später im Hause seines Bru<strong>de</strong>rs übt Włast tatsächlich Sühnepraktiken aus und<br />
übernimmt die Rolle <strong>de</strong>s Beschützers und Apostels <strong>de</strong>r gesamten Familie. Solche<br />
Wahninhalte entstehen nicht im luftleeren Raum und geben, so Ruppert, Aufschluss<br />
über die traumatisieren<strong>de</strong>n Ereignisse.<br />
Es ist selbstverständlich kaum möglich, empirische Aussagen über die Art <strong>de</strong>s Włast<br />
beschäftigen<strong>de</strong>n Familiengeheimnisses zu machen. In ihren Erinnerungen macht<br />
Aniela Komornicka (1964) An<strong>de</strong>utungen auf ein geheimnisvolles Schicksal eines<br />
Onkels Piotr, <strong>de</strong>r Pate Marias war und daher von <strong>de</strong>r Familie symbolisch mit ihrer<br />
Person in Verbindung gebracht wur<strong>de</strong>. Dieser sei von einer unerklärlichen<br />
Melancholie und einer Aura mysteriöser Erlebnisse umgeben gewesen.<br />
Möglicherweise ist es kein Zufall, dass auch er <strong>de</strong>n Namen Piotr trägt. In „Halszka“<br />
i<strong>de</strong>ntifiziert sich die Ichfigur Komornickas ebenfalls mit einem Onkel. Sie spricht mit<br />
seinem Porträt und versetzt sich intensiv in seine Seele, in <strong>de</strong>r sie ein Geheimnis<br />
aufspürt. Es wird nur vorsichtig ange<strong>de</strong>utet, dass es sich um <strong>de</strong>n Tod (die Tötung?) <strong>de</strong>r<br />
Geliebten bzw. um einen in vielen an<strong>de</strong>ren Texten ebenfalls imaginierten Doppeltod<br />
<strong>de</strong>r bei<strong>de</strong>n gehan<strong>de</strong>lt haben mag. Doch dies sind lediglich ‚heiße Spuren’, die zum<br />
gegenwärtigen Zeitpunkt noch nicht bestätigt wer<strong>de</strong>n können.<br />
Je offensiver Piotr darauf besteht, dass seine Mutter die Familiengeheimnisse lüftet,<br />
<strong>de</strong>sto stärker beharrt diese darauf, dass es in <strong>de</strong>r Familie keine Geheimnisse gegeben<br />
hat. Dies treibt ihn zur Verzweiflung:<br />
Ich versichere Dir, dass ich auf diese schweigen<strong>de</strong> Art niemals allein zu einem Verständnis <strong>de</strong>r<br />
mir unbekannten Dinge gelangen wer<strong>de</strong>. Das UNWISSEN aber ist KEIN WAHNSINN, und ich<br />
wer<strong>de</strong> – auch wenn ich bis zum To<strong>de</strong> nicht <strong>de</strong>n Grund dieser ganzen Geheimnistuerei erfahren<br />
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sollte – doch NIEMALS EIN IRRER SEIN, auch wenn ihr einen ganzen Haufen authentischster<br />
„Beweise“ über meinem Kopf auftürmen wür<strong>de</strong>t... (17.06.1909) 44<br />
Anscheinend hat Włast doch nicht Recht – das Unwissen kann Wahnsinn be<strong>de</strong>uten.<br />
Innerhalb <strong>de</strong>r Wahnwelt, in die er sich hineinsteigert, spielen die Figuren <strong>de</strong>r Eltern<br />
die Hauptrolle, aber auch Miriam hat eine nicht zu unterschätzen<strong>de</strong> Be<strong>de</strong>utung. Seine<br />
Eltern betrachtet Włast als Könige Polens. Ihm selbst fällt die Rolle <strong>de</strong>s Königssohnes<br />
zu. Er stattet die Eltern mit unglaublichen Kompetenzen aus, bittet sie z.B. um die<br />
Besetzung <strong>de</strong>s Amtes <strong>de</strong>s <strong>de</strong>utschen Kaisers durch <strong>de</strong>n Direktor <strong>de</strong>r Irrenanstalt. Er<br />
berichtet <strong>de</strong>r Mutter <strong>de</strong>tailliert von Gesprächen mit <strong>de</strong>m toten Vater und von seinen<br />
Anweisungen aus <strong>de</strong>m Jenseits. Darüber hinaus macht er Anspielungen auf die<br />
Eheprobleme <strong>de</strong>r Eltern, auf eine mögliche Untreue <strong>de</strong>s Vaters; versucht, die Rolle <strong>de</strong>s<br />
Vermittlers zu übernehmen, <strong>de</strong>r Mutter das fragwürdige Verhalten <strong>de</strong>s Vaters zu<br />
erklären und eine Versöhnung zwischen <strong>de</strong>n Eltern herbeizuführen: „DER VATER<br />
MÖCHTE VON DIR VERSTANDEN WERDEN, und ihr wer<strong>de</strong>t euch am besten<br />
verstehen, wenn EUER KIND sprechen wird.“ 45<br />
(29.06.1909) Vater und Miriam<br />
erfahren in dieser Wahnwelt eine son<strong>de</strong>rbare I<strong>de</strong>ntifizierung, in einigen Briefpassagen<br />
verschmelzen sie beinahe zu einer Person. Sie sind die einzigen von Piotr<br />
schrankenlos anerkannten Autoritäten. Miriam wird als „mein ehrwürdigster Meister“<br />
(najjaśniejszy mistrz) und „jemand, <strong>de</strong>r alles kann“ bezeichnet. Piotr äußert mehrmals<br />
seine Überzeugung, dass nur ein klären<strong>de</strong>s Gespräch mit diesem bzw. ein Brief von<br />
ihm 46 seinem Lei<strong>de</strong>n abhelfen und <strong>de</strong>r ‚Geheimnistuerei’ ein En<strong>de</strong> setzen könnte. Der<br />
Frau, die im eben zitierten Brief als mögliche Geliebte <strong>de</strong>s Vaters ange<strong>de</strong>utet wird,<br />
gibt Włast <strong>de</strong>n Namen <strong>de</strong>r realen Frau Miriams!<br />
44 Polnisch: „Zapewniam Cię, że w ten sposób milczący sam nigdy nie dojdę do zrozumienia rzeczy mi<br />
niewiadomych. NIEWIADOMOŚĆ zaś NIE JEST OBŁĘDEM, a ja, choć<strong>by</strong>m do śmierci miał nie<br />
dowiedzieć się gruntu tej całej tajemniczości, przecie WARYATEM NIGDY NIE BĘDĘ, – choć<strong>by</strong>ście<br />
spiętrzyli na<strong>de</strong> mną cały stos ‚dowodów’ najautentyczniejszych...“<br />
45 Polnisch: „OJCIEC PRAGNIE BYĆ ZROZUMIANY PRZEZ CIEBIE, a zrozumiecie się najłatwiej,<br />
gdy będzie mówiło WASZE DZIECKO.“<br />
46 Auf seine Briefe an Miriam bekommt Piotr keine Antwort.<br />
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Aniela Hoehne ist VATERS rechtschaffene Nichte. Der Moment erfor<strong>de</strong>rte eine Täuschung.<br />
VATER war umzingelt und brauchte Schutz vor sich SELBST, weil ER SICH NACH DIR<br />
SEHNTE. (Ich war niemals in MIRIAM noch in VATER verliebt gewesen und we<strong>de</strong>r VATER<br />
noch MIRIAM waren jemals in mich verliebt.) (29.06.1909) 47<br />
Dies sind alles Indizien dafür, dass die Rolle Miriams, genauso wie die <strong>de</strong>r Eltern, bei<br />
Komornickas Wahnsinn und Geschlechtstransgress nicht hoch genug eingeschätzt<br />
wer<strong>de</strong>n kann. 48 Auf diesem Gebiet ist noch viel zu erforschen. Voraussichtlich wird<br />
jedoch die Forschung dieses Thema mei<strong>de</strong>n – wegen <strong>de</strong>r Gefahr, die sich daraus für<br />
Komornickas inzwischen sowieso etwas angeschlagenes Image als ‚Amazone’ ergibt.<br />
Es liegt auch mir fern, die Dichterin eindimensional zu einer weiteren Frau, die an<br />
unerwi<strong>de</strong>rter Liebe (zu einem Mann!) zerbrach, zu stilisieren. Die extreme Faszination<br />
für Miriam und die übermächtige Präsenz seiner Person in ihrem Leben und in ihren<br />
Wahnvorstellungen sind jedoch eine Tatsache. 49 Doch auch dieser Faktor ist nur einer<br />
von vielen bereits aufgezeigten biographischen und textuellen Aspekten, die zur<br />
Klärung von Komornickas Geschlechtswechsel und Wahnsinn beitragen können, einer<br />
Klärung, die sich ohnehin ihrer Grenzen und Gefahren bewusst sein muss und von <strong>de</strong>r<br />
Kulturwissenschaft allein nicht bewältigt wer<strong>de</strong>n kann.<br />
Zu Własts Wahnwelt gehören auch einige weitere ‚Einbildungen’, die Kępiński (1992)<br />
als charakteristisch für Schizophrenie einstuft. Dies sind u.a. seine Vorstellung, mit<br />
einer beson<strong>de</strong>ren Mission, eventuell auch einer politischen Rolle betraut zu sein, die<br />
Verfolgungsvisionen, die Einteilung <strong>de</strong>r sozialen Umwelt in Engel und Dämonen, das<br />
Pen<strong>de</strong>ln zwischen emotionalen Extremen, die Weigerung, soziale Masken zu tragen<br />
und <strong>de</strong>r Drang, immer die Wahrheit zu verkün<strong>de</strong>n. Aber auch das Philosophieren über<br />
die letzten Dinge <strong>de</strong>s Lebens, das extreme eschatologische Interesse und die<br />
Irritationen auf <strong>de</strong>m Gebiet <strong>de</strong>r Geschlechtsi<strong>de</strong>ntität seien kennzeichnend für<br />
47 Polnisch: „Aniela Hoehne jest OJCA siostrzenicą zacną. Chwila wymagała pozorów. OJCIEC <strong>by</strong>ł<br />
obsaczony i potrzebował obrony przed samym SOBĄ, bo TĘSKNIŁ DO CIEBIE. (Ja nigdy się nie<br />
kochałem w MIRIAMIE ani w OJCU i OJCIEC ani MIRIAM nie kochał się nigdy we mnie.)“<br />
48 Auch Kralkowska-Gątkowska hat dies bereits ange<strong>de</strong>utet.<br />
49 In diesem Sinne könnte meiner Interpretation <strong>de</strong>r männlichen Verkleidung Komornickas eine weitere<br />
Facette hinzugefügt wer<strong>de</strong>n – Hose und Anzug als ‚Trauergewand’.<br />
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Schizophrene (wenn auch ihnen nicht vorbehalten). 50 Kępiński spricht auch von <strong>de</strong>m<br />
häufig zu beobachten<strong>de</strong>n Phänomen, dass sich Schizophrene als Medium eines<br />
an<strong>de</strong>ren Menschen begreifen, <strong>de</strong>r in sie ‚eingeht’. Dies nehme ich ernst, ohne jedoch<br />
die psychische Krankheit essentialisieren zu wollen – dies ist nach Szasz, Laing,<br />
Cooper und Foucault we<strong>de</strong>r möglich noch gerechtfertigt. Anstatt mit <strong>de</strong>m Begriff <strong>de</strong>r<br />
‚Krankheit’ zu operieren, spreche ich lieber von ‚Lei<strong>de</strong>n’, um die Arbeit mit <strong>de</strong>r<br />
Opposition ‚Normalität-Pathologie’ zu vermei<strong>de</strong>n. Wie seit <strong>de</strong>r antipsychiatrischen<br />
Forschung bekannt, ist die Grenze zwischen diesen bei<strong>de</strong>n Polen durchaus fließend<br />
und ohnehin ‚nur’ eine gesellschaftliche Übereinkunft. In diesem Zusammenhang<br />
schließe ich mich Kępiński (1992) an, <strong>de</strong>r sein berühmt gewor<strong>de</strong>nes, 1972<br />
entstan<strong>de</strong>nes Buch „Schizofrenia“, <strong>de</strong>nen gewidmet hat, „die mehr fühlen und an<strong>de</strong>rs<br />
verstehen, und daher mehr lei<strong>de</strong>n, und die wir oft ‚Schizophrene’ nennen.“ 51<br />
Bis zu ihrem Lebensen<strong>de</strong> bleibt Komornicka in <strong>de</strong>r Situation <strong>de</strong>r Entmündigten<br />
gefangen. Sie hat <strong>de</strong>n in so vielen Texten anvisierten und von einigen an<strong>de</strong>ren<br />
Künstlern und Künstlerinnen <strong>de</strong>s Jungen Polen ‚vorgelebten’ Selbstmord nicht<br />
begangen, 52 son<strong>de</strong>rn sich zunehmend <strong>de</strong>r Mystik zugewandt. Nach <strong>de</strong>r Rückkehr nach<br />
Grabów bil<strong>de</strong>n sich die Wahni<strong>de</strong>en weitgehend zurück: Piotr verwan<strong>de</strong>lt sie quasi in<br />
Kunst. Sowohl mit seinen undogmatischen, aus allen Weltreligionen schöpfen<strong>de</strong>n<br />
spirituellen Bemühungen als auch mit seiner kuriosen, prophetischen „Xięga“ leistet<br />
er eine gewaltige therapeutische Arbeit an sich selbst, schafft Zusammenhänge in<br />
seiner Biographie, konstruiert die trostspen<strong>de</strong>n<strong>de</strong> Lebenslegen<strong>de</strong> eines Bekehrten,<br />
50 Vgl. Kępiński (1992, 157 f.): „Die Unsicherheit bezüglich <strong>de</strong>r eigenen I<strong>de</strong>ntität manifestiert sich<br />
bisweilen sehr dramatisch in <strong>de</strong>r Schizophrenie. Der Kranke hat gera<strong>de</strong>zu <strong>de</strong>n Eindruck, dass sein<br />
Geschlecht einer Verän<strong>de</strong>rung unterliegt, zum Beispiel: Ein Mann ist davon überzeugt, dass ihm ein<br />
Busen wächst, dass seine Genitalien kleiner wer<strong>de</strong>n und weibliche Merkmale annehmen, dass sich seine<br />
Stimme verän<strong>de</strong>rt, sein Bartwuchs schwin<strong>de</strong>t u.ä. Und die Frau: dass ihr ein Penis wächst, sich ihre<br />
Gesichtszüge verän<strong>de</strong>rn, sich die Brüste zurückbil<strong>de</strong>n u.ä.“<br />
51 Polnisch: „Tym, którzy więcej czują i inaczej rozumieją i dlatego bardziej cierpią, a których często<br />
nazywamy schizofrenikami.“<br />
52 Man kann in Komornickas Fall aber von einem ‚symbolischen’ Selbstmord an ihrem weiblichen, stark<br />
verletzten und traumatisierten Geschlecht sprechen. (Vgl. Czabanowska-Wróbel 2000, Kralkowska-<br />
Gątkowska 2002)<br />
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korrigiert seine vergangenen Fehler und Versäumnisse und büßt für diese, entwirft<br />
eine utopische, auf immerwähren<strong>de</strong> geistige Entwicklung und Würdigung eines je<strong>de</strong>n<br />
Wesens ausgerichtete Jenseitsvision. Mit „Xięga“ bettet sich Włast in <strong>de</strong>n ‚Schoß’ <strong>de</strong>s<br />
Geschlechts, heilt seine Wun<strong>de</strong>n durch Vorstellungen von <strong>de</strong>r Einheit mit Natur und<br />
Kultur. Damit versöhnt er imaginär das Symbolische mit <strong>de</strong>m Semiotischen, die<br />
Auflösungsphantasien mit <strong>de</strong>m Wunsch nach Individuation, die abendländischen<br />
Phantasmata <strong>de</strong>r Männlichkeit mit <strong>de</strong>nen <strong>de</strong>r Weiblichkeit. In ästhetischer Hinsicht<br />
lässt „Xięga“ zwar viel zu wünschen übrig – die künstlerische Disziplin verringert<br />
sich, das Chaos ‚zersetzt’ die poetologischen Strukturen, unkontrolliert eingesetzte<br />
Kolloquialismen, Vulgarismen und inhaltliche und formale Banalitäten bringen <strong>de</strong>n<br />
Leser oft entgegen <strong>de</strong>r auktorialen Intention zum Lachen. All dies lässt sich jedoch<br />
auch als ‚närrischer’, aber erfrischen<strong>de</strong>r Verzicht auf <strong>de</strong>n weltlichen Ruhm und als<br />
Revolte gegen herrschen<strong>de</strong>, ‚narzisstische’ Kunstkonzeptionen verstehen. Ein<br />
Faszinosum <strong>de</strong>r „Xięga“ sind auch Themen und Motive, die sich gegen die<br />
beabsichtigte Harmonisierung sträuben, wie z.B. die Abhängigkeit von <strong>de</strong>r Mutter, das<br />
Gefühl, betrogen wor<strong>de</strong>n zu sein, das unermessliche Lei<strong>de</strong>n an<strong>de</strong>rer Menschen, <strong>de</strong>r<br />
Horror <strong>de</strong>r Isolation, Einsamkeit und Verspottung, die Sehnsucht nach <strong>de</strong>m Ausbruch.<br />
Erschüttern<strong>de</strong> Erlebnisse, wie z.B. Kriegserfahrungen, aber auch das Verpflanzen in<br />
eine ganz an<strong>de</strong>re soziale Umgebung, können, so Kępiński, zur Rückbildung <strong>de</strong>r<br />
Schizophrenie führen. Aber auch die Befreiung von offensiven Therapieversuchen und<br />
das ‚In-Ruhe-Gelassen-Wer<strong>de</strong>n’ lassen die Wahni<strong>de</strong>en, so Ruppert, zurücktreten.<br />
Bei<strong>de</strong>s trifft auf Piotrs Leben nach <strong>de</strong>m zweiten Weltkrieg zu. Auch Włast wird vom<br />
Kriegsgeschehen erschüttert und muss 1944 zusammen mit <strong>de</strong>n an<strong>de</strong>ren<br />
Familienangehörigen aus <strong>de</strong>m brennen<strong>de</strong>n Grabów fliehen. Nach <strong>de</strong>m Krieg kommt er<br />
in eine ganz an<strong>de</strong>re Umgebung und <strong>de</strong>r unmittelbare Kontakt mit <strong>de</strong>r Familie wird<br />
abgebrochen. Aus <strong>de</strong>r Ferne kümmert sich Schwester Aniela um ihn. Bis zu seinem<br />
Lebensen<strong>de</strong> lebt Włast nun in Altenheimen. Die Mutter lebt nicht mehr, Włast schreibt<br />
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nun Briefe an die Schwester. Seine Schrift wird immer unleserlicher, er hat Rheuma,<br />
hört schlecht, ist krank. Die finanzielle Abhängigkeit von <strong>de</strong>r Schwester (die über<br />
Własts Geld verfügt) bleibt bestehen. Allerdings erfährt Włast auch eine Würdigung –<br />
<strong>de</strong>r im Aufbau begriffene sozialistische Staat billigt ihm eine kleine Rente als<br />
Anerkennung seiner literarischen Leistungen in <strong>de</strong>r Zeit <strong>de</strong>r ‚Młoda Polska’ zu. Diese<br />
so lange ersehnte Ehrung scheint Włast zur Kontaktaufnahme mit seinen früheren<br />
Bekannten und Freundinnen zu ermutigen. Er führt eine Korrespon<strong>de</strong>nz mit Zofia<br />
Villaume-Zahrtowa, äußert sich zu Zofia Nałkowskas „Medaliony“, zeigt sich <strong>de</strong>r<br />
Publikation <strong>de</strong>r „Xięga“ nicht abgeneigt. Er wünscht sich aber vor allen Dingen einen<br />
Wechsel <strong>de</strong>s Wohnortes, träumt von einem normalen Leben. Doch seine Schwester<br />
bleibt, wie früher die Mutter, hart. Ungefähr ein Jahr vor seinem Lebensen<strong>de</strong> (nach<br />
dreißig Jahren einer ‚männlichen’ Existenz) beginnt Komornicka/Włast die Briefe<br />
zunächst mit <strong>de</strong>r doppelten Form ‚Maria-Piotr’ und dann nur noch mit ‚Maria’ bzw.<br />
gar ‚Maria Lemańska’ zu unterschreiben. Zum Schluss benutzt sie auch weibliche<br />
grammatische Formen. Den Anzug legt sie jedoch niemals ab. Vielleicht wür<strong>de</strong> dies<br />
<strong>de</strong>r weiterhin stolzen Komornicka als ein allzu spektakulärer Gesichtsverlust<br />
erscheinen. Außer<strong>de</strong>m dürfen auch Frauen nun Hosen tragen, ohne ein ‚Gräuel’ für<br />
ihre Umgebung zu sein. Wenn man nun abschließend auf „Xięga“ zurückgreift, um<br />
dieses Beharren auf männlicher Kleidung trotz <strong>de</strong>r in <strong>de</strong>n Briefen erfolgten Rückkehr<br />
zur weiblichen I<strong>de</strong>ntität zu interpretieren, stößt man auf bemerkenswerte Zeilen:<br />
Du unseliges Kostüm –<br />
Was fange ich bloß mit dir an!<br />
Mich [von dir] zu trennen vermag ich nicht,<br />
Dich mit mir mitnehmen kann ich nicht! (...)<br />
Ach, du unseliges Gewand<br />
In das ich kaum hineinpasse!<br />
Muss ich <strong>de</strong>nn noch lange wegen dir<br />
Hinter Gittern <strong>de</strong>r Quarantäne<br />
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Hilflos ausharren,<br />
Bis mich von meinem Schicksal gerührte<br />
Engelchen erlösen<br />
Und mir das Festkleid bringen? („Xięga…“477) 53<br />
Das lyrische Ich dieses Gedichtes, das Korrelat <strong>de</strong>r realen Komornicka im<br />
Männeranzug, verlässt sich anscheinend darauf, irgendwann von <strong>de</strong>n ‚Engeln’ mit<br />
einem himmlischen Gewand, einem ‚Mantel aus Sternenstaub’ aus <strong>de</strong>n<br />
Verstrickungen <strong>de</strong>r irdischen Hüllen erlöst zu wer<strong>de</strong>n.<br />
53 Aus <strong>de</strong>m Gedicht „Arcykłopot poufny“, Manuskript <strong>de</strong>r „Xięga…“, Literaturmuseum in Warschau,<br />
Signatur 364. Polnisch: „Nieszczęsny ty kostiumie – / Jak się tu ciebie jąć! / Rozłączyć się nie umiem, / Z<br />
sobą nie mogę wziąć! (...) // Ach ty nieszczęsna szato / W której się ledwo mieszczę! / Długoż z twej<br />
winy jeszcze / Za kwarantanny kratą // Trwać będę nieporadny, / Aż mą wzruszone dolą / Aniołki mnie<br />
wyzwolą / Przynosząc strój paradny.“<br />
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