Copyright by Brigitta Helbig-Mischewski - Helbig-mischewski.de
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<strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong>: Ein Mantel aus Sternenstaub, Nor<strong>de</strong>rstedt 2005<br />
Um wie<strong>de</strong>r zu fühlen, so <strong>de</strong>r Handlungsimperativ <strong>de</strong>s Textes, muss sich die Seele <strong>de</strong>r<br />
Angst und <strong>de</strong>m Schmerz stellen, sich für <strong>de</strong>n Kampf rüsten, sie muss das Schwert<br />
ziehen – die ‚phallische’ Metaphorik spricht für sich.<br />
Das Bild <strong>de</strong>r im Sumpf langsam vorwärts kommen<strong>de</strong>n Seele kann in <strong>de</strong>n Kontext <strong>de</strong>r<br />
bereits thematisierten Visualisierungen <strong>de</strong>r toten Geliebten im Wasser gestellt wer<strong>de</strong>n.<br />
Direkt um die Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong> und danach wer<strong>de</strong>n diese Bil<strong>de</strong>r sowohl in <strong>de</strong>r<br />
bil<strong>de</strong>n<strong>de</strong>n Kunst als auch in <strong>de</strong>r Literatur radikalisiert – sie zeigen weibliche,<br />
verfaulen<strong>de</strong> Kadaver im Wasser. Stu<strong>by</strong> (1992, 205 ff.) nennt hier exemplarisch das<br />
Gemäl<strong>de</strong> von Arthur Hacker „Blättertreiben“ (1902) sowie Alfred Kubins Zeichnung<br />
„Sumpfpflanzen“ (1903-1906): „Die <strong>de</strong>n Wurzeln <strong>de</strong>r Er<strong>de</strong> sich anverwan<strong>de</strong>ln<strong>de</strong>n<br />
Frauenkörper betonen die natürliche Beschaffenheit ‚<strong>de</strong>r Frau’, ihre Assoziierung mit<br />
<strong>de</strong>m Vegetativen. So gesehen bil<strong>de</strong>n sie die Vorstufe zu jenen Imaginationen, in <strong>de</strong>nen<br />
<strong>de</strong>r weibliche Körper sich in einem totalen Auflösungsprozess befin<strong>de</strong>t.“ Als<br />
literarische Beispiele nennt Stu<strong>by</strong> (1992, 208) Bil<strong>de</strong>r verwesen<strong>de</strong>r Leichen ertrunkener<br />
Mädchen bei Rilke, Heym, Benn, Brecht (beeinflusst von Bau<strong>de</strong>laire). Doch die<br />
‚Seele’ im Gedicht Komornickas ist keine ‚wirkliche’ Leiche, ihre Imaginierung<br />
erfüllt auch an<strong>de</strong>re Funktionen als in <strong>de</strong>r ‚männlichen Lyrik’. Sie ist zu Lebzeiten<br />
schon tot, gibt aber ihre Sehnsucht noch nicht auf. Eine interessante Parallele dazu<br />
fin<strong>de</strong>t sich auch in <strong>de</strong>r polnischen Jahrhun<strong>de</strong>rtwen<strong>de</strong>-Literatur. In einem Sonett von<br />
Antoni Lange, „Aber du, Seelenvergifter, weiche von mir, Hamlet“ (A ty, dusz<br />
trucicielu idź mi precz Hamlecie) aus <strong>de</strong>m Zyklus „Rozmyślania“ (Sikora 1990, 135),<br />
unternimmt das lyrische Ich <strong>de</strong>n Versuch, die <strong>de</strong>ka<strong>de</strong>nte Haltung, für die <strong>de</strong>r<br />
Shakespearesche Hamlet steht, zu überwin<strong>de</strong>n und eine neue, von Tatkraft gezeichnete<br />
Lebensperio<strong>de</strong> zu beginnen. In diesem Sinne wen<strong>de</strong>t es sich direkt an Hamlet mit <strong>de</strong>r<br />
Auffor<strong>de</strong>rung: „Erwache, kranke Seele!“ (zbudź się duszo chora!) Damit jedoch<br />
Hamlet, das männliche Subjekt, tatkräftig wer<strong>de</strong>n und kämpfen kann, muss die<br />
Passivität, <strong>de</strong>r Tod, die Ohnmacht an das weibliche Geschlecht endgültig <strong>de</strong>legiert<br />
wer<strong>de</strong>n: „Ophelia schläft schon für alle Ewigkeiten in <strong>de</strong>n Tiefen <strong>de</strong>s Sees.“ (Ofelia<br />
już na wieki śpi w głębiach jeziora.“) 32 Dies ist in Komornickas „Drugie życie“ so<br />
nicht möglich. Hier vereinigt das Ich bei<strong>de</strong> Haltungen in sich. Es ist, wie in so vielen<br />
Texten <strong>de</strong>r Dichterin, zwischen <strong>de</strong>m Drang zur Aktivität und <strong>de</strong>r Ohnmacht, <strong>de</strong>m<br />
Aufbäumen und <strong>de</strong>m Aufgeben, <strong>de</strong>n ‚wil<strong>de</strong>n Gewässern’ und <strong>de</strong>m ‚Sumpf’, zwischen<br />
Verbrennen und Verfaulen gespalten. 33<br />
32 Vgl. auch das Bild <strong>de</strong>r ‚topielica’ (Wasserleiche) in „Popioły“ von Stefan Żeromski (1948, 36-37).<br />
33 Die <strong>de</strong>ka<strong>de</strong>nten Resignationsgefühle sind in <strong>de</strong>n Gedichten <strong>de</strong>r meisten männlichen Dichter <strong>de</strong>r Młoda<br />
Polska (ausgenommen Bolesław Leśmian) nicht von dieser bestechen<strong>de</strong>n Tragik gezeichnet, meist<br />
bewegen sie sich stärker im engen Rahmen <strong>de</strong>r poetologischen Muster und i<strong>de</strong>ologischen Schablonen<br />
ihrer Zeit und wirken dadurch ‚unechter’.<br />
<strong>Copyright</strong> <strong>by</strong> <strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong><br />
<strong>Copyright</strong> <strong>by</strong> <strong>Brigitta</strong> <strong>Helbig</strong>-<strong>Mischewski</strong> 2005 / www.helbig-<strong>mischewski</strong>.eu